Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 44: Die letzte Linie ---------------------------- Das nächtliche Ministerium war still, beinahe so still wie nach den Ausschreitungen im Atrium nur wenige Tage zuvor. Zu still. Minerva entsann sich gut, wie ihr Vater schon vor Jahren geklagt hatte, dass Hexen und Zauberern nichts heilig war – nicht einmal der Sonntag. Was stimmte. Wie viele schummrige Stunden hatte sie in ihrer Zeit hier mit endlosen Pergamentrollen, literweise schwarzem Tee und Miss Cuddles Annäherungsversuchen verbracht? Und mit Elphinstone. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich. Zwischen Notfalldiensten und Vorbereitungen für Gamotssitzungen hatte sich ihre Freundschaft überhaupt erst entsponnen. Eines Nachts war ihr eine Bemerkung über das hübsche marmorne Schachbrett in seinem Büro entschlüpft und wie sehr sie einen würdigen Gegner in London vermisste. Zur Antwort hatte Elphinstone sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen aufgefordert, ihre eigenen Figuren zu holen. Irgendwo zwischen Brust und Bauch loderten Flammen alter Scham in Minerva auf. Nicht einmal vierzig Züge hatte Elphinstone gebraucht, ihr den Wunsch nach einer Herausforderung zu erfüllen, indem er sie gnadenlos matt setzte. Auf dem Schachbrett bewies sich ihr zum ersten Mal der Slytherin in ihm. Doch von da an waren diese Schichten schnell zu ihren liebsten geworden, denn nichts befeuerte ihre Entschlossenheit mehr als der Triumph in den Augen ihres Gegenübers. Stundenlang hatten sie sich in jenen Nächten gegenseitig ausgespielt – und waren ganz nebenbei ins Plaudern gekommen. Anfangs vor allem über die geteilte Sehnsucht nach ihrer fernen Heimat, doch irgendwann waren die Gespräche persönlicher geworden. Und vielleicht, gestand Minerva sich ein, hatte sie Elphinstone schon damals etwas zu gerne gemocht für einen bloßen Vorgesetzten. Aber das war im Moment nicht der Punkt, sondern dass sie nie alleine im Ministerium gewesen war. Irgendwer arbeitete immer, egal in welcher Abteilung; egal an welchem Wochentag. Selbst wenn es inzwischen weit nach Mitternacht und somit schon Samstag war, sollten mindestens einige Memos wie Motten durch die Flure schweben. Doch die Deckenlampen waren auf ein Minimum gedimmt, alle Büros entlang ihres Weges verwaist und abgesehen von ihrem eigenen Atem hörte Minerva nicht einmal das Husten eines Doxy. Selbst in ihrer Animagusform nicht, das hatte sie ausprobiert, bevor sie sich für zwei Beine und einen gezückten Zauberstab entschieden hatte. Es kam ihr vor, als wäre es Wochen – wenn nicht gar Monate – her, dass sie auf vier Pfoten durch ebenso beunruhigende Stille geschlichen war, um in die Flohnetzwerkzentrale einzubrechen. Wie naiv sie doch an die Sache herangegangen war ... Und wie viel seither geschehen war. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass aus der Suche nach dem verschwundenen Jonathan plötzlich ein Kampf um das Zaubereiministerium werden würde. Doch hier stand sie erneut, ihre Sorgen größer als je zuvor, das Schweigen schwer auf ihren Schultern. Für einige Sekunden horchte sie in die Dunkelheit, bevor sie auf bloßen Strümpfen weiter den Gang entlanglief, der von den Büros der Strafverfolger gesäumt wurde. Ihre Schuhe war sie gleich nach ein paar Schritten losgeworden, da diese dem noblen Stil einer Reinblüterin alle Ehre machten und sie bloß behinderten. Auch den Umhang hatte sie an einem Schirmständer zurückgelassen. Nur das Pergament mit Voldemorts Plänen war kurzerhand im Ausschnitt ihres Blazers gelandet, damit sie die Hände frei hatte. Während sie sich vorarbeitete, zielte sie mit dem Zauberstab in die Schatten. Für alle Fälle. Doch niemand erwartete sie, weder Freund noch Feind. Nicht hier und nicht hinter der nächsten Ecke. Auch nicht in Elphinstones Büro. Bis auf Miss Cuddles, die sich freudig um ihren Unterarm schlang, war der Raum leer. Ein Seufzen erfüllte Minervas Brust, aber sie erlaubte sich nicht, innezuhalten. Stattdessen tätschelte sie die Teufelsschlinge kurz und kehrte auf dem Absatz um. Zum Glück war das Aurorenbüro nicht weit. Selbst wenn die Welt unterging – wenigstens das musste besetzt sein. So sahen es die Regeln vor: Mindestens ein Strafverfolger nebst Unterstützung sowie ein Dreiergespann Auroren hatten rund um die Uhr im Ministerium auf Abruf bereitzustehen. Also war Elphinstone sicherlich bei den Unglücklichen, die heute Nachtschicht schoben. Alleine die Aussicht beflügelte Minervas Schritte. Die Gewissheit ihrer Liebe füreinander war das Licht in der Dunkelheit der letzten Tage gewesen und es leitete sie auch jetzt. Einem Schnatz gleich schoss sie durch das offene Gemeinschaftsbüro, in dem sie einst gearbeitet hatte. Den Weg kannte sie auswendig, sodass sie nur innehielt, um alle paar Meter einen Homenum-Revelio-Zauber vorauszuschicken. Auf weitere Überraschungen verzichtete sie liebend gerne. Dreimal verkündete das weiße Licht ihres Zauberstabs, dass sie alleine war, und zweimal behielt es recht. Erst beim dritten Mal überraschten sie Stimmen, gerade als sie in den Verbindungskorridor von der Strafverfolgungsabteilung zur Aurorenzentrale einbog. Zu spät begriff sie ihren Fehler. Es waren keine Menschen, die dort leise zischend miteinander sprachen. Die harsch anmutenden Worte waren unverkennbar Koboldgack. Instinktiv drückte Minerva sich gegen eine Wand. Was taten Kobolde hier? Ausgerechnet in der gegenwärtigen Situation? Die ließen sich schließlich auch sonst nicht blicken, so wenig hielten sie von der menschlichen Zauberregierung! Der einzige Kobold im Ministerium war aus Gold und zierte den Brunnen der magischen Geschwister im Atrium. Doch die Sprecher – mindestens drei an der Zahl – hörten sich äußerst echt an; mehr noch, sie klangen aufgebracht. So viel begriff Minerva, auch wenn sie mangels Sprachkenntnissen nicht verstand, worüber sie sprachen. Es bestand zumindest die Möglichkeit, dass es nur ums Wetter ging. Eines war jedoch klar: Sie näherten sich rasch ihrer Position. Verstecken war auf offenem Flur keine erfolgversprechende Option, also sah sie sich nach einer Chance um, eventuelle Angriffe abzuwehren. Vielleicht konnte sie den abgenutzten Teppich verwandeln ... Entschlossen straffte sie die Schultern und hob den Zauberstab. Gerade rechtzeitig, denn schon traten die Kobolde um die Ecke. Es waren sogar vier und allesamt trugen sie die Uniform von Gringotts. Bevor einer von ihnen Minerva im Halbdunkel entdeckte, wirkte sie einen Lichtzauber und trat vor. »Guten Abend«, sagte sie nachdrücklich, damit ja keine Zweifel an ihrer Intention aufkamen. Die Kobolde blieben auf der Stelle stehen, ihre Augen misstrauisch zusammengekniffen. Dem Vordersten entfuhr ein scharf gezischtes Wort, das selbst für Koboldgack unfreundlich klang. Sicher ein Schimpfwort, denn genau in diesem Moment erkannte Minerva ihrerseits das faltige Gesicht hinter der Drahtbrille wieder. Es war derselbe Kobold, den sie auf ihrem Weg zu Robbies Rettung mit dem Imperius belegt hatte. Und direkt neben ihm war der Nachtwächter Granduk, den Pippa verflucht hatte. »Aha!«, rief Minervas Imperius-Opfer anklagend aus. »Deshalb findet man also den lieben langen Tag keine Zeit, uns Gehör zu schenken. Einmal mehr bevorzugt man die Aussage eines Menschen! Wahrscheinlich durfte sie längst ihre Verteidigung vortragen, während man uns sagt, dass der zuständige Ansprechpartner gerade verhindert sei!« »Ich habe es dir gesagt, Arrnd.« Die schmalen Lippen Granduks verzogen sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Zauberer und Hexen sind sich selber immer noch am nächsten. Als wenn es sie interessiert, wenn die Ihren schwarze Magie gegen uns einsetzen. Es war ein Fehler, auch nur einen Menschen auszubil-« »Ja ja, Menschen sind Monster, besonders die magisch Begabten«, schnappte Minerva dazwischen. »Ich weiß! Und genau deswegen haben wir jetzt keine Zeit für diese Auseinandersetzung! Wo ist das Nachtpersonal? Die Auroren?« »Oh, sieh einer an, du willst uns also mal wieder herumkommandieren!« Langsam entblößte Granduk eine Reihe nadelscharfer Zähne. »Erheiternd. Wenn Recht und Ordnung uns nicht schützen, warum vertrauen deinesgleichen eigentlich darauf, dass wir uns trotzdem an eure Maßstäbe halten?« Ruckartig senkte Minerva den Zauberstab. »Drohungen? Wirklich? Und ich dachte, ihr wollt eure moralische Überlegenheit zelebrieren.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch mehr Gewalt wird unsere Völker nie zusammenbringen. Und wo wir beim Thema Gewalt sind – schon bald werden wir alle es bereuen, hier rumzustehen und eine gemütliche Teestunde abzuhalten –« »Warum sollte dem so sein?« Der Kobold namens Arrnd legte den Kopf schief. Minerva konnte unmöglich sagen, was hinter seinen dunklen Augen vorging. Es half auch kein Stück, dass beim Sprechen seine rasiermesserscharfen Zähne im Schein ihres Lichtzaubers aufblitzten. Sie setzte zu einer Erklärung an, wurde allerdings von einem leisen »Tss« gleich wieder unterbrochen. Scheinbar gelangweilt hob Granduk eine Hand und betrachtete seine langen Finger. Der Nachtwächter rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Du forderst keine Gewalt mehr – aber sag, was wird es uns Kobolden denn bringen, weiter das Haupt untenzuhalten, hm? Ach ich weiß – nichts. Absolut nichts.« Abwehrend hob Minerva die Hände. Sie schüttelte den Kopf, doch in ihrem Mund herrschte Dürre. Egal wie berechtigt Granduks Frust sein mochte – ihr blieb keine Zeit! Bei dem Gedanken zog ein Kribbeln durch ihren Arm, angefangen vom Zauberstab und durch die Fingerspitzen auf dem Holz. Es wäre so einfach ... die Magie flüsterte ihr Mut zu, sie könnte es erneut schaffen; nur ein Schwung und ihre Sorgen würden verschwinden. Die Situation rechtfertigte es doch! Unter dem starren Blick der Kobolde atmete Minerva tief durch und drehte den Stab so, dass er nicht länger auf die Vier zielte. »Ich weiß, dass nichts meinen Einsatz des Imperius-Fluches entschuldigen kann. So viel habe ich heute am eigenen Leib erfahren. Einen fremden Willen aufgezwungen zu bekommen ist so ... so ...« Ihr fielen hundert Worte ein, von denen trotzdem keines zu ihren Erfahrungen passte. Rosiers Kontrolle war nicht einfach nur widerwärtig, schmerzhaft, zerreißend, fürchterlich, verletzend gewesen – »Pah!« Einer der unbekannten Kobolde stieß ein Lachen aus. »Entschuldige, dass sich unser Mitleid in Grenzen hält.« »Ein Glück, dass ich mich bereits ausreichend selbst bemitleide«, erwiderte sie und für eine Sekunde war ihr, als würde sie Alston in der Ferne lachen hören. »Selbstverständlich wollte ich nicht auf Mitgefühl hinaus!«, fügte sie an. »Es geht mir viel mehr darum, dass ich nicht eure Feindin sein muss oder gar sein will. Stattdessen sollten wir uns gemeinsam gegen jene wenden, die uns überhaupt erst in diese Situation gezwungen haben. Oder wollt ihr euch etwa als Figuren auf dem Schachbrett dieser schwarzen Zauberer nutzen lassen – ganz freiwillig?« Die Kobolde tauschten Blicke und leise gemurmelte Worte, bevor sie Minerva wieder finster ansahen. »Weshalb sollten wir irgendeinem Menschen in die Hände spielen?«, verlangte Arrnd schließlich zu wissen. »Weil in den nächsten Minuten jene schwarzen Zauberer, die unter anderem auch in Gringotts eingebrochen sind, hier einfallen und das Ministerium unter ihre Kontrolle bringen werden, wenn ihr mich davon abhaltet, die Ministerin und alle anderen zu warnen!« »Alle paar Jahrzehnte wieder dieselben Probleme, was?« Täuschte Minerva sich oder glomm bei diesen Worten etwas Amüsiertes in Granduks tiefschwarzen Augen auf? Sie streckte das Kinn vor und verscheuchte den Gedanken. »Leider erweisen sich gewisse Teile der Menschheit als unfähig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Die Frage ist doch, ob ihr dabei zusehen wollt, wie alte Zeiten zurückkehren. Denn wenn diese Zauberer bekommen, was sie wollen, wird einmal mehr nur noch reines, magisches Blut zählen.« Arrnd stieß ein kleines Pfeifgeräusch aus, das vielleicht die Koboldversion eines Seufzens war. »Lord Voldemort und seine Anhänger schrecken also vor nichts zurück?« Er nickte langsam, ohne ihre Antwort abzuwarten. »In der Bank hat man schon lange spekuliert, ob es wohl einen Umbruch geben wird. Immerhin haben seine Leute unsere Eingangsstufen schon vor Monaten zu ihrer Bühne auserkoren. Aber ich gestehe, wir waren geneigt anzunehmen, dass es vor allem eine politische Schlammschlacht geben wird, mit der wir nichts zu tun haben wollten.« Er tauschte einen Blick mit seinen Begleitern. Die zwei noch namenlosen Kobolde wiegten ebenfalls nachdenklich die Köpfe, doch Granduk schnalzte leise mit der Zunge. »Tja ...«, sagte er, »ich sehe das Problem ehrlich gesagt nicht. Auch in unseren Adern fließt reines, magisches Blut.« Er richtete einen gebogenen Fingernagel auf Minerva. »Womöglich reiner als das deine, behaupte ich. Und zumindest erwähnte Lord Voldemort etwas von Zauberstabprivilegien für alle Geschöpfe der edlen Magie ... im Gegensatz zu deiner Ministerin.« Sie schnaubte. »Oh, ich bin mir sogar sicher, dass euer Blut magischer ist als meines. Mein Vater ist nämlich ein Muggel. Und ich würde sogar wetten, dass Lord Voldemort«, verächtlich spuckte sie den falschen Adelstitel aus, »euch alles verspricht, wonach ihr euch sehnt. Ich will nicht lügen – er wird euch diese Dinge auch geben. Eine Zeit lang. Solange könnt ihr euch daran weiden, wie sich Hexen und Zauberer gegenseitig zerfleischen. Und dann? Wem werden sich dieser Möchtegern-Lord und seine Anhänger zuwenden, wenn alles vorbei ist? Den Werwölfen? Gut. Und dann? Riesen? Trolle? Es gibt eh nicht mehr viele von denen. Also was dann? Zentauren? Wassermenschen? Veelas? Falsch. Über kurz oder lang wird es alle Zauberwesen treffen. Wieder und wieder und wieder. Und irgendwann wird keiner außer euch mehr übrig sein. Ratet mal, wer dann als größte Gefahr für die neue Zauberelite gilt. Am Ende verlieren alle – bis auf ihn.« Wie gebannt sah Minerva auf Granduks dünne Finger, die dieser nachdenklich bewegte. Ein Funke hüpfte zwischen den langen Fingernägeln hin und her, doch vorerst blieb es dabei. Sie wandte die Aufmerksamkeit zu Arrnd und den beiden anderen Kobolden, die sich im Hintergrund hielten. Alle drei musterten diese sie unter zusammengezogenen Augenbrauen hervor. »Ich verdiene euer Vertrauen nicht, das ist klar. Aber wollt ihr das wirklich? Euch von einem Zauberer abhängig machen für das bisschen, was er euch verspricht? Oder wollt ihr lieber alleine und dafür aufrechten Kopfes für eure Gleichberechtigung eintreten?« Mit einem ungeduldigen Kopfschütteln musterte sie ihr einstiges Fluchopfer. »Ich bitte dich erneut Arrnd – hilf mir und du hilfst der ganzen magischen Welt. Es wird nicht vergessen, auf welcher Seite die Kobolde standen, als es darauf ankam. Dafür sorge ich persönlich.« Doch es war nicht Arrnd, der ihr antwortete. »Worte! Nichts als Worte!«, höhnte Granduk und seine Augen verdunkelten sich. Der nächste Funke, der über seine Finger sprang, war rot. »Worte haben noch nie einen Zauberer gebunden!« Er schüttelte Arrnds Hand von seinem Unterarm. »Wenn wir uns weigern, greifst du uns ja doch wieder an. Warum also nicht gleich? Wir wissen doch, wie es um deine Künste mit dem Imperius bestellt ist! Nur keine falsche Scheu, den Stab hältst du ja noch in der Hand!« Minerva starrte auf die tanzende Koboldmagie. Da war wieder diese Verlockung, dem grantigen Nachtwächter zuvorzukommen ... »Nein.« Demonstrativ senkte sie die Spitze ihres Zauberstabs und hielt ihn an zwei Fingern zur Seite. »Ich habe dazugelernt. Die Unschuldigen werde ich nicht noch einmal verfluchen. Aber ich werde auch nicht zulassen, dass andere wegen solchen Starrsinns leiden – oder sterben. Entscheide dich jetzt, aber mach mich nicht verantwortlich für die Folgen deiner Entscheidung.« Ein zweiter und schließlich dritter Funke blitzten zwischen Granduks Fingernägeln auf. Ihr rotes Glimmen spiegelte sich in seinen schwarzen Augen, er verzog die Lippen – »Nicht!«, herrschte Arrnd, gefolgt von einem Schwall Koboldgack. Im selben Atemzug sprang er vor und umklammerte Granduks erhobenen Arm. Es fiel Minerva unendlich schwer, nicht ihren Zauberstab zu erheben. Noch nicht. »Sie mag eine Striǰnicá sein, aber es liegt Wahrheit in ihren Worten –« Arrnds Beschwichtigung kam zu spät. Granduk schnippte und die roten Funken zwischen seinen Fingern verbanden sich zu einer Art gleißendem Speer. Begleitet von dem Zischen eines ganzen Schwarms wütender Billywigs raste das Ding durch die Luft – auf Minerva zu. Sie hatte Koboldmagie nie zuvor in Aktion gesehen, doch die aufgerissenen Augen Arrnds sprachen Bände. Anstatt ihre Gedanken an den Protego zu verschwenden, warf sie sich mit einem Hechtsprung zur Seite. Den Zauberstab an die Brust gedrückt, traf sie unsanft auf den abgetretenen Teppich. Doch der brennende Kontakt mit den rauen Fasern war genauso egal wie das Loch, welches sie in ihre Strumpfhose riss. Auf einem Knie, beide Hände am Boden, beobachtete sie, wie das Lichtgeschoss am Ende des Flurs in die Wand einschlug. Einen Augenblick geschah nichts, dann zogen sich hunderte Sprünge durch den Putz und in einem lauten Krachen verwandelten sich Stein und Holz in weißen Staub. Die Kobolde riefen wild durcheinander, auf Englisch wie Koboldgack. »Gŏrpák!« schallte es von links und »Willst du etwa im Arbeitslager enden?« von rechts. Mittendrin stand Granduk und verwob noch mehr pure Magie zwischen den Fingern. »Ihr Źbabcéks!«, fauchte er, »ich werde mir nur nehmen, was uns nach Koboldrecht zusteht!« Voller Zorn bemerkte er gar nicht, dass seine Füße plötzlich tiefer in den Boden sackten. Grimmige Zufriedenheit breitete sich in Minerva aus. Oh, was war sie dankbar, dass Granduk ihr die Wahl abgenommen und zuerst angegriffen hatte. »Da wirst du auf einen anderen Tag warten müssen!«, rief sie und zielte auf den Morast, in den sie den Teppich zu seinen Füßen verwandelt hatte. Während die übrigen Kobolde eigene Beschwörungen murmelten, um ihren wütenden Kollegen zurückzuhalten, schoss ein kräftiger Tentakel – zu Ehren von Miss Cuddles – aus dem Sumpfboden hervor. »Arrnd, du Verräter!«, brüllte Granduk und Minerva wischte den Zauberstab nach links. Watsch. Die heraufbeschworene Ranke klatschte dem Kobold ins Gesicht, sodass der Rest seiner Rede zu einem dumpfen »Mppfff!« verklang. Seine Finger zuckten zwar noch, doch die purpurnen Magiefäden dazwischen verblassten, je fester sich die falsche Teufelsschlinge um ihn wickelte. Minerva sah Arrnd an und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Das entlockte ihm einen kehligen Laut, bei dem er seine Zahnreihen entblößte. Wohl die Koboldversion eines Lachens – »Impedimenta!« Der plötzliche Ruf ließ alle Köpfe herumfahren und gerade rechtzeitig riss Minerva doch noch einen Protego-Zauber empor. Der blassblaue Magieschild vibrierte unter der Wucht des Einschlags. Auf der anderen Seite der Barriere hob die Angreiferin erneut den Zauberstab. »Nicht, Pippa!« »Was soll das heißen?« Die Aurorin trat aus dem Quergang zu ihrer Zentrale, den Stab angriffsbereit auf Arrnd gerichtet, dessen Hände vor Magie glühten. Sie trug nur ein spitzenbesetztes Nachthemd unter dem offenen Ministeriumsumhang und pinke Lockenwickler zierten ihre Haare. »Bei Merlin, Minerva!«, fluchte sie. »Dir ist klar, dass der hier gerade im Begriff war, dir irgendwas aufzuhalsen?« »Nein, denn du liegst falsch.« Minerva richtete sich auf, den Blick fest auf Arrnd gehaftet, wie sie es sonst im Unterricht bei einem besonders aufmüpfigen Schüler tun würde, der seinem Sitznachbarn echte Hasenohren verpasst hatte. »Richtig?« Der Kobold zog eine Augenbraue hoch, gefolgt von seinen Mundwinkeln. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, neigte er den Kopf in ihre Richtung, dann in Pippas. »Mein Stolz verbietet es mir zu eurem Glück, derart niedere Mittel zu erwägen.« Pippa verengte die Augen. »Dass ich nicht lache«, erwiderte sie lapidar. »Dein Kollege hat es doch auch getan – ich sollte euch alle wieder verhex-« »Senk den Zauberstab«, unterbrach Minerva sie, den eigenen Stab auf ihre einstige Kollegin gerichtet. »Und sag mir lieber, wo Phin ist!« »Ah wer ...?« Mit gekräuselter Stirn musterte Pippa sie, während ihre Hand langsam gen Boden sank. »Oh! Elphinstone meinst du! Er ist nicht mehr hier –« »Was? Wo ist er?« Die Verwirrung auf Pippas Zügen verstärkte sich. »Na in der Winkelgasse! Er hat mir selber die Nachricht geschickt. Ich dachte, darum geht es hier. Ich meine, die kleinen Biester –« Ihr Zauberstab ruckte wieder in Richtung Arrnd. »Deswegen sind die doch hier, nicht? Um sich zu beschweren, wie es vor ihrer geliebten Bank aussieht.« »Oh nein ...« Minerva unterdrückte einen Fluch. Das war nicht Teil des Plans gewesen, in den Alston sie eingeweiht hatte. »Sag mir nicht, dass alle aus der Strafverfolgung in der Winkelgasse sind. Bitte.« »Die Reinblüter rotten sich dort zusammen! Läden werden überfallen, jemand greift vor dem Tropfenden Kessel willkürlich Muggel an ... Natürlich sind alle da!« Pippa bedachte sie mit einem kleinen Kopfschütteln. »Ich bin auch nur auf der Durchreise dahin. Wenn euer Lärm nicht gewesen wäre –« »Du kannst da nicht hin!«, rief Minerva. »Das ist nur Ablenkung! Ihr eigentliches Ziel heute Nacht ist die Übernahme des Ministeriums!« »Oh bei Merlins hässlichstem Liebestöter, wovon redest du da?« Pippa betrachtete Minervas bestrumpfte Füße mit erhobenen Augenbrauen. »Was ist überhaupt mit dir passiert? Wo warst du?« »Das ist eine zu lange Geschichte. Wichtig ist nur, dass wir im Ministerium bleiben und die Kamine verschließen. Sofort.« Sowohl Pippa als auch die Gringottswärter rund um Arrnd starrten sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Aber die Winkelgasse brennt!«, sagte Pippa noch einmal verzweifelt und fing sich damit das besorgte Zischen dreier Kobolde ein. Selbst Granduk gab unter seinem Teufelsschlingen-Knebel ein panisches »Hrmpf« von sich. Minerva rieb sich die Stirn, eine Hand auf das knisternde Pergament in ihrem Ausschnitt gepresst. »Das wird das Ministerium auch bald, Pippa, glaub mir. Wo ist die Ministerin?« »Mrs Jenkins ist in ihrem Büro, so weit ich weiß. Sie hat einige ihrer Abteilungsleiter versammelt, um eine Notfallsitzung abzuhalten, wegen irgendwelcher Dinge, die mit Elphinstones Schwester zu tun haben – ich habe es ehrlich gesagt nicht verstanden ...« Einen Wimpernschlag lang schwieg Pippa, dann riss sie die Augen auf. »Oh. Sie sind ... alleine. Oh. Oh. Drachenmist!« »Dann lass uns beten, dass wir schnell genug sind.« Mit einem Schlenker ihres Zauberstabs löste Minerva die heraufbeschworene Teufelsschlinge auf. Sie sah, wie Granduk prüfend seine Gliedmaßen betastete, die Finger dehnte und streckte – »Geh«, sagte sie. »Tu, was du für dein Volk tun musst, und ich werde es ebenso halten.« Sie sah Arrnd und die anderen an, deren Namen sie noch immer nicht kannte. »Ihr alle, los!« Granduk hob die Hand und sie zuckte unwillkürlich zusammen, doch der Kobold legte nur den Kopf schief und sah geradewegs an ihr vorbei. »Das bedeutet nicht, dass irgendetwas vergessen oder gar vergeben ist«, schnarrte er, dann schnippte er und war verschwunden, obwohl es Apparierbanne gab. Einer seiner Kollegen sah kurz auf den Fleck Teppich, der bis eben Morast gewesen war, dann zuckte er mit den Schultern. »Einer muss ja auf ihn acht geben.« Noch ein Schnippen und er verschwand ebenfalls. Arrnd allerdings blieb. »Fliehen?«, sagte er und schüttelte im gleichen Atemzug den Kopf. »Nicht, wenn wir auch hier noch etwas für unser Volk tun können. Es gibt hunderte Kobolde in Gringotts, aber nur noch zwei hier.« »Also schön. Hier lang!«   Der erste und oberste Stock mit der Ministeriumszentrale war längst nicht so verlassen wie das Stockwerk der Strafverfolgung darunter. Hier schwirrten tatsächlich Memos um die Lampen und ein paar versprengte Angestellte sortierten hektisch riesige Aktenstapel. Als Minerva und ihr Gefolge die Treppe empor stürmten, quiekten einige von ihnen erschrocken auf, doch Pippa hielt ihre Aurorenmarke in die Luft, bevor irgendjemand etwas sagen konnte. »Wir haben einen Code Aschwinderin!«, rief sie mit magisch verstärkter Stimme. »Lassen Sie liegen, was immer Sie gerade tun; ich wiederhole, Code Aschwinderin ist eingetreten!« Kollektives Keuchen. Einige der Anwesenden tauschten fragende Blicke, offenbar unsicher, was sie mit dieser Information anfangen sollten – und aus dem Büro der Ministerin, dessen Flügeltüren weit offenstanden, drang ein herzhafter Fluch, der sogar Pippa zusammenfahren ließ. Keine Sekunde später stand Eugenia Jenkins höchstpersönlich im Vorraum, Hände in die Hüften gestemmt. Hinter ihr folgten – in einigem Abstand – die Leiter der Ministeriumsabteilungen sowie eine Hauselfe in cremefarbener Toga. Die Zaubereiministerin war eine kleine Hexe, aber das tat ihrer Erscheinung keinen Abbruch. Alles an ihr sprach von Schlichtheit, Effizienz – und Wut. Mehr noch als bei ihrem Abbild aus dem Heuler traten die müden Schatten auf ihrer braunen Haut zutage und konnten doch das Feuer in ihren Augen nicht dämpfen. »Miss Jansson – Minerva!« Irritiert sprang ihr Blick zu den beiden Kobolden. »Werte Vertreter von Gringotts ... Was hat dieser Auftritt zu bedeuten? Code Aschwinderin – das ... Eindringlinge im Ministerium? Jetzt? Es hieß, dass der Umsturz am Tag der Wintersonnenwende stattfinden solle ... Und dann erreichten uns die Nachrichten aus der Winkelgasse –« »Nun, Pläne ändern sich, auch wenn Elladora das nicht ahnen konnte, als sie Elphinstone mit ihrer Erinnerung losschickte«, erwiderte Minerva barsch. Sie brachte es nicht über sich, zu sagen, dass Elladora inzwischen mit dem Leben für ihre Tat bezahlt hatte. »Und damit guten Abend, Eugenia. Du erinnerst dich noch an unseren Briefwechsel neulich?« »Ja?« Die Ministerin verschränkte die Arme. »Du kannst von Glück sprechen, dass ich die Entführung nicht der Muggelpolizei überlassen habe. Sonst wären Elphinstone und ich wohl nie rechtzeitig über diese Verschwörung gestolpert. Aber so haben wir einen entscheidenden Vorteil – wir wissen, wo genau unsere Feinde zuschlagen werden.« Ein Raunen glitt durch die Menge und Eugenia schluckte sichtbar. Doch Minerva überging das, indem sie so knapp wie möglich die Bedrohung durch Voldemort schilderte. Das Gemurmel wuchs noch an, als sie schlussendlich Alstons Pergament aus dem Blazer zog und auf einen vollgestellten Schreibtisch klatschte. »Woher stammen diese Informationen?«, fragte jemand halblaut. »Und was ist das für ein Pergament?« »Stammt das etwa direkt von den Aufständigen?« »Aber wie?« Alle reckten den Kopf, um einen Blick auf die Infiltrationspläne zu erhaschen, die Minerva nun neben leeren Teetassen und alten Federkielen entfaltete. Auch Pippa und die Kobolde näherten sich neugierig. Selbst die Ministeriumselfe riss die tennisballgroßen Augen auf. Für einen Wimpernschlag hielt Minerva mitten in der Bewegung inne, dann stupste sie die Handschrift auf dem Pergament mit dem Zauberstab an. Sie wusste nicht weshalb, doch bevor sie darüber nachdenken konnte, verwandelten sich Alstons gedrängte Notizen bereits in ordentliche Druckbuchstaben. Als wollte sie lediglich ein paar Staubkörner fortwischen, fuhr sie erneut über die Tinte und sah auch die letzten Hinweise auf den Urheber verblassen. »Gemineo«, sagte sie schließlich laut. Anstatt zahlreiche Dupliken hervorzubringen, glühte das Pergament allerdings bloß rot auf. Sie stöhnte und sah zu den Umstehenden auf. »Na kommen Sie schon näher ran! Sie müssen das hier sehen.« Pippa ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit einem leisen Pfeifen sog sie die Luft zwischen den Zähnen ein, angesichts der detaillierten Zeichnungen von Ministeriumsfluren und kompromittierten Kaminen. »Da kennt sich aber jemand verdammt gut aus.« »Zu gut«, fluchte Eugenia und warf einen besorgten Blick in die Runde, als suche sie den Verräter. »Ja«, erwiderte Minerva. »Es ... gibt Maulwürfe im Ministerium. Aber das ist jetzt egal. Wichtiger ist, dass wir den Eindringlingen zuvorkommen.« »Richtig.« Trotz ihrer geringen Körpergröße schien Pippa über Minerva hinauszuwachsen, sobald sie einmal die Schultern straffte und sich nach einem Blickaustausch mit der Ministerin an die übrigen Angestellten wandte. »Haben Sie gehört? Wir sind die letzte Verteidigungslinie! Die magische Bevölkerung braucht Ihre Hilfe.« Sie lächelte den umstehenden Büroangestellten aufmunternd zu. »Also nutzen wir unsere Panik, um uns zu beeilen und die Kamine zu verschließen!« Eugenia nickte bestätigend. »Wir gehen alle gemeinsam, Ebene für Ebene«, beschied sie. »Die erfahreneren Kollegen zuerst, die Jüngeren in der Nachhut. Miss Jansson und –« Sie warf Minerva einen Blick zu, den diese mit einem ungeduldigen Schlenker ihres Zauberstabs quittierte – »Professor McGonagall übernehmen zusammen mit mir die Führung.« »Aber ... was ist, wenn diese ... wenn sie von hinten angreifen?«, rief ein jüngerer Angestellter aufgebracht. »Ich bin doch kein Auror! Ich habe nicht mal einen ZAG in Verteidigung gegen die dunklen Künste –« »Einer von uns geht gerne mit Ihnen«, erklärte Arrnd grimmig und wies auf sich und seinen Kollegen. »Und mit Koboldmagie will man sich schließlich nicht anlegen.« Minerva nickte dem Zauberer zu, der sichtlich schwitzte. »Sie schaffen das, Mr Llewyn. Immerhin erinnere ich Sie als äußersten kreativen Ravenclaw. Da fällt Ihnen bestimmt etwas ein, wie Sie sich notfalls Ihr Talent für Verwandlungen oder Zauberkunst zunutze machen können.« Vom Hals aufwärts kroch ihrem ehemaligen Schüler die Röte ins Gesicht. »Oh Merlin, Sie erinnern sich ...« Sein Blick zuckte zu den Kobolden und dann streckte er sich plötzlich, als sei er wieder ein Vertrauensschüler, der auf Patrouille geschickt wurde. »Verlassen Sie sich auf mich!« Obwohl Mr Llewyn bei Weitem der Jüngste seiner Kollegen war, folgten diese nach einer Schrecksekunde seinem Beispiel und zückten ebenfalls die Stäbe, gefolgt von den Abteilungsleitern hinter der Ministerin. In einer Reihe standen sie da, ältere Hexen in feinen Kostümen und zitternde Auszubildende, die noch Akten umklammerten, genauso wie Zauberer, die schon seit Jahren nichts außer Dokumentenstapeln verzauberten. Und mit einem Blick auf die die beiden Kobolde ballte sogar Eugenias Elfengehilfin entschlossen die knochigen Fäuste. Für einen Moment schloss die Zaubereiministerin die Augen und ein schweres Seufzen schien auf ihren Lippen zu liegen, doch dann versiegelte sie auf einen Schwenk des Zauberstabs die Türen ihres Büros. »Ich danke Ihnen für die Unterstützung. Aber bitte bleiben Sie hinter mir. Diese Leute wollen mich mich, also werden sie sich mir als Erstes stellen müssen.« Mit diesen Worten schnappte sie sich Alstons Pergament und marschierte voran ins Ungewisse. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)