Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 12: Der beste Freund im Geiste - 4 ------------------------------------------ Folge 3 ~Teil 4 - Der beste Freund im Geiste ~ Geister. Hexenbeutel. Teufelspflanzen. Dämonenhund. Es wird immer schwieriger, alles zusammenzubringen. Wieso fielen die Anzeichen niemanden auf? Es kribbelt mir in den Fingern, erneut bei Aran anzurufen. Doch ich kann froh sein, dass er gestern nicht gleich wieder auflegte. Der Hexenmeister hat eine schnell schmollende Natur, jedenfalls bei mir. Nachdem Shay ins Café zurückkehrt, folge ich Pastor zum Auto und bin überrascht, als mir dieser ein abgepacktes Sandwich in den Schoss wirft, nachdem ich mich auf den Beifahrersitz schwinge. Er selbst hat sich bloß einen weiteren Kaffee besorgt und mustert mich argwöhnisch. „Was wollte sie noch?“, fragt er und nippt zum Schein am Kaffee, doch er schluckt nicht. „Uns warnen“, bekenne ich, ohne auf den eigenartigen Unterton einzugehen, der in der Frage schwamm. Ich streiche abwesend mit dem Daumen über eine der Plastikkanten des Sandwich, lasse den Nagel an der Kante klicken und das entstehende Geräusch echot durch den Raum. „Wovor?“, fragt Pastor und nun blicke ich auf. „Den Omen“, flüstere ich, während mein Blick an Pastor vorbei aus dem Fenster führt. “Der schwarze Hund. Die Geister. Böse Omen überall. Noch immer neugierig?“, spotte ich und zische gleich darauf schmerzerfüllt, da die achtlose Bewegung eine der spitzen Plastikkanten der Verpackung in meinen Daumen treibt. Ein Schnitt, direkt unter dem Nagel. Ich sehe, wie er sich an der Stelle weiß verfärbt und es sich darunter schnell verdunkelt. Es blutet. Aus Gewohnheit nehme ich die Spitze zwischen die Lippen und sauge das Blut davon. Auf dem Bürgersteig neben uns bellt mit einem Mal ein Hund. Ein Collie. Wir zucken beide zusammen. „Genug jetzt…“, schimpft mein Nebenmann und presst die weiße Abdeckung seines Kaffees zurück auf den Becher. Ein brauner Fleck bildet sich auf seiner Hose, als sich ein Tropfen löst. „Schluss mit den Omen… Zeichen und Geistern! Da tötet jemand Menschen, alles andere ist nebensächlich.“ Seine Worte sind abschließend, ziehen eine genaue Linie. Pastor startet den Wagen und es entsteht eine Stille, deren Schwere wie giftiger Nebel um uns herum schwappt. Ich wünschte, es wäre nur ein Verrückter, den wir fangen und einsperren können. Ich begehre den Gedanken, nicht weiterdenken zu müssen, nicht zu hadern und ständig zu suchen. Doch das muss ich. Die Linie verschwimmt schon im nächsten Moment wie ein in Sand gezogener Umriss bei Wellengang. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich zurück und spiele den Moment mit Shay erneut ab. ‚Wie kommst du darauf, dass er mich verfolgt?‘ Shay atmete tiefer als nötig ein, als ich sie das fragte. Sie wich meinem Blick aus und schüttelte kaum merklich ihren Kopf, bevor sie sprach. ‚Ich sah ihn zum ersten Mal wahrhaftig bei dir im Wald.‘ Sie stoppte und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. ‚Er stand bei dir. Vorher war er nur ein Gedanke, ein Gefühl.‘ Statt ins Revier, fährt mich Pastor nach Hause. ‚Geh nicht in den Wald zurück.‘, mahnte Shay zum Schluss. Mit einem fahlen Seufzen öffne ich die Beifahrertür und steige aus. Ich lehne mich nochmals in den Innenraum, wackele mit dem abgepackten Sandwich. „Danke dafür“, sage ich schlicht und setze an, die Tür zu schließen, als mich Pastors ernste Stimme zurückhält. „Damast, lass uns morgen die nächsten Schritte eruieren. Wir sprechen mit den Kollegen, planen ein gemeinsames Vorgehen. Keine Alleingänge.“ Eine Warnung. Eine leere. Er klingt fast wie Lamark und das lässt mich grinsen. Ich salutiere mit dem Sandwich, verkneife mir ein ‚Aye Sir‘ und schlage die Tür zu. Pastor wartet, bis ich wirklich im Haus verschwunden bin, bis er davonfährt, als würde ich, sobald er nicht hinsieht, davonlaufen. Wie unnötig. Ich kann gut allein auf mich aufpassen. Es ist nicht mal mein erstes Rodeo mit Ausgeburten der Hölle! Jawohl! Doch es ist auch eine Geschichte, an die ich mich ungern zurückerinnere. Ich muss Pastor nicht unnötig in Gefahr bringen, so viel ist sicher. Es ist besser so, sage ich mir mehrmals. Mit Schwung knallt die Tür meines Briefkastens zu und das metallische Geräusch echot durch den Treppenaufgang. Unter den Postkästen befinden sich seit geraumer Zeit auffällig viel Staub und Spinnenweben. Ein erneuter Versuch, den Hauswart aus der Wohnung zu locken, bleibt erfolglos. Ich klopfe ein paar Mal. Es rührt sich nichts. Auch der Zettel, den ich ihm am Morgen in die Tür klemmte, steckt an Ort und Stelle. Ein letzter Versuch, dann gebe ich auf. Oben angekommen gehe ich duschen, esse das Sandwich und das aufgewärmte Chili, das ich gestern Abend in der Mikrowelle vergessen habe. Während ich das belegte Weißbrot in die rote Masse dippe, arbeite ich mich durch E-Mails und durchforste erneut die Akten des Falls und die Karten. Ich mache mir Notizen und weitere Markierungen. Je länge ich alles betrachte, umso intensiver wird das Gefühl, dass mehr dahintersteckt. Dass ich etwas nicht erkenne, was ich aber sehen sollte. Die Hinweise verweisen vermehrt auf Okkultismus, falls ich mit den Hexenbeuteln recht behalte. Aber wieso? Es gibt nur einen Coven in der Stadt und der wird seit Jahren durch Wicca-gläubige Hexen geführt. Sie sind friedlich. Keine dunkele Magie. Mein Laptop pingt und zeigt mir einen neuen E-Mail-Eingang an. Es ist eine Nachricht von Aran. Als hätte er meine Gedanken gehört. Zum Glück weiß ich, dass er das nicht kann. Die Mail enthält mehrere Dateien mit Scans von alten Zeitungsausschnitten und Büchern. Darunter ein Auszug aus einer Sammlung regionaler Volksmärchen, die scheinbar auch das Gebiet um das Boscop-Areal umfassen. Ich lese die mitgesendete Erzählung aufmerksam. Einst sollen Hexen in dem Waldstück gehaust haben, die junge Männer mit vergifteten Äpfeln irreführten, welche jene Männer statt von den echten Obstbäumen unbewusst von Süntelbuchen pflückten. Daraufhin fielen die jungen Männer nach jedem dritten Biss einfach tot um. Einige der Opfer wurden nie gefunden, andere wurden nur stückchenweise entdeckt. Geschändet. Gemartert. Es wurde nie geklärt, warum es geschah. In der dazugehörigen Abbildung eines undatierten Holzschnitts sieht man einen dieser knorrigen, opulenten Bäume, unter dem ein lebloser Körper ruht. Der Apfel mit Bissmalen fiel ihm aus der Hand. Das Bild wirkt düster und der ruchlosen Erzählung angemessen. Als ich heranzoome, glaube ich, Bisse an den Gliedmaßen des Körpers zu erkennen. In vielen der historischen Aufzeichnungen wurden Hexen ein gewisser Kannibalismus nachgesagt, der jedoch selten Erwachsene betraf. Dies hier ist damit eher ungewöhnlich. Trotzdem verursacht mir der Gedanken an die Bissspuren, die die aktuellen Opfer aufweisen, Gänsehaut. Ist es Zufall? Eine konkrete Datierung für die Überlieferung gibt es nicht. Nicht einmal konkrete Quellen. Wiederholt hier jemand die Schauermärchen vergangener Zeiten? Ein weiterer Ausschnitt aus Arans Sammelsurium bezeugt, dass in dem Waldabschnitt an dieser Stelle einst Unmengen an Süntelbuchen wuchsen. Sie werden geheimhin auch als Hexenholz-Baum oder Teufelsholz bezeichnet. Es existieren Aufzeichnungen und entsprechende Holzproben, die die einstige Anwesenheit dieser Gattung nachwiesen. Sie sind zudem vielfach in Gemälden und Kunstwerken präsent, die in dieser Epoche entstanden sind. Die Buchen wurden im 17. Jahrhundert im Zuge der allgegenwärtigen Hexenverfolgung fast vollständig gefällt und somit ausgerottet. Es ist meiner Meinung nach ein Hinweis darauf, wann sich der Volksglaube etablierte. Solche Geschichten gibt es in fast allen älteren Ortschaften und Städten und sie beinhalten stets einen Funken Wahrheit. Nimmt sie vielleicht wirklich jemand zu ernst? Manchmal sind es gerade die skurrilen Begebenheiten, die eine besondere Anziehungskraft auf uns ausüben. Ist hier ein Möchtegern-Hexer am Werk? Ein Nachahmer? Doch was imitiert er und warum? Ich öffne auch die letzte mitgesendete Datei. In dieser listet mir Aran ein paar der mit Hexenzirkel assoziierten Pflanzen auf, die negative Energie anziehen, statt sie abzustoßen. Darunter sind auch die beiden Pflanzen, deren Samen bei den ersten beiden Fundstellen eingesammelt wurden. Er nennt zudem Adonis annua. Allium ursinum. Carpobrotus edulis. Die meisten sagen mir nichts und spielen vermutlich keine Rolle. Trotzdem tippe ich ein paar davon ins Suchfeld und beschaue die zumeist hübschen Pflänzchen mit Argwohn und Unkenntnis. Das bringt alles nichts. Es ergibt alles keinen Sinn. Was bezweckt der Täter mit diesem rituellen Wahnsinn und was um alles in der Welt hat der Dämonenhund damit zu tun? Mit dem dringlichen Gefühl verrückt zu werden, greife ich nach meinen Habseligkeiten, rechts Handy, links Ausweis und Schlüssel. Ich ziehe mir feste Kleidung über und packe als letztes die Karten zusammen. ‚Geh nicht in den Wald zurück.‘, hallt durch meinen Kopf, als ich das Wohnzimmer durchquere und ich halte erneut inne. Ich muss. Ich habe keine andere Wahl. Dort muss irgendwo der Sinn begraben liegen. Im wahrhaftigsten Sinne. Zunächst fahre ich ins Revier zurück und bringe in Erfahrung, ob, ebenso wie bei den anderen Gräbern, an der dritten Fundstelle Ungewöhnlichkeiten gefunden wurden. Da Willem Pannek laut der Ersteinschätzung die längste Liegezeit vorwies, sind viele der Materialien womöglich verrottet. Die Untersuchungen sind zudem noch nicht abgeschlossen, also schaue ich mir zunächst die Aufnahmen an, die beim Eintreffen der Kollegen gemacht wurden. Die Erde ist an zwei Stellen aufgebrochen und die Knochen, die hervorlugen, sind kaum von dem dunklen Erdreich zu unterscheiden. Ich blättere weiter. Sie fallen mir sofort auf, die kleinen roten Flecken in der Nähe der freigelegten Beinknochen mitten im Gras. Sie leuchten rot wie die Augen des schwarzen Hundes. Mit zittrigen Händen gehe ich die Bilder durch und finde eines mit einer Nahaufnahme, darauf sind deutlich die kleinen, roten Blumen zu erkennen. Adonis annua. Wahrscheinlich sind die Samen des Adonisröschens über die Zeit ausgetrieben. Der Hexenbeutel lag damit zu Füßen des Opfers. ‚Geh nicht in den Wald zurück.‘, wiederholt mein Verstand die Warnung der Geistseherin. Ich habe noch etwa drei Stunden ausreichendes Tageslicht. Ein Blick auf das Telefon bestätigt mir meine Vermutung, zeigt mir aber auch etwas anderes. Unwillkürlich habe ich bereits meine Kontakte aktiviert und mein Daumen schwebt über dem Eintrag von Luis Pastor. Wenn Shay Recht hat und wenn mein Gefühl stimmt, dann wird er, wenn er in meiner Nähe ist, in Gefahr sein. Das kann und werde ich nicht riskieren. Ich sehe dabei zu, wie sich das Display von selbst abschaltet und schiebe es in die Tasche zurück. Nach ein paar letzten Blicken in die Akten fahre ich weiter zum Boscop-Pfad. Ich nutze die kleine Seitenzufahrt, auf der Panneks Auto abgestellt wurde. Mittlerweile ist es abgeschleppt worden und lediglich die Reste einer Markierung verweisen auf den vormaligen Standort. Noch mit geöffneter Fahrertür und halb im Verlassen des Wagens offenbart sich eine bekannte Gestalt, die wie aus dem Nichts auf der Straße auftaucht wie ein Geist. „Willst du mich verarschen?“, tönt es und die sonst honigwonnige Stimme gleicht Sambal olek. Geister wären mir jetzt eine wesentlich bessere Gesellschaft als er. Ich ziehe unbeeindruckt die Karte aus meiner Tasche, ziehe mich aus dem Wagen in die Senkrechte und ignoriere Pastor, der mit lauten Schritten auf mich zu stürmt. Die Steine unter seinen Schuhen scheinen förmlich zu bersten, knistern und knirschen laut in die Ruhe des Waldstückes hinein. Derartig heftig ist sein Schritt, derartig wild sein Blick. Vermaledeit. Vielleicht hat er mich doch verwanzt? „Was an ‚keine Alleingänge‘ hast du nicht begriffen?“, pfeffert er mir entgegen, als er bei mir ankommt und ich die Autotür zuschlage. Er hat sich ebenso wie ich umgezogen und trägt nun funktionellere Kleidung. „Was an ‚Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß‘ begreifst du nicht?“, kontere ich säuerlich. Doch es ist viel mehr Sorge, die meine Wut nährt. Er sollte nicht hier sein. „Du verhältst dich unverantwortlich.“ „Du bist nicht mein Vorgesetzter“, erwidere ich abschmetternd. „Mag sein, aber im Gegensatz zu dir habe ich hier gewisse Zuständigkeiten. Ich könnte dich melden.“ „Tu´s doch. Melde mich. Na los!“, gifte ich trotzig zurück. Das ist doch lächerlich. „Tu, was du nicht lassen kannst, aber geh mir nicht auf den Geist.“ Das lässt ihn merklich zusammenfahren. Ich wusste es. Er kann es nicht. Wenn ihn die kleinste Äußerung bereits aus der Bahn wirft, hat er hier nichts verloren. „Bitte, melde mich in Grund und Boden, aber mach das aus dem Revier heraus. Lass mich einfach in Ruhe.“ „Warum willst du mich loswerden? Was verschweigst du mir?“ „Gar nichts.“ „Wieso um Himmelswillen denkst du, dass du da unbedingt allein durchmusst? “ „Weil du nichts ausrichten kannst“, schmettere ich ihm die bittere Wahrheit entgegen. „Aber du kannst, ja?“, erwidert er widerspenstig. Seine braunen Augen funkeln wie flüssiges Gold. Leider hat er recht. Ich kann kaum mehr tun. „Ich weiß wenigstens, womit ich es zu tun habe!“, belle ich verteidigend zurück. „Gut, dann setze mich gefälligst in Kenntnis und hör auf damit, mir ständig etwas zu verheimlichen. Ich stecke nämlich auch mit drin, ob du willst oder nicht“, schleudert er mir unerbittlich entgegen. „Tust du nicht. Du piekst in Begebenheiten herum, in denen du nichts zu suchen hast, die du nicht verstehen kannst. Pastor, das ist verdammt gefährlich.“ Ich meine es bitterernst. „Das ist mir bewusst!“ Natürlich. „Wieso denkst du, ich könnte mich einfach umdrehen und alles vergessen?“, fragt er plötzlich ruhig, fast besonnen. „Ist es wegen dem, was Shay dir gesagt hat? Die Warnung?“ Ich verrate mich durch ein Schlucken. „Wovor hat sie dich gewarnt?“ „Es…“, setze ich an und werde durch ein durchdringendes Knacken unterbrochen. Es ist laut und hallt durch die Abenddämmerung. Wir wenden uns beide in die Richtung, in der wir es lokalisieren und starren ins verschwimmende Dickicht. Einzig unser Atem ist zu hören. In den Winkeln und Schatten erahnt man Bewegungen, obwohl dort keine sind. Der Wind flüstert, obwohl er keine Sprachen kennt. Die Stille um uns herum ist ohrenbetäubend. „Egal, was es ist, ich werde nicht gehen“, informiert mich Pastor ruhig. „Wir werden das vierte Grab gemeinsam finden und dann… dann bringen wir den Mörder zur Strecke.“ Er klingt wie eine Prophezeiung. Ich löse mich nur schwer von dem Gefühl, beobachtet zu werden und lege schweigend die Karte mit den Wanderpfaden auf der Motorhaube ab. Es ist Pastor, der sie ausbreitet und sie an drei Ecken mit etwas aus seinen Taschen beschwert. Darunter befindet sich ein abgeschaltetes Funkgerät. Ich kann mich nicht konzentrieren und suche unruhig das Unterholz nach Bewegungen ab. Er ist hier, ich spüre es ganz deutlich. Meine rechten Rippen kribbeln. „Hier ist in etwa die Lichtung“, legt Pastor unbeirrt los. Er nennt meinen Namen, als ich nicht sofort reagiere und tippt zwischen die Markierungen. „Sieht es für dich nicht auch aus, als wären die Gräber ringförmig angeordnet? Vielleicht sollten wir erstmal davon ausgehen.“ Zur Verdeutlichung zieht er seinen Finger vom ersten zum dritten Opfer. Doch statt die Fundreihenfolge einzuhalten, nimmt er die Abfolge, die sich durch die Liegezeit herauskristallisiert hat. Es ist fast ein Dreiviertelkreis, den er damit schließt. Überhaupt wirken die Abstände seltsam gleichmäßig, wenn ich die einzelnen Punkte auf dem Kreis betrachte. „Wenn du recht hast, dann liegt das vierte Opfer in diesem Bereich oder in diesem.“ Westlich oder südöstlich der Lichtung. Aus einem Gefühl heraus tippe ich auf den westlichen Bereich der Möglichkeiten. „Wir sollten hier anfangen.“ Und wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Dunkelheit ist heute nicht unser Freund. „Warte!“ Pastor packt mein Handgelenk, als ich mich abwende. „Was verschweigst du noch? Spuck es aus.“ Auch damit hat er recht. Ich habe ihm nichts von den Hexenbeuteln erzählt und die damit einhergehende Verbindung zum Okkultismus. Da mir jedoch die Gründe und Zusammenhänge im Ganzen genauso unklar sind wie der Standort des Grabes, sehe ich keinen Nutzen darin, Pastor weiter zu verwirren. Er mag zwar glauben, Herr der Lage zu sein, doch dem ist nicht so. Bevor ich mich herausreden kann, beginnt mein Telefon zu singen. ‚You've got no place to hide. And I'm feeling like a villain, got a hunger inside. One look in my eyes. And you're running 'cause I'm coming. Gonna eat you alive.‘ Es ist Captain Lamark. ‚Your heart hits like a drum. Oh, oh, oh, oh.The chase has just begun.‘ Ich weiche Pastors Blick aus, ehe ich rangehe. ‚Monsters stuck in your head.‘ „Sir?“ Ich nehme den Anruf entgegen, entferne mich dabei ein paar Schritte vom Auto, ohne den Blick vom Wald zu lösen. Auch Pastors Telefon klingelt plötzlich. Ich ahne, was es bedeutet. „Ich habe Sie für die Überwachung des Boscop-Areals abgestellt“, erklärt Lamark ohne Umschweife. Ich sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie sich auch Pastor sein Telefon ans Ohr hält und eifrig nickt. „Ich bin bereits vor Ort“, gebe ich Preis. „Gut.“ Damit legt er auf. Auch Pastor beendet sein Gespräch. „Ich wurde zur Überwachung an die Grabungsstelle geordert“, erklärt er das, was ich längst vermute. „Es werden zwei weitere Kollegen zur Verstärkung geschickt, da die Vermutung besteht, dass er an den Tatort zurückkehrt. Es wurden wohl nachträglich Gliedmaßen von den Körpern entfernt.“ Wir wissen beide, dass er nicht an die dritte Fundstelle zum ersten Opfer zurückkehren wird. Pastor greift das Funkgerät und schaltet es ein. Er gibt den gültigen Code durch und kündigt unser Eintreffen an. Ich folge ihm missmutig zur Ausgrabung, während sich der Himmel immer weiter verdunkelt. Bald ist es Nacht und unsere Chancen sinken, das vierte Opfer noch vorher zu finden. „Würdest du bitte aufhören!“ „Womit?“ „Ich spüre deine Unzufriedenheit wie einen Hustenreiz.“ Ich fixiere meinen Blick noch etwas mehr auf sein Kreuz. Meine Frustration ist reizend! Pastor dreht sich ruckartig um und ich laufe fast auf ihn auf. Sein erhobener Finger landet nur um Haaresbreite nicht in meiner Nase, aber er zuckt nicht mal. „Wir werden jetzt die beiden Kollegen einweisen und wenn du dich auch nur einen Meter von mir entfernst, dann schieße ich dir in den Fuß. Verstanden?“ Irgendwas sagt mir, dass ich ihm lieber nicht widersprechen sollte und doch kitzelt es in mir mit Dringlichkeit. Ich halte mich zurück, lächele und gehe an ihm vorbei. Ich gehe voran, bis wir beim Basisbereich ankommen. Eine Autotür schließt sich. Gleich darauf eine zweite. Ich richte meinen Blick zum Parkplatz und bin wenig erfreut von dem, was ich sehe. Detective Colton Barres streicht seinen überteuerten Anzug glatt, während sein behäbiger Partner Detective James Marks Probleme hat, sich aufzurichten. Ich brauche das Geräusch des Knackens seiner Knochen nicht hören, um zu wissen, dass es da ist. „Na, wunderbar, Gucci und Primark“, murmele ich mehr zu mir selbst und wende mich ab. Allerdings hört es Pastor. Freundlich, wie er ist, lässt er sich nichts anmerken, auch wenn er selbst schon seine Erfahrungen mit diesem Duo gemacht hat. „Ihr seid wohl die Verstärkung“, sage ich laut, als ich vermute, dass sie in Hörweite sind. Mein Unterton spricht Bände. Ich kann das neue Leder von Barres Schuhen riechen, als er näherkommt. „Probleme damit?“, stachelt Barres schnorrend zurück, „Sei froh, dass wir unsere Arbeit gut machen und unser eigener Fall längst abgeschlossen ist.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe, gleichzeitig packt Pastor meinen Oberarm. Barres unterschwellige Herablassungen triggern mich. „Großartig, fähige Kollegen sind das A und O einer guten Ermittlung.“ Die schleimende Schiedsrichter-Tour hat er wirklich drauf. Pastors diplomatische Art sollte mich eigentlich nicht überraschen. Ich verkneife mir nur schwer ein Geräusch der Abneigung, schenke Pastor aber einen eindeutigen Blick. Auch Detective Marks erreicht uns, grüßt und sieht sich um. In seinen Händen hält er eine dieser gelborangen Warnwesten, die er noch im Laufen versuchte über seine Schultern zu ziehen. Es misslingt, als sich sein Arm verhakt und der Stoff nicht weiterrutscht. „Klärt ihr uns noch auf, wieso ihr zwei beim Beaufsichtigen der Fundstelle Unterstützung braucht? Der Captain war leider etwas kurz angebunden.“ Der Captain pfiff und Barres sprang. Typisch. Barres sieht sich um und zieht eine Packung Kaugummis aus der Jackentasche. Dabei legt er kurz das Pistolenholster frei. Die Waffe presst sich präsent in seine Seite. Er schiebt sich den Kaugummistreifen zwischen die weißen Zähne und kaut direkt los. Sein Blick sichtet die Begebenheiten, während es Marks endlich schafft, sich die Warnweste überzustreifen. „Liegt der Boscop-Fall nicht in den Händen von Bell und McArthur? Wie seid ihr zwei da reingerutscht?“, fragt Marks und hantiert mit seinem Funkgerät. Barres nimmt es ihm aus der Hand und stellt den regulären Kanal ein. „Als Wachhunde sind sie nicht wirklich beteiligt“, kommentiert er abfällig, während sein Partner neben ihm bisher nicht vollständig zu Atem gekommen ist. Marks sieht bleich und geschafft aus, als er versucht, den Kragen seines Hemdes zu dehnen und letztendlich den oberen Knopf öffnet. „Ich habe die Verantwortlichkeit für die dritte Fundstelle und beaufsichtige die Ausgrabungen“, berichtigt Pastor ruhig und mit einer Geduld, die ich bei Barres längst verloren habe. Es ist unnötig, dass Pastor sich rechtfertigt, wieso er involviert ist. Die Leitung liegt im 12. Revier, das muss ausreichen. „Es gibt Hinweise auf ein viertes Opfer und es besteht die Vermutung, dass der Täter mindestens einmal an die Ablageorte zurückgekehrt ist.“ Der Detective setzt die Erklärung fort, ohne darauf einzugehen, dass es sich dabei um unsere eigene Vermutung handelt. „Ein viertes Opfer? Das wäre ja hochinteressant“, merkt Marks erstaunt an. „Wir machen hier also eine Überwachung für Eventualitäten?“, prescht Barres dazwischen, „Warum wurden euch nicht zwei Uniformierte geschickt? Scheiß Nachtschicht!“ „Dabei wäre jede Sekunde Schönheitsschlaf notwendig bei dir…“, murmele ich abgewandt und wieder ist es Pastor, der mich am Arm packt, weil er es natürlich gehört hat. „Ich schlage vor, dass Detective Marks und Sie sich in der Nähe der Fundstelle des letzten Opfers positionieren.“ Marks nickt eifrig und verstehend. „Opfer Nummer 1 wies die kürzeste Liegezeit auf“, sagt er dann. Pastor nickt zustimmend. „Richtig. Die Möglichkeit ist groß, dass er dort auftaucht. Die Spurensicherung hat die Fundstellen so hergerichtet, dass sie unberührt wirken.“ „Er wird nicht zu den Fundstellen zurückkehren, nicht nach der Berichterstattung. Dort wäre er auf dem Präsentierteller“, röhrt Barres besserwisserisch. Er hat gar nicht unrecht. Doch nach alldem, was ich mittlerweile weiß, bin ich mir sicher, dass es keine bewusste Entscheidung ist, zurückzukehren. Es ist zeremoniell. Er muss es tun. Er folgt einem bestimmten Ablauf. „Colton könnte Recht haben“, japst der alternde Detective zustimmend. „Hat er nicht. Die Tatorte und Opferdarbietung weisen rituelle Charakterzüge auf und er muss das beenden, was auch immer er hier angefangen hat.“ „Sicher doch. Es ist klar, dass sowas von dir kommt, Damast. Das ist einfach nur ein verrückter Spinner.“ „Das ist doch jetzt vollkommen egal. Falls er zurückkehren sollte, müssen wir darauf vorbereitet sein. Damast und ich machen die Rundgänge und checken die Zufahrten. Sie bewachen unauffällig die Fundstelle. Und eins noch, fahren Sie ihr Auto dort weg.“ Ohne deren Erwiderung abzuwarten, packt mich Pastor am Arm und zieht mich in die besprochene Richtung. Es dauert eine Weile, bis wir uns einen Weg durch das Unterholz bahnen. Das Licht ist fast verschwunden und das Dämmern taucht alles in ein Meer von Schatten. „Hier könnte es ungefähr sein“, berichtet Pastor und schaut auf sein GPS-Gerät, „Die Koordinaten stimmen.“ „Koordinaten?“, spotte ich. Aus welchem Hut hat er die gezaubert? „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht.“ „Hast du fein gemacht“, gebe ich amüsiert zurück und sehe mich um. Er schnorrt, kontert aber nichts. „30 Schritte in eine Richtung, dann trennen wir uns für 10 Schritte in entgegengesetzte Richtung und kehren um“, bestimmt er. Ich nicke es nur ab. Wir schaffen fast 240 Grad. Der Regen wird stärker und die Luft um uns herum quillt vor Frustration. Ich höre ein Knacken, welches nicht aus Pastors Richtung kommt und halte unbewusst den Atem an. Als ich mich wieder entspanne, nehme ich den Geruch von Schwefel wahr. Obwohl sich alles in mir widerstrebt, folge ich der olfaktorischen Spur, bis sie irgendwann in einen anderen vertrauten Geruch übergeht. Süßlich. Faulig. „Pastor“, murmele ich zunächst, dann noch mal lauter. „Riechst du das?“ „Ja. Verwesung“, bestätigt er und taucht neben mir auf. Wachsam schauen wir uns beide um, suchen nach Unebenheiten und Spuren, die zeigen könnten, dass hier vor kurzem jemand gewesen ist. Es dauert nicht lange. Die Taschenlampe flackert und Pastor schlägt sie ein paar Mal in seine Handfläche, ehe er sie zurück auf die flache Stelle in einigen Metern Entfernung richtet. Ich sehe etwas Metallisches aufblitzen. „Mach das noch mal!“, fordere ich ihn auf, „Ich habe da hinten etwas gesehen.“ Ohne nachzuhaken, wiederholt er die Bewegung. Diesmal sieht auch er es. Wir gehen darauf zu und ich hocke mich zu einer aufgewühlten Unebenheit am Boden, die sich durch auffällig feuchte, dunkle Erde hervorhebt. Ich erkenne, was aufgeleuchtet hat, als Pastor fast methodisch den Kegel der Taschenlampe über den Boden führt. „Stopp!“ Vor uns lugt eine Münze aus dem Erdreich hervor. „Das sieht frisch aus. Hier wurde gegraben.“ Nachdem ich das sporadisch verteilte Laub davon fege, wird es noch etwas deutlicher. An dieser Stelle liegt etwas begraben. Ich sehe zu Pastor, der sich hinhockt. „Was ist das?“, fragt Pastor verwirrt und deutet auf die Münze, die ein kleines Loch an einer Stelle aufweist, an der eine Schnur befestigt ist. Vorsichtig zieht er an der Münze und als nächstes kommt uns eine Hand entgegen, die einen Stoffbeutel umklammert hält. Die Hand eines Mannes. „Fuck!“ Unison. Pastor schreckt zurück und sitzt am Boden. Er spricht ein Gebet, was ich bestmöglich ignoriere und widme mich stattdessen dem gespenstischen Fund. Die Schnur der Münze ist mehrfach um den kleinen Finger gewickelt. Doch mich interessiert vor allem der Inhalt des Beutels. Er ist mit einer groben Bastschnur zugebunden und durch die feuchte Erde fleckig. Es dem Toten aus der Hand zu nehmen, ist nicht gerade angenehm. Pastor ist mittlerweile wieder zu mir aufgerückt. „Shay hat recht.“ Seine Stimme zittert. „Was ist das?“ „Ein Hexenbeutel“, erkläre ich, achte nicht auf Pastors Reaktion darauf. Ich löse vorsichtig die Schnur und breite den Stofffetzen aus. Darin enthalten sind Knochen. Sie sind klein und fragil. Vielleicht ein Vogel. Ein Bündel Haare. Zwei weitere Münzen und Pflanzensamen. Ähnlich wie bei den anderen. Ein Jaulen in der Ferne lässt mich abrupt verharren. ‚Er verfolgt dich.‘ Shays Stimme ist ein stetiges Flüstern in meinem Kopf. Ein Knall. Das Echo hallt durch den Wald. Das Funkgerät in Pastors Händen knackt, doch die folgenden Worte kann ich nicht gut verstehen. „Verstanden. Wir sind unterwegs.“ Pastors Schritte entfernen sich schnell, während ich um uns herum nach Anzeichen für den schwarzen Hund suche. „Damast“, ruft Pastor nach mir. Mir ist bewusst, dass wir uns nicht zu weit voneinander entfernen sollten. Ich spüre seine Nähe wie ein Gewitter auf der Haut. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe leuchtet mir ins Gesicht und ich murmele eine hastige Entschuldigung. „Hast du etwas gesehen?“, fragt er mich. „Nein, ich habe nur ein Gefühl.“ Es ist schwer und brechend zu gleich. Ich kann es nicht richtig greifen und das macht mich unruhig. „Ich nehme an, kein Gutes?“, hakt Pastor nach. Weniger beunruhigt als erwartet. Er löscht das Licht der Taschenlampe, sodass ich nur noch die Konturen seines Gesichts erkennen kann. „Sag´s mir einfach.“ Eine klare Forderung. „Der schwarze Hund.“ „Schwarzer Hund, wie bei deiner Rotkäppchenbegegnung?“ Obwohl es absurd klingt, ist Pastors Stimme ernst und zeigt kein Zeichen von Skepsis, als er das letzte meiner Zusammentreffen mit dem unheimlichen Tier erwähnt. „Ja. Das Bild des schwarzen Hundes steht gemeinhin für schlechte Omen und verweist auf Unheil. Sie werden je nach Kultur auch Geisterhunde oder Dämonenhunde genannt. Er steht für den nahenden Tod. Er ist ein Bewohner der Hölle“, informiere ich ihn. „Hölle? Was auch sonst.“ Im Dunkeln sehe ich nur schemenhaft, wie er sich bekreuzigt. „Ich spüre ihn näherkommen“, fahre ich fort, ohne auf die Skepsis einzugehen. Trotz der Dunkelheit sehe ich, wie er zum Widerspruch ansetzt. Doch er belehrt sich selbst eines Besseren und schluckt seine hastig gedachten Zweifel runter. „Okay, das heißt? Könnte er mit dem Täter in Zusammenhang stehen? Ist er wegen ihm hier?“ „Ich habe keine Ahnung“, murmele ich. Es wäre gut möglich. Ein durchdringender Schrei lässt uns aufhorchen. „Shit!“ Ein lautes Rascheln und ein Rufen folgen, was eindeutig von Barres kommt. Wir wechseln abrupt die Richtung und treffen in der Nähe des dritten Fundortes auf die unübersehbare Gestalt des großen Detectives. Er ruft nach Marks und erhält keine Antwort. „Was ist passiert?“, fragt Pastor mit vor Aufregung zitternder Stimme. Er schwitzt, genauso wie ich, trotz der herbstlichen Kälte. Der feine Regen, der vor einer Weile einsetzte, dringt bisher nur teilweise durch das dichte Blattwerk der Bäume, kühlt aber die Umgebung merklich ab. „Marks und ich haben den Mistkerl verfolgt. Wir wollten ihn umzingeln, aber…“ „Wo ist Marks?“ „Verdammt, ich weiß es nicht“, bellt uns Barres zu. Er wirkt für einen Sekundenbruchteil hilflos und besorgt. Etwas, was ich an ihm noch nie beobachtet habe. Pastor zückt das Funkgerät, doch ich halte ihn zurück, ehe er einen Funkspruch absetzen kann. „Nicht, wenn er sich verstecken muss und nicht an die Abschaltung gedacht hat, dann würdest du seine Position verraten“, erkläre ich. Pastor beißt sich auf die Unterlippe. „Was nun? Er könnte verletzt sein und Hilfe benötigen. Wir müssen ihn finden.“ „Ich gehe zurück zur Basis und rufe Verstärkung. Danach suche ich Richtung Norden“, teilt Barres uns mit und wartet keine Bestätigung ab. „Dort drüben“, ruft Pastor und ich sehe im selben Moment, wie ein huschender Schatten durch das Dickicht dringt. Ein Licht, welches aufblitzt und sofort wieder verschwindet. Das Gebüsch knackt und ich laufe auf die Stelle zu, die gegensätzlich zum Standort meiner Kollegen liegt. Nach ein paar bedachten Schritte entdecke ich etwas zu meinen Füßen, was meinen Puls beschleunigt. Vor mir liegt eine orangefarbene Warnweste, eine, wie sie Detective Marks getragen hat. Von ihm jedoch ist keine Spur zu sehen. Als ich mich danach bücke, huscht ein Schatten vor mir davon. Zu schnell für Marks. Zu aufrecht für den Hund. Ich bemerke die Umrisse einer gebeugten Gestalt und versuche, mich nicht zu rühren. Doch die Person bemerkt mich und ändert erneut die Richtung. Ich sprinte los und verfolge sie, bis es auf einem Mal beunruhigend still ist. Es ist so verdammt dunkel, doch ehe ich die Taschenlampe anschalten kann, packt mich etwas von hinten und zerrt mich zu Boden. Meine Beine knicken einfach ein. Ich spüre, wie sich etwas Scharfes an meinen Hals drückt und ich nach hinten gezogen werde. „Kein Wort. Nicht bewegen“, knurrt es dicht an meinem Ohr. Wie gefordert rühre ich mich nicht. Ich spüre jedoch, wie ein deutlicher Schmerz einsetzt, weil sich in dieser Position mein Rücken unnatürlich übertrieben biegt. Auf den Knien hockend kann ich mich nicht bewegen. „Ihr zerstört es.“, wimmert die Stimme, „Ihr dürftet nicht hier sein…das ist nicht richtig… so nicht korrekt. Nicht jetzt. Nicht jetzt.“ Seine Stimme wird zu einem tiefen, unruhigen Nuscheln und seine Worte wirken, als wäre er nicht im Hier und Jetzt. Er riecht nach feuchtem Morast und alten Schweiß. Während er mit einer Hand meinen Körper nach Waffen abtastet, drückt er das Messer dichter gegen meinen Hals und murmelt etwas auf Latein, was ich jedoch auf Grund seines Akzents nicht verstehen kann. „Wir sind von der Polizei. Sie sollten jetzt keine Dummheiten…“, versuche ich es erneut. „Ruhe!“, harscht er mich an. Lauter als beabsichtigt, aber nicht laut genug. Außer Atem und meinem rasenden Herzschlag ist nichts um uns herum zu hören. Stille. Eine Stille infernaler Art. Sie wird zerrissen durch ein Knurren. Erst wispernd wie ein hohles Simmern im Wind. Es reicht aus, um die Haare auf meinen Armen aufzurichten. Bitte nicht. Mein Flehen bleibt ungehört. Ich spanne unwillkürlich meinen gesamten Körper an und merke, wie die scharfe Schneide des Messers dabei die Haut meines Halses einritzt. Das nächste Grölen ist wie Donner, der durch meine Adern schmettert. Es ist laut und nah. Ich werde abrupt nach hinten gezogen. Rieche Feuer. Schwefel. Blut. Ein Schrei. Er ertönt dicht an meinem Ohr, dringt jedoch nicht aus meiner Kehle. Die panischen Hände des Mörders packen mich am Hals und wir werden beide ruckartig zurückgezogen, als das Tier seine Zähne in die Schulter meines Angreifers schmettert. Mit massiver Kraft zerrt er uns durch den Wald wie hilfelose Beute. Das Grölen des Hundes ist tief und dröhnend. Ich versuche, Halt zu finden, greife nach Ästen, Wurzeln, doch treffe ich nur feuchten Morast und Steine. Erde füllt meine Schuhe, als wir erbarmungslos Meter um Meter über den Boden gezogen werden. Der Arm um meinen Hals lässt mich kaum atmen. Verkrampft rührt er sich keinen Millimeter, so sehr ich auch an ihm ruckle und drücke. Der Mann hinter mir ist apathisch vor Angst, wimmert vor Schmerz und Panik. Er stöhnt gequält auf. Mit einem Ruck und einem Ächzen komme ich schlagartig zum Stehen und falle rücklings zu Boden. Er hat mich losgelassen. Mein Hinterkopf landet im Wurzelraum eines Baumes und es dauert einen unendlichen Augenblick, bis ich es schaffe, zu atmen. Ich bin froh, aus dem Klammergriff entkommen zu sein. Ehe ich mir meiner aktuellen Lage vollends bewusstwerde, rappele ich mich auf alle Viere auf. Mein Fluchtreflex singt Arien, puscht mich voran und ich gebe mich dem Schmerz erst hin, als ich mich einige Meter entfernt habe. Hinter einem Baum finde ich Schutz. Ich lausche gegen das Rauschen und Dröhnen in meinem Schädel an, höre jedoch weder den Hund noch den anderen Mann, weil mein hektischer Atem alles übertönt. Meine Hände zittern, während ich behutsam die Wunden an meinem Hals abtaste. Der Schmerz ist bislang nicht präsent, da Unmengen an Adrenalin durch meinen Körper rasen. „Damast.“ Ein Echo. Erst höre ich den Ausruf meines Namens zunächst nicht. „Damast, hier lang!“, wiederholt es sich. Ich durchsuche die Dunkelheit um mich herum und sehe die behäbige Gestalt von Detective Marks in einigen Metern Entfernung stehen. Ich möchte ihm zurufen, dass er sich in Deckung bringen soll. Dass er sich in Acht nehmen muss. Doch meine Stimme versagt. Mein Hals brennt wie Feuer. Innen und außen. Trotzdem setze ich mich in Bewegung, folge Marks oder stolpere eher in einiger Entfernung hinter ihm her. Meine Knie sind wabbelig wie Pudding und es fällt mir schwer, mich aufrechtzuhalten. „Marks, warte!“, versuche ich zu rufen, doch meine Stimme ist kaum mehr als ein heiseres, kratzendes Echo. Unversehens kann ich den alternden Detective im Dickicht nicht mehr ausmachen und bleibe stehen. Ich murmele seinen Namen. Nichts. Meine Beine geben nach und ich sacke auf die Knie. „Vikar?“ Stattdessen höre ich Pastors Stimme, die an mein Ohr dringt. Sie ist nah. Es knistert und knackt und als nächstes steht mein Kollege aus dem 12. Revier vor mir. „Shit, was ist passiert?“, fragt er besorgt und packt mich kräftigend an den Schultern. Er versucht, mich aufzurichten und ich spüre, wie die Wirbel in meinem Rücken bersten, also setze ich mich wieder hin. Pastor scheint zu verstehen, denn sein Blick spiegelt den dumpfen Schmerzen in meinen Eingeweiden. „Du hast Detectives Marks gesehen?“, erkundigt sich Pastor. Ich nicke und deute in die Richtung, in die der andere Detective verschwunden ist und wo ich ihn zuletzt gesehen habe. Mit Pastor Hilfe rappele ich mich langsam auf. Diesmal knackt nichts, aber wenn ich jetzt sprechen würde, würde ich es vermutlich rückwärts tun. „Geht´s? Was ist passiert?“ Ich atme noch ein paar Mal durch, ehe ich mich ausreichend stabilisiert habe. „Bin auf den Mörder getroffen und… ich weiß, dass du es mir nicht glauben wirst… auch auf das Höllenvieh“, röchle ich. Zum Glück kann ich Pastors Gesichtsausdruck nicht richtig sehen, ich höre nur seine schnelle Atmung. „Der schwarze Hund? Und der ist dir an die Kehle gegangen?“, erkundigt er sich, als er das Blut an meinem Hals bemerkt. Pastor kramt in seiner Jackentasche und drückt mir ein sorgsam gefaltetes Taschentuch an den Hals. Ich hisse zurück. Die Berührung schmerzt und der Reiz wird stärker. „Autsch… Nein, das war der Kerl mit dem Messer.“ „Wo ist deine Dienstwaffe?“ „Die hätte mir nicht geholfen“, entgegne ich, ohne seine Frage wirklich zu beantworten. Ich hätte nicht die Chance gehabt, sie einzusetzen. Der Scheißkerl hat mich überrascht. Aber auch das gebe ich nicht leichtfertig Preis. Zum Glück reitet Pastor nicht weiter darauf rum, sondern schaut sich um. „Ich glaube übrigens, er hat den Hund aus Versehen gerufen.“ „Wie meinst du das?“ Pastor nimmt das Tuch von meinem Hals und es ist voller Blut. Er sucht nach einer anderen Möglichkeit, die Blutung zu stillen. Für mich könnte es gerade nicht unwesentlicher sein. „Die Hexenbeutel, sie sind mit verschiedenen Dingen gefüllt. Knochen. Pflanzensamen. Irgendwas muss den Hund gerufen habe, ich weiß nur nicht was. Ich habe Aran nach deren okkulte Bedeutung gefragt, aber er…“ „Aran?“, hakt er nach. Er zerrt sich das Schlauchtuch über den Kopf und zieht es mir rabiat über den Schädel. Ich wehre mich halbherzig, weil all das meine Gedankengänge stört. „Der Antiquitätenhändler.“, nuschele ich in den Stoff, „Luis, in den Hexenbeuteln waren Adonisröschen. Tollkirsche. Eisenhut… “ „Worauf willst du hinaus? Halt still!“, harscht er mich an, „Moment mal, Eisenhut?“ „Ja, blauer Eisenhut“, bestätige ich. Pastor lacht auf und sucht weiterhin nach irgendwas für meine Wunden. „Was?“; frage ich irritiert, packe seine Jacke und zwinge ihn dazu, mich anzusehen. „Hast du gewusst, dass laut griechischer Mythologie der blaue Eisenhut aus dem Speichel des Cerberus entstand, den er auf die Erde tropfte, nach dem Herkules ihn aus der Hölle zerrte? Eine Pflanze so giftig, dass sie schon in kleinen Mengen tötet“, erzählt er, „Cerberus, der Wächter der Unterwelt.“ Aus ihm spricht der Unglauben, während in meinem Kopf mehrere Puzzleteile zusammenfallen. „Deswegen ist er hier“, entflieht es mir mit einem fast euphorischen Lachen, als ein paar Bruchstücke in meinem Kopf zusammenfinden und plötzlich Sinn vorheucheln. Der Schmerz und das Adrenalin machen mich etwas hysterisch. „Ja, großartig. Wir sollten zurück zur Grabungsstelle und uns neu formieren. Barres sucht sicher weiter nach Marks...“, berichtet Pastor und sein Gesichtsausdruck ist ernst. „Er war eben noch vor mir. Marks, er… er hat mich in deine Richtung geführt. Du musst ihn gesehen haben“, versichere ich ihm. Pastor schaut sich suchend um und schüttelt den Kopf. „Okay, wieso meldet er sich nicht. Er reagiert nicht aufs Funkgerät“, berichtet Pastor. Nach kurzem Sortieren drückt er mir dieses in die Hand. „Wahrscheinlich hat er es irgendwo verloren.“ Wie aufs Kommando beginnt das Gerät zu knacken. Doch es folgt nur rauschen. Nichts wird durchgesagt, stattdessen durchbricht erneut ein Schrei die Nacht. Wir setzen uns prompt in Bewegung, streifen durchs Dickicht, bis wir erneut an der Stelle ankommen, wo wir das vierte Opfer ausmachen konnten. Ich erkenne die Stelle sofort. Die Erde um das Grab ist stärker aufgewühlt. Die Hand und die Beine sind zu erkennen. Jemand war hier. Mit den Taschenlampen leuchten wir die Umgebung ab und wieder sind es zuerst die Härchen in meinem Nacken, die reagieren. Er ist hier, der Höllenhund. Ich spüre sein unterschwelliges Knurren auf meiner Haut wie Stromschläge. Ruckartig ziehe ich die Taschenlampe in die Richtung, in der ich ihn vermute und erstarre. Fletschende Zähne leuchten im Lichtkegel der Taschenlampe. Ich lasse die Hand sofort sinken. Nun sehe ich nur noch seine roten Augen aufleuchten, während sich der Dämonenhund langsam, fast geräuschlos ins Gestrüpp zurückzieht. Dann vernehme ich rechts neben mir ein Keuchen. Ich schalte das Licht wieder an und entdecke neben einem knorrigen Baum den unruhig atmenden Leib eines unbekannten jungen Mannes. Sein Kopf lehnt gegen den breiten Stamm. Blut färbt seine Lippen. Das Gesicht des Angreifers hatte ich nicht gesehen und doch weiß ich, dass ich vor dem Gesuchten stehe. „Pastor!“, rufe ich und gehe auf den verletzten Mann zu. Er erkennt mich, denn in dem Augenblick perlt sich ein blutersticktes Lachen aus seiner Kehle hervor. Schon aus der Entfernung sehe ich zwei blutige Bissspuren an seinem Hals und der Schulter. Der linke Arm ist unnatürlich weit vom Rest seines Körpers entfernt. Das Ausmaß der Wunden wird deutlicher, als auch Pastors Taschenlampe den Körper beleuchtet. „Er…hat.. mich…“, röchelt er mehrmals unwirsch, bringt den Satz aber nicht zu Ende. Ein weiterer Schwall Blut fließt schäumend über seine Lippen. Wir tasten ihn vorsichtig ab, doch das Messer, welches er gegen meinen Hals gedrückt hat, ist nirgendwo auszumachen. Stattdessen finde ich einen weiteren Hexenbeutel. Wieder lacht er auf und weitere Salven Blut drücken sich aus den offenen Wunden an seinem Hals. Pastor ruft Hilfe, während ich den Blick nicht von dem Täter abwende. Nur das viele Blut taucht sein Gesicht in den Wahnsinn. Der Rest ist so normal wie Butterkekse. Er packt mein Handgelenk, als ich den Stoffbeutel in die Tasche verschwinden lasse. „Es ist vollbracht“, röchelt er mit blutigen Lippen, ehe ich meinen Arm aus seinem schwachen Griff entferne. Uniformierte bahnen sich ihren Weg durchs Unterholz. Irgendwann beginnt Pastor, unseren Standort kundzugeben, dass ein Verdächtiger in Gewahrsam ist und wir einen Sanitäter benötigen. Der Druck in meiner Brust schwillt weiter an, als die Rufe und hektischen Anweisungen um uns herum lauter werden. Der Täter sagt kein Wort mehr, sondern starrt uns aus leeren Augen an. Das Funkgerät knackt. Wieder und wieder. Ich zucke merklich zusammen. Jedes Mal. Jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt. Die Unruhe an größeren Tatorten machte mich schon immer wahnsinnig, also entferne ich mich langsam Richtung Basis. Ich höre, dass Pastor mir folgt, aber reagiere nicht auf seinen Ruf, sondern gehe unbeirrt auf das flackernde Blaulicht zu, welches sich seinen Weg zwischen die Bäume hindurcharbeitet. Ich stoppe erst, als wir bei den laufenden Einsatzwagen ankommen und sehe Colton Barres in einem Krankenwagen sitzen. Auch hier herrscht Hektik. Der Regen plattert auf die blechernen Dächer, begleitet die dumpfen Schritte der Kollegen und das blaue Licht taucht alles in eine surreale Atmosphäre. „Officers, könnte ich einen aktuellen Statusbericht bekommen?“, höre ich Pastor fragen und einer der uniformierten Beamten kommt mit abgezogener Mütze auf uns zu. Er schwitzt. Er zögert. „Sir, wir haben in der Nähe der Böschung einen Toten gefunden…“, presst er hervor und pausiert einen tiefen Atemzug lang, „Es ist Detective Marks.“ Zwei Stunden vergehen. In der Zwischenzeit beginnt es, zu schütten. Die Sanitäter kümmerten sich um die Wunden an meinem Hals und trotz deren Widerstandes verweigere ich eine Fahrt ins Krankenhaus. Es sind lediglich ein paar Kratzer. Nichts Schlimmes. Pastor sah ich vor einer Stunde das letzte Mal. Das Rascheln feuchter Kleidung ist überall zu hören, aufgeregte Ausrufe und Anweisungen hallen durch die Nacht. Es dauert, bis Marks Leichnam aus dem Abhang geborgen werden konnte. Ein uniformierter Beamter positioniert sich vor mich und es braucht zwei Anläufe, bis ich begreife, dass er mir mitteilt, dass ich den Tatort verlassen soll. Meine Anwesenheit wird nicht mehr gebraucht. Ich soll ins Revier zurückkehren und meine Aussage protokolieren. Es sei eine Anweisung. Er deutet auf die geparkten Einsatzwagen. Als ich meinen Kopf in die entsprechende Richtung wende, erkenne ich, wie Captain Lamarks massive Gestalt zu den weißen Überdachungen wandert, die aufgebaut wurde, um das vierte Opfer zu beherbergen. Auch wenn ich in der Dunkelheit sein Gesicht nicht sehe, spüre ich seinen Blick auf mir. Selbst die unausgesprochenen Fragen treffen mich mit all dem Gram, der beweist, dass ich keine Erklärungen für die Geschehnisse habe, dass ich sie weder jetzt noch morgen haben werde. Niemand von uns. Nicht ich. Nicht Pastor. Auch nicht Barres. Ohne der Anweisung des Officers Folge zu leisten, entferne ich mich vom Areal. Es dauert eine Weile, bis ich bei meinem eigenen Wagen ankomme, die Tür öffne und in den Fahrersitz sinke. Meine Klamotten sind vollkommen durchtränkt und obwohl ich fortan im Trockenen sitze, fühlt es sich an, als würde ich ertrinken. Benommen fahre ich statt ins Siebzehnte zu meiner Wohnung zurück. Meine Aussage kann warten. Die Straßen sind zum Glück leer und niemand kommt mir entgegen, als ich im Dunkeln die Treppen nach oben steige. In meiner Wohnung riecht es nach Staub, der sich mit den dezenten Resten des Blutes an meinen Händen mischt und der Tatsache, dass ich den Müll rausbringen müsste. Doch das ist das letzte, woran ich gerade denke. Ein Omen des Todes. Detective James Marks ist tot. Die letzten Stunden spielen sich vor meinem inneren Auge ab. Es ist wie ein Gewitter. Szenen. Worte. Gebrüll. Wann ist es geschehen? Wann gab es den letzten Kontakt zu Marks? Als wir uns aufteilten. Nein, falsch. Ich könnte schwören, dass ich Marks Stimme im Dunkel des Waldes gehört habe. Ich habe ihn gesehen. Habe ich ihn wirklich gesehen? Er hat meinen Namen gerufen. Seine Warnweste. War es da schon zu spät gewesen? Ich greife nach dem Telefon und erkundige mich nach der Identität des vierten Opfers. Es dauert etwas, bis ich jemand am Ohr habe, der mir die Info zuschiebt. Ein 27-jähriger Immobilienmakler. Er wurde vor acht Tagen von seiner Frau als vermisst gemeldet, da er nicht zur verabredeten Zeit von einer Geschäftsreise zurückkehrte. „Okay, vielen Dank. Kannst du mir zufällig noch raussuchen, wo er wohnte?“ Die Kollegin nennt mir eine Adresse ihm Humboldt-Distrikt. 4 von 5. Ich vervollständige direkt die Karte mit der Wohnadresse. Damit wäre ein weiterer Bezirk bestätigt. Ich starre abwechselnd auf die markierten Punkte und irgendwas regt sich. Vielleicht ist es… Ich bin erschöpft und müde. Mein linkes Auge beginnt vor Anspannung zu zucken und ich reibe mir ermattet über das Gesicht. Es ist absurd, wieso sollte er einen derartigen Wert auf eine simple Symbolik verwenden? ‚Es ist vollbracht.‘, raunt es in meiner Erinnerung. Der Täter hat erleichtert geklungen. Gewiss. Das Handeln des Mörders war überaus rituell. Ich schlage mit der flachen Hand auf die Tischplatte, flitze zum Schreibtisch. Bewaffnet mit dem Klebebandspender kehre ich zur Tafel zurück, pfriemele die Rolle raus. Schnur wäre ästhetischer, doch ich habe keine, also beginne ich meine Arbeit damit. Ich klebe das Ende auf Opfer Nummer 1. Elias-Distrikt. Ich ziehe das Band zum Punkt 2, zum Harrow-Distrikt zu der alten Wohnadresse von Willem Pannek. Als nächstes Punkt 3, Geiger-Distrikt. Mit dem Klebeband entsteht ein gleichschenkliges, spitzwinkliges Dreieck. Das Kribbeln hinter meinen Augäpfeln wird stärker, während ich die vierte Strecke zum letzten bekannten Punkt setze. Doch es reicht mir, um zu erkennen, was ich keineswegs sehen wollte. Mein Gehirn vervollständigt das Pentagramm von allein. Das kann nicht wahr sein. Ist es derartig simpel? Die Abstände sind beinahe perfekt und die Fundstelle im Boscop-Pfad befindet sich genau in der Mitte. Das war Präzisionsarbeit. Zwischen den Opfern selbst wurden keine Verbindungen festgestellt, außer der Tatsache, dass sie männlich waren und zwischen 22 und 32 Jahre alt. Sie sind damit eher willkürlich. Trotzdem muss es geplant und die Gegenden ausgekundschaftet sein. Ein Gebäude und dann einen passenden Bewohner. Er hat sich an seine Opfer herangehängt und den richtigen Moment abgewartet. ‚Es ist vollbracht‘. Warum vollbracht? Er konnte das Ritual nicht beenden. Es gab kein fünftes Opfer. Ich stocke in meinen Gedanken, als ich begreife, dass es sehr wohl ein weiteres Opfer gab. Detective James Marks. Die Scheuklappen öffnen sich und das Verstehen lässt mich erschaudern. Marks lebte ebenso wie ich im Hobrecht-Distrikt. 5 von 5. Das Pentagramm ist nur okkulte Makulatur eines verdunkelten Verstandes. Die Faktoren sind andere. Doch wie konnte der Mörder es wissen, dass sein Ritual, sein Wahnsinn, geglückt ist? Ich falle zurück in den Stuhl, reibe mir fahrig über das Gesicht, spüre, wie die Schnitte an meinem Hals durch die Spannung zwicken, bis es schmerzt. Ich lasse es geschehen. Als Pastor und ich ihn fanden, war der Dämonenhund bei ihm. Irgendwas entgeht mir. Er hat ihn angegriffen. Nicht mich. Das Klingeln der Haustür überhöre ich im ersten Moment nicht absichtlich, da es im Dröhnen meines eigenen Herzschlags untergeht. Erst der zweite Versuch holt mich aus dem durchdringenden Schatten meiner Gedanken zurück. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, ehe ich nach der Klinke greifen und die Tür öffne. Es ist keine Überraschung, ihn hier zu sehen und trotzdem verkrampft sich meine Magengegend. Ich schlucke schwermütig, ehe ich Pastor Platz mache, sodass er eintreten kann. „Erkläre es mir. Alles.“, fordert mich der andere Detective ernst und unnachgiebig auf. „Jedes Detail.“ Er trägt einen Sechser Bier in der Hand und ich bin mir nicht sicher, ob er ihn mit mir teilen wird, wenn ich mit allem anfange. „Woher wusstest du das mit Cerberus“, frage ich und stoppe seinen Weg ins Innere meiner Wohnung, indem ich ihm die Hand flach gegen die Brust lege. Pastor schaut verwirrt auf. „Ein Artikel in einer Wissenszeitschrift, die ich beim Tierarzt gelesen habe.“ Beim Arzt, wo er mit seinem Hund war. Was auch sonst. - Ende Folge 3 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)