Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 17: Fließende Grenzen ----------------------------- Minervas Pfoten trugen sie von ganz alleine in das Arbeitszimmer ihres Bruders. Hastig huschte sie über die losen Pergamentblätter. Weitere Abakuskugeln rollten davon, doch sie beachtete diese gar nicht. Mit dem ersten Geräusch im Flur hatte sie sich bereits gegenüber potentiellen Angreifern verraten. Oder war sie schon zu spät? Das Fell in ihrem Nacken stand ihr zu Berge und das Herz ihrer Animagusform raste. Wenn Robbie etwas passiert war, würde sie sich das nie verzeihen. Ihr jüngster Bruder war schon immer ein chaotischer Mensch gewesen – in Gedanken stets bei dem nächsten Projekt, einem neuen Rätsel. Doch die Unordnung, die in seinem Arbeitszimmer herrschte, war nicht dem gewohnten kreativen Chaos, sondern blanker Zerstörungswut geschuldet. Es fiel nur wenig Licht durch die Fenster hinein, aber dank ihrer geschärften Nachtsicht erkannte Minerva mühelos, dass sie alleine zwischen zerfledderten Büchern und zerbrochenen Federn war. Irgendjemand hatte ganze Arbeit dabei geleistet, Robbies Reich auseinanderzunehmen. Wut und Sorge stritten sich in Minervas Brust. Ihr entfuhr ein leiser Laut, halb Fauchen, halb wehklagendes Maunzen. Wenn hier niemand war, mussten sie in einem der anderen, verschlossenen Zimmer sein. Sie hoffte nur, dass Robbie und seine Frau sich mit ein paar ordentlichen Zaubersprüchen vor den Eindringlingen hatten schützen können. Vielleicht hielt die Angst sie in ihrem Versteck. Binnen Sekunden verwandelte Minerva sich zurück. Dunkelheit umfing sie. Das hasste sie am meisten, den Verlust der nächtlichen Sehstärke. Eben noch hatte das Chaos klar umrissen vor ihr gelegen, nun musste sie mit dem dürftigen Mondlicht vorliebnehmen. Dafür hatte sie ihren Zauberstab, dessen geschmeidiges Holz ihr warm in der Hand lag; bereit, jedem, der sich ihr den Weg stellte, einen saftigen Schock zu verpassen. Den Stab fest umschlossen stahl sie sich in den Flur zurück, den Atem angehalten. Sie lauschte auf ein Geräusch, doch da war nichts, außer dem leisen Knarzen der Dielen zu ihren Füßen. Als Zeichen für Elphinstone, der immer noch unten wartete, richtete sie den Zauberstab hinab in den Flur und schickte grüne Funken zu ihm. Er schlich sich bemüht leise und doch laut im Vergleich zu ihr die Treppe hoch. Besorgnis stand ihm in die Augen geschrieben, die im gedämpften Licht seines Lumos-Zaubers schimmerten. Fragend legte er den Kopf schief und Minerva schüttelte den ihren. Sie wies auf die beiden verschlossenen Türen. Ein Schlaf- und ein Badezimmer, erinnerte sie von ihren vorigen Besuchen. Stumm nickte Elphinstone, bevor er sich an der Linken davon postierte, eine Hand auf den Türknauf gelegt, seinen Zauberstab in der anderen bereit. Minerva tat es ihm gleich. Auf ein Nicken hin schwangen sie die Stäbe mit einem ungesagten Alohomora – falls verschlossen war. Alles blieb still, also drehte sie zögerlich den Knauf. Kein Widerstand. Elphinstone hingegen rüttelte erfolglos an seiner Tür. »Expulso«, murmelte er, während Minerva hastig ihre Tür aufstieß und in den Raum dahinter leuchtete. Im Flur krachte es, als das Schloss der zweiten Tür von der Wucht der Explosion aus dem Rahmen flog. Derweil sah sie sich einem unangetasteten Schlafzimmer gegenüber. Einzig das Fenster stand weit offen, die Gardine davor wölbte sich geisterhaft im Wind. Aus dem Badezimmer hörte sie das Zischen eines Zaubers, gefolgt von Poltern. Fluchend riss sie sich von dem Anblick vor ihr los und stürzte mit hocherhobenem Zauberstab Elphinstone hinterher – und prallte direkt gegen ihn, da er einem Schockzauber auswich. Der rote Lichtstrahl schlug neben ihr in den Türrahmen ein. Elphinstone schubste sie mit dem Ellenbogen hinter sich. Über seine Schulter hinweg wirkte sie einen Protego-Zauber, der sie beide umschloss. Ein Kribbeln schoss durch ihren Unterarm, als ein weiterer Lichtblitz auf den Schild traf. Hinter Elphinstones Rücken hervor sah sie sich in dem engen Raum nach ihrem Gegner um. Cremetöpfchen und Shampooflaschen lagen auf dem Boden verteilt. Inmitten dieses Chaos kauerte Anne, Robbies Ehefrau, in der Badewanne, ihren Zauberstab auf Elphinstone gerichtet. Sie hielt ein ledergebundenes Buch an ihre Brust gepresst. Ihre Wangen waren gerötet, die Augenbrauen energisch zusammengezogen. Doch sobald sie Minerva erblickte, weiteten sich ihre Augen mit Erleichterung. »Minerva!«, rief sie erstickt aus. Der Zauberstab in ihrer Hand zitterte, aber sie senkte ihn erst, als Minerva sich an Elphinstone vorbei zu ihr drängte. In ihren langen Wimpern glitzerten Tränen und ihr kurzes rot-braunes Haar stand wirr vom Kopf ab. »Oh Merlin sei dank, du bist da!« Minerva sank vor der Badewanne auf die Knie, eine Hand bestürzt auf die Schulter ihrer Schwägerin gelegt. »Anne, alles in Ordnung mit dir? Wo ist Robbie?« Ein Zittern durchlief Anne. Ihre Finger klammerte sich so doll an das Buch, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Oh nein, sag nicht, dass sie ihn mitgenommen haben«, wisperte sie. »Wer, Anne, wer?« Der Blick ihrer Schwägerin huschte zwischen Minerva und Elphinstone hin und her. »Ich weiß es nicht!« Sie hickste. »Plötzlich standen sie da, in ihren dunklen Umhängen und haben Robbie angeschrien, mit den Zauberstäben gefuchtelt ... Ich weiß nicht, warum sie hier waren!« Zusehends sank Minerva das Herz tiefer. »Phin?«, fragte sie mit dünner Stimme. »Das Schlafzimmer war leer, aber ...« »Ich schaue, ob ich ihn woanders im Haus finde«, versicherte Elphinstone ihr umgehend. »Oder sonst irgendjemanden ... oder etwas.« Mit diesen Worten verschwand er aus dem Bad. »Es tut mir so leid«, sagte Anne leise an Minerva gewandt. »Sie haben uns einfach überrascht ... eigentlich wollten wir schon gehen, da kamen sie plötzlich ins Haus. Ich war hier oben und hab nur von der Treppe aus ihre schwarzen Umhänge gesehen. Sie wollten etwas von Robbie, so viel habe ich gehört. Er sollte ihnen irgendetwas aushändigen ... Ich hab blind unsere wichtigsten Arbeiten geschnappt und mich hier eingeschlossen.« »Das war sehr tapfer von dir.« Minerva drückte sie an der Schulter. Ihre Schwägerin war eine energische Person, aber keine Kämpferin. Merlin, sie schrieb und illustrierte magische Kinderbücher, da war es nicht verwunderlich, dass sie sich den Angreifern nicht entgegengestellt hatte. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihr erstes Kind erwartete. Anne nahm einen tiefen Atemzug. Ihre Schultern entspannten sich langsam. Sie lehnte sich in der Badewanne zurück, den Kopf gegen die Fliesen hinter ihr gelehnt. Nur das Buch hielt sie weiterhin vor ihrem Bauch umklammert, als hinge ihr Leben davon ab. Die Anzeichen ihrer weit vorangeschrittenen Schwangerschaft darunter waren nicht zu übersehen. »Ich hätte nicht gehen sollen. Ich hätte bei ihm bleiben sollen. Wenn er weg ist ... ist das meine Schuld.« »Nein.« Minerva schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin sicher ... Robbie wird sich nicht einfach so verschleppen lassen. Er ist mein Bruder. Er kann auf sich aufpassen. Außerdem bist du schwanger.« »Aber sie waren zu dritt«, hauchte Anne. »Drei maskierte Eindringlinge. Und ich habe einfach das Wichtigste geschnappt und mich hier drin eingeschlossen, anstatt ihm beizustehen. Robbie hat nur gesagt ... Er sagte, es wäre wichtig, dass es nicht in die falschen Hände fällt.« »Du hast das Richtige getan.« Die Worte kamen Minerva nicht leicht über die Lippen, auch wenn es die Wahrheit war. »Gib Robbie nicht auf.« Ihre Schwägerin straffte die Schultern. »Ich hab die Adresse bei mir, wegen der du Robbie gefragt hast. Damit ihr den Jungen retten könnt.« Langsam aber sicher zog sich eine unsichtbare Schlinge um Minervas Hals zu. In all der Sorge um ihren Bruder hatte sie den entführten Erstklässler beinahe vergessen. Trotzdem lächelte sie Anne zu. »Und Robbie. Wer auch immer euch überfallen hat, wir werden es herausfinden und alles wieder in Ordnung bringen. Das verspreche ich dir.« Wie aufs Stichwort kam Elphinstone zurück in das Bad. Alleine. Seine Schultern hingen herab. »Ich habe niemanden finden können. Es tut mir leid, aber sie sind weg. Offenbar sind mehrere Personen durch das Schlafzimmerfenster geflohen. Auf dem Teppich sind Schuhabdrücke. Vermutlich sind sie im Garten disappariert, als wir gekommen sind.« Anne schluckte, ehe sie sich ein tapferes Nicken abrang. »Kann mir jemand eine Hand reichen? Ich fürchte, mit dem Babybauch komme ich hier nicht so einfach wieder raus. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt reingekommen bin.« Galant sprang Elphinstone ihr zu Hilfe und etwas umständlich kletterte sie aus der Badewanne heraus. Sie warf einen Blick auf das Chaos im Flur, das die Eindringlinge hinterlassen hatten. Geistesabwesend streichelte sie ihren Babybauch. »Oh Robbie«, murmelte sie sorgenvoll. Elphinstone tauschte einen nicht minder besorgten Blick über ihren Kopf hinweg mit Minerva. »Wir sollten sehen, dass wir die Schutzzauber des Hauses wieder in Gang bekommen. Und vielleicht kann eine Tasse Tee zur Beruhigung nicht schaden.« Minerva nickte ihm zu. Ein paar Minuten später saßen sie mit Anne am Küchentisch und ließen sich von ihr in allen Einzelheiten die Konfrontation mit den Eindringlingen beschreiben. An viel erinnerte sie sich nicht, schließlich hatte sie sich im Badezimmer verborgen. Auf jeden Fall hatte Robbie sich geweigert, ihnen zu geben, wonach sie verlangt hatten, was die Zerstörung des Arbeitszimmers nach sich gezogen hatte. Zumindest seinen Zauberstab hatten sie auf dem Wohnzimmerteppich gefunden. Offenbar hatten die Angreifer ihn dort überwältigt. »Wenn ich es recht verstanden habe, ging es um irgendein Artefakt, ich weiß auch nicht genau was ... aber das haben die Eindringlinge immer wieder erwähnt, ein Artefakt, das Robbie ihnen geben sollte. Ihre Anführerin, eine Hexe mit schrecklicher Lache, war furchtbar wütend, weil die anderen beiden es nicht im Arbeitszimmer gefunden haben. Und dann ... war es plötzlich still. Und kurz darauf – seid ihr gekommen.« »Gringotts!«, rief Elphinstone unvermittelt aus. »Natürlich!« Verwundert sah Minerva zu ihm auf. »Was hat das mit Gringotts zu tun?« »Erinnerst du dich noch daran, wie Robbie mich angegangen hat, als ich mich ihm vorgestellt habe? Dein Bruder hat ziemlich darüber geschimpft, dass ich ihn nicht wegen der Artefakte in diesem einen Verlies belästigen solle, weil das offenbar einer meiner Kollegen getan hat.« »Oh ...« Annes Mund stand weit offen. Sie schnippte mit den Fingern. »Vor ein paar Tagen hat Robbie erwähnt, dass zwei Zauberer aus dem Ministerium bei ihm waren! Er hat sich ziemlich aufgeregt, weil sie von ihm verlangt haben, dass er ihnen Zugriff auf ein Verlies gewährt. Die Inhaberin ist verstorben, wisst ihr, deshalb war es zur Auflösung vorgesehen. Wenn es keine Erben gibt, kommt das vor. Robbie meinte, das Verlies habe viele verfluchte Gegenstände enthalten, weshalb sie es nach und nach räumen mussten. Er hat die Entzauberung der Gegenstände übernommen. Deshalb hat es ihm auch nicht gepasst, dass das Ministerium ganz ohne Durchsuchungsbefehl aufgetaucht ist, also hat er sich verweigert. Vielleicht hängt das alles zusammen?« »Deine Beschreibung von den Eindringlingen klingt jedenfalls sehr nach den Entführern, die wir suchen«, stellte Minerva fest. »Vor allem deren Anführerin. Ich glaube kaum, dass das ein Zufall ist. Ich bin überzeugt, diese Leute verbergen sich an der Adresse, die Robbie für uns dekodiert hat. Und wenn sie jetzt noch hinter einem Artefakt her sind, sollte uns das wohl interessieren. Vielleicht finden wir so beide, Robbie und die Entführer.« »Was, wenn sie genau da sind? In der Bank?« Elphinstone warf einen Blick auf die Uhr über der Küchentür. »Es ist Samstag Nacht, Gringotts dürfte leer sein, abgesehen vom Sicherheitspersonal. Was, wenn die Entführer mit Robbie direkt dorthin sind, um sich zu holen, was sie wollen? Jetzt sind ihre Chancen besser, als unter der Woche, auch wenn es so oder so eine verzweifelte Tat ist.« »Dann sollten wir los.« Minerva erhob sich und stürzte den letzten Schluck heißen Tees hinab. »Ich will wenigstens versuchen, jemanden aus der Aurorenzentrale zu erreichen. Wir sollten nicht alleine da reinstolpern, vor allem wenn wir uns mindestens drei Leuten gegenübersehen.« Der ungebetene Gedanke an den Tagespropheten mit seinem rufzerstörenden Artikel schlich sich bei Minerva ein. Sie war nicht sicher, ob sie noch auf Unterstützung zählen konnten. »Kannst du Pippa erreichen? Sie wird uns bestimmt helfen, egal welche Tages- oder Nachtzeit ist. Ich weiß nicht, ob wir sonst jemanden involvieren sollten ... immerhin ermitteln wir ohne offiziellen Auftrag.« Elphinstone überlegte kurz, dann wandte er sich an Anne. »Ist euer Kamin ans Flohnetzwerk angeschlossen?« »Natürlich.« Rasch nickte Anne und führte ihn ins Wohnzimmer, von wo aus er die Aurorin zweiter Klasse kontaktieren konnte. Es dauerte nicht lange und die beiden kamen zurück, Elphinstones Haar ein wenig staubig. »Sie wird uns im Tropfenden Kessel treffen.« »Wunderbar.« Minerva wandte sich zu Anne. »Ich bin mir sicher, wir werden Robbie finden. Mach dir nur keine Sorgen.« Ihre Schwägerin nickte. »Ich weiß. Hier.« Sie reichte Minerva den Zauberstab ihres Bruders und einen Streifen Pergament, auf dem in Robbies krakeliger Handschrift eine Adresse in Leeds stand. »Das ist das Ergebnis von Robbies Nachforschungen. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber ... helft dem Jungen. Ich will ganz sicher nicht, dass mein Kind einmal in Angst aufwachsen muss, nur weil seine Mutter auch eine Muggelgeborene ist.«   Die Winkelgasse bei Nacht lag ausgestorben da. Höchstens ein paar dubiose Geschäfte in der Nokturngasse hatten so spät noch geöffnet und das nur dann, wenn man genau wusste, wo gesucht und wie oft an die richtige Tür geklopft werden musste. Dafür, dass es nach zehn an einem Samstagabend war, hatte Pippa Jansson unverschämt gute Laune. Sie trug einen zartvioletten Umhang über einem silbernen Kleid und ihr intensives Make-up legte nahe, dass sie eigentlich hatte ausgehen wollen. Doch stattdessen drehte sie fröhlich den Zauberstab durch ihre Fingerspitzen. Mit großen Schritten hielt sie auf Gringotts zu, dessen schneeweiße Mauern im Mondschein leuchteten. »Die letzten Wochen ist einfach überhaupt nichts Aufregendes passiert«, lamentierte sie, obwohl Minerva ihr nur halbherzig zuhörte. »Klar, die Aufstände – aber mal ehrlich, ich hätte lieber eine Verfolgungsjagd mit einem Haufen schwarzer Magier oder einen groß angelegten Zugriff auf ein illegales Tranklabor oder so. Die ganzen ollen Reinblüter mit ihrem Geschwätz sind unfassbar anstrengend. Von mir aus könnten wir die alle wegsperren und den Schlüssel verlieren.« Nun, zumindest im letzten Teil stimmte Minerva ihr insgeheim zu, obwohl es freilich nicht so einfach war in der Realität. Selbst wenn sie sämtliche Demonstranten einsperren würden, wäre damit nur der Weg für ein erzürntes Aufbegehren der Fanatiker geebnet. Solche wie den selbsternannten Lord Voldemort – Tom Riddle, erinnerte sie sich grimmig –, der schon mit den Flugblättern genug Unheil verbreitet hatte. Er brauchte sicher nicht noch weitere Unterstützer. »Ihr ahnt gar nicht, wie viel Lust ich habe, mal wieder ordentlich zu zaubern! Ein paar saftige Flüche an ein paar Leute zu verteilen, die es so richtig verdient haben!« »Bremse dich, Margarete. Das hier ist eine verdeckte Mission. Je weniger Aufsehen wir erregen, desto besser.« Elphinstone klang, als würde er es bereits bereuen, sie kontaktiert zu haben. »Schon klar«, erwiderte Pippa augenrollend. »Wie lange waren wir ein Team? Fast drei Jahre mit Minerva und nochmal mindestens genauso lange ohne sie. Du weißt, dass ich das kann.« »Dann sei leise.« Pippa hob eine Augenbraue und sah zu Minerva. »Man hat er gute Laune«, bemerkte sie grinsend. Doch Minerva war nicht danach zu Mute, mit ihr zu scherzen. Sie machte sich ebenso Sorgen. Wenn sie nicht genau gewusst hätte, dass Pippa eine fähige Aurorin war, ihr munteres Geplapper hätte sie verzweifeln lassen. »Also, wie gehen wir jetzt vor?«, fragte Pippa, während sie auf den Vorplatz von Gringotts traten. Die Türen der Bank waren fest verschlossen – natürlich. »Wir gehen zum Mitarbeitereingang«, erklärte Minerva. »Dank Robbie weiß ich, dass er immer offen ist, damit Leute wie er, die bis spät nachts arbeiten, noch kommen und gehen können. Da ist nur ein Nachtwächter postiert, den wir hoffentlich von unserem Anliegen überzeugen können.« Elphinstone und Pippa folgten ihr um das Gebäude herum. Der zweite Eingang in die Bank hatte eine gute Tarnung, aber wenn man erst einmal wusste, wo er lag, war er nicht zu verfehlen. Die verborgene Tür befand sich zwischen zwei dekorativen Säulen, nur durch einen schlichten Goldknauf in Koboldhöhe gekennzeichnet. Minerva klopfte dreimal dagegen. »Wer da?«, erklang von innen eine skeptische Stimme. »Zaubereiministerium, magische Strafverfolgung«, erwiderte Elphinstone. »Einer Ihrer Angestellten ist heute Abend entführt worden und wir haben den Verdacht, dass es mit seiner Arbeit in dieser Bank zusammenhängt. Wir müssen umgehend sein Büro einsehen.« Die Tür schwang auf und ein Kobold sah ihnen mürrisch entgegen. »Ausweise!« Er wedelte mit der offenen Hand in ihre Richtung. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Elphinstone seinen Arbeitsausweis mitsamt der goldenen Marke, die ihn als Vorsitzenden einer Strafkammer auswies, aus seiner Manteltasche. Pippa holte ebenfalls ihren Aurorenausweis hervor. »Hmh«, grummelte der Kobold. »Ich werde das überprüfen! Was ist mit der anderen?« »Das ist eine unabhängige Angestellte«, log Elphinstone umgehend. »Ich verbürge mich für sie.« »Ah ja, schön.« Der Nachtwächter hantierte mit einer kleinen Sonde herum, um die Ausweise auf ihre Legitimität zu überprüfen. Seine dunklen Augenbrauen senkten sich misstrauisch herab und sobald er sich zu ihnen zurückdrehte, sah er alles andere als zufrieden aus. »Der Ausweis ist ungültig!«, bellte er und klatschte Elphinstone die Marke zurück in die Hand. »Bitte? Ich bin der Vorsitzende der dritten Strafkammer! Mein Ausweis ist mitnichten ungültig!« Der Kobold reichte Pippa ungerührt ihren Ausweis zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie ist eine Aurorin und Sie, werter Herr, haben einen ungültigen Ausweis. Da gibt es kein Vertun! Gehen Sie jetzt und ersparen Sie mir den Ärger, den Sicherheitsdienst wegen Ihnen zu alarmieren.« Verwirrt starrte Elphinstone auf die Marke mit der Waage. »Das verstehe ich nicht ... Ich habe den Ausweis erst vor ein paar Monaten verlängern lassen. Das muss ein Fehler sein!« »Meine Sonde macht keine Fehler!« Resolut tappte der Kobold mit dem Fuß auf den Boden. »Offiziell vom Ministerium geeicht und geprüft.« Elphinstone gefiel diese Antwort gar nicht. Er schob die Fäuste in die Hüften und nahm die Schultern zurück. »Nun, offensichtlich –« »Phin?« Minerva legte zaghaft eine Hand auf seinen Oberarm. »Du hast nicht zufällig heute den Tagespropheten gelesen?« »Ich – was ...?« Er betrachtete sie verärgert. »Nein, aber was soll das damit zu tun haben?« »Oh hey, ich hab ihn auch nicht gelesen, aber jetzt bin ich neugierig.« Pippa hob die schmalen Augenbrauen. »Immerhin bin ich ziemlich sicher, dass er mein Arbeitskollege ist. Zumindest war er das gestern noch.« Selbst der Kobold sah einigermaßen interessiert aus. Minerva senkte die Stimme. »Na ja ... vielleicht steht auf der Titelseite ein Haufen nicht so erfreulicher Dinge über dich, Elphinstone. Wegen der Sache mit Elladora. Irgendwie muss diese verfluchte Reporterin von gestern das mitbekommen haben.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich hab’s selber erst nach dem Abendessen von meiner Mutter erfahren. Ich könnte mir vorstellen, dass die Ministerin dich ... beurlaubt hat?« Das klang zumindest netter als ‚rausgeschmissen’ oder ‚gekündigt‘. Elphinstone sackte in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem jemand die Luft ließ. Seine Schultern rutschten ein Stück herab und er starrte Minerva getroffen an. »Nein«, murmelte er. »Das ... wie?« Sie schluckte, doch ein krötengroßer Kloß blockierte ihren Hals. »Es tut mir so leid. Ich weiß es wirklich nicht.« »Wow, ich sollte wirklich mehr Zeitung lesen«, sagte Pippa leise. Sie drängelte sich an Minerva vorbei zu dem Kobold. »Schön und gut, dann übernehme ich halt die Verantwortung für die beiden. Und jetzt lassen Sie uns rein.« »Wohl kaum.« Der Nachtwächter schob bereits mit der Zehenspitze die Tür zu. »Da könnte ja jeder kommen, der bloß in der Aurorenzentrale arbeitet! Kommen Sie wieder, wenn Sie einen offiziellen Durchsuchungsbefehl vom Gamot haben. Wir haben hier keinen Tag der offenen Tür.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst«, seufzte Pippa. »Oh doch. Gringotts ist ein unabhängiges Institut, wie ich Sie erinnern darf. Hier kann nicht einfach jeder kommen und gehen wie er will!« In ihrer aufbrodelnden Verzweiflung hätte Minerva den Kobold am liebsten an den Schultern gerüttelt. »Bitte, es geht um meinen Bruder, Robert, er arbeitet hier! Es kann sein, dass er jetzt, in diesem Moment, in der Bank ist und dazu gezwungen wird, ein Artefakt an schwarze Magier auszuhändigen!« Sie hasste es, zu betteln, aber einen anderen Weg sah sie nicht. »Wenn jemand unerbeten eindringt, haben wir unsere eigenen Sicherheitsmaßnahmen«, versicherte der Kobold resolut. »Niemand kann Gringotts ausrauben! Schon gar nicht mit Hilfe eines Menschen.« Aus seinem Mund klang es wie eine Beleidigung. »Dann sehen Sie wenigstens nach!«, rief Minerva. »Vielleicht schwebt er in diesem Moment in Gefahr. Ach was, ganz sicher tut er das! Bitte. Sie können uns doch nicht einfach ignorieren!« »Sie verstehen wohl nicht ganz«, der Nachtwächter in seiner dunkelroten Uniform warf sich in die Brust, »es besteht gar nicht die Chance, dass mögliche Eindringlinge auch nur in unsere Bank gelangen. Vorher schlagen längst unsere Sicherheitszauber an.« »Ach komm, Minnie, das bringt nichts.« Pippa schob sie wieder beiseite, den Zauberstab auf den Kobold gerichtet. »Imperio!« »Pippa!«, riefen Elphinstone und Minerva zeitgleich. Aber es war zu spät – ein glasiger Ausdruck hatte sich auf die Augen des Wächters gelegt. Er hatte den Fluch genauso wenig kommen sehen, wie sie. »Du wirst uns reinlassen und uns zum Büro von Robert McGonagall jr bringen, kapiert?« Beflissentlich neigte der Kobold den Kopf. »Bitte folgen Sie mir!« Er drehte sich ohne Warten um und stiefelte davon. »Also, kommt ihr jetzt oder starrt ihr mich weiter vorwurfsvoll an?« Den Zauberstab in der Hand wie einen Taktstock sah Pippa sie an. »Du kannst nicht einfach –« »Danke für den Hinweis, Elphinstone. Ich kann und ich werde, Diskussion beendet. Immerhin drängt die Zeit, nicht wahr?« Minerva gefiel das genauso wenig wie Elphinstone, aber Robbie zuliebe packte sie seinen Arm und zog ihn mit sich hinter Pippa her. Er sah sie unergründlich an. »Mulciber hat einen schlechten Einfluss auf dich, Pippa«, murrte er. »Es gibt andere Wege!« »Ja ja, immer ist es Alstons Schuld. Schon mal daran gedacht, dass ihr einfach zu moralisch seid? Außerdem ist es Moody, der im Extremfall den Einsatz aller Zauber gutheißt. Auch die Unverzeihlichen.« Grimmig starrte Elphinstone auf Pippas hüpfende Locken vor ihm, sagte aber nichts mehr. Dafür drückte er kurz Minervas Hand, ehe der Kobold direkt vor Robbies kleiner Bürozelle anhielt. »Da wären wir!«, verkündete er salbungsvoll. Das Büro war zwar chaotisch, aber nicht schlimmer als bei Minervas letztem Besuch hier. Offenbar war niemand hier gewesen. Sie unterdrückte einen Fluch. »Vielleicht sind sie im Verlies?«, bot Pippa hoffnungsvoll an. »Ja, hoffen wir es. Aber welches Verlies? Erinnerst du dich noch, Elphinstone?« »Hmm ...« Er verzog nachdenklich das Gesicht. »Es fing mit einer Zwei an, da bin ich mir sicher. Steht eventuell eine Nummer auf irgendwelchen Unterlagen?« »Zwei sagst du?« Minerva ließ den Blick über ein paar verstreute Pergamente auf dem Schreibtisch gleiten. »Hm, nein. Das sind größtenteils Kritzeleien.« Nicht zum ersten Mal verfluchte sie Robbie für seine Unordnung. Pippa besah sich indes die Artefakte auf einem Schränkchen in der Ecke, die Elphinstone schon bei ihrem vorigen Besuch neugierig gemustert hatte. »Also hier bei diesem Amulett ist Zwei-Drei-Zwei auf dem Zettel vermerkt. Und ein Hinweis – verflucht, erwürgt seine Träger. Nett.« »232? Ja, ich glaube, das passt.« Elphinstone wandte sich an den Kobold. »Na schön, bringen Sie uns zu diesem Verlies. Bitte.« »Bedauere, aber ich habe keine Befugnis für die Verliese. Nur die zuständigen Kobolde dürfen die Loren fahren.« »Immer wieder was Neues.« Pippa rollte mit den Augen. »Na los, worauf wartest du noch? Hopp, hopp, hol uns einen zuständigen Kobold! Erzähl Ihnen, dass ein paar nette – und befugte – Leute aus dem Ministerium da sind. Du hast uns ja schließlich mit deiner Sonde überprüft, nicht wahr?« Sie zwinkerte. Unter dem Einfluss des Imperius-Fluches verbeugte sich der Kobold unterwürfig. »Natürlich, wie Sie wünschen.« Er wackelte von dannen und ließ sie in Stille zurück. Angespannt trat Minerva von einem Bein auf das andere. Es dauerte eine Weile, bis der Kobold in Begleitung eines weiteren Bediensteten in roter Uniform zurückkehrte. Der Neuankömmling musterte sie hinter seinen kleinen Brillengläsern hervor skeptisch. »Granduk sagt, Sie sind hier wegen Verlies 232?« »Korrekt«, flötete Pippa beschwingt. »Also los, worauf warten wir noch?« Der Kobold vor ihnen befingerte einen Schlüsselbund an seinem Gürtel, dann stierte er hinüber zu dem Nachtwächter, der mit einem weggetretenen Lächeln geradewegs ins Nichts starrte. Pippa schnippte mit dem Zauberstab und Granduk erwachte aus seiner seligen Starre, doch der zweite Kobold schien weiterhin misstrauisch. Er beobachtete sie scharf, bis Pippa erwartungsvoll die Augenbrauen hob. »Ich muss Sie einer erweiterten Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Für das Protokoll.« »Ich verstehe, dass Sicherheit in Gringotts oberste Priorität hat«, sagte Elphinstone bestimmt freundlich, »doch die Überprüfung ist bereits erfolgt und mit jeder Minute, die verstreicht, erhöht sich die Chance, dass einem Ihrer Mitarbeiter ein unwiderrufliches Übel droht. Ich stehe Ihnen gerne Rede und Antwort, wenn wir bei dem Verlies waren, aber zuerst sollten wir einschreiten!« Stur schüttelte der Kobold den Kopf. »Bedauere, Sir, aber das kann ich nicht zulassen.« Sein Blick wanderte erneut zu Granduk, der vielleicht etwas zu breit lächelte, gemessen an Koboldstandards. Minerva klopfte nervös mit dem Zauberstab auf ihren Oberschenkel. Der Kobold war aufmerksam. Und nicht einmal Pippa würde es gelingen, zwei von ihnen mit dem Imperius-Fluch zu kontrollieren. Sie durften nicht riskieren, dass Granduk erwachte und Alarm schlug, während sie auf dem Weg zum Verlies waren. Und sie brauchten diesen zweiten Kobold, um Robbie zur Hilfe zu eilen. Ohne weitere Verzögerungen oder Überprüfungen. »Das tut mir wirklich unheimlich leid«, murmelte sie leise. Es war die einzige Lösung, die ihr auf die Schnelle einfiel und ihr war jetzt schon bewusst, wie falsch es war. Die nächsten Worte waren bloß ein Wispern. »Imperio.« Es war widerwärtig. Der Kobold wehrte sich; ein schrilles Kreischen, das nur in ihrem Kopf widerhallte. Ihm einen fremden Willen aufzuzwingen war, als ob sie ihn eigenhändig unter Wasser drückte, damit sein Widerstand erstarb. Sie zwang sich, es zu wollen, obwohl ihr alleine von dem Gedanken übel wurde. »Du wirst uns zu Verlies 232 bringen!«, versuchte sie mit der größtmöglichen Strenge ihren Befehl zu formulieren. Aber es half nicht einmal, sich vorzustellen, sie würde einfach nur eine Arbeitsaufgabe im Unterricht stellen – ihre Stimme zitterte. Falsch, es war so falsch. Der Kobold vor ihr blinzelte träge. Sein Mund öffnete und schloss sich ein paar Mal, ehe er sie ansah. »Bitte ... folgen Sie mir«, lallte er. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihm den Willen zu rauben und damit jeglichen Stolz verraten. Elphinstones Blick begegnete ihrem und rasch sah sie fort. »Pippa, kannst du Granduk befehlen, wieder seinen Posten zu beziehen? Nicht, dass sein Verschwinden auffällt.« »Klar.« Bei ihr brauchte es nur eine Bewegung des Zauberstabs und der Kobold verschwand aus dem Büro. Steifen Schrittes schloss Minerva sich ihrer unfreiwilligen Marionette an. Der Kobold wankte leicht. Auch ihre Beine hätten am liebsten den Dienst versagt. Beiläufig streiften Elphinstones Finger ihren Handrücken, als er sich ihr anschloss, aber sie war nicht sicher, ob es nur ein Versehen war. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, so sehr schämte sie sich. Durch das Gewirr aus Gängen führte der Kobold sie bis zu einer der Loren, die einen in die Tiefen der Bank brachten. Ratternd und in übelkeiterregender Geschwindigkeit rasten sie über die Schienen ins finstere Höhlengewölbe hinab. Außer im Schein der kleinen Laterne an ihrem Wagen konnte man die Hand vor Augen nicht sehen. Doch als sie sich ihrem Ziel näherten, löste sich ein zweiter Lichtpunkt aus der Dunkelheit. Zunächst flackernd wie eine einzelne Kerze, aber mit jedem Meter, den sie näher kamen, wuchs der orange Lichtball weiter an, wie eine Sonne, auf die sie geradewegs zuhielten. Hitze schlug ihnen entgegen. Ihre Fahrt verlangsamte sich und in den leeren Augen des Koboldes neben Minerva spiegelten sich tanzende Flammen. Verlies 232 brannte lichterloh. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)