Solution X von Karo_del_Green (Zwischen Schatten und Licht) ================================================================================ Kapitel 1: Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod - 1 ------------------------------------------------- Folge 1 ~Teil 1 - Mit dem Wissen um Wahrheit und Tod~ „Ist es eine Fata Morgana? Ist es ein Staubteufel? Nein, es ist der Sandmann.“ Ein Chorus schadenfreudiger Heiterkeit erfüllt den Raum und lässt meine Fingerspitzen unangenehm Kitzeln. Der Versuch, die Augenbraue nach oben zuziehen, misslingt, denn die Erde in meinem Gesicht ist so steif getrocknet, dass ich für einen Moment, das Gefühl habe, mir die Haut von den Knochen zu schälen. Doch auch ohne eine Reaktion meinerseits fahren sie nonchalant fort. „Oder eine schmächtige Version vom Ding…“, schlägt ein anderer vor, derweil ich vergeblich versuche, meinen Dienstausweis aus der Innentasche der Jacke zu holen. Mir erschließt sich der Zusammenhang nicht und es ist im Grunde nichtig. „…aus dem Sumpf.“ Mehrstimmiges Gelächter setzt ein und der hitzige Schlagabtausch steigert sich zum Absurden. Der getrocknete Schlamm an meinen Händen sorgt dafür, dass ich die folierte Oberfläche des Ausweises nicht zu fassen bekomme. Ich seufze geräuschlos und starte einen weiteren Versuch, doch die Kollegin an der Anmeldung winkt nur ab. Sie erkennt mich trotz der Schichten Dreck in meinem Gesicht und kann sich das Schmunzeln nicht verkneifen, welches ihre schmalen Lippen zu einem schiefen Strich formt. Ich bedanke mich mit einem schlichten Handheben und betrete das Revier endgültig. „Hey, Damast, du nimmst den Spruch ´Im Dreck wühlen` etwas zu ernst, oder?“ Ich bleibe zu meinem Leidwesen instinktiv stehen, blicke zu dem Kollegen, der mit einer Handvoll Akten neben mir auftaucht und diese symbolträchtig vor meiner beschmutzten Nase herumschwenkt. Colton Barres. Seines Zeichens Angeber und Großmaul. Aber auch Detective der Mordkommission, genauso wie ich. Er mustert mich belustigt und offenkundig abschätzig. Für ihn bin ich eine Witzfigur und mein momentanes Äußeres trägt wenig dazu bei, seine Meinung zu negieren. Es ist mir sowas von egal. Ich widerstehe dem Drang, dem werten Kollegen gestisch zu verdeutlichen, was ich von ihm und den Kommentaren der anderen halte. Dennoch zuckt meine Hand verräterisch nach oben. Um das rechtzeitig zu kaschieren, streiche ich mir über die verkrusteten Lippen. Der Quarz zwischen meinen Zähnen knirscht und ich schmecke die lehmige Erde, die sich fast kühlend auf die Zunge legt. Die kalkhaltige Note verursacht mir Gänsehaut und das kehlige Lachen des anderen Mannes verhallt schallend, während ich vorbei an ihm und den Kollegen zu den Umkleideräumen gehe. Ich hinterlasse eine feinsandige Spur im Gang und atme erleichtert aus, als die Stimmen endlich zu Hintergrundrauschen werden. In der Umkleide angekommen, lasse ich einige Schrankreihen hinter mir, sehe aus dem Augenwinkel heraus ein paar Kollegen, die sich schweigend ihre Schuhe binden oder die Krawatte enger ziehen. Vor meinem Spind bleibe ich stehen, höre, wie sich die Eingangstür öffnet und schließt. Niemand ruft eine Verabschiedung. Eine Weile nestle ich an dem Schloss des Schranks herum. Doch ich bekomme es nicht auf. Die rutschigen Schmutzspuren, die meine eingesauten Hände hinterlassen, machen das Öffnen unmöglich. Nach dem fünften Versuch gebe ich auf, bette die Stirn gegen das kühle Metall und denke unbeabsichtigter Weise wieder an die Sprüche der Kollegen. Polizisten können ungemein kreativ werden. Das macht sie aber in keiner Weise witzig. Ich streife mir die verschmutzte Jacke von den Schultern, werfe sie auf die Holzbank zu meinen Füßen und setze mich schwerfällig hin. Meine Gelenke knacken verräterisch. Die durchgehende Kälte der letzten Stunden macht ihr Übriges. Während ich meine linke Hand ein paar Mal im Uhrzeigersinn drehe, wird das Ausmaß noch deutlicher. Es schmerzt. Die Gegenrichtung erspare ich mir. Bis zu diesem Moment habe ich die Verletzung kaum wahrgenommen. Jetzt scheint sie sich pochend und unaufhörlich über meinen gesamten Arm auszubreiten. Meine Schultern fühlen sich an, als hätte jemand Beton auf ihnen vergossen und das nicht nur, weil ich die letzten zwei Nächte halbvertikal im Büro verbracht habe. Ich bin müde und ausgelaugt, aber vor allem frustriert. Nichts ist so gelaufen, wie ich es mir in den letzten Tagen vorgestellt habe. Der nächste Versuch, den Schrank zu öffnen, gelingt und erleichtert streife ich mir die feuchten Klamotten ab. Der Jacke folgt das Hemd. Der weiße Stoff ist an den Schultern und am Rand übersät mit braunen Flecken. Eine irrwitzige Mischung aus Lehm und Sand, Matsch und anderen Ingredienzien, an die ich lieber nicht zudenken vermag. Ich kriege es vermutlich nicht mehr sauber und bin mir nicht mal sicher, ob es sich lohnt, es zu versuchen. Der laute Aufprall meines Schlüsselbunds auf den glatten Kachelboden lässt mich aufschrecken. Er ist aus der Brusttasche der Jacke gerutscht. Doch das ist nicht das Einzige. Ich angle mit klammen Fingern nach dem Metallring des Schlüssels, einer halben Packung Kaugummis und einem unscheinbaren aufgerollten Stück Papier, das es ebenfalls bis zum Boden geschafft hat. Nur den Zettel behalte ich in der Hand, den Rest lege ich auf die obere Ablage im Spind. Meine Fingerspitzen pulsieren, als ich den rauen Fetzen mit den Daumen auseinanderschiebe. Ich spüre die Energie darin, wie sie langsam schwächer wird und verfliegt. Ich betrachte die fünf abgebildeten Symbole darauf. Zeichen des hebräischen Alphabets. In meinem Kopf formuliert sich die Bedeutung, doch ich spreche sie nicht aus. Wage es nicht. Es fühlt sich unheilvoll an, nur daran zu denken. Den Papierfetzen räume ich erleichtert seufzend auf die Ablagefläche des Schrankes ab, gefolgt von Brieftasche und Handy. Ich entferne die restlichen Kleidungsstücke von meinem Körper, reiße mir den verkrusteten Stoff fast von der Haut und stelle mit Entsetzen fest, dass ich den Schlamm wirklich überall habe. Selbst im Bauchnabel und in den Zwischenräumen der Zehen. Sehnsüchtig greife ich nach dem Handtuch, verschwinde schnellen Schrittes in den Duschraum. Dort stelle ich direkt das Wasser an. Die kühlen Kacheln, unter meinen Füßen erzeugen ein eigenartiges Kitzeln, und der langsam heiß werdende Wasserdampf trifft einladend auf meine Haut. Ich feiere die ersten feinen Wassertropfen, aber trete eher behäbig unter den kompletten Strahl. Das Wasser begrüßt mich mit offenen Armen und ich sehe dabei zu, wie die sandigen Überbleibsel dem Abfluss entgegenfließen. Stetig lösen sich die festgetrockneten Spuren von meinem Körper. Leider kann ich das nicht von dem beschwerenden Gefühl in der Brust behaupten. Noch immer merke ich den massiven Leib des hervorbeschworenen Ungetüms, spüre die Wucht, mit der er mich zu Boden drückte. Es war dieser eine Moment, deren Ausgang auf jedwede Art hätte enden können. Ich war zu unvorsichtig gewesen, habe mich in dem sicheren Gefühl gewogen, alles unter Kontrolle zu haben. Doch dem war nicht so. Dem ist nie so. Erwarte das Unerwartete. Die Worte meines Vaters. Keine Ahnung, ob der Spruch von ihm stammt oder von jemand anderen. Aber das trichterte er mir ein, von Kindesbeinen an. Jedoch war es bei weitem nicht genug, wie ich mit den Jahren verstehen lernte. Denn es gibt Dinge in dieser Welt, die mehr sind als bloße Fantasien in den Schriften vergangener Zeiten. Tief verankert in alten Religionen, Bräuchen und Erinnerungen existieren Wesen und Kreaturen jenseits von hell und dunkel. Sie leben und wirken in den Schatten und Nischen, die den Menschen oft verborgen bleiben. Sie haben gelernt, sich anzupassen, sich zu verstecken. Sie verweben ihr Milieu geschickt mit der geglaubten Normalität und treten nur selten offen in Erscheinung. Es gibt nur wenige, die einen Blick in diese parallel existierende Welt werfen können, die in die Dämmerung hineinblicken. Ich gehöre unfreiwillig zu denjenigen. Und wenn meine Kollegen wüssten, dass ich letzte Nacht wahrhaftig auf ein von ihnen verspottetes Ding gestoßen bin, würden sie vor Angst an ihren dummen Sprüchen ersticken. Mir täte es nicht leid. Mein Vater nannte es eine Gabe. Für mich ist es ein Fehler. Seit meiner frühsten Kindheit sehe ich mehr, als mir lieb ist. Dieser Umstand sorgte dafür, dass ich schon mein Leben lang mit dieser anderen Welt in Verbindung stehe und die Zeichen deute. Allerdings lernte ich ebenso schnell, dass nicht alles darin verdorben ist. Nichts ist nur schwarz oder weiß. Und Schatten ist bei massiver Sonne ein Rettungsanker. Es gibt so viele Graustufen, die es einem schier unmöglich machen, die Wahrheit mit bloßen Augen zu erkennen. Denn nicht alle Wesen wollen Böses. Doch manchmal verursachen sie Schaden, bewusst und unbewusst, der von der herkömmlichen Polizei nicht erfasst werden kann. Dann komme ich ins Spiel. Ich bin der Volldepp des 17. Reviers. Detective der Mordkommission für merkwürdige und ungewöhnliche Vorkommnisse. Natürlich nur als unausgesprochener Untertitel, denn kein anderer Kollege ahnt von meinem eigentlichen Arbeitsfeld. Und es ist besser so. Auch, wenn es mir die Arbeit nicht gerade vereinfacht. In den regulären Polizeidienst kam ich eher aus nichtigen Gründen. Rebellion und Wut. Die Triebfedern der Verzweifelten und Gescheiterten. Mein Vater erwartete stets mehr von mir, als ich ihm geben konnte. Seine für mich erdachte Rolle kleidete mich vielmehr mit Angst und Schrecken als mit Vertrauen und so flüchtete ich vor den Schatten der gegenwärtigen Vergangenheit. Doch mein Wissen oder diese Gabe konnte ich nicht abschütteln. Genauso wenig wie den Drang, nicht tatenlos dabei zu zusehen, wie manche Wesen ihre Überlegenheit ausnutzen, wie sie manipulieren und anderen schaden. Meine komplizierte Kindheit und das spezielle Wissen erleichterten mir den Umstand, mich in der autoritären Polizeiwelt zu behaupten und sie ebneten mir einen Sonderweg. Jetzt erfülle ich meine Aufgabe. Wenn auch anders als es ursprünglich für mich geplant. Ich schalte das Wasser ab, als ich mir halbwegs sicher bin, dass nirgendwo ein Sandkorn übrigbleibt, und verweile einen Moment länger mit geschlossenen Augen im Wasserdampf. Aus den Wänden dringt ein leises Rauschen. Irgendwo im Gebäude betätigt jemand den Wasserhahn. Die Spülung einer Toilette. Ich spüre die dichte, warme Feuchte des Dampfes auf der Haut und in der Lunge. Sie lässt mich angestrengter atmen, also halte ich instinktiv die Luft an. Wieder schürt es die Erinnerungen. Die Schwere auf und in meiner Brust war unerträglich gewesen. Sie war beängstigend und überwältigend. Ich schüttele die Gedanken energisch davon. Doch es braucht länger, bis auch das Gefühl verschwunden ist. Erst nach ein paar Minuten kehre ich zu den Schränken zurück, krame ein kleineres Handtuch hervor und befreie Gesicht und Haare von der oberflächlichen Feuchtigkeit. Ich stelle zu meinem Bedauern fest, dass ich lediglich alten Sportklamotten als Ersatz habe, da meine sonstige Wechselkleidung erst letzte Woche bei einem anderen Zwischenfall zum Einsatz gekommen ist. Ich habe vergessen, sie auszutauschen. Ich beschaue die schlabbrige graublaue Stoffhose und den dunkelblauen Pullover mit dem Emblem der Polizeiakademie. Beides riecht nach Mottenkugeln und alten Turnschuhen. Nicht wirklich angenehm. Eine Wahl habe ich nicht, darum stopfe ich die dreckigen Klamotten in einen Plastikbeutel, sammele meine Habseligkeiten zusammen und mache mich barfuß auf den Weg zum Schreibtisch. Im Gegensatz zu den Kollegen habe ich das Privileg, einen eigenen kleinen Bürokellerraum nutzen zu können. Es ist mehr eine Abstellkammer ohne Licht und Luft, aber habe ich die meiste Zeit über meine Ruhe. Unterwegs dorthin überprüfe ich ein weiteres Mal die Funktionsfähigkeit meines Handgelenks, lasse es vorsichtig kreisen und merke deutlich, wie es sich gegen die Bewegung stellt. Der Schmerz ist verkraftbar, aber präsent. Genauso wie die Erinnerung an das hirnlose Ungetüm, welches mich voller Inbrunst im Morast begraben wollte. Der Gedanke schnürt mir wiederholt den Atem ab und lässt meine Muskeln angeregt pulsieren, ohne dass ich es beeinflussen kann. Ich schelte mich innerlich dafür, weil ich es hätte wissen müssen. Alle Anzeichen waren da gewesen und ich hätte sie nur besser lesen sollen. Nichts läuft je so, wie man es sich denkt. Schon gar nicht, wenn man wie ich gegen Dinge vorgeht, die andere nicht für real halten. Ich hörte am gestrigen Abend die Kollegen reden, während ich versuchte, das perfekte Verhältnis zwischen Tee und Honig in der Gemeinschaftsküche herzustellen. Sie sprachen über einen Toten, als ich dabei zusah, wie der flüssige Blütenzucker mit einem feinen goldgelben Strahl vom Löffel lief. Ein alter Mann, der Anfang der Woche auf einem verwahrlosten Grundstück im städtischen Randgebiet einer kleinen jüdischen Gemeinde gefunden wurde. Er war begraben unter einem Berg loser Erde. Unachtsam zugeschüttet und nur ein Bein und eine Hand lugten hervor, als man ihn fand. Laut Obduktion starb er an einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Ursache unbekannt und damit ist es ein ungeklärter Todesfall, der von der Polizei verfolgt werden muss. Seine abgewetzte Kleidung und der schlechte Zustand seiner Zähne sprachen für einen Obdachlosen. Eine Identifizierung konnte dennoch schnell vorgenommen werden. Patrick Duffort. 59 Jahre alt. Ein derartiger Todesfall ist nichts Ungewöhnliches, eher eine traurige Normalität in diesem Milieu und kann vielerlei Ursachen haben. Doch der Umstand seiner Fundsituation war sonderbar. Eine tiefergehende Ermittlung gab es nicht und als eine ansässige Gang ausgeschlossen wurde, fehlte es an weiteren Verdächtigen. Es gab keine Spuren. Keine Zeugen. Nur Sand und Geröll. Darum interessierte es auch niemanden, als ich mir stillschweigend die Akte nahm und nach dem ersten Schluck aus der Tasse einschätzte, dass mein Tee nur für Kolibris genießbar war. Als ich am selben Abend am Fundort eintraf, lag das Gelände bereits im Schatten und verschwamm mit der Dunkelheit. Die grauen Fassaden der umgebenden Gebäude schienen im nebelverhangenen Mondlicht nur tiefer und älter. Und allein die bedrückende Kulisse hätte mir eine Warnung sein sollen. Verlassene Häuser mit quietschenden im Wind schwankenden Fensterläden sind der Inbegriff eines Horrorklischees. Noch dazu sind kaputte Straßenbeleuchtungen nie ein gutes Zeichen. Auch in diesem Fall nicht. Der Broken-Window-Effekt kommt hier vollständig zum Tragen. Kausalität hin oder her, da können die wissenschaftlichen Eierköpfe sagen, was sie wollen. Trotzdem war ich willens, ein paar Hinweise zu finden, um zu klären, warum er gerade hier starb und was womöglich dazu führte. Ob mehr dahinter steckte. Doch dort gab es nichts. Nur Staub und Verfall in bedrückender Stille, die so laut war, dass mir das ein weiteres Zeichen hätte sein müssen. Dann verkam alles zu einer Randnotiz, als dieses gigantische Ungetüm aus den Schatten vor mir auftauchte und mich derartig schnell in den matschigen Untergrund stampfte, dass ich nichts anderes tun konnte, als bemitleidenswert zu ächzen. Keine Agilität und keine Ausbildung der Welt hätten einen auf sowas vorbereitet. Also fraß ich minutenlang Dreck. Das feuchte Handtuch lasse ich auf den Schultern liegen, während ich in die Hosentasche greife und nach den Schlüsseln suche. Pergament streift meinen Handrücken und statt des Metalls ziehe ich dieses hervor und bleibe stehen. Dem Stück Papier haftet feinkörniger Staub an und die feuchte Erde hat es dunkel verfärbt. Mit dem Daumen streiche ich über die Oberfläche, mache das handgeschriebene Wort wieder sichtbar, so, wie ich es vorhin schon einmal getan habe. Ich hätte es auf der Stelle vernichten sollen. Ich lasse den Pergamentfetzen zwischen meinen Fingern hin und her wandern. Die raue Oberfläche ist seltsam kühl und das obwohl ich das Papier schon eine Weile in der Hand halte. Letztlich greife ich das Stück mit beiden Händen und reiße den vorderen Teil ab, sodass der erste Buchstabe des Wortes abgetrennt ist. Den kleineren Fetzen lasse ich zu Boden fallen. Den Rest stecke ich zurück in die Hosentasche. Meine Schritte verlangsamen sich erneut, als ich eine dunkle Silhouette durch die sichtgeschützte Scheibe der Kammer erkenne. Ich sehe, wie sie sich bewegt und für einen Moment wähne, ich einen losgelösten Schatten wahrzunehmen. Doch dann höre ich das Rascheln von Papier. Die Reibung der Schuhsohlen auf den synthetischen Teppichfliesen und die Anspannung fällt von mir ab. Ein letztes Mal streiche ich mir mit dem Handtuch durch die feuchten Haare und linse argwöhnisch um die Ecke in den Raum. Vor der Pinnwand steht eine durch und durch menschliche Gestalt und betrachtet einige der Tatortfotos, die nur alibihalber dort befestigt sind und einen Mord zeigen, den ich gar nicht bearbeite. Der junge Mann ist schlank und hat dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Eindeutige südländische Merkmale. Sein Anzug ist so sorgfältig gebügelt, dass man im ersten Moment an eine höhere Behörde denkt. Doch seine Schuhe sind abgelaufen und alt. Ich kann sehen, wie er seinen Blick durch den Raum wandern lässt. Die Tatortfotos sind das Langweiligste an dem Büroraum. Ich räuspere mich, nachdem ich ihn eine Weile beobachtet habe und er seine schlanken Finger nach einer der Steinfiguren ausstreckt. Erschrocken zieht er die Hand zurück. Er erspart sich eine weitere ertappte Geste, indem er sich ebenfalls räuspernd über den Nasenrücken streicht und nach einer Akte greift, die auf der Ecke des Schreibtisches abgelegt ist. Er beäugt unauffällig meine Sportbekleidung und ich bin mir sicher, dass ich schlammverschmiert und verdreckt mehr Eindruck auf ihn gemacht hätte als, als Sportlehrerverschnitt. „Detective Damast… Vikar Damast?“, fragt er. Seine Stimme geht am Anfang leicht nach oben. Danach wird sie ein angenehmer Bariton. Fast weich. Sehr beruhigend. Perfekt, um traurige Angehörige zu besänftigen. Ich kann mir einen kurzen Blick auf die Namensapplikation neben der Tür nicht verkneifen und denke darüber nach, seine Frage einfach zu verneinen und weiterzugehen. Das plötzliche Auftauchen von Fremden ist nie ein gutes Zeichen. Doch ich mache es nicht. Beim Eintreten werfe ich das Handtuch quer über den Tisch und sehe dabei zu, wie es von der Lehne des Stuhls rutscht. Den Beutel mit den schmutzigen Klamotten lasse ich neben dem Schreibtisch fallen. Mein unbekannter Gegenüber sieht mich abwartend an. Seltsam forschend. Intensiv und unverwandt. Erst als ich auffordernd zurückblicke, stellt er sich vor. „Detective Luis Pastor. 12. Revier.“ Er klemmt die Akte unter seinen Arm und startet das im Allgemeinen anerkannte und doch überflüssige Begrüßungsprozedere, indem er mir seine rechte Hand entgegenstreckt. Ich werfe der offerierten Geste erst einen argwöhnischen Blick zu und erwidere sie folgsam. Seine Haut ist warm und der Händedruck fühlt sich etwas zu weich an. Trotzdem mustere ich das einprägsame Gesicht des jungen Mannes. Die scharfen Kanten des Kiefers verleihen seinem Profil eine gewisse Ausdrucksstärke. Sein Mund ist schmal und ungewöhnlich klein. Er wirkt dadurch streng und ernsthaft. Es ist ein starker Kontrast zu seinen honigbraunen Augen, die so sanft und fürsorglich scheinen, dass es fast befremdlich wirkt. „Was kann ich für Sie tun, Detective?“, frage ich ruhig und sehe deutlich, wie sich beim Klang meiner tiefen Stimme seine Pupillen vor Überraschung weiten. „Ich.. ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe einen Toten...", sagt er und stoppt. Der Satz wirkt seltsam unfertig. Auch, weil er keine weitere Erklärung beifügt. So brachial es klingt, aber Tote sind in unserem Metier nichts Ungewöhnliches. „Wenn Sie den aus der Leichenhalle mitgehen lassen haben, würde ich ihn schleunigst zurückbringen. Die Gerichtsmediziner verstehen da keinen Spaß", kommentiere ich locker und beabsichtigt schelmisch. In Pastors Gesicht regt sich nichts, stattdessen hält er mir die Akte hin, die er die gesamte Zeit über eisern festhält. Fakt eins. Spaß versteht er nicht. Ich ignoriere das dargebotene Papierensemble, lasse mich auf den Drehstuhl fallen und nach einem schweigsamen Augenblick lässt er seinen Arm seufzend sinken. „Am Montagabend vergangener Woche wurde Nicolá de Lucía bei einer gewöhnlichen Zeugenbefragung erschossen“, beginnt er ohne Aufforderung, „Die Beamten vor Ort sagten aus, dass sie, als sie an seiner Tür klopften, seltsame, laute Geräusche und Stimmen hörten. Niemand öffnete. Die Kollegen gingen nach unten um Verstärkung zu rufen, da sie Probleme vermuteten. Danach gingen sie wieder zurück ins Gebäude und versuchten in die Wohnung zu gelangen. De Lucia kam mit einem Metallgegenstand in der Hand heraus. Sie versuchten die Situation zu deeskalieren, aber er zeigte keinerlei Reaktion. Als er plötzlich losstürmte, schossen sie. Zu dem Zeitpunkt befanden sie sich bereits vor dem Gebäude, auf der Straße.“ Eine Wiedergabe wie nach dem Lehrbuch. Kurz und prägnant. Wenig ausgeschmückt mit den für mich interessanten Details. Fakt zwei. Er ist gewissenhaft. Detective Pastor atmet angeregt ein und wieder aus, dann streckt er mir die Akte zum wiederholten Mal entgegen. Diesmal greife ich danach und lege sie zur Seite, ohne einen Blick hinein zu werfen. Bisher hat er nichts gesagt, was mein Interesse weckt und was begründet, wieso er hier ist. Pastor lässt sich vom Desinteresse nicht beirren und macht einen Schritt auf mich zu. Er greift an mir vorbei zur Akte und schlägt sie demonstrativ auf. „Bitte, sehen Sie hin“, fordert er eindringlich. Ich gebe nach. Von einem an der Akte angehefteten Bild lächelt mir ein durchschnittliches, leicht fülliges Gesicht mit einem adretten Haarschnitt und breiter Nase entgegen. Nicolá de Lucia sieht aus, wie der Nachbar von nebenan. Pastor blättert weiter. Die Abbildung auf der nächsten Seite zeigt das genaue Gegenteil. Seine braunen Augen sind trüb. Die zuvor beleibten Wangen sind eingefallen. Das bleiche, im Tode verzerrte Gesicht sorgt dafür, dass sich mein Puls beschleunigt. Egal, wie oft ich tote Körper sehe, ich gewöhne mich nicht daran. Und sollte es auch nicht. Die Unruhe lasse ich mir nicht anmerken. „Habt ihr im Zwölften nicht genügend Personal oder warum sind Sie hier?“, hinterfrage ich seine Anwesenheit, ohne auf seine Ausführung einzugehen. Pastor holt tief Luft und ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. „De Lucia war 39 Jahre alt. Er hat zuvor keine Anzeichen für etwaige psychisch instabilen Tendenzen gezeigt. Er hat zwei kleine Kinder. Drei und sechs Jahre alt. Maria und Carlo. Er ist seit über 15 Jahren im gleichen Unternehmen angestellt. Er ist ehrenamtlicher Betreuer in einer Auffangstation für gefährdete Jugendliche. Es gab nie Beschwerden und auf einem Mal wird er gewalttätig und geht grundlos auf Polizisten los?“ Geduldig höre ich mir die Fortsetzung an, dann zucke ich zur Unzufriedenheit des anderen Mannes mit den Schultern. „Das passiert... Viel zu oft, wenn Sie mich fragen und meistens hat es ganz logische Gründe. Vielleicht war es Ausdruck einer kürzlich auftretenden Geisteskrankheit. Depressionen. Überarbeitetsein. Paranoide Schizophrenie. Möglicherweise verursacht durch Drogen. Alkoholkonsum“, liste ich unaufgeregt die mannigfaltigen Möglichkeiten auf, die ein solches Verhalten hervorbringen. Als ich aufsehe, schüttelt der junge Detective energisch sein Haupt. Ich bin mir sicher, dass nichts von dem, was ich sage, ihn überzeugen könnte. Seufzend setze ich mich auf und entziehe ihm die Akte. Ich überfliege die ersten Seiten des Dokuments. Eine ruhmreiche Zusammenfassung des Lebens eines aufrichtigen, ehrlichen Bürgers. Keine Aktenvermerke. Nicht einmal Strafzettel. Der chemisch- toxikologische Befund ist unauffällig. Kein Alkohol. Keine handelsüblichen Drogen. Keine Medikamente außer etwas gegen Bluthochdruck, was nicht ungewöhnlich für das Alter und seine Gewichtsgruppe ist. Die Autopsie ist weitestgehend unauffällig ausgefallen und ich habe keine Ahnung, wieso mich der andere Mann damit behelligt. Pastor wartet geduldig, bis ich fertig bin. „Etwas an den Todesumständen ist eigenartig“, merkt Pastor mit fester Stimme an. Seine Augenbrauen ziehen sich stärker zusammen und seine eher friedlichen Gesichtszüge werden dunkel. Ich senke denen Blick zurück auf die Papiere in meinen Händen und lese ein paar der Passagen erneut. „Aus dem Bericht geht hervor, dass die ermittelte Todesursache ein Herz-Kreislauf-Stillstand durch Perforation des Herzmuskels infolge eines Schusswechsels ist. Fall geklärt.“ Trotz meiner ablehnenden Worte durchblättere ich die Papiere weiter. Etwas schnell und absichtlich unauffällig. Es sind bestimmte Begriffe, nach denen ich suche und ich finde sie in den Zeugenaussagen der Beteiligten. Hysterisch. Rasend. Überdreht. Aggressiv. Wie von Sinnen. In der Stellungnahme des ermittelnden Beamten wurde zusätzlich ein übelriechender Geruch hervorgehoben. Ich suche den Namen des Verfassers. Detective Luis S. Pastor. Keine Überraschung. Er war selbst einer der beiden Beamten, die de Lucia aufsuchten, um ihn zu befragen. Das erklärt einiges. „De Lucia schien nicht bei Verstand zu sein. Erklären sie mir bitte, weshalb fünfmal auf ihn geschossen werden musste, um ihn zu stoppen?“ Der Blick des anderen Detectives spricht Bände und selbst ich erkenne die Last der Erinnerung darin. Er ist besorgt und davon überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist ein unangenehmes Gefühl, was in einem nagt und das sich unaufhörlich durch die Gedanken frisst. Ich kenne es. Nur zu gut und mir sagte man stets, ich solle daran festhalten. „Auch dafür kann es verschiedene Gründe geben. Das Zusammenspiel von Adrenalin und...“ Meine Worte werden sofort von einem frustriert klingenden Ausruf begleitet, der lediglich meine eigenen Frustrationen schürt. „... und Kortisol...“ „Nein! Mannigfaltig oder nicht, das ist kein Warum!“, setzt er nach. Ein Warum? Wir kriegen selten ein Warum. Ich starre ihn lange stillschweigend an und stiert zurück. Fakt drei. Er ist willensstark. Damit ziehe ich eines der Tatortfotos hervor. Eine Nahaufnahme des Toten. Abgebildet ist die linke Hand, die eine Gabel hält. Fest umklammert in Totenstarre. Zwei Zacken des Metallbestecks sind verbogen. Aber mein Interesse gilt etwas anderem. Die Haut in meinem Nacken kitzelt. Es ist kaum mehr als ein kühler Schauer direkt entlang der Wirbelsäule. Doch ich weiß sofort, was er bedeutet und er wird schnell intensiver. Ich löse den Blick von den abgebildeten Fingerspitzen, während Pastor weitere Fakten offenbart. „Okay Pastor, hören Sie...“, unterbreche ich ihn. „Warum kommen Sie damit zu mir? Sie scheinen bereits zu ermitteln und ich nehme an, Sie sind ein hervorragender Detective des Police Departments und Stolz des 12. Reviers.“ Ein sarkastischer, aber leiser Laut durchrollt meine Kehle und ich ersticke ihn im Keim, in dem ich die Lippen aufeinanderpresse. Ich frage mich, ob es mein Vorgesetzter war, der ihn zu mir schickte. Doch warum sollte er? „Gestern am späten Abend gab es einem weiteren Vorfall. Alexander Bakow. 42 Jahre alt. Er rastete plötzlich an einer Tankstelle aus. Die Zeugen beschrieben ihn zuvor als rastlos, aufgebracht und irgendwie paranoid. Ich habe mit den Mitarbeitern gesprochen und sie sagten, er wirkte, als würde er verfolgt. Dabei war da niemand... Er wohnte im selben Block wie de Lucia. Sie waren praktisch Nachbarn.“ Die kurze Pause ist wirkungsvoll, aber unnötig. „Warum kommen Sie damit zu mir?“, wiederhole ich. Unverwandt schaue ich in die warmen honigbraunen Augen des anderen Detectives. Die Regungen in seinem Gesicht erzählen eine ganz eigene Geschichte und werden praktisch zum Hörbuch. Ich muss deutlich hinhorchen. Ich erkenne Wut. Verzweiflung. Trauer. Nichts davon ist für einen Polizisten angemessen oder hilfreich. Objektivität ist das A und O. Sein Kiefer bewegt sich energisch übereinander, ehe er endlich auf die vorige Frage antwortet. „Ich habe mir die Akte wieder und wieder angesehen und es ebenso oft in meinem Kopf abgespielt. Es ergibt einfach keinen Sinn! Es muss mehr dahinter stecken... aber Sie verlangen von mir, den Fall zu schließen und dem gestrigen Fall wird es genauso ergehen.“ Er stoppt, malträtiert seine Unterlippe und bringt seinen Fokus zurück auf mich. „Ich hörte, dass Sie... Sie hätten ein Faible für spezielle Fälle und würden gern tiefer graben als üblich. Vielleicht würden Sie mir helfen.“ Speziell ist nur eine nette Art für verrückt und aussichtslos. „Ich dachte... ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich dachte. Vielleicht will ich auch nur hören, dass ich nicht durchdrehe“, gesteht er aufrichtig. Ich beobachte einen Moment, wie er sich fast schon nervös durch die dunklen Haare streicht. Es lässt mich nicht kalt, aber für sowas bin ich genau der Falsche. „Das, was Sie in der Akte beschreiben, sind höchstwahrscheinlich Auswirkungen einer halluzinogenen Droge mit einer unbestimmten Zusammensetzung, die einfach nicht mehr oder noch nicht nachweisbar ist. Pilze. Badesalze…“ Pastor atmet tief ein und ich bin mir sicher, dass er für den Rest meines Monologes die Luft anhält. „Es gibt ja ständig neue Mischungen, die, sobald wir sie auf dem Schirm haben, durch etwas Neues ersetzt werden. Das geht heutzutage sagenhaft schnell. Bringen sie den Fall zur Drogenfahndung. Vielleicht wissen die, was gerade im Umlauf ist.“ „Wie frustrierend. Es waren keine Drogen!“, schmettert er meine Äußerung energisch ab, fast verzweifelt. Wieder rutscht seine Stimme etwas nach oben. „Es muss mehr dahinter stecken, als das … Die Muster beider Fälle sind sich zu ähnlich. Die Beschreibungen ihres Verhaltens zu ungewöhnlich. Es gibt zu viele Parallelen und... es sind keine Drogen.“ Für den letzten Teil hat er seine Ruhe wiedergefunden und ich frage mich weiterhin, was genau er von mir erwartet. „Schimmelsporen...“, schlage ich unbeirrt vor. Pastor beißt verzweifelt die Zähne zusammen und ich ahne, dass er mich innerlich bereits verflucht. Er hat sich etwas anderes erhofft, dessen bin ich mir sicher. Was auch immer es ist. Doch ich muss mich schützen. Pastor schiebt mir die Akte zu, so dass sie wieder vor mir liegt. „Bitte! Sehen Sie es sich einmal in Ruhe an.“ Abermals dieser Blick. Er paart sich mit der Verzagtheit seiner Worte. Ich seufze und streiche mir die feuchten Haare von der Stirn. Er ist echt hartnäckig und geht mir jetzt schon auf die Nerven. Fakt Nummer vier. Er denkt an etwas Bestimmtes, doch wagt nicht, es zu äußern. „Ich werde sehen, was ich machen kann“, teilen ich unverfänglich mit, um das Prozedere nicht hinauszuzögern. „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich möchte die Fälle nicht abgeben. Ich werde sie weiterbearbeiten, mit oder ohne Ihre Hilfe“, stellt er ruhig aber bestimmt klar. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und betrachte seinen angestrengten Blick, seine steife Körperhaltung und sehe nicht zum ersten Mal den unbezwingbaren Willen in ihm. „Die Autopsie von Alexander Bakow beginnt Morgen um halb acht", sagt er nach einem Moment der Stille. Der Detective ist bereits an der Tür, als er mich darauf hinweist. Ich blicke nicht auf, höre aber, wie seine Finger über das lackierte Holz des Türrahmens gleiten und kurz dagegen klopfen. Ein Abschiedsgruß. Ich schaue erst hoch, nachdem er verschwunden ist und starre direkt an die gegenüberliegende Wand des Flurs. Dort zieht sich ein prägnanter Riss vom Boden bis zur Mitte. An einigen Stellen ist die Farbe abgeplatzt und legt den Putz darunter frei. In manchen stillen Nächten könnte ich schwören, dass der Spalt arbeitet. Dass sich die Wände gegeneinander bewegen und er immer größer wird. So, als würde er es darauf anlegen, mich irgendwann zu verschlingen. Ich fixiere ihn, folge den ungleichmäßigen Furchen bis zur Spitze und empfinden mit jeder vergehenden Sekunde, wie meine Fingerspitzen intensiver pulsieren. Auch ich spüre, ebenso wie Pastor, dass etwas bei den Vorfällen nicht stimmt. Unwillkürlich ziehe ich mir die Akte heran. Zwei Mal tippe ich gegen das unebene Papier, bevor ich sie aufklappe und bis zu den Aufnahmen der Autopsie blättere. Ich suche nach einem Bild, das beide Hände zeigt, und finde eins. In diesem wurden sie gestreckt, nachdem man die Gabel entfernte. Diesmal erkennt man es deutlicher. Die Kuppen sind pechschwarz. Ich lehne mich im Stuhl zurück, streiche mir über den Unterkiefer und lasse ihn behutsam rotieren. Wie ein Mantra, bis er knackt. Ich beende meine effektlose Meditationsmethode und kippe den Kopf nach hinten in den Nacken. Ich bin müde, aber Pastors Worte lassen mich einfach nicht los. Genauso wenig wie die Aufnahmen des toten Mannes. Die schwarzen Fingerkuppen sind ein Zeichen für fortgeschrittene Verwesung, was jedoch ungewöhnlich ist, weil die Autopsie nur einen Tag nach Eintritt des Todes stattfand. Der Leichnam wurde gekühlt und damit der Verwesungsprozess gestoppt. Pastor hat Recht. Es kann mehr dahinter stecken als simpler Drogenkonsum. Das lehren mich jahrelange Erfahrung und die feinen Härchen in meine Nacken, die seit Pastors Weggang umherschwingen wie Seegras in Strömungsschnellen. Ich richte mich auf und zucke zusammen als ich mich dafür, unnötigerweise mit den Händen auf den Seitenlehnen abstütze. Ich lasse die Hand vorsichtig kreisen, spüre bei der Innendrehung ein reißendes Ziehen und wiederhole es in die andere Richtung mit demselben Effekt. Es mündet in einem fahlen Pochen. Vielleicht sollte ich mir doch eine dieser Schienen besorgen, um das Gelenk ruhigzustellen. Mit stetig umher wandernden Gedanken ziehe ich erneut den Pergamentabriss hervor. Ich entfalte das Stück Papier vorsichtig mit den Fingern. ´Emeth´, echot mir durch den Kopf. Übersetzt bedeutet es das Siegel der Wahrheit. Durch den fehlenden ersten Buchstaben steht dort nur noch der Begriff für Tod ´Meth`. Ich spüre die bedeutungsvolle Schwere des notierten Wortes und verstehe genau, was es erschaffen kann und was es anrichtet. Immerhin bin ich diesem Ding am Abend in all seiner Pracht begegnet. Einem Golem. Einem menschenähnlichen Wesen der jüdischen Mythologie geformt aus Lehm. Stumm und mangels Verstands, aber mit gewaltiger Größe und Kraft. Er tut, was man ihm aufträgt, und das ohne Rücksicht, denn des eigenen Entscheidens ist er nicht fähig. „Damast...“ Zuerst höre ich das leise Klopfen, doch erst bei meinem Namen sehe ich auf und direkt in das fleischige, düstere Gesicht meines Vorgesetzten, der unaufgefordert eintritt. Captain Francis Lamark. Er ist ein stattlich gebauter Franko-Amerikaner, mit kongolesischen Wurzeln und einem auffälligen französischen Akzent, den er bestmöglich versucht zu unterdrücken. Er hat so tiefe dunkelbraune, fast schwarze Augen, dass man darin sein Spiegelbild erkennt. „Wo stehen wir im Fall Patrick Duffort?", erkundigt er sich unaufgeregt nach dem toten Obdachlosen. Er setzt sich auf den schmalen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und schlägt die langen, massiven Beine übereinander. Das Material unter ihm ächzt. Seine Hände legt er in seinem Schoß ab, jedoch nicht, ohne vorher sein Jackett zu richten. Wie jedes Mal haftet sich mein Blick auf die vernarbte Haut seiner Finger. Ich habe keine Ahnung, wo die Narben herstammen, und werde es vermutlich nie erfahren. Ich werde auch niemals danach fragen. „Nun?“, fordert er mich erneut auf und verzichtet auf jegliche Form weiterer Höflichkeiten. Ich löse meinen Blick von seinen Händen, greife das Pergamentpapier und schiebe ihm dieses zu, ohne etwas zu sagen. Er braucht keine Erklärung, denn er weiß, was es bedeutet. Auch er versteht die übriggebliebenen Buchstaben und ich sehe, wie sich seine dunklen Augen auf den Abriss haften. Trotzdem gebe ich ihm eine kurze Zusammenfassung der Vorkommnisse. Die überraschenden Details, wie meine lebendige beinahe Beerdigung und das schmerzende Handgelenk, spare ich aus. „Und der Verursacher?“, erfragt er, lehnt sich zurück und streicht sich eine Falte seiner Hose glatt, „Wen hat es beschützt?“ Ich atme unterdrückt ein, zögere meine Antwort bewusst hinaus. Natürlich weiß ich, wer den Golem beschworen hat und wieso er es tat. Aus Furcht. Schlicht und einfach. Doch der Golem sollte nicht ihn selbst schützen, sondern seine schwangere Tochter. Ich hadere, denn niemand ist geholfen, wenn ich es preisgebe. „Das konnte ich nicht mehr nachvollziehen“, antworte ich ausweichend. Das Schnaufen, welches laut von seinen Lippen flieht, signalisiert seine Unzufriedenheit. Er glaubt mir nicht und dennoch lässt er es darauf beruhen. Wen sollten wir anklagen? Wie sollten wir es begründen? Die großen Hände meines Vorgesetzten stemmen sich stabilisierend auf der Tischkante auf, während er sich erhebt. „Klären Sie es dennoch...“, mahnt er mich an. Ich nicke verstehend. „Und gehen Sie nach Hause, Damast." Es ist nur eine andeutende Bewegung seiner Hand. Mehr ein wellenartiges Auf und Ab seiner Finger, welches mir meine derzeitige Garderobe aufzeigt. „Sir, sagt Ihnen der Name Luis Pastor etwas?“, erfrage ich und äußere damit meine Vermutung, dass er Pastor zu mir geschickt hat. „12. Revier“, antwortet er ruhig und bleibt an der Tür stehen. Das soll mir als Erklärung reichen. Er kennt ihn und mehr werde ich nicht erfahren. „Damast... keine nächtlichen Ausflüge mehr ohne Dienstwaffe.“ Ohne ihm zu antworten, blicke ich zu dem verschlossenen Schrank, dessen Schüssel ich schon vor einer Weile verloren habe. Ich trage meine Waffe kaum. Selbst, wenn ich es müsste. Zudem gibt es selten etwas, worauf ich sie richten könnte, denn die Dinge, die ich jage, sind oft nicht aus Fleisch und Blut. Manchmal sind sie nicht mal real. Lamark verschwindet und ich bleibe zurück. Nach nur kurzer Zeit im Streifendienst hat er mich vor drei Jahren hierhergeholt. Ich habe nie erfahren, woher er von meinem speziellen Talent weiß und ich frage ihn nicht danach, denn dieser Obhut verdanke ich, dass ich nicht zurück in mein vorgesehenes Leben musste. Ich beschritt den dargebotenen Pfad ohne viel darüber nachzudenken und ohne zurückzublicken. Ich sauge staubige, schwere Luft in meine Lungen, huste und greife erneut nach der Fallakte. Wieder blickt mir das Bild Nicolá de Lucias entgegen. Lächelnd. Freundlich. Lebendig. Ich lese jedes Wort der Akte mit ausreichender Präzision und manche Absätze ein zweites oder drittes Mal. Als ich fertig bin, greife ich per Intranet auf die digitale Akte des zweiten Falls zu. Alexander Bakow. Auch sie studiere ich ausgiebig. Allerdings ist sie durch die fehlende Obduktion nicht vollständig. Das, was schon vorhanden ist, zeichnet ein erstes Bild. Lange betrachte ich die Fotos der Toten und jedes Mal gleitet dieser feine elektrische Schauer über meinen Nacken. Gedanklich fasse ich zusammen, welche Informationen ich habe. Doch es reicht nicht aus, um eine Erklärung zu kommen. Sie haben im Grunde keine Gemeinsamkeiten. Außer die des gleichen Wohnviertels, aber entgegen Pastors Behauptung wohnen sie mehrere Blocks auseinander, was dafür sorgt, dass sich die alltäglichen Anlaufpunkte, wie Supermärkte, Waschsalons und anderes, vollkommen unterscheiden. Ist es doch ein schiefgelaufenes Drogenexperiment? Vielleicht war es eine Krankheit? Ein fleischfressendes Bakterium, wie nekrotisierende Fasziitis. Eine seltene, aber dennoch auftretende Streptokokkeninfektion. Zugegebenermaßen wären die Symptome andere. Auf den Bildern des ersten Toten erkenne ich nirgendwo partielles nekrotisches Gewebe und abgesehen von den fünf Einschusslöchern wirkt der Körper des Mannes unversehrt. Keine offenen Wunden. Keine blutigen Abschürfungen. Die Farbe seiner Haut ist grau, blassgrün und wieder sind es die schwarzen Fingerkuppen, die mich innehalten lassen. Auch die starken Leichenflecke an den Unterschenkeln und Füßen zeigen, dass sich das Blut im Aufrechten absetzte. Sie entstehen für gewöhnlich zwanzig bis dreißig Minuten nach Eintritt des Todes. Diese hier müssen sich gebildet haben, während er noch rumlief. ~Fortsetzung folgt~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)