Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 48: Wunden werden Narben -------------------------------- Im blassen Morgenlicht sahen all die Blumen und Genesungskarten auf Minervas Nachtschränkchen grau aus. Von überall blinkten ihr sich bewegende, flirrende, glitzernde Schriftzüge entgegen. Mal spannte sich ein Regenbogen über die Karte, dann wieder drehten sich Kleeblätter um die eigene Achse. ‚Gute Besserung‘ schrie ihr das Durcheinander förmlich zu. Las man es nur oft genug, musste es ja wahr werden. Ein Seufzen rang sich aus ihrer Brust. Sie wusste nicht, was sie fühlte, weder körperlich noch seelisch. Eine Weile starrte sie nur die herabhängenden Köpfe der Sonnenblumen an, die jemand genau in die Mitte ihres Nachttischs gestellt hatte. Die Ränder der Blütenblätter waren bereits dunkel verfärbt und rollten sich von außen auf. Sie wollte gar nicht wissen, wie lange die armen Dinger da schon standen und vor sich hindarbten. Von Elphinstone konnten sie nicht stammen. Er würde seine geliebten Pflanzen nie zu so einem traurigen Ende verurteilen – und genauso wenig würde er zusehen, wie der Strauß von jemand anderem verwelkte. Entweder die Blumen wachten lange genug an ihrem Bett, dass er nichts mehr hatte retten können ... oder er war zu lange fort. Dass er hiergewesen war, daran bestand kein Zweifel, auch wenn die Erinnerung schemenhaft blieb. Jetzt war er jedenfalls weg und ein einzelnes, vertrocknetes Blättchen fiel kaum hörbar in das Meer an Genesungskarten. Minerva rollte sich auf den Rücken. So hatte sie sich ihr Erwachen nicht vorgestellt. Ein ziemlich egoistischer Teil von ihr hatte gehofft, dass Elphinstone da sein würde. Dass er ihr helfen würde, zu begreifen, was überhaupt geschehen war. Und was sie außerhalb des St. Mungo-Hospitals erwartete ... Auf dem Stuhl neben ihrem Bett lag allerdings nur ein tartangemusterter Schal auf einem zerlesenen Abendpropheten, offensichtlich vergessen. Der Stoff war aus smaragdgrünen und dunkelblauen Fasern gewoben, die sich zu einem gleichmäßigen Bild aus Karos verschlangen, nur durchbrochen von zwei überkreuzten weißen Streifen. Er musste einfach zu Elphinstone gehören, zumindest kannte sie sonst niemanden, der einen Anlass hätte, echten Tartan zu tragen. Mit eigenartig schwerem Herzen riss Minerva ihren Blick los und sah stattdessen an die hässliche Hospitaldecke, so weiß wie nackt. Es brachte alles nichts, sie musste sich dem Drachen – in diesem Fall dem Morgen – erneut allein stellen. Wie so oft zuvor. Den Atem angehalten, schlug sie die warme Bettdecke ein Stück zurück und setzte sich auf. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Anstatt wieder aufs Kissen zu sinken, senkte sie den Kopf zwischen ihre angezogenen Knie. Ihr Atem war laut in den eigenen Ohren, doch nach ein paar Minuten fing er sich langsam. Mit vom Schweiß klammen Händen strich sie ihre Haare in den Nacken, bevor sie ein zweites Mal aufsah. Es stand außer Frage, dass sie allzu bald nirgends hingehen würde. Jedenfalls nicht alleine. Das hinderte sie allerdings nicht daran, das Beste aus ihrer Lage zu machen. An die Decke starren würde sie erst, wenn sie so alt und senil war, dass sie ihren Namen nicht mehr kannte. Vorsichtig streckte sie sich nach dem Abendpropheten. Gerade so bekam sie das Papier mit den Fingerspitzen zu fassen. Immerhin reichte das, um die Zeitung – und damit den Schal obenauf – heranzuziehen. Ohne nachzudenken, vergrub Minerva ihr Gesicht in dem weichen Stoff. Eindeutig Elphinstones. Sie lächelte matt angesichts des Duftgemisches aus Pflanzengrün, Pergament und einem Hauch von Ingwerkeksen. Der Schal roch genau wie der Amortentia in Horace’ Keller, begriff sie. Vielleicht sogar ein bisschen besser. Sie schlang ihn um ihre Schultern, obgleich sie nicht fror. Dann schüttelte sie die Zeitung auseinander. Dicke, schwarze Lettern sprangen ihr entgegen.   Inhaftierter Angreifer tot – Verantwortliche ratlos   15.09.70 | London | Der am vergangenen Samstag im Zaubereiministerium festgesetzte Ambrose Pyrites (26) wurde in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages tot in seiner Untersuchungszelle aufgefunden. Gegenwärtig dauern die Untersuchungen an, doch ein Sprecher des St. Mungo-Hospitals bestätigte, dass es sich bei der Todesursache aller Wahrscheinlichkeit nach um den Todesfluch handelt. Unklar ist, wie der oder die Täter/-in sich Zugang zu seiner mehrfach gesicherten Zelle verschaffen konnte.   Minervas Blick wanderte von den Buchstaben zu dem Bild neben dem Artikel, das einen jungen Mann zeigte. Seine Augen schienen geradewegs in ihre zu starren, beinahe anklagend. Aber das war lächerlich. Sie kannte den Kerl nicht einmal. Wenn sie ihn überhaupt gesehen hatte, dann höchstens ganz kurz, im Ministerium – verborgen unter einer silbernen Maske und mit dem Willen, sie zu töten. Wie ein nasser Hund schüttelte sie den Kopf, um den Gedanken zu verjagen. Auf der Suche nach weiteren Informationen überflog sie den restlichen Artikel. Das meiste waren Randfakten über Ambrose Pyrites – was er studiert hatte, die üblichen Aussagen der Nachbarn, die nichts von seinen gefährlichen Umtrieben geahnt hatten. Interessant war nur, dass er offenbar im Tausch für Strafmilderung versprochen hatte, ein umfangreiches Geständnis abzulegen. Der Tagesprophet hielt sich ausnahmsweise zurück, aber für Minerva war klar, dass genau dieser Umstand den jungen Mann in den Tod getrieben hatte. Irgendwer hatte dafür gesorgt, dass er nicht plaudern konnte, auf dem einfachsten und endgültigsten Weg. Jemand aus der Strafverfolgung ...? Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, gleich die Zeitung aufzuschlagen. Besser sie hätte die Karten auf ihrem Nachtschränkchen gelesen, so wie diese mit der gezeichneten Tigerkatze drauf, die einen albernen Partyhut trug – wer schickte sowas überhaupt? Mit erhobenen Brauen schlug sie das Pappkärtchen auf. Du magst sieben Leben haben, aber ich hoffe, deine Heldentat hat keines verbraucht. A. M. Mehr stand nicht auf der gelben Innenseite. Schnaubend klappte Minerva die Karte wieder zu und musterte die Katze, die ihrer Animagusform verdächtig ähnlich sah. Sie überlegte gerade, ob es sich bei dem Exemplar ursprünglich um eine Geburtstagskarte handelte, die Mulciber zweckentfremdet hatte, da schreckte ein Klopfen an der Tür sie auf. Ihr blieb nicht mal Gelegenheit, hereinzubitten, da stand Archibald Hastings schon im Raum. Er trug einen reichlich zerknitterten Heilerumhang und sah mindestens genauso verknautscht im Gesicht aus. Hinter vorgehaltener Hand verbarg er ein Gähnen. »Warum wundert es mich nicht, dass du keine zehn Minuten nach deinem Erwachen schon liest?« »Woher weißt du, wie lange ich wach bin?« »Im Heilerzimmer gibt es sensorische Zauber für unsere Komapatienten.« »... oh.« Minerva sah wieder auf Alstons verdächtig selbst zusammengehext aussehende Karte hinab. »So schlimm steht es um mich?« »Ich will nicht lügen, das war kein leichter Fluch, mit dem man dich ausgeknockt hat. Aber es sieht aus, als bräuchten wir uns jetzt weniger Gedanken zu machen. Wenn du dich schon wieder aufsetzen kannst, hast du die Behandlung wohl ziemlich gut vertragen.« Ein kleines Lächeln auf den Lippen trat Archie näher, sodass sie die dunklen Flecken auf seinem Gesicht und die roten Ränder in seinen Augen erkannte. »Wo ... ist Elphinstone?«, fragte sie zögerlich. »Er war doch hier ... oder? Ich habe mir das nicht eingebildet?« Das Lächeln glitt direkt wieder von Archies Zügen, als er leise seufzte. »Ja ... er war hier. Bis vor zwei Stunden ...« »Und wo ist er jetzt?« Minerva richtete sich weiter auf, damit sie näher an Archie heranrücken konnte. »Ist alles in Ordnung?« »Oh Gott, ich bin wahrscheinlich nicht die beste Person, um dir das zu sagen ...« Archie senkte den Blick auf seine Hände, die sich ineinander verschlangen, bevor er doch wieder zu ihr sah. »Er ist auf der Beerdigung.« »Beerdigung ...? Wessen –« »Du weißt es nicht?« Aus großen Augen starrte Minerva Archie an. »Was? Was weiß ich nicht?« »... Elladora ist tot.« Ihr Herzschlag stoppte. »Nein ... wie ...?« Archies Adamsapfel hüpfte abwärts. »Genau weiß es niemand. Ein bisschen haben wir wohl gehofft, du wüsstest etwas dazu ... Immerhin bist du zuletzt bei ihr geblieben ...« Seine Stimme verlor sich im Nichts. Obwohl Minerva sich bemühte, ihren Atem ruhig zu halten, schaffte sie es nicht, Archie zu täuschen. Das erkannte sie in seinem Blick. »Hör zu, Elphinstone geht es den Umständen entsprechend gut –« »Oh bitte«, erwiderte sie erstickt, »erzähl mir keine Lügen, nur um mich zu beruhigen. Das ist ...« Sie schniefte leise. »Es ist furchtbar. Wie soll es ihm da schon gehen?« »Ich weiß. Aber auch das geht vorüber. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Bitte –« Archies Schultern sanken herab. »Ich wollte nicht, dass du dir Vorwürfe machst ...« Doch zu spät. Minerva presste ihre Fingerspitzen gegen die Stirn. Helfen tat es kein Stück. Da stiegen nicht plötzlich Bilder aus dem Nebel ihrer Erinnerungen empor, nur weil sie es wollte. Gleich, wie sehr sie sich konzentrierte, sie wusste bloß, wie Elphinstone mit dem Portschlüssel aus dem fremden Anwesen entkommen war. Elladora war mit ihr zurückgeblieben, aber alles danach war ... weg. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ins Ministerium gelangt war und selbst das, was dort passiert war, lag unter einem eigenartigen Schleier. »Ich habe nicht ... ich weiß nicht, was geschehen ist«, flüsterte sie. »Aber ich würde nie –« »Das hat auch niemand behauptet.« Die Matratze gab unter Archie nach, der sich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Nun waren sie auf einer Höhe und Minerva erkannte die unverfälschte Anteilnahme in seinen Augen. »Weder ich noch Elphinstone würden jemals glauben, dass irgendetwas davon deine Schuld ist.« »Aber warum erinnere ich mich nicht?« »Es kann gut sein, dass dein Erinnerungsvermögen unter dem Fluch gelitten hat, der dich zuletzt getroffen hat. Schwarze Magie hat es an sich, dass sie teils unkontrollierbare Auswirkungen auf die Psyche hat. Jeder Mensch reagiert da anders drauf. Es kann sein, dass die Erinnerung wieder zurückkehrt – muss aber nicht. Wichtig ist vor allem, dass du dir keinen Druck machst. Glaub mir, alle wissen, dass du dir nichts hiervon ausgesucht hast. Vor allem Elphinstone. Wenn heute nicht die Beerdigung wäre, dann hätte er dich nie verlassen. So sehr liebt er dich.« Trotz der Ruhe in Archies Stimme konnte Minerva nicht anders, als eine Grimasse zu ziehen. »Dennoch ...« Sie verschlang die Hände in ihrem Schoß zu einem festen Knoten. »Was ... was ist denn mit Elladora passiert?« In leisen Worten erzählte Archie ihr, wie die Auroren noch in der Nacht des Überfalls auf das Ministerium ihre Leiche neben der ihres Mannes entdeckt hatten. Die Lage schien eindeutig, obgleich niemand erklären konnte, wie es dazu gekommen war, dass die Eheleute einander umgebracht hatten. Nun suchten Minervas Augen doch wieder die blanke Decke. Blinzelnd kämpfte sie darum, die Tränen zurückzuhalten. Sie hatte Elladora kaum gekannt, geschweige denn gemocht, und trotzdem schmerzte ihr Herz bei der Vorstellung, wie unfassbar Elphinstones Trauer sein musste. Gefangen von diesen Gedanken, ließ sie es über sich ergehen, dass Archie sie eingehend untersuchte. Selbst die Erleichterung darüber, dass ihre Heilung anscheinend ausgezeichnet verlief, konnte das Ziehen in ihrer Brust nicht übertrumpfen. Das schien auch Archie zu merken, denn sobald er fertig war, ging er nicht, sondern bedachte sie mit einem sachten Schulterdrücker. »Nicht alles ist schlecht«, sagte er. »Es gibt da noch jemanden, der hier ist und sich sehr darüber freuen wird, dich zu sehen. Und ich glaube, dir wird es ebenso gehen.« Verwundert sah Minerva auf, doch Archie nickte ihr bloß verschwörerisch zu, ehe er verschwand. Sie bedachte die Zeitung in ihrem Schoß mit einem grimmigen Blick und entschied, in der Zwischenzeit lieber ihre Genesungskarten zu lesen – auch wenn vermutlich keine Alston Mulcibers Kuriosum übertreffen würde. Weit kam sie allerdings nicht, bevor es erneut klopfte. Ein wohlbekannter Kopf schob sich durch den Spalt. »Hey ... Ich hab gehört, hier ist jemand aus dem Dornröschenschlaf erwacht?« »Robbie!« Vor Überraschung zerriss Minerva fast Pomonas mit echtem Glücksklee bewachsene Karte. »Shhh«, machte ihr Bruder leise. »Ist ja gut, ich freue mich auch, dich zu sehen, Schwesterherz. Aber nicht so laut ...« Ein breites Grinsen im Gesicht stieß er die Zimmertür mit der Schulter auf. »Oh mein Gott ...« Ertappt schlug Minerva sich die Pappkarte vor den Mund. Robbie war nicht alleine. In seinen Armen hielt er ein winziges Deckenbündel, mitsamt hellgelbem Mützchen. Kaum sichtbar zwischen dem vielen Stoff war ein verknautschtes kleines Gesicht. »Oh mein Gott«, hauchte Minerva erneut, dieses Mal deutlich leiser. Ihr Blick wanderte zurück zu ihrem Bruder und sein Grinsen wuchs noch. »Darf ich vorstellen? Das ist Prudence.« Ein erstickter Laut bahnte sich unter Pomonas Karte ins Freie, als Robbie nähertrat und Minerva einen besseren Blick auf das Baby in seinen Armen erhaschte. Die Kleine schlief tief und fest, nur ihr Näschen kräuselte sich ganz leicht. »Oh Robbie ... das ist – du bist Vater geworden?« Ihr Bruder strahlte mehr als an allen Weihnachten zusammen. »Jap, das ist deine Nichte.« »Oh Himmel ... meinen Glückwunsch! Sie ist wirklich ... perfekt.« Mit einem unterdrückten Glucksen nahm Robbie auf Elphinstones Stuhl Platz. »Vor allem eine Überraschung ist sie. Und wahrscheinlich eine kleine Lebensretterin, weil sie genau dann auf die Welt wollte, als diese Irren die Winkelgasse überfallen haben. Wer weiß, wo ich sonst gewesen wäre ...« Behutsam rückte er die Mütze auf dem Kopf seiner Tochter gerade. »Als wenn sie es geahnt hätte.« »Aber ... ist es denn okay? Ich meine ... Anne war doch noch gar nicht so weit?« »Sie ist fünf Wochen zu früh gekommen«, erwiderte Robbie, »aber Prue ist eine echte Kämpferin – wie ihre Tante übrigens. Also nur keine Sorge, ihr geht es blendend. Und Anne so weit auch.« »Das freut mich. Ehrlich ...« Verlegen wischte Minerva sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Hier.« Robbie nahm behutsam einen Arm von Prudence und zog ein längliches Päckchen aus seiner Hosentasche. »Ist grad alles ein bisschen viel, aber wenn mir das hier während 27 Stunden langen Wehen geholfen hat, nicht die Nerven zu verlieren, hilft es dir vielleicht auch ein wenig.« Mit einem dumpfen Plop landete das in rotes Einwickelpapier gepackte Etwas in Minervas Schoß. Fast hätte sie aufgelacht, als sie feststellte, dass ihr ein Comicpinguin entgegen winkte. »Ein Schokoriegel?« »Du weißt doch, Penguin-Biskuits sind die Besten auf der Welt!«, entgegnete Robbie mit derselben Überzeugung, die er schon im Kindesalter gehabt hatte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht passte hingegen nicht zu den Worten, dafür lag zu viel Sorge in seinen Augen. »Vergiss ja nicht, den Witz hintendrauf zu lesen, bevor du ihn isst.« »Würd mir im Traum nicht einfallen.« Zumindest einmal kurz hoben sich Minervas Mundwinkel, als sie daran zurückdachte, wie mühevoll Robbie ihr im Alter von sechs Jahren jeden Witz auf dem Einwickelpapier seiner Lieblingssüßigkeit vorgetragen hatte, um das Lesen zu üben. Ihre Kenntnisse von Pinguinwitzen waren wahrscheinlich genug für ein ganzes Leben. Trotzdem drehte sie den Riegel um. »Warum sprechen Pinguine nicht miteinander?«, las sie vor. »Hm ...« Nachdenklich legte Robbie die Stirn in Falten, ehe er Prudence ansah, als könnte sie ihm die Antwort verraten. Mit einem Fingernagel hob Minerva die Lasche, um die Auflösung zu lesen. »Sie haben Angst, das Eis zu brechen.« Robbie kicherte leise und obwohl der Witz unfassbar flach daherkam, stimmte sie mit ein. Zumindest bis ihr Bauch knurrte und sie den Schokoriegel von seiner Verpackung befreite. Nach so langer Zeit ohne Essen schmeckte die Kombination aus dezenter Süße und knusprigem Biskuit besser als jedes Festmahl in Hogwarts. »Danke«, murmelte sie um einen Bissen herum. »Für dich immer, Schwesterherz.« Einen Moment lang sah Robbie ihr nur beim Essen zu, bevor er fragend den Kopf schief legte. »Also ... Wie steht es bei dir? Ist es sehr schlimm? Ich meine ... ich habe wohl einen gewissen Erinnerungsverlust, aber ich weiß noch, dass wir zuletzt bei diesem Haus in Leeds waren und dann ... dann warst du weg. Und jetzt ist so viel passiert ...« Die unangenehme Erinnerung an ihre eigene Verfassung ließ den letzten Bissen beinahe in Minervas Hals steckenbleiben. »Ach ...« Sie knibbelte an dem Einwickelpapier mit dem Pinguin drauf. »Archie – also Heiler Hastings – meint, das wird schon wieder. Er hat mir zwar noch sehr viel Bettruhe verordnet, aber er hat auch angedeutet, dass ich bald gehen kann, wenn ich verspreche, brav zu sein.« »Das hat er mir auch gesagt. Ich meine eher deinen Geist. Wie fühlst du dich wirklich?« Minervas Schultern sanken herab. Sie traute sich nicht, Robbie anzusehen. Stattdessen heftete sie den Blick fest auf die kleine Prudence, die von all den Schrecken der Welt nichts ahnte. Ein warmes Flackern keimte in ihrer Brust auf und sie zog Elphinstones Schal enger um sich. »Ich weiß es nicht. Momentan ist es erstaunlich ruhig in mir, obwohl alles so ... furchtbar ist. Aber wer weiß, ob das so bleibt ...« Ihre Finger gruben sich tiefer in den Schal. Jetzt schaute sie Robbie doch wieder an. »Ich habe ein bisschen Angst, was passiert, wenn es nichts mehr gibt, um mich abzulenken. Keine Zeitungen, keine Grußkarten, kein Besuch ... Da sind mir geprellte Rippen und dergleichen lieber, das kenne ich wenigstens vom Quidditch. Und ich weiß, wie viele Tage sowas dauert, um zu verheilen.« Ein paar Herzschläge lang sagte keiner von ihnen was. Dann sah Robbie wieder auf Prudence in seinen Armen hinab, die ihre Umwelt gar nicht beachtete. »Das ist jetzt ein furchtbar uneleganter Themenwechsel passend zum Thema Ablenkung, aber ... du möchtest doch sicher mal deine Nichte halten? Und ihr erzählen, was für eine tolle Tante du sein wirst?« Der Knoten in Minervas Hals wuchs. Trotzdem nickte sie. Natürlich wollte sie. Und dennoch hielt sie den Atem an, sobald Robbie ihr das winzige Bündel in die Arme legte. Die Angst, das Mädchen könne all ihren Schmerz irgendwie spüren, flammte in ihr auf – nur um gleich darauf erstickt zu werden, als Prudence’ kleine Finger sich erstaunlich fest um ihren eigenen Zeigefinger schlangen. Warmes Flackern flutete Minervas ganzes Herz, genau wie die ersten Strahlen der Morgensonne das Zimmer. »Oh ... hey Prue ...« Das Lächeln auf ihren Lippen wuchs so groß wie lange nicht mehr. »Ich hoffe ja, du magst Quiddich ...«, murmelte sie der Kleinen zu. Im Hintergrund stöhnte Robbie. »... denn dein erster Besen ist quasi schon gekauft. Und es ist der beste Kinderbesen, den die Welt je gesehen hat.« Zur Antwort schmatzte Prudence leise. Ihre Finger packten Minervas noch etwas fester und diese konnte nicht anders, sie musste ein Lachen unterdrücken. »Scheint, als könne sie es gar nicht erwarten.« »Dafür kann ich umso länger auf den Tag warten, an dem sie mir davonfliegt«, murrte Robbie – auch er mit einem Grinsen im Gesicht. Minerva schmunzelte. Archie hatte recht. Es war nicht alles schlecht. Der Anblick von Prudence’ gerunzeltem Näschen erinnerte sie daran, warum der Kampf jede ihrer Narben wert gewesen war. Kein Gut war so kostbar wie die Zukunft eines Kindes.   In den folgenden Stunden verbreitete sich die Nachricht von ihrem Erwachen so schnell wie das Phönixfeuer im Gamotssaal. Nachdem Robbie zu Anne zurückkehrte, standen ihre Eltern bereits auf der Schwelle – krank vor Sorge und in seltener Einigkeit, was ihr Geschimpfe über das Ministerium anging. Etwas verspätet und doch ohne seine üblichen Arbeitsunterlagen oder sonstige Ablenkungen fand sogar Malcolm den Weg zu ihnen. Sobald sie weiterzogen, um der kleinen Prue ebenfalls einen Besuch abzustatten, drängten Pomona und Filius herein. Sie brachten Minerva ein paar nagelneue Bücher und unterhielten sie mit amüsanten Anekdoten aus den letzten Schultagen (sehr zu ihrer Freude hatte Slytherins aktueller Hüter sich eine Sperre für das nächste Hausspiel eingefangen, weil er eines der Zauberkunstklassenzimmer geflutet hatte). Auf sie folgte wiederum Albus, der ihr reumütig vorgetragenes Ende seines Vestigiators mit einem sachten »Manch Großartiges ist eben nicht für die Ewigkeit bestimmt« abwiegelte und viel zu schnell wieder verschwand, auf der Suche nach alten Freunden und deren Gefallen, die es einzufordern galt. Minerva war nicht sicher, was er plante, bedrängte ihn allerdings genauso wenig, sie einzuweihen. Wenn die Zeit reif war, das sagte er selber, würde sich alles fügen. Auch Pippa kam, in Begleitung von Martin Llewyn – und dem wohl größten Korb voller magischer Süßigkeiten, den sie je gesehen hatte. »Der komische Brei, den sie hier servieren, ist einer Heldin schließlich nicht angemessen« meinte Pippa dazu nur. Zu guter Letzt besuchten sie Emmeline und Dädalus, die ein Schachspiel mitbrachten, dessen Figuren Minerva gleich mehrfach zum Sieg führte. Auf diese Weise verflog die Zeit nur so. Es war längst später Nachmittag, als der Strom an Besuchern mit dem Ende der Besuchszeit versiegte. Alleine blieb Minerva trotzdem nicht, denn nun war es wieder Archie, der hereinkam, um nach ihr zu sehen. Er brachte einen großen Trank mit, bei dem sie lieber nicht fragte, was er alles enthielt. Hauptsache er half bei ihrer schnellen Entlassung aus dem Hospital. »Sag mal ...«, wandte sie sich an Archie, der ihren Rücken erneut mit dem Zauberstab abhorchte, »sind Jonathan Alditch und seine Familie eigentlich noch hier?« Er brummte leise. »Ja. Wir haben sie in ein eigenes Zimmer mit dem anderen Muggeln-Herren gebracht, auch wenn das sonst nicht unsere Art ist. Aber der Kontakt scheint ihnen zu helfen, also geben wir ihnen die Zeit, bis klar wird, wie es mit ihnen weitergeht. Da sie alle mit einem Angehörigen der Zaubergesellschaft zusammenleben – oder ... zumindest lebten, ist es eigentlich nicht vorgesehen, sie zu oblivieren, aber im zuständigen Amt diskutiert man es wohl trotzdem. Aufgrund ‚besonderer‘ Umstände für ihr Seelenheil. Eine Kopie ihrer Erinnerungen hat man schließlich schon zur Akte genommen.« Minerva zuckte zusammen und Archie mit ihr. »Bitte gerade sitzen bleiben –« »Entschuldige. Aber das ist doch ... das ist ein Unding! Nach allem, was diese Menschen durchgemacht haben, kann man doch nicht einfach ihre Erinnerungen nehmen und denken, damit ist die Sache erledigt!« »Das musst du mir nicht sagen. Wenn ich daran denke, dass mir als Muggelgeborenem dasselbe hätte passieren können ...« Archie schüttelte den Kopf. »Manchmal bin ich so dankbar, dass ich in diese Welt flüchten konnte, weil ich mich hier nicht verstellen muss und lieben darf, wen ich will – und dann geschieht so etwas und erinnert mich daran, dass ich trotzdem ein Bürger zweiter Klasse bin.« Stöhnend warf Minerva den Kopf in den Nacken. »Das ist sowas von zum Kotzen!« Zu ihrer Überraschung gluckste Archie. »Das hat Elph auch immer gesagt.« »Es ist aber auch wahr. Du bist kein Mensch zweiter Klasse, genauso wenig wie die Alditchs oder die Winters!« Die Müdigkeit, die sich angesichts des vielen – und lauten – Besuchs in ihre Glieder geschlichen hatte, war schlagartig verschwunden. »Kannst du mich zu ihnen bringen, Archie?« Er seufzte. »Können schon ...« »Aber du weißt nicht, ob du es solltest?« »Du bist gerade mal einen halben Tag wieder bei Bewusstsein.« »Die Welt wird nicht darauf warten, dass es mir besser geht.« Archie zog eine Grimasse, doch nachdem sie ihn mit ihrem besten Lehrerinnenblick bedachte, gab er nach – unter der Voraussetzung, dass er in der Nähe blieb. Ihr war es gleich. Mehr noch, es erleichterte sie, dass Archie sie stützte, denn ihre Knie waren weicher als die Gummischlangen in Pippas Süßigkeitenkorb. Das Zimmer der Alditchs war zum Glück nicht weit entfernt. Doch der Weg reichte, damit Minerva der Schweiß auf die Stirn trat. Nervös wischte sie die Hände an ihrem Morgenmantel ab, den Pomona ihr aus Hogwarts mitgebracht hatte. Wie würden die Alditchs auf sie reagieren? Besonders wenn man bedachte, wie ihre letzte Begegnung verlaufen war ... »Noch können wir umdrehen«, bot Archie an. »Nein.« Sie nahm einen tiefen Atemzug, in dem Versuch, ihre Kurzatmigkeit in den Griff zu bekommen. »Ich muss das machen. Das bin ich diesen Menschen schuldig.« »Also gut.« Archie nickte und klopfte gegen die Tür. Anstatt eine Antwort abzuwarten, öffnete er sie mit dem Zauberstab. Offenbar kannten die Alditchs ihn schon, denn er richtete ein paar lockere Worte an sie, ehe er beiseitetrat, um Minerva ebenfalls hereinzulassen. Das Zimmer war nicht besonders groß, das fiel ihr zuerst auf. Nur ein bisschen geräumiger als ihr eigenes und ebenso schlicht. Gleich mehrere Betten drängten sich darin aneinander, ein buntes Durcheinander aus Kissen, Zeitschriften und Kuscheltieren darauf verteilt. Im Hintersten saß Mr Winters, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Er sah als Einziger nicht herüber. Seine Reaktion bestand lediglich darin, das Baby auf seinem Schoß fester in die Arme zu schließen. Der Anblick erinnerte Minerva an Robbie. Schon fiel ihr das Schlucken schwerer. »Guten Tag ...«, sagte sie lahm. Ihr Kopf schien mit einem Mal genauso weiß und leer wie die Zimmerwand. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht ...« Eine Hand in Archies limonengrünen Heilerumhang gekrallt, riss sie den Blick von Mr Winters hageren Schultern los und suchte stattdessen die Alditchs. Die Mutter saß in einem der Besucherstühle neben Mr Winters und strickte an einem winzigen Babyjäckchen, der Vater lag in dem Bett ganz vorne an der Tür und löste ein Kreuzworträtsel. Jonathan dagegen hatte Platz an einem kleinen Tisch in der Mitte gefunden, ein Blatt Papier vor ihm, Buntstifte überall verstreut. »Professor McGonagall!« Die Augen des Jungen wurden groß wie Blasen von Druhbels bestem Blaskaugummi und dann ... lächelte er. Jemand schien die unsichtbaren Schnüre um Minervas Hals enger zu ziehen. »Hallo Jonathan«, brachte sie gerade so hervor. Ihre Knie wollten am liebsten nachgeben. Das schien Archie zu bemerken, denn er verstärkte seinen Griff um ihren Arm. Kaum merklich nickte er zu dem Stuhl gegenüber von Jonathan. Minerva straffte sich und beschwor ihr höflichstes Lächeln herauf. »Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie den Jungen. Den Blick schon wieder zu dem Bild vor ihm gewandt, nickte er. Erleichtert löste sie sich von Archies Arm. Es war sicher nicht ihr elegantester Gang, doch sie schaffte es zu dem Stuhl, ohne ihre Würde komplett zu verraten. »Danke«, sagte sie, sowohl an Jonathan als auch Archie gerichtet. Letzterer quittierte das Wort mit einem Kopfrucken. »Falls etwas ist, ich werde im Heilerzimmer nebenan warten.« Mit einem langen Blick auf die Alditchs verschwand er und ließ sie in Schweigen zurück. Das Klacken der Tür schien Minerva viel zu laut. Sie ahnte, dass alle sie erwartungsvoll ansahen – außer Mr Winters natürlich –, dabei wusste sie kaum, was sie von sich selber erwartete. Sie holte tief Luft. »Sind Sie hier, um mich nach Hogwarts zu holen?« Jonathan legte einen gelben Buntstift zurück in sein Federmäppchen und schaute zu ihr auf. »Ah ...« Vorsichtig blickte sie zu Jonathans Eltern, die einander ihrerseits ansahen, Augenbrauen zusammengezogen, die Stirn in Falten. »Nein«, seufzte sie. »Nein, ich fürchte das ... geht nicht so einfach. Ich bin selber nur als Patientin hier, weißt du?« Jonathan nickte ernst. »Okay ...«, murmelte er langsam, während er nach einem roten Buntstift griff. »Also hat die böse Hexe Ihnen auch wehgetan.« Die Formulierung erinnerte Minerva an alte Märchen, wie ihr Vater sie ihr als ganz kleines Mädchen vorgelesen hatte. Nur, dass in denen immer das Gute gewonnen hatte ... »Ja«, entgegnete sie trotzdem. »Leider hat sie das. Aber das Wichtigste ist, dass sie jetzt niemanden mehr hat, dem sie wehtun kann.« »Hat man die Irre denn gefangen genommen?«, mischte Mr Alditch sich ein. Wenn möglich, drückte Minerva ihren Rücken noch weiter durch, als sie den Kopf schüttelte. »Wird man es überhaupt versuchen? Ich habe die Zeitung gelesen und es gibt noch eine ganze Menge mehr –« Das scharfe »Shhh« seiner Frau brachte Mr Alditch zum Verstummen. »Natürlich«, sagte Minerva mit einem Seitenblick auf Jonathan, der scheinbar seelenruhig seinen Buntstift über das Papier strich. »Die besten Auroren des Landes – also so etwas wie Spezialeinheiten der Polizei – jagen sie in diesem Moment.« »Und trotzdem musste uns eine Lehrerin retten.« Mr Alditch schlug sein Rätselbuch zu. »Also kein Vorwurf an Sie, aber in welcher Welt kämpft denn bitte das Lehrpersonal gegen irre Verbrecher? Was kommt als Nächstes? Soll vielleicht gleich ein Elfjähriger ihre Welt retten?« Minerva hasste es, ihm insgeheim recht geben zu müssen. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Jonathan jedoch hob nur den Kopf und sah sie mit einer grimmigen Entschlossenheit an, die sie entsetzte. »Ich möchte jedenfalls eines Tages auch so zaubern können wie Sie«, sagte er mit fester Stimme. »Dann brauchen sich meine Eltern nie mehr vor bösen Hexen fürchten.« »Ach Jonathan, Schatz ...« Mrs Alditch legte das Strickzeug in ihrem Schoß ab. »Du sollst nicht so denken, darüber haben wir doch gesprochen.« »Aber ihr könnt ja nicht zaubern!« Mit einem Knacken brach die Spitze von Jonathans Buntstift ab. »Und vielleicht kann ich es ja auch gar nicht ...« Seine Unterlippe bebte. »Die böse Hexe hat schließlich immer gesagt, dass ich gar nicht wirklich ein Zauberer bin und ... dass ich die Magie wieder zurückgeben muss ...« »Das ist Unsinn«, rief Minerva, heftiger als beabsichtigt. »Deine Magie gehört dir und das kann dir niemand nehmen. Du bist mit ihr geboren, genauso wie ich und alle anderen magischen Menschen. Egal, was sie dir erzählen wollen. Und ich bin mir sicher, dass du großartig zaubern kannst, wenn du es erst lernst.« Nun wieder hoffnungsvoller richtete Jonathan sich auf. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, die kein Elfjähriger haben sollte, doch gleichzeitig war das Funkeln kindlicher Begeisterung in seinem Ausdruck noch nicht erloschen. »Können Sie mir den Zauber mit den laufenden Eierbechern beibringen?«, fragte er unvermittelt. »Sie wissen schon, das, was Sie damals bei uns zuhause vorgeführt haben ...« Seufzend senkte Minerva den Blick. »Ich fürchte nein. Dieser Zauber gehört nicht zu meinem Fach, ich habe ihn selber nur gelernt.« »Was kann ich denn bei Ihnen lernen?« »Verwandlungen aller Art.« Ein dünnes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie erneut zu Jonathans Eltern sah, ehe sie den Zauberstab zog. Sie hatte den Eindruck, dass Mr Winters zuckte, doch sobald sie noch einmal hinsah, starrte er wie zuvor unverwandt aus dem Fenster. Vorsichtig legte sie die Stabspitze auf Jonathans Bild. Auf einen Gedanken hin flossen die Farben seines Kunstwerks auseinander, bis sie das ganze Papier bedeckten. Dieses blieb nicht glatt, sondern wand sich in die Höhe. Wie der Phönix aus der Asche erhob sich Jonathans Zeichnung zu Leben – im wahrsten Sinne des Wortes, denn als der Vogel vor ihr mit den Federn raschelte, erkannte Minerva, dass er Fawkes gemalt haben musste. Ihr Zauberspruch hatte ihn in ein richtiges Tier verwandelt. Jonathan klaffte der Mund auf. »Ist das –?« Rasch schüttelte sie den Kopf. »Er sieht aus wie sein Vorbild, aber es ist trotzdem kein echter Phönix. So viel Macht hat kein Zauber. Mit Verwandlungen kann man zwar die Beschaffenheit eines Objekts oder Lebewesens ändern und das teils dauerhaft, aber nicht mehr aus seiner wahren Substanz machen. In Wirklichkeit ist dieser Phönix auf molekularer Basis immer noch Papier.« »Wow.« Ehrfürchtig sah Jonathan zu dem falschen Fawkes auf, der mit ausgebreiteten Schwingen um die Zaubersphäre unter der Decke kreiste. Sogar Mr Winters hatte den Blick vom Fenster gelöst. Im Gegensatz zu Jonathan presste er allerdings die Lippen fester zusammen und beugte schützend den Oberkörper über das Kind in seinen Armen. Minerva schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln, das ihn hastig wegsehen ließ. Auf ein Schnippen ihres Stabs verwandelte der Phönix sich zurück in ein Blatt Papier. »Können Sie mir das beibringen?« Aufgeregt rutschte Jonathan hin und her. Zu Minervas Überraschung zog er einen schlichten Zauberstab aus dem Ärmel seines Pullovers. »Das ist so krass ...« »Eines Tages würde ich dir das sehr gerne lehren.« Sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Nach allem, was Jonathan erlebt hatte, war es nicht selbstverständlich, dass sein Enthusiasmus für die magische Welt derart ungebrochen war. Doch Jonathan schnaubte nur leise. »Ich meine aber jetzt.« Seine Mutter hüstelte und nun war es ein echtes Lachen, das Minerva hinter vorgehaltener Hand verbarg. Wenn bloß all ihre Schüler so wissbegierig wären ... »Nein, auch das geht nicht, Jonathan«, erklärte sie geduldig. »Das ist fortgeschrittene Magie. Bevor man daran auch nur denken kann, muss man erstmal den eigenen Zauberstab kennenlernen. In Hogwarts fangen wir daher mit etwas ganz Einfachem an –« »Das habe ich dann ja schon verpasst, oder?« Die Begeisterung in Jonathans Augen flackerte gefährlich. »Keine Sorge, das kannst du alles noch nachholen. So schnell lernen die anderen Kinder auch nicht.« Einer spontanen Eingebung folgend, wies Minerva auf seinen Zauberstab. »Das ist deiner?« »Mhh. Die böse Hexe hat gesagt ich muss ihn mitnehmen ... aber sie wollte immer nur, dass ich irgendwelche komischen Worte vorlese und dann ... ist nix passiert – also manchmal schon, aber das waren nur so ein paar Funken wie im Laden, als wir ihn gekauft haben ... Und dann hat sie gelacht und mir wieder Blut abgenommen.« Bei der Vorstellung von Bellatrix, die Jonathan wie ein Versuchskaninchen benutzte, lief es Minerva kalt den Rücken hinab. Die äußerliche Verfassung des Jungen ließ zu schnell vergessen, welchen Grauen er ausgesetzt gewesen war. Eilig sprach sie weiter, um ihre Gedanken von dem Abgrund fortzulocken. »Was hältst du dann davon, wenn ich dir zeige, wie du Licht heraufbeschwörst? Das ist zwar keine Verwandlung, aber dann brauchst du nie wieder eine Taschenlampe.« Jonathans Mundwinkel hoben sich schüchtern. Er warf einen Blick zu seinen Eltern, die unisono seufzten und doch nickten. Mit Argusaugen verfolgten sie, wie Minerva ein leeres Blatt Papier nahm und in großen Lettern den Zauberspruch darauf schrieb. »L-U-M-O-S«, las Jonathan leise. »Richtig. Das ist die Beschwörungsformel, die wir gleich benutzen werden. Üb sie ruhig ein paar Mal, denn die richtige Aussprache ist wichtig.« Wie so viele Erstklässler vor ihm nahm sich Jonathan der Aufgabe mit ordentlich Motivation an. Er würde bestimmt großartig nach Ravenclaw passen. Obwohl Minerva auch ein wenig Gryffindor in ihm erkannte ... fast wie bei ihr einst. »Wie geht es weiter?«, fragte Jonathan schließlich begierig. »Nun brauchen wir noch eine Zauberstabbewegung. Diese verbindet Wort und Willen zu zielgerichteter Magie.« Sie hob ihre Hand und vollführte einen kleinen Kreis mit dem Zauberstab. »Gesehen?« Zur Anschauung wiederholte sie die Geste. »Einmal im Uhrzeigersinn drehen. Jetzt du.« Artig hob Jonathan den Stab und imitierte ihre Bewegung. »Das war schon sehr gut. Aber die Drehung muss noch mehr aus dem Handgelenk erfolgen. Probier es ruhig noch einmal langsamer. Es geht schließlich nicht darum, besonders schnell zu sein.« Sie ließ ihn die richtige Zaubergeste ein paar Mal üben, bevor sie ihm den Zettel mit der Formel wieder vorlegte. »Jetzt müssen wir beides kombinieren. Wichtig ist, dass wir es zeitgleich tun. Während du den Zauberstab schwingst, musst du den Spruch sagen.« Auch diesen Schritt führte sie wieder vor. Als bei ihm trotz korrekter Ausführung nichts geschah, runzelte Jonathan die Stirn. »Da ist kein Licht!«, beschwerte er sich. »Richtig, denn uns fehlt noch ein ganz wichtiges Element. Wir müssen fest an das denken, was wir herbeizaubern wollen. Jeder Zauber, ganz gleich wie klein, braucht unsere Führung. Einfach nur einen Zauberspruch zu verwenden, ohne zu wissen, was er bewirkt, kann sogar gefährlich sein, da man nie weiß, was für Magie man unabsichtlich entfesselt. Also stell dir bitte einmal vor, dass die Spitze deines Zauberstabs ganz hell leuchtet.« Jonathan kniff seine Augen zusammen. »Bereit, es noch einmal zu probieren? Dann auf drei – eins, zwei, drei! Lumos!« Weiches Licht spiegelte sich in Jonathans geweiteten Pupillen. »Mama! Papa! Guckt mal!« Den erhobenen Zauberstab in der Hand wirbelte er zu ihnen herum. »Ich kann es wirklich!« Alle Erwachsenen im Raum sahen ihm dabei zu, wie er aufsprang und sich lachend im Kreis drehte. Diese Freude schien auch seine Eltern zu besänftigen, denn sie lächelten vorsichtig. »Das ist wirklich wunderbar, Jona, Schätzchen«, sagte seine Mutter. »Warum gehst du nicht und suchst deine Lieblingsheilerin? Ich bin sicher, sie will deine neuen Zauberkünste auch mal sehen, hm?« Flink wie der Schnatz jagte Jonathan zur Tür hinaus. Im gleichen Augenblick heftete Mrs Alditch einen deutlich ernsteren Blick auf Minerva. Dann seufzte sie tief. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Professor. Für unsere Rettung und überhaupt alles, was Sie getan haben ... auch wenn meine Erinnerung etwas verschwommen ist ...« »Das müssen Sie nicht sein.« Minerva schob ihren Zauberstab wieder in die Tasche. »Es war das Mindeste, was ich für Sie tun konnte. Wenn überhaupt, dann bereue ich, Sie nicht viel früher gerettet zu haben ...« Ihr Blick glitt zu Mr Winters. Erschrocken stellte sie fest, dass er sie jetzt offen ansah, kaum verhüllten Schmerz in den Augen. »Sie brauchen sich ganz sicher keine Vorwürfe machen.« Mrs Alditch schüttelte sanft den Kopf. »Nicht wahr, Theo?« Mr Winters nickte nur. »Sie haben immerhin um mehr als unsere Kinder gekämpft, nicht wahr?«, fuhr Mrs Alditch unbeirrt fort. »Ich habe jede dieser Zeitungen mit den bewegten Bildern gelesen ...« Sie senkte die Stimme. »Da stand so viel Schreckliches drin, auch wenn ich das Meiste nicht verstanden habe ...« Minerva rang die Hände im Schoß. »Es ist viel passiert. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie meine ganze Geschichte hören wollen –« »Ich würde sogar darum bitten.« Bekräftigend nickte Mr Alditch. »Wir wollen wenigstens wissen, warum das alles passiert ist. Warum es uns passiert ist. Ich weiß nicht, ob ich nachts je wieder ruhig schlafen werde, aber ich will zumindest verstehen.« »Gut ...« Vorsichtig sah Minerva zu Mr Winters hinüber. Dieser schaute erneut aus dem Fenster. »Theo möchte es auch hören«, ergänzte Mrs Alditch bestimmt. Eine kleine Grimasse verzog Minervas Züge, doch sie erzählte trotzdem ihre Geschichte. Von dem ersten September in Hogwarts bis zu der unangenehmen Lücke ihrer Erinnerungen, die sie zwischen geschickt gewählten Worten zu kaschieren versuchte. Natürlich sparte sie dabei an Details. Die Gesichter der Alditchs waren schon entsetzt genug. Nur Mr Winters bewahrte sich seinen teilnahmslosen Ausdruck. Als sie schließlich geendet hatte, saßen sie einen Moment lang einfach nur da und starrten sie an. »Das ist so ...« Mrs Alditch schüttelte den Kopf. »... unfassbar?«, soufflierte ihr Mann. »Ja.« Mit einem neuerlichen Seufzen strich Mrs Alditch über das halbfertige Strickjäckchen auf ihrem Schoß. »Es tut mir wirklich sehr leid, Professor McGonagall, aber ...« »Sie wollen nicht, dass Jonathan weiter in diese Welt verstrickt wird.« Minerva hatte es geahnt. Sie konnte ihnen ja nicht mal einen Vorwurf machen. »Das ist es nicht ... Dieser Zauber, den Sie Jona beigebracht haben – er ist so ... schön, aber ...« Mrs Alditch schluckte hörbar. »Die Gesellschaft hier, die ... die anderen Zaubermenschen ... wie sollen wir neben denen existieren ...« »Was meine Frau sagen will – wir werden nicht hier bleiben. In England, meine ich.« Mr Alditchs Stimme war ruhig, aber dass er an der Haut um seine Fingernägel knibbelte, bewies seine innere Unruhe. »Wir haben die letzten Tage ausführlich mit Theo darüber gesprochen und ... nun, seine Frau hat – hatte Verwandte in den Staaten. Auch Zauberer wie sich herausgestellt hat, aber anständige Menschen. Sie würden uns helfen, dort drüben noch einmal von vorne anzufangen. Mit vernünftigen Schutzzaubern. Weit weg von allem, was immer hier gerade passiert.« »Dort drüben gibt es ja auch eine Schule«, nahm Mrs Alditch das Gespräch wieder auf. »Ilvermorny, hab ich mir sagen lassen. Sie soll ziemlich gut sein und Jonathan könnte schon zum Oktober dort anfangen. Ich will nicht, dass er geht, aber ... ich erinnere mich noch gut, wie Sie uns erzählt haben, dass er lernen muss, seine Magie zu beherrschen ...« Angesichts des mächtigen Kloßes in ihrem Hals schlang Minerva die Arme um ihren Unterleib. »Das stimmt, es wäre fahrlässig, wenn Jonathan nicht lernen würde, mit Magie umzugehen. Sie könnte andernfalls unkontrolliert explodieren ...« »Deshalb Ilvermorny. Wirklich, es tut mir sehr leid, nach allem, was Sie für uns getan haben. Aber hier ... wie sollen wir uns hier je sicher fühlen? Das hier ist meine Heimat, aber ich kann nur noch daran denken, dass ich weg will.« Mrs Alditch hickste leise. »Und mein Jona ... er weint nachts so viel. Hat Albträume. Ich will doch nur, dass er sich wieder sicher fühlen kann!« Das Bild von Jonathan Alditch in Gryffindor-Roben verblasste vor Minervas geistigem Auge. Sie presste ihre Füße so fest auf den Boden, dass es in ihren Waden zog. »Dann sollten Sie bald gehen«, sagte sie entschieden. »Informieren Sie niemandem, wohin Sie wollen. Auch nicht hier im Hospital. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber Sie sollten keine Zeit verschwenden. Ich werde sehen, was ich tun kann, um Ihre Abreise zu erleichtern. Mindestens Heiler Hastings wird sie unterstützen und sonst ... schreibe ich der Ministerin. Immerhin schuldet sie mir noch einen Gefallen.« Mit diesen Worten erhob sie sich. Die Welt um sie schwankte leicht, aber ihr Stolz hielt sie aufrecht. »Es tut mir sehr leid, dass es so weit kommen musste. Ich wünsche Ihnen trotzdem von Herzen alles Gute. Ihnen allen.« Schweigen verfolgte ihren Abgang. Sie war schon fast an der Tür, da meldete sich doch noch eine Stimme. »Danke«, flüsterte Mr Winters kaum vernehmlich. Als Minerva sich umdrehte, lächelte er schwach, den Blick nach wie vor fest auf das schlafende Baby in seinen Armen gerichtet. »Danke, dass Sie immer weiter kämpfen. Das macht es einfacher, darauf zu vertrauen, dass es noch eine Zukunft gibt.« Am liebsten hätte Minerva ihn gefragt, was sie sonst tun sollte. Aufgeben? Ihre Heimat, ihren Glauben an das Gute? An Gerechtigkeit? Aber letztlich beschied sie sich auf ein sanftes Nicken. »Denken Sie an den Phönix, Mr Winters. Selbst aus Asche wächst Hoffnung. Den besten Beweis dafür halten Sie gerade in Ihren Armen.«   Die Lichter des Tages waren längst am fernen Horizont verschwunden und Nachtruhe hatte sich über das Hospital gesenkt, als es ein letztes Mal an Minervas Tür klopfte. Ein ganz leises, gar zögerliches Geräusch, doch ihr Herz beantwortete es umgehend mit eigenem Pochen. Vergessen war die Zeile des Buches, das sie gerade las. Noch bevor Elphinstone das Zimmer betrat, warf sie es auf die Bettdecke und befreite ihre Füße von selbiger. Sie war nicht so schnell, wie sie gerne gewesen wäre. Schlimmer sogar, in ihrer Hast verfing sie sich im weißen Bettbezug. Ungeduldig zerrte sie daran, ohne den Blick von ihrem hereinkommenden Besuch zu lösen – was sie nur weiter in die Decke verstrickte. Immerhin gab ihr dies Gelegenheit, Elphinstones Verfassung in Augenschein zu nehmen. Er sah müde aus. Die Arme hingen ihm schlaff an den Schultern herab und sein schwarzer Mantel über Hemd und Kilt ließ ihn wirken wie das Opfer eines Letifolds, der seiner Beute langsam die Lebenskraft entzog. Unter anderen Umständen hätte Minerva diesen traditionellen Aufzug entsprechend würdigen wollen, jetzt hingegen flatterte ihr Magen nur schwach. Weiter kamen ihre Gedanken nicht, da begegneten sich ihre Blicke auch schon. Umgehend richtete Elphinstone sich auf. »Minerva –« »Phin!« Endlich war sie die Decke los. Kälte jagte durch ihre Füße, als sie den Boden fanden. Aber es war egal, so egal. Genau wie der Schwindel, die weichen Knie ... Sie ging nicht, sie lief und stolperte und streckte die Finger nach Elphinstone, bevor sie auch nur in seiner Nähe war. Und er kam ihr ebenso entgegen, fiel geradewegs in ihre Arme. Oder sie in die seinen. Am Ende wusste sie nur, dass sie ihn festhielt wie Miss Cuddles höchstpersönlich. Unter ihren Händen erschütterte ein Schluchzen seine Schultern. Sie hörte ihn angestrengt dagegen atmen, doch es nützte nichts. Tränen bahnten sich den Weg auf ihr Haar. Anstatt irgendwelche Worte zu finden, presste Elphinstone sie so fest an ihn, dass sie seinen Herzschlag über ihrem spürte. Keinen Moment länger wollten ihre Beine Minerva tragen. Wie Gräser im Wind knickten sie ein. Doch ihr Fall endete weich, da Elphinstone vor ihr die Kraft verließ. Er sank zu Boden und sie landete halb auf seinem Schoß, ihre Arme immer noch umeinandergeschlungen. Unvermittelt fühlte sie sich in das Kellerverlies der Lestranges zurückversetzt ... Halt suchend grub sie ihre Finger fester in Elphinstones schwarzen Mantel. Er roch nach kalter Seeluft, Weihrauch und dem Salz fremder Tränen. Nach Tod und Trauer. Am liebsten hätte Minerva ihn von seinen Schultern gerissen. »Es tut mir so leid um Elladora«, würgte sie hervor, darum bemüht, das Zittern ihres Körpers wenigstens aus den Worten fernzuhalten. »Oh Phin, es tut mir so, so, so leid ...« »Nicht.« Elphinstones Stimme blieb eigenartig tonlos, als würde sie aus großer Ferne kommen. »Ich wünschte nur ... Ich hatte dir doch versprochen, aufzupassen – und jetzt erinnere ich mich nicht mal –« »Nicht«, wiederholte er. »Es ist nicht deine Schuld. Es tut nur so weh ...« Das Schluchzen überwältigte die Worte. »Ich kann nicht glauben, dass sie fort ist ...« »Oh Phin ...« Minerva bewegte ihre Hände in Kreisen über seine Schulter. Sie hasste es, dass ihr Herz ausgerechnet in dieser Situation vor Freude sprang, als er sie enger heranzog, obwohl kein Pergament mehr zwischen sie passte, und sie liebte es, dass er keinen Zweifel an den Gefühlen für sie ließ. »Es tut mir trotzdem so, so leid ...«, flüsterte sie erstickt. Elphinstone erwiderte nichts, sondern vergrub sein Gesicht nur tiefer in ihrem offenen Haar. Er schluchzte und hickste, solange bis die Tränen auf ihrem Morgenmantel und dem Schal darüber bereits wieder trockneten. Und als er schließlich keine einzige mehr übrig hatte, war sie es, die für ihn weinte. Minerva wusste nicht, wie lange sie so dasaßen. Doch Zeit war ohnehin bedeutungslos geworden. Es wartete niemand auf Rettung durch sie. Sie mussten nicht kämpfen, nicht fliehen. Zum ersten Mal seit Tagen – nein, Wochen – konnte sie die Welt um sie her vergessen. Selbst als ihre eigenen Tränen auf den Wangen verdunsteten, hob sie den Kopf nicht von Elphinstones Schulter. Wenn nicht irgendwann ihr Magen leise gegluckert hätte, wäre wahrscheinlich die gesamte Nacht verstrichen, ehe sie sich regten. So allerdings durchbrach das Geräusch ihre einträgliche Stille. Elphinstone holte tief Luft. »Hunger?«, murmelte er fragend, seine Stimme ganz verschnupft, so wie Minerva es nie gehört hatte. Sie schüttelte, immer noch an seine Schulter gelehnt, den Kopf. »Du?« »Mh, nein.« Vorsichtig streckte er sein linkes Bein aus und verlagerte ihr Gewicht weiter auf das rechte. Aber selbst so wurde ihr schmerzlich bewusst, dass der kostbare Moment, in dem sämtliche körperlichen Empfindungen ausgeschaltet waren, der Vergangenheit angehörte. Der Linoleumboden unter ihnen war kalt und hart, die Wand in Elphinstones Rücken sicherlich alles andere als weich und sie bemerkte, dass sich der Sporran über seinem Kilt in ihren Oberschenkel bohrte. Seufzend rückte sie ein Stück von ihm ab. Obwohl sie sein Gesicht in den letzten Tagen oft genug studiert hatte, kostete es sie einige Überwindung, ihn jetzt unter ihren eigenen, tränenverklebten Wimpern hervor anzusehen. Die Wärme seiner grauen Iriden ertrank beinahe in dem glasigen Schleier aus Tränen, der sich über seine Augen gelegt hatte, und die roten Äderchen darin waren allesamt geplatzt. Wenn ihr Herz nicht längst hundertfach gebrochen gewesen wäre, spätestens bei diesem Anblick hätte sie es in Scherben vom Boden auflesen müssen. Diesen Blick hatte sie nie an ihm sehen wollen. »Aufstehen ...?«, fragte sie leise. Für einen Moment sah Elphinstone sie einfach nur an – oder vielleicht auch durch sie hindurch. Dann schloss er seufzend seine Lider. »Bitte. Ich brauche frische Luft. Hier drin ...« Sie spürte ihn schlucken. »Ich war schon viel zu lange hier drinnen.« »Okay.« Mit den Fingerspitzen strich sie die Tränenspuren von seinen Wangen. »Lass uns gehen. Ich fürchte nur, dass du mich stützen musst. Ich bin lahm wie ein Feuersalamander bei Schnee.« Trotz geschlossener Lider lächelte er schwach. »Und wenn ich dich tragen müsste, ich würde es tun. Meinetwegen auch bis ans Ende der Welt.« Das entlockte ihr ein kleines, aber amüsiertes Schnauben. Sie schob die Haare aus Elphinstones Stirn und drückte sacht einen Kuss darauf. »Der Innenhof reicht fürs Erste auch.«   Draußen fuhr ein frischer Herbstwind durch den kleinen Park, der sich zwischen den vier im Quadrat angeordneten Gebäudeflügeln des St. Mungo-Hospitals erstreckte. Im Gegensatz zur Kälte des Fußbodens oder der Trauer in ihrem Herzen war Minerva diese Kühle jedoch willkommen. Sie blies die letzten, geisterhaften Tränen aus ihren Augen und ließ Elphinstones Berührung umso wärmer wirken. Eigentlich war es nicht erwünscht, dass Patienten bei Nacht durch die Grünanlagen wanderten, darauf hatte sie ein überfreundliches kleines Metallschild am Eingang hingewiesen. Doch selten war Minerva eine Regel derart egal gewesen – und sie vermutete, dass es Elphinstone ähnlich ging. Nur einige gelbliche Zaubersphären in den Gebüschen beschienen ihr auserkorenes Plätzchen, eine Holzbank unter einer Trauerweide. Vor ihnen standen die von Emmeline mitgebrachten Schachfiguren auf einem der zahllosen, bereitstehenden Tische mit integriertem Schachbrett. Die schwarz und weißen Kästchen waren vom Wetter gezeichnet, doch der wenig vornehme Untergrund war nicht, was den Unmut der Figuren erregte. »Werden wir heute auch noch mal vernünftig bewegt?«, schimpfte die weiße Dame. »Das sind doch alles keine vorausschauenden Züge!« »Du glaubst wirklich noch, dass wir hier eine richtige Partie spielen?« Ein schwarzer Bauer lachte. »Die achten doch gar nicht wirklich auf uns. Guck, ich könnte hier einfach diagonal auf das nächste Feld –« »Das lässt du schön bleiben!«, ermahnte Minerva ihre Figur. Natürlich hatte diese irgendwo recht – ihr Blick galt nicht einmal jetzt ihr. Aber das musste sie ja nicht zugeben. »Du bewegst dich nach ... D6.« »Das eröffnet da vorne doch bloß die Falle eines en passant!« Anstatt darauf einzugehen, kuschelte Minerva sich enger an Elphinstone. Die Schachfiguren murrten lauter, aber in ihren Ohren verklang es zu Hintergrundrauschen, wie der Wind in den Blättern der Weide. »Es freut mich, dass Eugenia dich ohne Anhörung wieder auf deinen Posten beruft«, sagte sie, die Augen unverwandt auf Elphinstone gerichtet, der ihr gerade die besseren Nachrichten der vergangenen Tage schilderte. »Aber erst übernächste Woche«, erwiderte er, die Stimme immer noch heiser vor Trauer. »Ich habe darum gebeten, nicht sofort wieder in den Dienst zu müssen. Ausnahmsweise habe ich nichts dagegen, wenn Mulciber sich darum kümmert, die Scherben zusammenzufegen.« »Mhhh. Eine Pause hast du dir auch mehr als nur verdient ...« »Nicht bloß ich.« Elphinstone nahm ihre Finger zwischen seine und drückte sie sanft. Ohne dem Schachbrett einen Blick zu schenken, ließ er einen Bauern ziehen, der laut stampfend seinen neuen Posten bezog, da er trotz der Möglichkeit keine schwarze Figur schlagen durfte. »Du auch. Vor allem du.« Minerva seufzte leise. »Kannst du glauben, dass ich noch nicht einmal darüber nachgedacht habe, wann ich wieder nach Hogwarts zurückkehre? Ich habe heute an alles gedacht, aber nicht an meinen Unterrichtsplan. Am allermeisten wollte ich einfach nur dich wiedersehen. So richtig. Und nicht am anderen Ende eines verfluchten Gerichtssaals voller ... Faschisten.« »Merlin ... wenn das mal kein Liebesbeweis ist.« Elphinstone hob den rechten Mundwinkel zu seinem schelmischen Lächeln – nur damit es gleich darauf von einem betretenen Biss auf seine Lippe verdrängt wurde. »Ich meine, also – das war jetzt nur so dahergesagt, weil dein Unterricht halt dein Leben ist –« »Es stimmt.« Minerva unterband sein selbstzweifelndes Gestammel mit festem Druck auf seine Hand. »Ich liebe dich wirklich. Du kannst dir sicher sein, dass ich jedes Wort meinte, was ich im Gamotssaal gesagt habe. Denn das habe ich nicht vergessen. Ich liebe dich, Elphinstone Urquart. Wie hast du zu mir gesagt? Hoffnungslos.« Verdächtiger Glanz stieg in Elphinstones Augen auf. »Hoffnungslos?«, echote er – selber reichlich hoffnungslos für ihr Empfinden. »Es ist nur die Wahrheit. Weißt du, wonach Amortentia für mich riecht?« Sie lehnte sich vor und hob ein Ende des Schals, den sie nicht eine Sekunde abgelegt hatte (und der von Elphinstone mit keinem Wort bedacht worden war, obwohl er eindeutig dasselbe Tartanmuster trug wie sein Kilt). Sie hielt die Fransen vor sein Gesicht. »Hiernach riecht der mächtigste Liebestrank, den die Welt kennt, für mich. Nach dir. Nicht nach Wald und Wiesen und etwas Undefinierbarem. Sondern nach deinen Pflanzen, deinen Pergamenten, Ingwerkeksen, frischem schottischen Wind und sogar ganz versteckt nach den Spuren deines Rasierwassers. Ich weiß das, weil ich es erst neulich in Horace’ Klassenzimmer gerochen habe. Und trotzdem nicht begriffen habe, bis es fast zu spät war! Wenn das nicht der Inbegriff von hoffnungslos ist ...« Für ein paar Herzschläge sah Elphinstone sie mit leicht offenstehenden Lippen an. In seine Sprachlosigkeit hinein hörte man nur das genervte Seufzen einer Schachfigur. »Ich hab mal ein Fläschchen Amortentia unter den Beweismitteln in einem Verfahren gehabt«, sagte er schließlich langsam. »Muss so ‘63 gewesen sein. Und als ich alleine in der Asservatenkammer stand ... hat es mich überkommen. Ich hab das Ding entkorkt und dran gerochen. Ich wollte einfach wissen, ob es für meine Gefühle keine Rettung mehr gibt.« Er schüttelte über sich selber den Kopf. »Damals, im Zaubertrankunterricht, hat Sluggys Anschauungsexemplar einfach nach Wildblumen, warmen Scones und dem Ledereinband neuer Bücher gerochen. Das war schön, aber nicht sehr spezifisch. Und dann ...« Minerva legte die Rückseite ihrer Finger an seine Wange, die so heiß glühte, wie sie im schwachen Lichtschein aussah. Mit einem Schmunzeln strich sie über Elphinstones Wangenknochen, ihre Augen fest auf seine gerichtet. Sie wollte diese Worte hören, auch wenn es sie amüsierte, wie er sich auf einmal wand. »Und dann ...?« Elphinstone seufzte leise. »Und dann stand ich da, mit meinen Akten unterm Arm und es roch nach Blumen. Aber nach denen in deinem Parfüm. Es roch nach Gebäck, aber es waren Ingwerkekse. Und die Bücher waren nicht länger neu, sondern sie rochen wie die alten Schinken, die du immer aus der Bibliothek mit zu unseren Treffen gebracht hast. Und da war mir klar, dass ich ein hoffnungsloser Idiot bin. Ich hab mich so sehr geschämt, also habe ich die Phiole mit einem Dauerklebefluch verschlossen und mir geschworen, für das Gesetz zur stärkeren Reglementierung von Liebestränken und deren Missbrauch zu stimmen.« Das Schmunzeln auf Minervas Gesicht wuchs über ihre Wangen hinaus. »Und genau weil du so bist, habe ich mich in dich verliebt.« »Du liebst mich ...«, murmelte er, mehr zu sich selbst als an sie gewandt und nach wie vor reichlich fassungslos. »Ja!«, bekräftigte Minerva. »Ich habe nur furchtbar lange gebraucht, diesen Gedanken zuzulassen. Ich habe noch nie solche Gefühle empfunden wie für dich, Phin. Deshalb wusste ich selbst am Loch Ness kaum, was ich dir sagen sollte, obwohl es alles längst in meinem Herzen war. Diese Liebe ... sie kam nicht plötzlich, wie bei Dougal, sie ... ist in jedem Gedanken an dich gewachsen und hat ihre Wurzeln tief in mir vergraben, wo ich sie lange Zeit nicht bemerkt habe. Aber jetzt ...« Sie drückte seine Hand an ihre Brust. »... blüht sie hier.« »Du liebst mich wirklich ...« Elphinstone legte die andere Hand, die sie nicht in Beschlag nahm, an ihre Wange. »Und ich liebe dich auch.« Er hielt kurz inne. Ohne Vorwarnung löste sich plötzlich wieder eine Träne aus seinem Augenwinkel. »Auch ... ich darf wirklich auch sagen?« »Immer.« Wie er einst bei ihr, hauchte sie einen Kuss in seine Handfläche und beobachtete das Funkeln, das bei ihrer Berührung in seine Augen zurückkehrte. Zaghaft streckte sie sich ihm entgegen. »Ich ... will deine Grenzen nicht übertreten, immerhin trauerst du und ich weiß nicht, ob es jetzt richtig wäre, aber ... ich würde dich gerne küssen.« »Das ist okay. Ich will dich schließlich ebenso küssen.« Elphinstones Hand wanderte in ihren Nacken und er zog sie näher. Den Mund zusammengepresst, blinzelte er die Tränen fort, die ihm in den Wimpern hingen. »Ich will die Hoffnung spüren, die du mir gibst.« Sie lächelte und bevor er noch etwas anderes sagen konnte, streifte sie seine Lippen mit ihren. »Ich liebe dich – auch.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)