Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 21: Die siebte Regel ---------------------------- Ein abgegriffener Tarnumhang, eine Geheimnisaufspürsonde und ein Spickoskop waren Elphinstones stolze Ausbeute aus dem Vorratslager der magischen Strafverfolgung, die er in seiner letzten Amtshandlung an sich genommen hatte. Wie er daran gekommen war, wo doch sonst ein Zauberer genaustens darauf achtete, dass niemand ohne drei abgesegnete Formulare und seine Bewilligung auch nur eine Schreibfeder an sich nahm, wollte Minerva lieber nicht wissen. Zu dieser Ausbeute gesellten sich die von ihr begonnen und weiterentwickelten Tränke, allen voran der Schutztrank gegen die schwarzmagische Wirkung eines Melionwurz-Bannes. Der Sud verlangte einiges an Raffinesse – und Zeit –, sodass er gegenwärtig noch in Elphinstones Arbeitszimmer vor sich hin köchelte. Die Fertigstellung würde einen weiteren Tag brauchen. Ein leichterer Heiltrank hingegen war bereits fertig und in kleine Einwegphiolen gefüllt, die sich nach einmaliger Nutzung auflösen würden. Ein anderer Trank konnte die magische Aura der anwendenden Person unterdrücken, was gegen magiesensitive Entdeckungszauber schützte, und ein drittes Gebräu schärfte die Sinne. Zusammen mit dem Resistenztrank zum Schutz vor schwächeren Flüchen und Verzauberungen, den es noch zu brauen galt, ließ sich das sehen. Gute Planung war nach Elphinstones siebter Regel essentiell und da stimmte Minerva ihm zu, gleichwohl ihre Ungeduld diese Vernunft stets zu bezwingen versuchte. Doch sie mussten schon genug andere Regeln brechen, allen voran die Dritte: Niemand arbeitet alleine. Abgeschnitten von der Unterstützung des Ministeriums, blieb ihnen nur die Möglichkeit, sich auf ihre eigenen Fähigkeiten zu verlassen. Das war genug des Risikos, selbst für eine Gryffindor. Den letzten Schritt ihrer Vorbereitung – die Informationen zu dem entwendeten Artefakt – musste Robbie liefern. In der Zwischenzeit schrieb Minerva einen langen Brief an Albus, in dem sie ihn über ihr Vorhaben unterrichtete. Da ihr Bruder auch danach auf sich warten ließ, half sie anschließend Elphinstone, die Zutaten für den Resistenztrank zu präparieren. Unter steten Blicken auf die Uhr, deren Zeiger mit einem Lähmzauber versehen zu sein schienen, widmete sie sich dem Grünzeug. Mehr als einmal wies Elphinstone sie sanft darauf hin, das Messer anders zu halten oder die Blätter eines Sumpfkrautes nicht unter der Schneide zu zerdrücken, doch ihre Gedanken wanderten immer wieder fort zu ihrem Bruder. Und wenn sie nicht ihm galten, dann ertappte sie sich dabei, Elphinstone zu beobachten, wie er konzentriert in dem Kupferkessel rührte. Die Dämpfe sorgten dafür, dass sich sein Haar wellte – ein weiterer Anblick, der auf ihrer kürzlich begonnenen Liste von Dingen landete, die das Schnatzjagdgefühl erweckten. Genauso wie die Präzision, mit der er ein Bündel Salbeiblätter zerkleinerte. Oder die kleine Konzentrationsfalte zwischen seinen Augenbrauen, wenn er die nächsten Schritte mit dem Rezept abglich. Sie schüttelte den Kopf, um sich selber daran zu erinnern, dass sie gerade bedeutend dringlichere Probleme hatte. Zu ihrem Glück war er so in seine Tätigkeit versunken, dass er ihre Blicke nicht bemerkte, sonst hätte er sicher eine Anmerkung dazu gemacht. Aber diesen Moment hatte sie für sich und insgeheim genoss sie es, jene Seite an ihm noch einen Augenblick länger zu beobachten. Als es gegen ein Uhr nachts endlich an der Tür läutete, warf sie die Schrumpelfeige, die sie gerade geschält hatte, erleichtert aufs Schneidebrett und rannte beinahe zur Wohnungstür. Sie riss die Tür auf und streckte die Arme aus, bereit Robbie um den Hals zu fallen – »Oh«, stieß sie aus und fing sich gerade rechtzeitig am Türrahmen ab, bevor sie auf Tuchfühlung mit Mulciber gehen konnte. »Was machst du hier? Wo ist Robbie?« Angesichts ihrer wenig begeisterten Begrüßung rollte der Strafverfolger mit den Augen. »Keine Sorge, ich habe deinen Bruder nicht gefressen.« Er trat einen Schritt zur Seite und neben einer freudestrahlenden Pippa schob sich ein zerknirschter Robbie in ihr Blickfeld. In der Zwischenzeit musste er zuhause gewesen sein, denn seine verrußten Kleider hatte er durch frische ausgetauscht und sein Haar lag wieder ordentlich. »Sorry«, murmelte ihr Bruder, »aber irgendwie hat er geahnt, was ich vorhabe und dann bin ich die beiden nicht losgeworden.« Über seine Schulter hinweg winkte Pippa, die mittlerweile ebenfalls umgezogen war. »Er hat’s versucht, aber man legt sich nicht mit einer Aurorin an. Sorry, Minnie.« Minerva ignorierte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mulciber, hör auf, die Gedanken anderer zu lesen. Dass sich das nicht gehört, weißt du oder?« »Oh bitte, als wenn ich es dem kleinen Robert jr nicht an der Nasenspitze ansehen konnte, dass er hinterher zu dir läuft und alles brühwarm weitererzählt. Ich verschwende meine Kraft nicht für solche Kinkerlitzchen.« »Sehr rücksichtsvoll. Danke, dass ihr Robbie herbegleitet habt – gute Nacht und auf Wiedersehen.« »Nicht ‚Auf Nimmerwiedersehen‘? Da bin ich aber erleichtert.« Mulciber hob einen Mundwinkel. »Danke für den Verbesserungsvorschlag, den nehme ich gerne an.« Minerva griff nach Robbies Ärmel und zog ihn in die Wohnung. Damit schien Mulciber gerechnet zu haben, denn er setzte einen Fuß auf die Türschwelle. Genervt funkelte sie ihn an und erneut rollte er mit den Augen. »Ich bin hier, weil ich mit euch reden will. Immerhin weiß ich genau, dass ihr diesen Fall nicht ruhen lassen werdet und vielleicht«, er seufzte dramatisch, »können wir euch helfen. Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, Minerva.« »Ich wusste gar nicht, dass wir jetzt beim Vornamen sind, Alston.« Trotzdem trat sie keinen Schritt beiseite, um ihn und Pippa hereinzulassen. Dafür hörte sie Elphinstone hinter sich herankommen, gefolgt von einem leisen Seufzen, sobald er die ungebetenen Gäste erspähte. »Lass sie rein, wenn sie unbedingt wollen«, brummte er. »Ich gebe euch fünf Minuten, uns davon zu überzeugen, wieso ihr hilfreich seid.« »Danke, Elphinstone. Also schön, hört zu.« Mulciber trat mit großen Schritten ins Wohnzimmer und ließ sich geradewegs in einen Sessel fallen, als wäre er nicht bloß ein unerwünschter Besucher. »Ich –« »Vorsichtig mit dem schwarzblättrigen Pfeilkraut hinter dir. Der Name kommt nicht von Ungefähr und sie mag keine Fremden«, sagte Elphinstone ungerührt. »Oh – und die Schlangenplatane daneben beißt.« Sich ein Grinsen verkneifend beobachtete Minerva, wie Mulciber den Pflanzen einen langen Blick zuwarf und dann ein Stück im Sessel nach vorne rückte. Sie war ziemlich sicher, dass Elphinstone die Gefährlichkeit seiner Heimpflanzen ordentlich übertrieb – sie hatte er nie vor diesen Gewächsen gewarnt –, aber das wusste Mulciber ja nicht. Auch Pippa schien es sich anders zu überlegen, denn statt auf dem Sofa Platz zu nehmen, schwenkte sie auf den Hocker vor dem Flügel um, dessen Korpus nur von gewöhnlichen Topfblumen bevölkert wurde. »Kommen wir also dazu, warum wir euch helfen sollten«, hob Mulciber von Neuem an. »Ich weiß, dass ihr die Adresse der Entführer habt. Damit seid ihr mir unweigerlich einen Schritt voraus, denn der gute Edwards ist weiterhin unauffindbar. Dafür seid ihr alleine, obwohl ihr es mit einer größeren Gruppe zu tun habt. Beides keine guten Positionen. Warum also nicht zusammenschließen? Ich habe kein Problem damit, außerhalb meiner Zuständigkeit zu agieren, und ihr habt bereits einiges an hilfreicher Vorbereitung geleistet. Wenn wir die Sache richtig angehen, können wir die Entführer binnen kürzester Zeit dingfest setzen.« »Meinst du das ernst?«, platzte es aus Minerva hervor. »Ja. Der Vorfall in Gringotts hat mich davon überzeugt, dass deine Befürchtungen nicht so unangemessen sind, wie zunächst gedacht. Es ist besser, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Gemeinsam mit Margarete können wir eine anständige Observation auf die Beine stellen, bis ich bei der Ministerin durchbringe, dass wir mit der geballten Macht der Aurorenzentrale zugreifen. Wie sagt ein gewisser Jemand immer?« Er warf sich in die Brust und intonierte mit Grabesstimme: »Regel sieben: Gute Vorbereitung ist elementar für den Fallabschluss!« Elphinstone verdrehte die Augen. »Wenigstens hast du irgendwas von mir gelernt. Es klingt sogar ... vernünftig, was du vorschlägst.« Nachdenklich knetete er das Geschirrtuch, an dem er zuvor seine Hände abgetrocknet hatte. »Und du wirst uns vollumfänglich teilhaben lassen?« »Ich weiß, dass ihr ohnehin nicht locker lassen würdet, von daher – noch einmal ja.« Mulciber wandte sich an Robbie, der an Minervas Seite stand. »Also los, erzähl ihnen alles über dieses dämliche Artefakt.« »Ah ja ...« Robbie suchte sich den Platz am weitesten von Mulciber sowie den Pflanzen entfernt und zog ein knittriges Pergament aus der Umhangtasche. »Das Artefakt. Komplizierte Geschichte. Die verstorbene Inhaberin von Verlies Nr. 232 war eine Deutsche, die kurz vor Grindelwalds Fall nach Großbritannien geflüchtet ist. Bei der Öffnung des Verlieses haben wir festgestellt, dass sie seiner Bewegung wohl ziemlich nahegestanden hat. Dort lagern haufenweise Relikte des großen Zaubererkrieges aus den Vierzigern. Viele der Gegenstände konnten wir nach Deutschland zurückverfolgen. Fragwürdige, schwarzmagische Gegenstände.« Pippa kommentierte das mit einem entrüsteten Schnauben. »Typisch! Und solche Leute sind der Grund, warum Familien wie meine an der Grenze beinahe abgewiesen wurden. Dabei wollten meine Eltern die Niederlande nicht einmal verlassen, bis der Krieg uns keine andere Wahl gelassen hat. Nicht alle Flüchtigen haben versucht, ihrer gerechten Strafe zu entkommen!« »Natürlich nicht.« Verlegen räusperte Robbie sich. »Zum Glück habe ich alle Artefakte katalogisiert und einer der Kobolde hat Zeichnungen dazu angefertigt. Ich habe die Richtige eben raussuchen lassen.« Er breitete das Pergament auf dem chaotischen Wohnzimmertisch aus. Minerva trat näher und erkannte die Darstellung eines länglichen Gegenstandes, der ein wenig wie die Spritzen anmutete, die in Muggelkrankenhäusern Anwendung fanden. Zumindest lief eine Seite des Artefakts spitz zu, während auf der anderen Seite ein Glaskolben angebracht war. Darunter befand sich eine Reihe Symbole, die sie nie zuvor gesehen hatte, rund um einen Edelstein angeordnet. In dem richtigen Museum hätte es als antikes Folterinstrument durchgehen können. »Das hier haben die Eindringlinge gestohlen. Leider haben wir in Gringotts keine Ahnung, was genau das eigentlich ist, weshalb es erstmal im Verlies geblieben ist. Aber die Tatsache, dass daran getrocknetes Blut klebte, als wir es gefunden haben, spricht für sich.« »Blut?«, echote Elphinstone, der sich inzwischen neben Minerva über das Pergament beugte. »Menschliches ...?« Robbie nickte. »Eine meiner Kolleginnen aus der Auslandsabteilung meint, dass es sie an alte Ritualinstrumente erinnert, die sie in Ägypten gefunden hat. Artefakte, die bei schwarzmagischen Experimenten genutzt wurden. Es liegen zumindest einige ähnliche Verzauberungen darauf – keine Flüche.« »Also soll seine Anwendung alleine nicht zwangsweise verletzen«, schlussfolgerte Minerva. »Möglich.« Ihr Bruder wies auf die Symbole. »Das sind zwar keine uns bekannten Runen, aber nach unserer Überprüfung liegt der Verdacht nahe, dass das Gerät in erster Linie ein Untersuchungsgegenstand ist. Vermutlich verfärbt sich dieser Kristall hier in der Mitte, je nachdem, was das Ergebnis ist. Vielleicht kann man damit ... Zutaten überprüfen oder irgendwie behandeln, während man ein, ähm, Ritual vorbereitet.« »Zutaten. Wie menschliches Blut?« Elphinstone sah skeptisch drein. »Ich meine – für wirklich mächtige Tränke gibt es ein paar Gründe, freiwillige Blutspenden zu nutzen, in geringer Menge, aber das ...« Er maß den gezeichneten Glasbehälter grob an seinem Daumen und pfiff durch die Zähne. »Das tut weh.« »Und nicht zu knapp«, ergänzte Pippa, die ihm nun ebenfalls über die Schulter sah. »Nach einem Heilartefakt sieht es jedenfalls nicht aus.« »Ich fürchte, ihr habt recht«, entgegnete Robbie. »Das getrocknete Blut darin ist laut der Analyse in St. Mungo dasselbe wie jenes aus der Probe zu einem ungeklärten Mordfall aus den späten Vierzigern.« »Lass ja nicht das Beste an dieser Erkenntnis aus«, mahnte Mulciber ihn. »Natürlich nicht.« Leiser setzte Robbie hinzu: »Es handelt sich um das Blut eines muggelgeborenen Opfers.« Minerva nahm einen tiefen Atemzug und schloss kurz die Augen. Das war überhaupt nicht gut. Die Zeit lief ihnen davon! Sie wechselte einen Blick mit Elphinstone, der das Gleiche zu denken schien. »Die Akte ist schon ziemlich eingestaubt gewesen«, mischte Mulciber sich dazwischen, »aber den armen Kerl hat man damals ordentlich zugerichtet. Es war wohl unmöglich, festzustellen, woran er gestorben ist. Jedenfalls ist ihm mehr als die Hälfte seines Blutes entnommen worden. Während er lebte. Ergo – ihr braucht jegliche Hilfe, um zu verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt.« »Unsere Hilfe«, sprang Pippa ihm zur Seite. Zu Minervas Überraschung nickte selbst Robbie beipflichtend. »Wir müssen etwas unternehmen, Schwesterherz.« »Wir? Du gehst nach Hause zu deiner Frau!« Seine Augen wurden schmal. »Ich bin zwar ein Schreibtischtäter, aber im Gegensatz zu Malcolm kann ich den Blick hin und wieder noch vom Pergament lösen. Vielleicht kann ich euch helfen! Immerhin haben die Idioten mich entführt, dafür will ich mich bei denen eh noch bedanken.« »Ich riskiere nicht noch einmal, dass dir etwas passiert!« »Ach, aber deinen Mr ‚ehemaliger Vorgesetzter‘ dürfen sie über den Haufen zaubern oder was?«, zischte Robbie leise. »Das – Nein! Das ist was anderes! Du kannst nicht kämpfen.« »Ich hab nicht gesagt, dass ich kämpfen will. Ich will helfen.« Sie ballte schon die Fäuste, da legte Elphinstone ihr eine Hand auf die Schulter. »Er hat recht. Beide haben recht. Wir brauchen Hilfe. Wenn wir den Unterschlupf stürmen wollen, müssen wir bedacht vorgehen. Je mehr Leute davor und währenddessen dabei sind, auf deren Fähigkeiten wir uns verlassen können, desto einfacher. Dann muss niemand zu Schaden kommen.« »Du wirst dich nicht in Gefahr bringen«, forderte Minerva mit erhobenem Zeigefinger von Robbie. »Denk an Anne und das Kind! Wenn die Sache zu heiß wird, hat dieses Mal dein Wohl Priorität, okay?« Ihr Bruder seufzte, aber dann nickte er. »Natürlich.« Unglücklich kreuzte sie die Arme vor dem Bauch und funkelte Mulciber an. »Schön, was stellst du dir vor?« »Zunächst einmal das, was Elphinstone sagt. Wir müssen uns einen Überblick von dem Haus und den Gegebenheiten in der Umgebung verschaffen. In was für einer Gegend liegt es, wer sind die Nachbarn, wie kommen wir am besten in das Gebäude? Für eine großangelegte Observation haben wir zwar keine Zeit, aber ein paar Informationen sollten wir sammeln. Da lasse ich gerne euch den Vortritt. Verwandelt euch – ihr seid so ein reizendes Pärchen, es müsste euch liegen, ein gewöhnliches Muggelpaar zu spielen, das rein durch Zufall an dem Haus vorbeispaziert, vielleicht träumerisch davorsteht und überlegt, ob sie nicht auch so ein süßes Häuschen kaufen sollten ... Lasst euch was einfallen. Margarete und mein Assistent können sich mit euch abwechseln. Ihr müsst nur die Tagesschicht übernehmen, während sie im Ministerium arbeiten.« Sein Tonfall gefiel Minerva nicht, doch das war ohnehin der erste Schritt ihres eigenen Planes, also nickte sie einfach. »Abgesehen davon kümmere ich mich darum, dass das Haus den Anschluss an das Flohportal verliert und der Ortsteil mit Leuten aus der Patrouille besetzt wird, die notfalls eingreifen und etwaige Muggelbevölkerung evakuieren oder oblivieren können. Der Chef dort schuldet mir ohnehin noch einen Gefallen. Weiterhin versuche ich, bei der Ministerin höchstpersönlich den Einsatzbefehl für eine Abordnung der Auroren zu erwirken. Sobald wir die haben, schlagen wir zu. Ein – zwei Tage schätze ich, höchstens.« In Mulcibers Worten klang es beinahe ... simpel. Als könne gar nichts mehr schiefgehen. »Und wenn die Entführer vorher versuchen, zu fliehen oder die Lage unser Eingreifen verlangt?«, gab Minerva ihren Zweifeln Raum. »Dann werden wir gemeinsam hoffentlich stärker sein als eine Horde größenwahnsinniger Jungverbrecher. Trotzdem sollten wir in Kontakt bleiben, solange ihr das Haus observiert.« »Nur wie? Eulen sind unpraktisch.« »Hey«, meldete Pippa sich zu Wort, »das klingt vielleicht verrückt, aber was haltet ihr von einem guten alten Foemicus-Band?« »Du meinst aber nicht diese magischen Freundschaftsbändchen, mit denen zu meiner Schulzeit alle möglichen Kinder rumgerannt sind, oder?« Minerva hob fragend eine Augenbraue. »Genau die!« Mulciber sah aus, als hätte er einen Bezoar im Ganzen verschluckt. »Was soll uns das nützen, Margarete?« »Oh, die Bändchen sind praktischer als ihr Ruf. Überlegt mal – es ist möglich, mehrere Personen mit einem einzigen Zauber verbinden. Sobald eine Person im Bündnis an die Auflösungsphrase denkt, fällt ihr Band ab. Im gleichen Atemzug merken das alle anderen Tragenden. Wenn einer vor Ort in Schwierigkeiten gerät, können wir so schnell und notfalls über große Distanz agieren. Ganz ohne Eulenpost!« »Die Idee ist nicht verkehrt«, sagte Elphinstone. »Ehrlich gesagt sogar ziemlich kreativ. Ich bin dabei.« Begeistert klatschte Pippa in die Hände. »Wundervoll! Ich hab sogar Erfahrung in dem Zauber, davon habe ich in meiner Schulzeit viel Gebrauch gemacht. Man, das war immer ein Drama, wenn jemand sein Armband entfernt hat ...« Sie zückte den Zauberstab und sah strahlend in die Runde. »Worauf wartet ihr noch? Handgelenke hoch!« Der Gedanke eines Freundschaftsbändchens mit Alston Mulciber war lachhaft, aber die Argumente dafür erstaunlich vernünftig. Also krempelte Minerva seufzend den Ärmel hoch und streckte Pippa ihr linkes Handgelenk entgegen, ebenso wie Elphinstone und Robbie. »Alston?« Pippa deutete mit dem Zauberstab auf ihn und gestikulierte auffordernd. »Ich werde aussehen wie ein Idiot«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen, aber dann zog er seinen Ärmel gerade weit genug zurück. Mit einem zufriedenen Ausdruck streckte Pippa ihr eigenes Handgelenk in den Kreis, in der anderen Hand hielt sie den Zauberstab hoch und begann, die Beschwörung zu murmeln. Nacheinander richtete sie den Stab auf jeden Einzelnen, um sie in den Zauber einzubeziehen. Sobald die Magie eine Person erfasste, tauchte aus dem Nichts ein feiner Lichtfaden an ihrem Handgelenk auf, der für alle eine andere Farbe annahm. An Robbies Arm erstrahlte es in warmem Sommergelb, bei Elphinstone sah Minerva ein klares Blau und schließlich wand sich kribbelnd ein Band so grün wie die schottischen Highlands um sie. Mulciber und Pippa leuchteten in Rostrot und Violett auf. Ein letztes Mal schwang Pippa ihren Zauberstab mit einem lauten »Ligate!«. Alle Lichtfäden schossen hoch, verbanden sich in der Luft miteinander und verflochten sich zu einem vielfarbigen Strang. Die bunten Lichter wanden sich zurück um Minervas eigenes Handgelenk. Als der Zauber schließlich verblasste, verblieb ein Armband aus gedrehten Stoffsträngen in allen ihren Farben, das weder Anfang noch Ende aufwies. »Wenn ihr in Gefahr seid, müsst ihr einfach nur mit einem konzentrierten ‚Solve‘ daran denken, dass ihr den Zauber auflösen wollt, dann wird das Band verschwinden«, erklärte Pippa. »Bei jedem anderen von uns wird sich der Strang in eurer Farbe auflösen. Das löst ein Brennen oder Kribbeln aus, deshalb bekommt man es auf jeden Fall mit. Andernfalls hält das Armband ohnehin nur begrenzte Zeit. Spätestens in ein paar Tagen schwächelt der Zauber und wenn man ihn nicht auffrischt, ist er passé.« Mulciber schob seinen Ärmel derartig ruckartig über das Band, dass man annehmen konnte, er hoffe, es würde verschwinden, solange er es nicht sah. »Gut. Dann machst du dich besser daran, eigene Vorbereitungen zu treffen, Margarete. Wenn du feiern gehen kannst, kannst du auch die Nacht arbeiten.« Pippa zuckte ergeben mit den Schultern. »Wenn das vorbei ist, nehme ich mir eine ganze Woche frei. Ich mag meine Arbeit, aber nicht so gerne, dass ich mir meine Wochenenden versauen lasse.« Sie wandte sich an Minerva, die Hand ausgestreckt. »Ich brauche noch die Adresse, wenn ich euch morgen ablösen soll.« Zögerlich vervielfältigte Minerva mit dem Geminio-Zauber den Pergamentstreifen. Sie gab ungern ihren größten Trumpf fort, gleichwohl sie wusste, dass sie Pippa – und Mulciber – vertrauen musste. Dem Jungen zuliebe. »Falls ich heute Nacht etwas in der Aurorenzentrale höre«, Pippa hob ihr Handgelenk und schüttelte das Armband, »lass ich es euch wissen, großes Hexenehrenwort.« Sie und Mulciber machten sich zum Gehen bereit, allerdings nicht ohne einen letzten, bissigen Kommentar des Strafverfolgers. »Und bei Merlins Barte ihr beiden, schlaft in dieser Nacht auch noch, ja? Vielleicht nicht unbedingt miteinander. Nicht dass es mich kümmern würde, aber eure Augenringe sind grauenerregend. In dem Zustand seid ihr nicht gerade von Nutzen.« »Pass du lieber auf, dass dich die Blume hinter dir nicht beißt«, gab Elphinstone unbekümmert zurück. Ein diebisches Funkeln erhellte seine Augen, als Mulciber einen Ausfallschritt zur Seite unternahm, nur um zu bemerken, dass es sich bloß um einen Topf mit einer harmlosen Flitterblume handelte. »Gute Nacht«, wünschte Elphinstone seinen beiden ungebetenen Gästen in aller Höflichkeit. Robbie erhob sich ebenfalls. »Ich sollte auch zurück zu Anne. Sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich heute nicht mehr auftauche. Aber ihr sagt mir Bescheid morgen, wenn es etwas für mich zu tun gibt, versprochen?« »Ich verspreche es.« Minerva seufzte und schloss ihn ihre Arme. »Pass auf dich auf, Bruderherz.« Er nickte, drückte sie einmal kräftig an sich und dann war er ebenfalls verschwunden. Zurück blieb nur das nagende Gefühl, dass all die Vorbereitung wertvolle Zeit verschlang. Minerva hatte keinen blassen Schimmer, wie sie die Augen auch nur für eine Sekunde schließen sollte. Sie ließ sich auf die Lehne des Sessels sinken, den Mulciber kurz zuvor in Beschlag genommen hatte, und zog eine Haarnadel nach der anderen aus ihren sorgsam hochgesteckten Haaren. In wirren Wellen fielen sie ihr über die Schultern – ein befreiendes Gefühl. Den Kopf gegen eine Hand gestützt, sah sie hinüber zu Elphinstone. Sein weicher Blick erstickte ihre nächsten Worte im Keim. Täuschte sie sich oder waren seine Ohrenspitzen verdächtig rosa angelaufen? »Wow«, murmelte er, »ich glaube, ich habe dich noch nie so ... mit offenen Haaren gesehen.« Etwas verlegen betastete Minerva die Strähnen. »Du meinst wohl mit einem Nifflernest auf dem Kopf. Entschuldige den unschönen Anblick, aber ich bekomme langsam Kopfschmerzen.« »Wofür entschuldigst du dich bitte? Du siehst wundervoll aus. Das tust du immer, aber so ... ganz besonders.« Er räusperte sich. »Dann will ich mich mal wieder dem Resistenztrank widmen. Bald muss ich die Schrumpelfeige zugeben, bevor er die kritische Phase erreicht.« Einen Moment sah sie ihm mit Wangen nach, die heißer glühten als der Brand wenige Stunden zuvor, dann sprang sie auf und folgte ihm. »Warte, ich helfe dir. Irgendetwas Sinnvolles muss ich tun.«   Der Schlaf kam schließlich von ganz alleine über Minerva und forderte unerbittlich seinen Tribut. Sie konnte sich nicht daran erinnern, auf das Sofa in Elphinstones Arbeitszimmer gefallen zu sein, doch als sie mit aller Kraft ein Augenlid öffnete, lag sie darauf, eine Decke über sich gebreitet. In den frühen Sonnenstrahlen eines neuen Tages erstrahlte der Kupferkessel auf der Arbeitsplatte vor ihr. Weiße Dampfwölkchen stiegen davon auf, während ein selbstrührender Löffel seine Arbeit verrichtete. Der Resistenztrank war fertig. Obwohl die Müdigkeit sie zurück in die Traumwelt ziehen wollte, zwang Minerva sich, auch das zweite Auge zu öffnen. Am Arbeitstisch erspähte sie Elphinstone, den Kopf auf die Unterarme gebettet. Er schlief tief und fest. Der Anblick landete umgehend auf ihrer Liste der Dinge, die das Schnatzjagdgefühl verstärkten. Am liebsten wollte sie ihn schlafen lassen, doch pflichtschuldig tappte sie zu ihm hinüber und legte eine Hand auf seine Schulter. Verwundert blinzelte er gegen das Sonnenlicht an. Ihre Haare mussten noch wilder aussehen als zuvor, doch in seinen Augen erwachte ein Strahlen bei ihrem Anblick. »Guten Morgen«, nuschelte er verschlafen. Mit einem Gähnen reckte er sich, das Gesicht verzogen, da es überall knackte. »Oh Merlin. Nach dieser Nacht fühle ich mich glatt zehn Jahre älter. Vielleicht sollte ich mich für unsere Observation heute einfach in einen Greis verwandeln, um nicht aufzufallen.« »Mh, klingt verlockend«, gab Minerva zurück. »Meine Brüder ziehen mich ohnehin immer damit auf, dass ich so altmodisch bin. Da müsste ich mich vermutlich nicht mal verstellen.« Elphinstone lachte. »Du bist sicher einiges, aber nicht altmodisch. Na schön, wollen wir mal schauen, was meine Verwandlungskünste so zustande bringen, bevor wir uns auf den Weg machen.« Im Endeffekt verwandelten graue Haare, Altersflecken und biedere Muggelkleidung sie in das Ebenbild harmloser Senioren, die jedes Jahr im selben Kurort urlaubten und den Nachmittagstee zelebrierten wie eine eigene Religion. Minerva verzauberte ihre magisch vergrößerte Handtasche in ein passendes, gehäkeltes Ungetüm, in dem der Großteil ihrer Trankphiolen sowie Utensilien Platz fand. Reichlich nervös hakte sie sich bei Elphinstone unter. Zu ihrem Glück kannte er die Adresse eines Ladens für magische Brettspiele in Leeds, zu dem sie aus dem Treppenhaus apparieren konnten. Von dort aus würden sie sich mit Muggelbussen zum Ziel durchschlagen. Ein letztes Mal kontrollierte Minerva, ob das Portemonnaie mit den Pfundmünzen, Pennies und Shillingen der Muggel an seinem Platz war, dann nickte sie Elphinstone zu. »Auf geht’s.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)