Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 8: Superdupernatural - 4 -------------------------------- Folge 2 ~Teil 4 - Superdupernatural ~ Am nächsten Tag bin ich pünktlich im Büro und kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie ich das bewerkstelligen konnte. Die Nacht war kurz und der Morgen verflüchtigt sich immer weiter im undurchsichtigen Dunst der Erinnerungen. Auch nach der ersten Tasse schwarzem Wachmacher fehlen mir die Teile zwischen Aufstehen und Kaffeetrinken. Ich schließe die Augen und lehne meinen Kopf gegen einen der aufgetürmten Aktenstapel, während mein Rechner hochfährt und ich mir wünsche, dass der Berg von allein verschwindet. Scheinbar bin ich auf Autopiloten hierhergefahren, dann schaffe ich es sicher auch, mit der Kraft des Traumzustandes den Papierkram abzuarbeiten. „Wow, du siehst… bescheiden aus. Aber immerhin lebendiger als der Golem.“ Es ist die tiefe Stimme und der Verweis auf das mystische Wesen, was weniger fabelhaft war als gedacht, was mich - ohne die Augen zu öffnen - wissen lässt, wer vor mir steht. Vikar Damast. Sein Vergleich hinkt in mehr als einer Weise und doch höre ich ihn leise lachen. Ich gebe ein Golem frönendes Grölen von mir, ehe ich den Kopf hebe und den dummquatschenden Ankömmling mustere. Damast grinst verschmitzt. Obwohl auch er in den letzten Tagen wenig Schlaf bekam, sieht er nicht aus, wie der wandelnde Tod oder einer seiner Lakaien. „Das war richtig authentisch“, lobt er mich und ich versuche, die nächste Salve bestmöglich zu überhören. Ich bin zu müde und mäßig gelaunt für diesen Mist. Der Detective lässt sich unbeeindruckt auf den abgewetzten Stuhl neben meinem Schreibtisch fallen, fingert an dem Namensaufsteller herum, der strategisch perfekt auf einem breiter werdenden Riss im Holz steht und schlägt die langen Beine übereinander. Dieses Revier ist eines der ältesten der Stadt und wir haben noch die alte Ausstattung. Keine schicken Stehtische und ergonomisch korrekten Sitzgelegenheiten. Einer meiner Kollegen verbringt den ganzen Tag auf einem Holzstuhl. Ich schiebe mein Namensschild sofort wieder an die korrekte Stelle. „Was willst du? Wartet keine Seance auf dich oder ein Trollnotfall?“, kontere ich, als er nicht von allein mit der Sprache herausrückt und setze mich aufrecht hin. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn kurz darauf kommt der Sergeant und der Captain des 12. Reviers um die Ecke. Ich greife unwillkürlich nach der Mouse und ziehe einen der Berichte dichter heran, während ich ihnen achtsam mit den Augen folge. „Fragt mich derjenige, der Phantomen nachjagt“, erwidert Damast schnippisch, schielt zu meinen Vorgesetzten und wirkt seltsam ungerührt. „Schlecht geschlafen?“ Ich beobachte aufmerksam, wie die Bosse das Büroabteil verlassen und habe erst danach die Muße, das Gespräch mit Damast wieder aufzunehmen. Eine weitere Ermahnung und noch mehr nutzlosen Papierkram kann ich nicht gebrauchen. „Nur zu wenig und es ist KEIN Phantom“, relativiere ich und mustere meinen Störenfried kritisch. Mein Kollege sieht irgendwie anders aus. Es dauert einen Moment, bis mir klar wird, warum. Er trägt diesmal einen ordentlichen schwarzen Kurzmantel. Darunter blitzt ein dunkelblauer Pullover mit unscheinbarem Zopfmuster hervor. Eine schlichte graue Stoffhose sitzt angemessen an ihm und er entspricht damit mehr oder weniger dem Dresscode für Detectives. Aber nur fast. Ich hingegen trage einen ordnungsgemäßen mittelgrauen Anzug mit einem elfenbeinfarbenen Hemd und schwarzer Krawatte. Fast automatisch greife ich mir an den Knoten und ruckele daran rum, weil sie mich schon den ganzen Tag nervt. „Stimmt ja, es ist der böse Zwilling“, erwidert er schnippisch und betrachtet auch mich einmal von oben bis unten. Ich entlasse meine Krawatte mit einem Raunen und für einen Sekundenbruchteil zuckt sein Mundwinkel, als wartete er darauf, dass ich nach seinem ungewöhnlich adretten Outfit frage. „Ich habe Pablo gefunden“, berichte ich stattdessen. „Picasso?“ „Pablo, der Hund.“ Damast drückt das Verstehen mit einem bejahenden Laut aus, fragt aber nicht weiter nach. „Er ist verletzt, aber lebt“, erörtere ich daraufhin. Aber auch das ruft keine anteilnehmende Reaktion bei ihm hervor. Ich mustere ihn absichtlich starr, ohne mit meiner Skepsis hinter dem Berg zu halten. Er erwidert es gelassen und wir liefern uns ein Gefecht mit Blicken, bei dem ich ohne Frage als Sieger hervorgehe. „Hervorragend, da du nichts weiter zu tun hast, außer Veterinäramt zu spielen… Schnapp deine Jacke, du fährst“, eröffnet mir Damast aus dem Nichts heraus und klingt abermals, als würde er einen Hund herumkommandieren. „Komm!“ Ich erwürge ihn. Ich bin kurz davor. Damast steht schwungvoll auf. Dabei schlenkert sein linkes Bein um Haaresbreite an einem instabilen Aktenstapel des Nachbarschreibtisches vorbei. Ein loses Blatt kriegt Aufwind, flattert über den Schreibtisch der Kollegin und bleibt neben der Tastatur liegen. Es ist ein Vermisstenmeldung. Mehr erkenne ich auf die Schnelle nicht. Ich bin erstaunt, dass ich überhaupt etwas bemerkt habe. „Wir fahren? Wohin?“, frage ich wenig begeistert und hörbar unwillig. Ich zwinkere mehrmals langsam, als er von jetzt auf gleich in meiner Peripherie auftaucht, da die anhaltende Schläfrigkeit meine Reaktionsgeschwindigkeit limitiert. „Zum Friedhof“, äußert Damast. Er betont es, als wäre es ein Besuch bei einem Rummelplatz. „Wieso?“, hake ich missmutig nach. „Wir erfüllen dem Dibbuk seinen letzten Wunsch. Hoffentlich“, erklärt er laut und ich sehe mich unwillkürlich nach aufhorchenden Kollegen um. Zum Glück sind die meisten unterwegs und die umgebenden Schreibtische leer. „Und warum tun wir das?“ Ich senke absichtlich meine Stimme, in der Hoffnung, dass sich Damast ein Beispiel daran nimmt. Vergeblich. „Ach, verdammt nochmal, bist du aus der Sesamstraße gefallen? Wie? Wo? Was? Warum?“, äfft er los, „Lass die Fragerei und setz deinen Bewegungsapparat in Gang. Komm, Bewegung tut dir gut.“ Diesmal liegen mir weniger nette Substantive auf der Zunge. Die Welt ist voller guter Homonyme, doch ich bin zu höflich, um sie unverblümt in die Welt zu tragen. Die harsche Art des anderen Mannes könnte allerdings dafür sorgen, dass sich das bald ändert. Ich knirsche mit den Zähnen, ehe ich mich endlich aufrichte. Damast beobachtet mich dabei mit wachsender Ungeduld und einer Schärfe, die mich zugleich matert und nervt. Ohne meinen Blick von ihm zu lösen, greife ich extra langsam nach meiner Jacke, packe erst noch die Akten, auf denen ich geruht habe, sorgfältig zur Seite und bringe geruhsam meine leere Tasse in die Küche. Als ich zurückkehre, hat er es sich auf meinem Schreibtisch sitzend gemütlich gemacht. Damast hält das Vermisstenblatt vom Schreibtisch der Kollegin in der Hand. „Ist der Herr endlich so weit?“, fragt er, ohne aufzusehen. Ich nehme ihm das Papier aus der Hand und lege es zurück auf den Aktenstapel. Ich fühle eine Schwere um mich herum. Sie ist wie wabernder Nebel, der sich erhebt, mich ummantelt und lähmt. Immer dann, wenn ich einen Friedhof betrete, ist es unausweichlich. Es lässt mich in derselben Sekunde angestrengt atmen. Als wäre man dem heißen Dunst einer zu warmen Dusche ausgesetzt. Ich mochte sie nie, die Besuche der verstorbenen Verwandten. Ehren. Danken und Erinnern. Konzepte, die einem als Kind kaum etwas bedeuten. Schon damals war da dieses seltsame Gefühl, welches mich beschlich. Ein unterschwelliges Kitzeln. Es ließ meine Haut vibrieren und die Härchen an meinem Körper zittern. Es fühlt sich kühl an und abweisend. Als ich fünf Jahre alt war, erklärte mir meine Mutter, dass es die Seelen der Verstorbenen sind, deren Energie so groß ist, dass etwas auf der Erde zurückbleibt. Ich solle es nicht fürchten. Ich solle sie als Wegführer verstehen, als Begleiter. Damals war es mir unheimlich. Nicht ungewöhnlich bei einem Kind, denn das Verständnis für die Welt reichte einfach nicht aus. Es war nicht greifbar für mich und das ist es manchmal auch heute nicht. Ich werfe einen Blick zu meinem Kollegen, der mit geöffneter Jacke neben mir her läuft, als wäre das ein Spaziergang im Park. Nur seine Augen wirken unruhig, huschen hin und her, so als suchte er etwas, ohne zu wissen, was es ist. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diese Reaktion bei ihm bemerke. Ich beobachte auch, dass sich seine Schultern sachte nach oben ziehen. „Und was machen wir hier genau?“, frage ich, als die Stille auf mich niederzubrechen scheint. Ich schaue mich dabei weiter auf dem Friedhofsgelände um. Die Mehrheit der sorgfältig gereihten Grabsteine sind alt, moosüberzogen und wettergegerbt. Die Gräber sind selbst eher schlicht, ohne Blumendekoration und Schnickschnack. Die jüdischen Traditionen sehen es nicht vor. Ich schaue zu einem älteren Paar, welches vor einem der neuen Grabsteine steht. Beide sind vornehm gekleidet. Sie hält ein gerahmtes Bild in der Hand und ein Stofftaschentuch. „Wir bestatten den Dibbuk bei seiner letzten Verwandten, der Besitzerin der Spieluhr. Ich habe mit dem Rabbi gesprochen und er versicherte mir, dass er sich darum kümmern wird, dass man dokumentiert, dass man bei dem entsprechenden Grab Vorsicht walten lassen muss, sodass die Spieluhr nicht wieder in falsche Hände gerät.“ „Also die Prämisse ist, dass der Geist nur zurück zu seiner Familie wollte?“ Ich schaffe es nicht, das Missfallen zu unterdrücken, das mich bei dieser Annahme kitzelt. Es sind immerhin zwei Menschen gestorben. „Wer weiß. Ich hatte noch nie einen Plausch mit einem Totengeist. Sie sind eher selten gesprächig“, kommentiert er salopp. Ich bleibe abrupt stehen, denn die fade Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. „Ernsthaft? Das ist deine Reaktion darauf? Du sagst das, als wäre es das Normalste der Welt und es gäbe nichts, was das ändern könnte“, ächze ich ihm zu, „Stellen sich dir nicht die Nackenhaare auf? Macht dir das gar nichts mehr aus? Das ist unbegreiflich für mich.“ Ich bin empört. Schlicht und einfach. Damast geht noch ein paar Schritte, ehe er bemerkt, dass ich ihm nicht mehr folge und wendet sich zu mir um. „Was willst du von mir hören? Nimm es hin oder lass es sein. Was soll ich noch sagen? Du hast es doch selbst gesehen, also triff deine Entscheidung.“ Ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen und das macht es nicht weniger verrückt, unglaubwürdig und absurd. Ich erwidere nichts, sondern sehe ihn einfach nur verloren an. „Pastor, versteh doch. Wir können Bakow und de Lucia nicht wieder lebendig machen …“, setzt er an, „Glauben. Hoffnung. Verstehen. Wut oder Vergessen. Du musst selbst entscheiden, was du brauchst, um deinen Frieden damit zu machen.“ Es ist nicht hilfreich. „Aber…“, setze ich an und werde unterbrochen. „Okay, denkst du wirklich, dass all die Schriften, Legenden und Erzählungen bloße Fantasie sind? Hirngespinste ungebildeter Menschen früherer Jahrhunderte? Ja, sie haben damals nicht alles verstanden und vieles lässt sich heute durch Wissenschaft erklären, aber … weißt du, sie hatten noch die Fähigkeit, durch die Schatten hindurch schauen zu können. Wir sind heute blind und abgestumpft. Durch Medien indoktriniert und desinteressiert. So ist es. In Island gibt es zum Beispiel seit Jahrhunderten den Glauben an Elfen. Die Hügelspitzen, die sich durch die Vulkanlandschaft ziehen, gelten als deren Behausungen und Lebensräume. Heute weiß man, dass die Spitzen wegen Vogelkot entstehen, weil die Vögel aus Mangel an Bäumen die Hügel als höchsten Punkte benutzen. Aber heißt das automatisch, dass keine Elfen existieren?“, endet er den eifrigen Redeschwall und wir schauen uns an. „Elfen?“, wiederhole ich skeptisch. Ich widerstehe dem Drang, zu fragen, ob er bereits welchen begegnet ist und denke sofort an das farbenfrohe Graffiti in der Nähe des Antiquariats. „Die Hügel sind rund und sehen aus, als hätten sie Nippel.“, entgegnet er mit einem gepressten Schmunzeln. Der umtriebige Kerl schafft es tatsächlich, meine aufkeimende Skepsis zu mindern, die jedes Mal in mir aufflammt, wenn ich darüber nachdenke, was alles da draußen und mitten unter uns existieren könnte. Doch abermals gibt er mir keine klaren Antworten. Kein Ja. Kein Nein. Es ist ein simples Womöglich. Vielleicht. Scheinbar. Im Grunde ist es nichts. „Du hast ein echtes Talent, drumherum zu reden, ist dir das klar?“ „Du solltest mal meine Berichte lesen“, witzelt Damast, weitet seine Augen und schüttelt sein Haupt. Ich bin gerade nicht dazu in der Lage, weiter darauf einzugehen. „Um Himmelswillen“, erwidere ich mit einem vielsagenden Laut der Frustration, „Apropos Berichte. Was schreibe ich in die Bakow Akte?“ „Die Wahrheit. Er starb, weil er Polizisten angriff. Schusswaffengebrauch aufgrund akuter Gefahrenlage.“ Simpel. Nicht unwahr. Schnell schließe ich zu ihm auf und gehe, ohne zu zögern, an ihm vorüber. Ich würde es nicht zugeben, aber etwas der Schwere hat sich trotz alledem verflüchtigt. „Du kannst es nach heute einfach vergessen. Das Alles“, sagt Damast leise und es ist der Wind, der diese Worte zu mir trägt. Als ich mich umwende, schaut er mich direkt an, aber irgendwie auch durch mich hindurch. „Wie könnte ich“, entgegne ich und bin mir nicht sicher, ob er es gehört hat. Unsere Gedanken werden einen Augenblick später von Musik hinfort getragen. Damast schaut sich um, deutet beim Losgehen mit dem Kopf in die Richtung des Gesangs und beschleunigt seine Schritte. Bevor wir bei der Gruppe ankommen, stoppt mich Damast, greift in seine Jackentasche und zieht zwei dunkelblaue Stoffstück hervor. Er reicht mir eines davon und ich begreife, dass es sich um eine Kippa handelt. Ich habe noch nie eine getragen, schaue also aufmerksam dabei zu, wie sie sich mein Kollege auf den Kopf setzt, zurecht zuppelt und ich folge seinem Beispiel. Die Gebete setzen sich bei ruhigem Vogelgezwitscher fort und keiner der Anwesenden scheint Notiz von uns zu nehmen oder sich an unserer Präsenz zu stören. Es ist ein sonderbares Gefühl, dieser jüdischen Zeremonie beizuwohnen und noch eigenartiger wird es, als das mit einem weißen Tuch abgedeckte Holzkästchen in ein Loch neben dem Grab eingelassen wird. Niemand berührt es. Keine außer mir schaut es direkt an. Als es aus meinem Blickfeld verschwindet, wird es um uns herum still. Es sind nicht nur die Gebete, die stoppen. Auch das Zwitschern der Vögel verstummt. Der Wind ist fort und kein Kitzeln, kein kühler Hauch ist zu spüren. Obwohl ich sehen kann, wie sich die Spitzen der Baumreihe am Rand der Mauer zur Seite neigen, ist davon hier am Grab nichts zu merken. Die ältere Dame von vorhin betätigt eine Wasserpumpe. Ich sehe, wie die Flüssigkeit schwallartig daneben geht, doch auch das Plätschern ist nicht zu hören. Mein Magen wird flau und dann ist plötzlich alles wieder normal. Der Brunnen gurgelt und die alte Frau beginnt, mit ein paar der Harken zu hadern, die an einer Holzvorrichtung angebracht sind. Ohne abzuwarten setze ich mich in Bewegung, steige die kleine Steintreppe hinab und husche achtsam zwischen den Gräbern hindurch. „Bitte entschuldigen Sie, aber darf ich Ihnen helfen?“, frage ich aus ein paar Metern Entfernung. Ich möchte sie ungern erschrecken. Nur gemächlich wendet sie sich um und mir fallen sofort ihre leicht trüben Augen auf. „Oh, das wäre zu freundlich, junger Mann. Sie sind verknotet, wissen Sie“, erklärt sie mir langsam das Offensichtliche. Ihre Stimme ist schwach und leicht kratzig. Ich lächele ihr zu, tilge die wenigen Schritte zwischen uns und mache mich daran, die Metallstreben der Laubfächer zu entwirren. Sie sind rostig und stark gebogen, daher verhaken sie sich ineinander. Mit reichlich Klappern und schwindender Geduld schaffe ich es, eine der Harken herauszulösen. Ich folge der Dame zu dem Grab, an dem sie bereits vorhin gestanden hat und wundere mich, wo ihr Begleiter hingegangen ist. Dankend greift sie nach der Harke und mein Blick fällt auf die papierdünne Haut ihrer stark runzeligen Hand. Sie ist mit feinen blauen Adern und Venen durchzogen und ich denke an meine eigene Großmutter, der ich als Kind oft bei solchen Arbeiten zur Hand gegangen bin. Sie hatte den grünsten Daumen, der mir je begegnet ist. Jede Pflanze wuchs bei ihr zur schönsten Pracht, mit den saftigsten Früchten und in den wundervollsten Farben. Sie hat ihren Garten stets geliebt. „Mein Mann“, beginnt die alte Dame neben mir ruhig und legt ihre knorrige Hand sachte an den Grabstein, „Ihr Lächeln erinnert mich an meinen Arti. Es ist gütig und warmherzig, so wie er es war, wissen sie.“ Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich lächelte. Ich schaue automatisch auf die Gravur. Arthur Moos. Er starb erst vor einem Jahr. „Er fehlt mir sehr.“ „Darf ich das für Sie übernehmen?“, biete ich an und möchte ihr die Möglichkeit geben, ihrem Mann noch etwas länger Gedenken zu können. Sie nickt und lächelt sanft und dankbar. Ich harke die Pfade um das Grab herum sauber, während ich ihren sanften Gebeten und gemurmelten Gesängen zuhöre. Ich verstehe kein einziges Wort und doch fühle ich einen schlichten Frieden in mir wachsen. Sie bedankt sich erneut und geht. Ich verstaue die Harke an der Holzwand und erst danach sucht mein Blick nach den meines Begleiters. Ich finde ihn etwas abseits beim Rabbi stehend. Seine Arme sind verschränkt, während er aufmerksam den Worten des religiösen Amtsträgers lauscht. Schon im nächsten Moment gehen sie in verschiedene Richtungen davon, ohne erkennbaren Gruß. Es wirkt, als waren sie mitten im Gespräch. Damast lässt seinen Blick schweifen und findet mich. Er nimmt die kleine Steintreppe, die auf die Ebene der Gräber führt, beschwingt und ohne Hast und Eile. Seine Hände vergräbt er tief in den Jackentaschen, als er auf mich zukommt. Bei mir angekommen, wackelt er mit dem Kopf und ich schenke ihm einen fragenden Blick. Er deutet mit der Hand an seinen Hinterkopf und ich verstehe. Er meint die Kippa, die ich noch immer trage. Ich ziehe mir das Stoffkäppchen vom Kopf und reiche es ihm. „Der Dibbuk ist jetzt sicher verwahrt? War´s das jetzt?“ „Erstmal, nehme ich an.“ Wie ermutigend. Damast grinst halbherzig, spart sich aber jede weitere Erklärung und zieht die Schultern zuckend nach oben, als hätte ihn gerade ein kalter Schauer erfasst. Sein Blick wandert zum Grab von Arthur Moos, verweilt und schweift davon. Die Frage verbleibt als Kitzeln auf meiner Zunge, nachdem sich der andere Detective räuspert und schnellen Schrittes den Ausgang ansteuert. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann könnte ich glauben, dass er kurz erschauderte. Auch ich blicke nochmals zu dem Grabstein und spüre nichts. Statt dem Gedanken nachzuhängen, folge ich ihm auf die Straße zurück. „Wo ... ist er nur... dieser verdammte… wo“, brabbelt Damast vor sich hin, nachdem ich ihn einhole. Er klopft sich mit beiden Händen gegen die Brusttaschen der Jacke und setzt sich trotz wirren Blicks und suchenden Händen ins Auto. Statt sich draußen abzutasten, beginnt er im Auto seine Kleidung durchzuwühlen. Die Hosentaschen erreicht er nur, indem er seine Hüfte anhebt und quasi zur Frontscheibe drückt. Die Frage nach dem Warum liegt mir auf der Zunge und wird dort verrotten, weil ich sie nicht stelle. Er weiß die Antwort wahrscheinlich selbst nicht. Ich schaue gen Himmel, seufze tonlos und schwinge mich auf den Fahrersitz. „Hey, ich habe mich noch gar nicht für die Hilfe bedankt. Ich weiß, dass es…“, setze ich an und breche ab, als seine Knie wiederholt gegen das Handschuhfach prallen und irgendwas knirscht. „Hilfe? Wovon redest du?“, fragt Damast ahnungslos und blickt auf. Er drückt das linke Knie gegen das Handschuhfach und dreht sich in den Innenraum. „Die Fallakte meines Freundes“, konkretisiere ich und bin durch seine Bewegungen reichlich abgelenkt, „Was zum Geier bezweckst du mit diesem Autoyoga? Und kannst du das lassen, du ruinierst mein Auto.“ „Du hast die Ermittlungsakte gekriegt? Das ist gut, oder? Ah, hab ich dich endlich!“, sagt er und angelt einen Bund mit zwei kleinen Schlüsseln aus einem der hinteren Verstauräume seiner engsitzenden Hose. „Und ich ruiniere gar nichts. Der Riss war vorhin schon da.“ Riss, welcher Riss? Ich beuge mich zu seiner Seite und mein Kollege lässt die Schüssel vor meiner Nase klimpern. Er verstaut sie samt Handy in seiner Jackentasche. Ich bin nicht schlauer als vorher. Kam die Akte von ihm oder nicht? „Die Akte ist nicht von dir?“ „Nein, ich habe doch gesagt, dass ich sie dir nicht besorgen kann.“ „Von wem habe ich sie dann?“, stelle ich die Frage dennoch. Wenn auch mehr für mich selbst. „Tja. Ist sie wenigstens hilfreich?“ „Teils. Sie zeigt jedenfalls deutlich, dass Barres und Marks nur in eine Richtung ermittelt haben.“ Damast gibt ein schnaufendes Geräusch von sich und streicht sich danach die Haare zurück. „Verwundert mich nicht, sie suchen sich den leichten Weg.“ Ich berichte ihm von meinem Besuch im Bezirksgefängnis, den Aussagen, die Manuel machte und dass ich mir die Aufnahmen der Videokameras angesehen habe. Weder am Tatort noch an seinem Aufenthaltsort gab es wirklich spezifische Hinweise auf meinen Freund. Ich bin mir unschlüssig, ob ich ihm von dem seltsamen Ausfall der Geräte berichten soll oder ob ich es lieber lasse, ihn weiter in dieses Schlamassel zu involvieren. Auch wenn ich mir eingestehen muss, dass es guttut, mit ihm darüber zu reden. „Ich bin ratlos und frustriert.“, sage ich und sehe zu ihm, „Und scheinbar interessiert es dich gar nicht, was ich sage.“ Ein in unsere Richtung eilendes Auto scheucht eine Schar Tauben auf, von denen eine auf der Motorhaube des Wagens sitzen bleibt. Sie hat diesen typischen grün und violett schimmernden Hals und ihr Kopf bewegt sich ein paar Mal ruckartig hin und her, ehe sie reißausnimmt. Es dauert einen Moment, bis ich bemerke, dass Damast bisher nichts erwidert und starr auf den Platz blickt, an dem eben noch der vermaledeite Vogel saß. Er ist physisch anwesend, wie es so schön heißt, aber nicht mental. Sein Unterkiefer neigt sich leicht nach rechts und seine Augen wandern langsam, aber rhythmisch zur Seite und wieder zurück. „Langweile ich dich?“, frage ich nochmals. Schärfer als gewollt, aber effektiv genug. Damast löst seinen Blick und sieht mich an. „Darauf kannst du wetten, aber das ist es nicht. Mir ist da was eingefallen und deswegen muss ich jetzt los… man sieht sich“, erklärt er hastig und ist ausgestiegen, bevor ich reagieren kann. Ich eile dessen ungeachtet von meinem Platz, steige aus und schaue in die Richtung, in die mein Kollege eilt. Ich überdenke meinen vormaligen Beschluss, dass mir das Reden mit ihm guttut, noch mal. „Hey, Damast?“, rufe ich ihm über das Autodach hinweg zu und unerwarteterweise bleibt er stehen, „Elfen? Gibt es sie nun?“ „Keine Ahnung! Sind Schlümpfe eher Gnome oder Kobolde?“, erwidert er und verschwindet aus meinem Blickfeld. Gut, dass er darauf keine Antwort will. Noch auf der Fahrt zurück ins Revier erhalte ich einen Anruf von der Tierklinik. Pablo wurde operiert und hat den Eingriff gut überstanden. Er verbleibt noch ein paar Tage zur Überwachung und kann danach abgeholt werden. Ich habe keine Ahnung, wie ich das bewerkstelligen soll. Für einen kranken Hund bin ich nicht ausgestattet, also telefoniere ich kurz darauf eine Liste möglicher Kandidaten durch. Niemand hat die passenden Kapazitäten oder den Willen einen verletzten Streuner aufzunehmen. Doch ich kann Pablo nicht zurück auf die Straße setzen. Nicht so. Am Abend versuche ich es erneut bei Izan. Diesmal öffnet mir niemand die Tür, trotz mehrmaligen Klingeln und Klopfen. Ich versuche es bei einem Nachbarn und stoße auch hier auf Schweigen und Ablehnung. Es ist ein Teufelskreis. Noch an Ort und Stelle informiere ich nochmals die Jugendfürsorge hinsichtlich meines Verdachts. Izan ist bereits bekannt und die Bearbeiterin versichert mir, dass sie in den nächsten Tagen einen Besuch initiiert. Mehr könne sie nicht tun. Ich verstehe, bin aber keineswegs zufriedengestellt und die Sorge wächst. Leider kann ich ihr nicht ausführen, wieso meine Besorgnis begründet ist, denn alles Wahre, was ich sagen könnte, würde mich als verrückt abstempeln und nichts zu der Sache beitragen. Es macht mir zu schaffen, nicht aussprechen zu können, was geschehen ist. Trotz alledem schlafe ich zum ersten Mal seit Tagen für mehr als sechs Stunden am Stück und fühle mich erstaunlich erholt, als ich vor dem Weckerklingeln erwache. Das ändert sich aber schnell. Noch beim Frühstück kriege ich eine Nachricht von meinem Semi-Kollegen und spüre sofort, wie sich mir die Nackenhaare aufrichten. Eine leichte Panikreaktion, allein durch das Auftauchen seines Namens auf dem Display meines Telefons. Wahnsinn. Damast bittet mich darum, im 17. Revier vorbeizukommen. Die unschuldige Bitte lässt auch die Haare auf meinen Armen alarmiert tanzen und ich denke bei den letzten Happen meines Marmeladentoasts darüber nach, ob ich mich besser daran gewöhnen sollte. Jetzt wäre der beste Moment, seine Nummer zu blockieren und einfach umzuziehen, sodass er mich niemals wieder findet. Die meisten meiner Sachen sind schließlich noch immer in Kartons verpackt. Ein Leichtes. Einzig das Wissen darum, dass ich noch nie jemand war, der vor Problemen weggelaufen ist, lässt mich den Gedanken wieder verwerfen und die Tatsache, dass ich das Revier nicht ohne Weiteres wechseln kann. Mit einem faden Seufzen binde ich mir die Krawatte, entscheide mich für die guten Schuhe und setze mich ins Auto. Damast finde ich in der Gemeinschaftsküche. Ich schaue aus der Ferne dabei zu, wie er abwesend seinen Löffel in einen Joghurtbecher dippt, ihn herauszieht und wieder reintunkt. Begeisterung sieht anders aus. Heute trägt er einen dunkelblauen Strickpullover, der schon von weitem wirkt, als wäre er aus dem letzten Jahrhundert. Drei seiner Kollegen holen sich in dieser Zeit einen Kaffee oder öffnen den Kühlschrank. Niemand wechselt ein Wort mit ihm. Kein Gruß. Kein Smalltalk. Nicht mal ein einfacher Blick. Er scheint wohl nicht nur mit Detective Barres auf Kriegsfuß zu stehen. Plötzlich sieht Damast auf und mich direkt an. Ich zucke überrascht, auch ertappt zusammen und setze mich sofort in Bewegung. „Guten Morgen“, begrüße ich ihn mit einem gewissen Enthusiasmus. Ausgeschlafen bin ich durchaus eine Frohnatur und das ist gern Stein des Anstoßes bei weniger positiven Morgenmenschen. In welche Kategorie Damast zählt, weiß ich nicht. Er mustert mich skeptisch, leckt seinen Löffel vom Joghurt frei. „Morgen“, erwidert er, während er den Becher in den Müll verabschiedet. Der schwere Rumms sagt mir, dass der Joghurt nicht aufgegessen war. Als nächstes drückt er mir ein Glas Wasser in die Hand. Statt mir den Grund für das Herbestellen zu nennen, läuft er zielstrebig zum Fahrstuhl. Ich folge und widerstehe dem Drang, die unzähligen Reibefussel von seinem Pullover zu zupfen. Auch während der Fahrt nach unten reiße ich mich unter aller Anstrengung, die ich aufbringen kann, zusammen, um nicht loszufragen. Als sich die Tür öffnet, platzt es aber aus mir heraus. „Warum bin ich hier?“ „Tja, die Wahrheit ist irgendwo dort draußen.“, erwidert Damast und ich vergesse prompt, was ich als nächstes sagen wollte. Hat er mich gerade ge-Akte X-st? Ich hole ihn wieder ein, schließe zu ihm auf und setze mich vor ihn, sodass ich ein paar Schritte rückwärtsgehen muss. „Okay, genug von dieser Hinhalte-Technik.“ „Halt! Nicht bewegen!“, ruft er laut aus. Ich stoppe im Sekundenbruchteil, schiele zu Seite und sehe noch, wie der Haarschopf von Damast nach unten verschwindet. Als ich den gesamten Blick nach unten richte, sehe ich den großen Kerl zusammengekauert am Boden hocken. Er winkt in meine Richtung, ich, jedoch, fixiere das schwarze Etwas mit acht Beinen unterhalb meines gehobenen Fußes. „Oi, Spinne“, entflieht es mir erschrocken und ohne Scham. Mein Fuß sinkt unwillkürlich ein paar Zentimeter, bis mich das laute Zischen Damasts eines Besseren belehrt und ich ihn zurückziehe. Ich stolpere zur Seite und bleibe bewusst mit Abstand stehen. „Beruhig dich, das ist nicht nur eine Spinne.“ „Spinne ist Spinne. Mach sie einfach weg", sage ich rasch, ohne meine Abscheu zu verstecken. Mehr als die Hälfte der Menschheit mögen diese Tiere nicht, damit habe ich kein schlechtes Gewissen, den Ekel zu äußern, der sich durch meine Eingeweide arbeitet. Ich kriege bei dem Anblick Erpelpelle. Selbst auf den Zähnen. Damast schaut mich an und winkt nach dem Glas in meinen Händen. Es dauert etwas, bis ich das begreife. Ich gebe es ihm nur widerwillig. „Das ist eine Latrodectus variolus, eine schwarze Witwe.“ Natürlich weiß er das. „Ein Weibchen sogar. Die sind hier eigentlich nicht heimisch." „Dann floh sie aus dem Zoo?“, erkundige ich mich pikiert. „Oder dem Terrarium. Oder warte, sie kommt aus einem geheimen Forschungslabor und wurde ausgesetzt, um die Welt zu vernichten!“, ruft er animiert auf, „Wir haben auch eine heimische Sorte, das ist nur nicht diese. Na, wo kommst du her, meine Hübsche? Hm?“ Ich bin fast beleidigt, als er ohne weiteres mitten im Gespräch seinen Ansprechpartner wechselt und dabei auch noch einen überaus sanften Tonfall rauskramt, nachdem er mich verarscht hat und für meine Sorge wegen Izan kaum ein My an Verständnis aufbrachte. Mittlerweile hat er die Flüssigkeit aus dem Glas in die traurig aussehende Topfpflanze gekippt, die an der Tür vor sich hin vegetiert und macht sich daran, das achtbeinige Etwas festzusetzen. Er schiebt ein Zettel unter das Glas und hebt beides langsam hoch. Dabei geht er überaus behutsam vor. Das Glas balancierend trabt er in sein Kämmerchen. „Hier...“ Er reicht mir ein zusammengefaltetes Formularblatt, an dem ein Beweismitteltütchen mit einem USB-Stick befestigt ist. „Was ist das?“ „Manuel Evans Alibi.“ „Was?“, entflieht es mir perplex. „Soll ich es dir buchstabieren? A-L-I...“, setzt er rotzfrech an. „Spar´s dir. Ich habe es schon verstanden“, unterbreche ich ihn knurrend, „Wie bist du an etwas herangekommen, was beweiskräftig sein könnte?“ „Kein Zauber. Kein Voodoo. Simple Polizeiarbeit", sagt er und ich nehme es als Seitenhieb gegen die beiden fallführenden Detectives, nicht gegen mich. Ich hake gleichwohl nach. „Aber er war allein unterwegs und die Überwachungskameras vor Ort waren defekt oder simpel nicht vorhanden.“ „Korrekt! Was aber nicht heißt, dass er nicht trotzdem aufgezeichnet wurde oder jemand da war, den er nicht bemerkt hat. Der unebene Weg eben“, erklärt er und klingt dabei, als hätte ich allein darauf kommen müssen. Zufall ist immer ein Faktor. Bei der Ermittlung wurden alle Geschäfte abgeklappert, die sich in der Nähe befanden. Es gab keine Aufnahmen, die verwertet werden konnten und auf denen, die sie fanden, war von Manuel nichts zu sehen. Das habe ich geprüft. Ich fordere Damast gestisch auf, auf den Punkt zu kommen. Ich bin durchaus neugierig, wenn auch zusätzlich verwirrt. „Es gab einen Zeugen, der aber längst weitergezogen war. Ein Obdachloser, der eine bestimmte Route mit spezifischen Orten hat, die er in der Woche abläuft. Raúl. Er hat bestätigt, dass zu der Zeit, als die Milchbrötchen gebacken wurden, eine Gestalt vor einem der Graffiti stand. Raúl war leicht alkoholisiert und ich bin mir sicher, dass er auch unter Drogen stand, denn er sprach immer vom Milchbrötchengespenst“, berichtet Damast, „Ich bin mir fast sicher, dass das nur nicht im Bericht auftaucht, weil ihm niemand glaubt, aber er versicherte mir, dass er mit einer wildgelockten, dunkelhäutigen Kollegin gesprochen hat. Außerdem ist mir eingefallen, dass dort, wo Evans angeblich war, ein innerstädtischer Sammelpunkt für ein Brieftaubenzuchtverein ist. Und sie haben seit langem mit häufiger werdenden Diebstählen zu kämpfen.“ „Diebstahl von Tauben?“ Das ist das wahre Prüfsiegel für seltsam und verrückt. „Scheinbar äußerst gewinnbringend. Deswegen haben sie seit ein paar Wochen ein Überwachungssystem. Ein sehr gutes und unauffälliges noch dazu. Es ist nicht ganz legal, deswegen wusste der Hausbesitzer nichts davon. Aber in dieser Aufnahme ist Evans deutlich mehrere Minuten lang auf der Straße zu erkennen, was ihn zwar keine vollkommene Unschuld bescheinigt, aber es weckt schon mal berechtigte Zweifel an den anderen Zeugenaussagen. Und es bestätigt seine eigenen Angaben, wonach er zu dieser Zeit dort gewesen sein will.“ „Wahnsinn.“ „Du musst nur noch ein paar Details klären. Oh, und die Kollegin heißt übrigens Denise Murray. Sie hat ihre Aufzeichnungen der Zeugenaussage sicher noch. Sie hebt alles auf, glaub mir.“ „Du kennst sie?“ „Ja. „Okay. Moment! Du zauberst einen obdachlosen Zeugen und Brieftauben aus dem Hut? Einfach so?“, hake ich ungläubig nach. Damast bestätigt es und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich mehr erfahren will. „Man kann nichts herbeizaubern, was nicht an irgendeiner anderen Stelle bereits existiert. Materie und so“, sagt er lapidar und ich beiße kurzerhand die Zähne zusammen, weil es einen Moment dauert, bis ich begreife, dass er diese Aussage ernst meint. Damast hebt dabei seine Hände und fuchtelt seltsam mit ihnen herum, so als könnte das seine Beweiskette bekräftigen. Er klingt jedes Mal vollkommen überzeugt und ich frage mich, wer ihm diese Antworten gab. Ich suche sie nämlich auch. „Was hast du mit Diebstahl von Brieftauben zu schaffen?“, platzt es aus mir heraus und öffnet meiner Verwunderung Tür und Angel. „Gar nichts. Ehrlich gesagt finde ich Vögel jeglicher Art gruselig. Diese schwarzen kleinen Augen. Wie diese halbrunden Blusenknöpfe. Uff. Nichts für mich.“ Als zusätzliche Untermalung seines Unbehagens schüttelt er demonstrativ den Kopf, bevor er sich auf seinem Bürostuhl niederlässt. Mein Blick wandert von dem anderen Detective zu dem umgestülpten Glas mit der dicken schwarzen Spinne, die gleiche mehrere dieser gruseligen schwarzen Augen hat, von denen er eben noch sprach. Es würde mich nicht wundern, wenn sich Damast heimlich vor Teddybären fürchtet, denn der wirklich angsteinflößende und gruselige Scheiß ist es offenkundig nicht. Erst als ich erneut seine Stimme höre, kehrt meine Aufmerksamkeit zu ihm zurück und ich löse meinen Blick von dem achtbeinigen Gruselfaktor. „Zur Auswertung musst du die Aufnahmen allein bringen und erwähne vor Barres bloß nicht meinen Namen! Na komm, meine Hübsche. Vielleicht sollte ich dich zu einem Arachnologen bringen oder zu einem...“ Er bringt es schon wieder. Diesmal bin ich wirklich beleidigt. Der letzte Teil seines spinnenfreundlichen Gebrabbels entgeht mir, da er bereits aus dem Büro verschwunden ist und mich mit dem USB-Stick zurücklässt. Noch aus der Ferne vernehme ich, wie erneut dieses Lied einsetzt, welches aktuell als sein Klingelton eingestellt ist. ` Everybody here is out of sight. They don′t bark and they don't bite. They keep things loose they keep it tight. Everybody's dancin′ in the moonlight‘. Damast ist mir ein Rätsel. Vielleicht kein komplettes Enigma, aber zu mindestens ist er eines dieser tiefen, dunklen Löcher, bei denen man nicht in der Lage ist, den Grund zu sehen. Wenn man jedoch eine Münze hineinwirft, wird man auf kurz oder lang irgendwann den Aufprall vernehmen, aber nur dann, wenn man ganz genau hinhorcht. Und mit jeder vergehenden Sekunde stellt man in jenem Moment jegliches Dasein in Frage, bis einem irgendwann klar wird, dass es kaum mehr ist als das Echo seines eigenen Wunschdenkens. Mir fehlen die Antworten für alle möglichen Fragen, die Erklärungen für all die Dinge, die geschehen sind. Auch wenn sie mittlerweile einen Namen tragen. Auch Damast macht es nicht unbedingt besser. Geheimniskrämereien. Ungesagtes, in jedem seiner Worte und dieses unablässige kryptische Wischiwaschi, wenn er mir nicht antworten will. Es ist, wie eine graue, undurchsichtige Wand, die ihn umgibt und die nur leicht flimmert, wenn hin und wieder ein Fitzelchen Wahrheit hindurchscheint. Oder eher ein Aufblitzen vieler Wahrheiten, wie ich erkennen muss. Das Gefühl, welches ich in seiner Gegenwart verspüre, wäre unter anderen Umständen ein Warnsignal. Doch statt mich abzustoßen, spüre ich einen deutlichen Zug in seine Richtung und das ist mir wahrhaftig ein Rätsel. Er will nicht, dass ich tiefer darin eindringe. Doch ich bin nicht sicher, ob es zu meinem oder seinem Schutz ist. Fest steht jedoch, Vertrauen ist wichtig und das erlangt man nur mit beständiger Kommunikation und Aufrichtigkeit. Allerdings bin ich mir unsicher, ob ich es wirklich will. Ich finde Officer Denise Murray am nächsten Tag auf ihrer Route. Sie erklärt mir freimütig, was sie von dem wohnungslosen Zeugen erfahren hat und das Detectives Marks zwar eine Zusammenfassung wollte, aber ihr Bericht nie anforderte. Sie lässt ihn mir noch am Abend zukommen. Die Analyse der Videoaufnahme dauert zwei Tage und ich werde wie erwartet davon ausgeschlossen. Detectives Barres ist verärgert, beschwerte sich und ich sitze am Folgetag für eine nicht unerhebliche Standpauke im Büro des Chefs. Die Fälle anderer, vor allem revierfremder Kollegen, gingen mich nichts an. Ich habe mich nicht einzumischen. Er fragt mich mehrfach, was ich mir dabei gedacht habe. Vor allem, dass ich den Verdächtigen im Gefängnis besuchte, wird zum Lavastrom und doch lässt er mich nicht darauf antworten, sondern findet neue Punkte, die mein Fehlverhalten unterstreichen. Es kommt mir fast zugute, dass ich die Verbindung zum Beklagten des speziellen Falles nicht offenlegen kann, weil er mich dauernd unterbricht. Die Tirade stoppt erst, als das Telefon klingelt und mein Vorgesetzter mit grummelndem Unmut rangeht. Er brummt seinen Namen, ächzt eine Verneinung, die gefolgt ist von einer niedrig frequenten Zustimmung. Danach gestikuliert er mir, dass ich das Büro verlassen soll und unser Gespräch beendet ist. Er wendet sich ab und lässt mir damit keine Chance, weitere Fragen zu stellen. Ich bin zutiefst verwirrt, als ich zu meinem Schreibtisch zurückkehre und von meiner Kollegin beäugt werde, wie ein geröstetes Opferlamm. Ich fühle mich auch so. „Alles okay?“, fragt sie mich und mein Blick flackert zu ihr. Ich nicke ihr abgelenkt zu und bin nicht gewillt, den Klatsch und Tratsch weiter anzufeuern. Trotzdem kann ich bereits nach diesem Moment feststellen, dass der Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch bereits verschwunden ist, während meiner erneut gewachsen zu sein scheint. Es dauert weitere drei Tage, bis Manuel aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Es hat noch keine Endgültigkeit. Doch die Staatsanwaltschaft beschloss, dass weitere Beweise gefunden werden müssen, ehe abermals Anklage erhoben werden kann. Manuel hatte eine Erklärung für die Bauchtasche und weshalb seine DNA daran gefunden wurde. Es gab eine Rangelei bei der letzten Auseinandersetzung. Es wurde handgreiflich. Manuel griff mehrfach nach der Bauchtasche. Eine dumme Reaktion, die dank eines herbeieilenden Officers keine Eskalation nach sich zog. Demnach zählt die DNA-Übertragung in diesem Fall zu den indirekten Varianten und ist nicht eindeutig. Es gab einen Polizeibericht, der zunächst keine weitere Beachtung fand und nur der Bestätigung diente, dass es zwischen dem Opfer und Manuel bereits Reibereien gab. Gemeint ist die Verwarnung, die ich bei der Einsicht der Datenbank unter Manuels Namen gefunden habe. Der Vorfall ereignete sich drei Tage vor dem Mord. Manuel meldet sich bei und wir verabreden uns trotz meines besseren Wissens für den Folgetag, denn Manuel lässt nicht locker. Er will mir danken. Vor unserem Treffen besorge ich uns zwei Kaffee und setze mich beim verabredeten Treffpunkt auf eine der freien Bänke. „LUIS!“ Erst mit meinem laut ausgerufen Namen stoppt die Gedankenachterbahn. Ich lasse meinen Blick wandern, bis er bei Manuel stoppt, der energisch auf mich zugeschritten kommt. Sein Lächeln ist breit und offen. Die Erleichterung sprudelt mir quasi entgegen. „Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast. Aber danke, danke, danke.“ Ich richte mich auf, falle fast zurück auf die Bank, als er seine schweren Hände auf meine Schultern schleudert, doch er zieht mich direkt nach vorn und in seine Arme. Als Manuel sich wieder löst, fallen weitere Worte des Dankes und es fällt mir schwer, ihn zu stoppen. Ich überreiche ihm den mitgebrachten Kaffee und bin froh, dass bei der energischen Umarmung nichts verkippt ist. „Du bist mein Retter. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir danken kann“, sagt er. Ich schweige darüber, dass es eigentlich Damasts Verdienst war. „Manuel, dir ist bewusst, dass es noch nicht zu Ende ist?“ „Ja, ich weiß. Ich kann froh sein, dass mir die Bewährung gewährt wurde. Ich weiß.“ „Sie müssen jetzt klären, wie du an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein kannst und sie werden alles bis ins kleinste Detail auseinandernehmen.“ „Aber ich war nicht am Ballplatz. Ich war nicht dort. Zeugenaussagen kann man doch nicht ernstnehmen.“ Er hat nicht unrecht. Zeugenaussagen sind problematisch. Sie können suggestiv beeinflusst sein. Durch die Art und Weise, wie nach der Aussage erfragt wird. Durch subjektive Erfahrungen. Durch kurz zuvor beigewohnte Geschehnisse, wie einem Streit. „Das ist nicht so einfach. Wenn sie etwas finden, dann können Sie dich jederzeit wieder in Untersuchungshaft stecken, okay? Du musst es vermeiden, auffällig zu werden. Nicht die Stadt verlassen. Keine Strafzettel. Keine öffentlichen Diskussionen. Nichts, was jemanden in irgendeiner Weise einen Anlass geben könnte. Das musst du verstehen“, warne ich ihn eindringlich. Ich bin sicher nicht der Erste, der ihm das sagt. Doch es ist mir ein Bedürfnis, es zu wiederholen. „Das weiß ich. Mein Anwalt war sehr bestimmt.“, versichert er mir, „Ewa ist vollkommen fertig. Sie hat wirklich Angst, dass ihr doch etwas findet und mich endgültig einsperrt.“ Wir, die Polizei. Und ich bin ein Teil dieser Strafverfolgung, deren Aufgabe leider nicht immer nur weiß und schwarz ist. Es geschehen Fehler, denn wir sind alle menschlich und damit fehlbar. Gerade deswegen müssen wir sicherstellen, stets unser bestmögliches zu tun, jeder Spur nachzugehen und nichts ungefragt zu lassen. Es ist nicht immer der einfachste Weg und niemals nur schwarz oder weiß. Wir bleiben noch etwas länger im Park sitzen, sprechen über die folgenden Wochen und ich verabschiede mich, da meine Mittagspause endet. Zurück am Platz tätige ich die offenen Telefonate und vervollständige einige Akten, als mir eines der Tatortbilder des de Lucia Falls in die Hände fällt. Noch sind die Fälle offen, weil ich keine Idee habe, wie ich sie schließen soll. Ich drehe das Bild mehrfach hin und her. Es zeigt das Schlafzimmer und mir fällt auf, dass der obere Rand beschädigt ist. Es wurde aus der Akte gerissen. Mit einem Laut der Verwunderung logge ich mich als nächstes in die polizeiliche Datenbank. Ich tippe nacheinander de Lucias und Bakows Namen ein, finde zwar deren Historie an Strafzetteln, aber keinerlei Fallakten deren Tode betreffend. Es lässt mich stutzen. Ich überblicke nochmals den Schreibtisch, hebe ein paar lose Zettel an und lehne mich im Stuhl zurück. Ich bin mir absolut sicher, dass ich die Akte vor ein paar Tagen in der Hand hatte. Die Hälfte der Aktennummer vom Bakow weiß ich auswendig, daher tippe ich sie ins Suchfeld der Datenbank. Den Rest vervollständigt mir die automatische Wiedererkennung, die überhaupt nicht funktionieren sollte. Ich klicke den Aufruf an und es öffnet sich der Bericht eines Diebstahldeliktes gegen Unbekannt. Ein Fahrrad verschwand aus einem Gemeinschaftskeller. Eindeutig nicht der Fall Alexander Bakow. Habe ich mich geirrt? Ein Zahlendreher? Seufzend öffne ich die Schublade, in die ich vor wenigen Tagen einige der Akten verfrachtet habe. Ich hole sie hervor, durchsuche die Mappen, finde sie aber nicht. Ich lehne mich seufzend zurück, lasse meinen Blick wandern. Erst über den Tisch, dann durch den Raum. In der Küche gurgelt die Kaffeemaschine auf und im nächsten Moment holt der Wasserspender Luft und gurgelt. Ich sehe noch die Vibrationen an der Oberfläche und wie ein einzelner Tropfen aus dem Auslauf fließt. In meinem Kopf passiert es in Zeitlupe und das Auftreffen auf dem Plastik des Auffangsiebs gleicht einem Hammerschlag. Meine Gedanken wandern hin und zurück. Ich war in den letzten Tagen nicht wirklich in der Spur. Ich kann mich irren. Trotz besseren Wissens gehe ich alles ein zweites Mal durch, sehe jeden der Hefter einzeln an und forme auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches einen sortierten Stapel. Nichts. Beide Akten sind verschwunden und sie bleiben es. - Ende Folge 2 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)