Stichflamme von Coronet (Der Aufstieg des Phönix) ================================================================================ Kapitel 14: Saphirblaue Wahrheiten ---------------------------------- • Denkarium – Hogsmeade, Dezember 1959 •   Draußen fiel leise der Schnee. Durch die beschlagenen Fenster des Cafés drang das weiche Licht einer Straßenlaterne hinein und warf lange Schatten auf den kleinen Tisch mit der Spitzentischdecke, von der allerdings nicht mehr viel zu sehen war. Bücher, Pergamentblätter, Teetassen und Tintenfässchen nahmen jeden Zentimeter des wackligen Möbelstücks ein. Minerva hatte sich tief über eine Rolle Pergament gebeugt, die einige Fuß lang mit ihrer feinsäuberlichen Handschrift gefüllt war. In kleinen Schwüngen huschte ihre Feder von Zeile zu Zeile. Nur hin und wieder pausierte sie, las das eben Geschriebene erneut und strich etwas fort. »Was klingt besser: ‚Der Äquivalenztheorie folgend bedürfte es einer Anpassung des vierten gamp’schen Transfigurationsgesetzes‘ oder ‚Die Anwendung der Äquivalenztheorie bedingt die Änderung des vierten gamp’schen Transfigurationsgesetzes‘?« Das Kratzen der zweiten Feder ihr gegenüber hielt kurz inne. »Hm ... Letzteres. Klingt entschiedener, mehr wie die logisch zwingende Gesetzmäßigkeit, die es ist, wenn ich deiner Theorie folge«, erwiderte Elphinstone. »Mhm, da hast du recht. Danke.« Zufrieden notierte sie die Worte und für eine Weile versanken sie beide erneut in bequemes Schweigen; sie beschäftigt mit ihrem Artikel für die nächste Ausgabe von Verwandlung heute, er in seine Akten aus dem Ministerium versunken. Trotz – oder gerade wegen? – ihrer Kündigung hatten diese gelegentlichen Treffen, bei denen sie neben Tee, Gebäck und einem lockeren Plausch ihren Beschäftigungen nachgingen, das Ende ihrer Arbeitsbeziehung überdauert. Nur der Ort war ein anderer, aus Florean Fortescues Eissalon war Madam Puddifoots Café geworden – wegen des guten Kuchens und der Ruhe im Vergleich zu den belebten Pubs. Mitten im Absatz über die Reform des Transfigurationsgesetzes wurde Minerva jedoch von einem unterdrückten Fluch aus ihren Gedanken zu Verwandlungen gerissen. Zum ersten Mal seit einer kleinen Ewigkeit hob sie den Kopf von ihrem Artikel und sah Elphinstone an. Dieser hatte seine Feder fallengelassen, sich in seinem plüschigen Sessel zurückgelehnt und sah nachdenklich dem seichten Schneegestöber auf den Straßen von Hogsmeade zu. Fragend legte Minerva den Kopf schief. »Schwierigkeiten?« Statt eine Antwort zu geben, seufzte er tief. »Ich weiß es nicht. Entweder es ist nichts oder aber ...« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Fall ist ... schwierig.« Verwundert wanderte eine ihrer Augenbrauen in die Höhe. »Du kannst mich jederzeit um Rat fragen.« »Ich fürchte, es wird dir nicht gefallen.« Er sah auf die Aktenblätter vor sich. »Und das nicht nur, weil Mulciber die Akte führt, jetzt wo er seine eigene Abteilung hat.« »Was bringt dich zu der Annahme?« Stumm reichte er ihr den schmalen Hefter, der nur wenige Blätter enthielt. Die Faktenlage war offenbar dürftig und ausweislich des Stempels auf dem Deckblatt ging es nur noch darum, das Verfahren formell abzuschließen. Das bedeutete selten etwas Gutes. Sie blätterte durch Mulcibers Aufzeichnungen. Hepzibah Smith, das Opfer, war im Monat zuvor tot in ihrer Londoner Wohnung aufgefunden worden. Es gab nur eine Zeugenaussage. Die ihrer Hauselfe Hokey. Ein umfassendes Geständnis, dass diese ihrer Herrin den abendlichen Kakao wie immer zubereitet hatte, mit einer ordentlichen Prise Zucker – der, wie sich in der Küche des Opfers herausstellte, direkt neben einem Fläschchen extrem seltenen, unauffälligen und obendrein tödlichen Gifts stand. Die Elfe hatte laut Vernehmungsprotokoll unter Tränen zugegeben, in ihrer Hast das Falsche gegriffen zu haben. Sie war einfach schon zu alt, so die lapidare Begründung Mulcibers. Klar, geradlinig, kein Raum für Zweifel. Solange man Dienst nach Vorschrift tat. Minerva musterte das angehängte Bild einer unglaublich dürren kleinen Hauselfe, die sich zitternd am Bildrand zusammengekrümmt hatte, das Gesicht in den knochigen Händen verborgen. Dann sah sie langsam zu Elphinstone. »Du denkst nicht, dass sie es getan hat.« »Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es gibt eine Ungereimtheit. Etwas, das Mulciber entweder nicht wusste – oder in seiner Unerfahrenheit nicht für bedeutsam hielt.« Er sah wieder hinaus auf die schneebedeckte Gasse. »Vor ein paar Tagen stand der Neffe dieser Dame plötzlich im Hauptbüro. Er empörte sich, dass ihn jemand bestohlen hätte. Ich verstand erst nicht, aber es stellte sich heraus, dass in Miss Smiths Erbe zwei Gegenstände fehlen. Wirklich traurig schien er nicht, mehr besorgt ob der seltenen Artefakte, die sich offenbar in Luft aufgelöst haben.« »Denkst du, er war es? Um an das Erbe zu gelangen?« »Nein. Im Gespräch fiel ein Name, von jemandem, der offenbar ein guter Bekannter von Miss Smith war, sie oft besuchte. Jemand, der ihr regelmäßig seltene Artefakte mit fragwürdiger Geschichte ab- oder verkaufte.« Sein Blick wandte sich erneut ihr zu. »Tom Riddle.« Einen Augenblick war nichts außer dem kitschigen Weihnachtslied im Radio zu hören. Mit verschränkten Armen lehnte auch Minerva sich zurück. »Ach, sieh an, ein alter Bekannter.« »Richtig.« »Tja, er hat Glück, dass ich nicht mehr im Ministerium arbeite, sonst würde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass er dran ist. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass er bei dem Mord in Northumberland seine Finger im Spiel hatte. Und jetzt führt ausgerechnet Mulciber, der frisch ernannte Kammervorsitz, die Akte?« Sie schüttelte den Kopf. »So viel Glück kann eigentlich nur einer haben, der einen verfluchten Pakt mit dunklen Mächten geschlossen hat.« »Ja, aber das ist nicht der Punkt, schließlich kann Mulciber alleine keine Anklage beschließen, zumindest noch. Für die nächsten sechs Monate habe ich eine Hand auf alles, was er bestimmt. Viel wichtiger: Riddle ist verschwunden.« Scharf sog Minerva die Luft ein. »Verschwunden?« »Seine Stelle bei Borgin & Burkes – du weißt schon, dieser zwielichtige Laden in der Nokturngasse – hat er gekündigt. Seine Wohnung steht leer. Niemand weiß, wo er hin ist. Als ... hätte es ihn nie gegeben.« »Das ist ja beinahe so gut wie ein Schuldeingeständnis«, platzte es aus ihr hervor. »In der Vergangenheit hat er zumindest noch die Dreistigkeit besessen, vor dem Zaubergamot aufzutauchen und uns mit seiner Aussage zu beehren. Wie groß kann da bitte der Zufall sein, dass er ausgerechnet jetzt einfach verschwindet? Nachdem eine ... Bekannte von ihm verstirbt.« Sie schnaubte abfällig. »Zugegeben, ich hätte mehr von ihm erwartet, als so einen armseligen Diebstahl.« Elphinstone schloss die Augen und strich sich über die Stirn. »Minerva, bitte. Es gibt keine Beweise, weder damals noch heute. Trotz aller Vermutungen und Verdächtigungen gilt immer noch die Unschuldsvermutung. In der Hinsicht hat Mulciber sicher nichts falsch gemacht.« »Schön«, atmete sie geschlagen aus, »aber das ändert nichts daran, dass Riddle verflucht verdächtig ist!« »Und verschwunden. Im Prinzip habe ich die letzten Tage damit verbracht, einem Phantom nachzujagen. Wo auch immer er hin ist, mit einfachen Mitteln ist er nicht zu finden.« Minerva betrachtete Elphinstones zerfurchte Stirn und die dunklen Ringe unter seinen Augen, die einmal mehr davon zeugten, dass er zu viel arbeitete. »Und ohne handfeste Beweise gibt es keine Möglichkeit, ihn durch die Auroren suchen zu lassen«, schlussfolgerte sie leise. »Was wiederum bedeutet, dass er nicht gefunden wird. Die Hauselfe wird angeklagt, schuldig gesprochen und das war’s, Akte geschlossen.« »Ich fürchte ja.« Ihr Blick fiel noch einmal auf das Foto der zitternden Elfe. Das arme Ding war nicht mehr als ein Bauernopfer, das musste doch jedem klar sein! »Was ist mit dem großen Zaubergamot? Kannst du ihnen nicht darlegen, dass der Fall keinesfalls so eindeutig ist? Ich meine ... die Mitglieder können nicht so blind sein, eine arme Hauselfe einfach so zu verurteilen, wenn da noch so etwas Ungeklärtes im Raum steht! Kann man nicht irgendwie die verschwundenen Artefakte vorschieben?« »Ich habe es schon versucht.« Elphinstones Stimme war so bitter wie der kalte Blättersatz am Boden einer Teetasse. »Ich habe alles versucht, bis hin zum Vorsitzenden der Abteilung für magische Strafverfolgung und dem Minister, aber ...« Er seufzte tief. Langsam schlug Minerva die dunkelrote Akte zu. »Sie hat gestanden, ja ...« Einem Impuls folgend, warf sie die Mappe auf den Stapel mit den Übrigen, die er bereits abgearbeitet hatte. »Du brauchst keinen Rat von mir, nicht wahr? Weil es nichts mehr gibt, das du tun könntest, um eine Verurteilung abzuwenden. Sie ist ja ‚nur‘ eine Hauselfe. Wenn du es nicht absegnest, tut es ein anderer. Ganz zu schweigen davon, dass du deine Anstellung riskierst.« Einen Augenblick lang sagte Elphinstone nichts, sah nur wieder hinaus auf die verschneite Gasse. Dann nickte er langsam. »Ich fürchte, ich bin am Ende meiner Möglichkeiten. Es ist nun mal nicht mein Fall, sondern Mulcibers. Das Gamot erwartet, dass ich als Dienstälterer der Anklage zustimme, solange kein triftiger Grund dagegen spricht. Den ich ihnen nicht liefern kann, abgesehen von ... persönlichen Verdächtigungen.« »Ich mache dir keinen Vorwurf. Aber das ist genau das, weshalb ich gekündigt habe! Wenn ich könnte, dann ...!« Ihre flache Hand schlug auf den Tisch und klappernd hüpfte die Teetasse ein Stück zur Seite. Alleine bei der Erinnerung an all die Ungerechtigkeiten, die sie in ihrer Zeit im Ministerium mitbekommen hatte, schwelte die Glut des Zornes wieder in ihr. Es war den allermeisten dort schlichtweg egal, wie die übrige magische – oder gar nichtmagische – Bevölkerung behandelt wurde. Elphinstone streckte seine Hand durch das Chaos ihrer beider Arbeit zu ihr aus. »Danke, Minerva. Danke, dass du das sagst. Es nimmt die Schuld nicht von meinen Schultern und doch ... hilft es. Es tut mir so leid, dass ich diese Entscheidung treffen werde.« Sanft strich er über ihren Handrücken. »Danke, dass du mich nicht verurteilst. Ich weiß, wie sehr du das alles hasst.« Sie wandte den Blick ab. »Ich verstehe dich. Mehr noch – ich vertraue dir. Du triffst diese Entscheidungen nicht leichtfertig. Ich bin nur so wütend auf das System! Vielleicht hätte ich nicht fortlaufen sollen, aber ... ich habe das nicht mehr ertragen.« »Ich weiß.« Einen Moment lang starrte sie reglos auf die eng beschriebenen Pergamentseiten vor sich, dann zog er seine Hand langsam zurück und sie stürzten sich jeder wieder in die eigene Arbeit, ein stilles Übereinkommen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie konnte das Café nun verlassen, denn sie hatte ihre Antwort, sowohl was Elphinstone anging als auch ihre Befürchtungen zu dem Namen, den Elladora vielleicht erwähnt hatte. Das wusste die gegenwärtige Minerva, die das Geschehen reglos verfolgte, ergriffen von den einzelnen Gefühlen und Gedanken, die sie damals durchlebt hatte. Obwohl sie bloß daneben stand, war sie wieder ihr jüngeres Ich. Nichts wirkte stärker, als die eigene Vergangenheit erneut zu durchleben. Und doch verharrte sie in der Erinnerung, denn hier endete das Treffen nicht. Wann immer sie daran zurückdachte, ohne Denkarium, konnte sie die kommenden Worte mitsprechen und dennoch hielt sie jetzt etwas zurück, das warme Café zu verlassen. Vielleicht weil sie ganz sichergehen wollte. Sie und Elphinstone waren die Letzten im Geschäft, der Tee kalt und ihr Aufsatz hatte einige Zeilen an Länge gewonnen. Aus dem zarten Schneefall war inzwischen ein dichtes Gestöber geworden, da legte Elphinstone seine Feder nieder und sah zu ihr hinüber, die immer noch ihre Arbeit gegenlas. Das sanfte Lächeln auf seinen Zügen war ihr nie zuvor aufgefallen. »Minerva, ich habe lange nachgedacht«, räusperte er sich. »Seit du aus dem Ministerium fort bist, ist mir etwas klargeworden, und nach allem muss ich dir jetzt einfach die Frage stellen. Also, Minerva ...« Er holte tief Luft. »Würdest du meine Frau werden wollen?« »Was?« Die Bemerkung war aus Minervas Mund, bevor sie auch nur eine Sekunde überlegt hatte. Sie strich ein Wort in ihrem Artikel durch und las den Absatz erneut. Was immer Elphinstone gesagt hatte, sie war zu unaufmerksam, in Gedanken noch bei Verwandlungen. Redete sie sich zumindest ein, bis heute. »Nun, ähm – im Sinne von ‚Willst du mich heiraten, Minerva‘?« Sie blinzelte mehrmals und starrte auf den Absatz vor ihr, dessen Bedeutung irgendwie abhandengekommen war. Nachdenklich tappte sie die Feder auf das Pergament, ehe sie langsam den Blick hob und Elphinstone fragend ansah. »Oh entschuldige ... was?«, entkam es ihr nun schon zum zweiten Mal. Insgeheim verstand sie sehr wohl, was er gefragt hatte. Mit dem Warum sah es hingegen anders aus. Selbst Jahre später, obwohl sie wusste, was er antworten würde. Elphinstones Ohren färbten sich einem Chamäleon gleich in zartem Rosa ein, passend zu der Tapete. Nach einem kleinen Räuspern wiederholte er sich erneut, nunmehr mit fester Stimme. »Ich fragte dich, ob ich dein Mann werden dürfte.« Sie blinzelte, er nicht. Für einen Augenblick fürchtete sie, ihr könnte zum dritten Mal ein wenig geistreiches »Was?« über die Lippen kommen. Zum Glück schluckte sie das Wort gerade noch herunter und ersetzte es durch marginal würdevolleres Stammeln. »Ich ... Warum? Ist es wegen deiner Familie? Ich meine – brauchen ... ähm, verlangen sie einen Erben oder so? Machen sie dir Druck?« »Oh, nein. Nein, überhaupt nicht.« Rasch schüttelte Elphinstone den Kopf. »Meine Familie hat damit nichts zu tun. Kinder sind denen inzwischen herzlich egal, immerhin hatten sie neun Jahre Zeit, sich angesichts der Beziehung mit meinem ersten Freund daran zu gewöhnen, dass aus leiblichen Kindern vielleicht nie etwas wird. Und mit den Personen nach ihm, egal welchen Geschlechts, hat es nie annähernd lange gehalten, dass sowas überhaupt Thema geworden wäre. Nein, ums Erben oder den Status geht es wirklich nicht. Meine älteste Schwester wird irgendwann die familiären Plantagen übernehmen, denn für die geschäftlichen Aspekte des Anbaus von Trankzutaten habe ich kein Händchen, aller Liebe für Kräuterkünde zum Trotz. Deswegen würde ich ohnehin nie fragen, selbst wenn es so wäre.« »Aber ... wieso dann?« Seine Antwort kam rasant wie ein Klatscher. »Tut mir leid, dass die Frage so unerwartet ist. Ich kann nur für mich sprechen, aber – seit du gegangen bist, vermisse ich dich. Sehr. Mehr als ein – ehemaliger – Vorgesetzter sollte.« Er knibbelte an der Ecke eines Pergaments vor sich. »Du bist mehr für mich. Deshalb würde ich gerne mein Leben mit dir teilen. Alles davon, nicht bloß ein paar Treffen im Jahr. Sondern für immer.« Die Worte erwischten Minerva auch genauso hart wie ein Klatscher und pressten zuverlässig die Luft aus ihren Lungen, nur mit dem Unterschied, dass keine ihrer Rippen gebrochen war. Ihr wurde so heiß, dass man auf ihren Wangen Spiegeleier hätte braten können. »Oh ... danke«, brachte sie hervor und im selben Augenblick wusste sie, dass das eine beschissene Antwort war. Um Fassung ringend schloss sie die Augen kurz. Sie hatte auf diese Frage bereits einmal ‚Ja‘ gesagt und es dann wieder zurückgenommen. Es hatte Dougal das Herz gebrochen, von ihr ganz zu schweigen. Diese Schmach konnte sie Elphinstone zumindest ersparen. Jegliche Gefühle von vornherein zu verraten war der einfachste Weg. »Elphinstone, ich ... Bei Merlin, das –« Ein Seufzen entfuhr ihr. »Nein, Phin. Ich kann das nicht tun. Mir liegt wirklich viel an dir, aber – es gefällt mir, wie es jetzt ist. Ich schätze deine Freundschaft und diese Treffen sehr ... und genau deshalb finde ich, dass es so bleiben sollte.« Sie starrte angestrengt auf einen Punkt oberhalb seiner Schulter und überlegte noch, wie sie diese Situation zusätzlich entschärfen konnte; ob sie doch von Dougal erzählen sollte, als er sie mit seiner Erwiderung überraschte. »Natürlich, Minerva. Das ist in Ordnung. Ich verstehe deine Antwort. Um ehrlich zu sein, habe ich mit nichts anderem gerechnet. Die Worte wollten bloß unbedingt raus. Vermutlich hat all diese geschmacklose Deko hier einen schlechten Einfluss.« Ein amüsiertes Funkeln blitzte in seinen Augen auf. »Wenn du nichts dagegen hast, bin ich sehr gerne weiter ein guter Freund«, sagte er mit einem sanften Nicken und wandte sich wieder seinen Akten zu. Als wäre nie etwas passiert. Als hätte er ihr keinen verfluchten Heiratsantrag gemacht. Erst jetzt begriff Minerva vollkommen, was seine Frage bedeutete – und seine bedingungslose Akzeptanz, jedes ‚Nein‘ von ihr mit einem Lächeln aufzunehmen, ohne sie je zu bedrängen oder sich in seinem Stolz gekränkt zu fühlen. Langsam lösten die Schemen des Cafés sich vor ihr auf und alles, was zurückblieb, war ein feiner Duft von etwas zu viel magischem Wunderschnee.   »Die Vergangenheit kann ein mächtiger Lehrmeister sein.« Minervas Herz setzte einen Schlag aus und ertappt, die Wangen ohnehin noch gerötet, fuhr sie herum, nur um Albus mitten im Raum vorzufinden. Er streichelte Fawkes’ rot-goldenes Gefieder und wenn er ihre Verlegenheit wahrnahm, so ignorierte er sie galant, indem er sie nicht direkt ansah. Peinlich berührt, ihr Herz heftig galoppierend, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Denkarium. »Albus ... Verzeihung – ich habe mich selber reingelassen –« Abwehrend hob er eine Hand. »Ich würde kaum eine Person zu meiner Stellvertreterin ernennen, wenn ich ihr nicht voll und ganz vertrauen würde. Abgesehen davon scheint es mir, dass ein Besuch in der Vergangenheit notwendig war.« Seine blauen Augen hinter der Halbmondbrille funkelten, als er ihr zuzwinkerte. Er drängte nicht danach, was sie sich angesehen hatte, sondern setzte sich einfach an seinen Schreibtisch und wartete. Erleichtert atmete sie aus. »Danke für dein Vertrauen.« Mit einem raschen Evanesco-Zauber entfernte sie die Wirbel ihrer eigenen Vergangenheit aus dem Denkarium und schloss die Faust fest um die Phiole von Caius’ Erinnerung. Vertrauen, da war es wieder. Wie weit reichte ihr Vertrauen in das Saphirblau? »Albus, ich brauche deinen Rat.« Sie stützte sich auf den Rand des leeren Beckens. »Ich habe eine Erinnerung von einem Bekannten zugespielt bekommen, die er einem der Entführer von Jonathan Alditch abgenommen hat. Allerdings macht sie die Sache nur komplizierter. Ich habe ehrlich gesagt meine Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt.« Sie erzählte Albus in groben Zügen alles, angefangen von dem bescheidenen gestrigen Tag, bis hin zu ihrer Erinnerung. Letztlich kannte er ihre Lebensgeschichte – inklusive Dougal – so wie sie seine kannte. Vor ihm Geheimnisse zu haben, wäre überflüssig. Die Schilderungen entlockten dem Schulleiter keine Regung. Albus hörte nur zu, seine langen Finger andächtig gegeneinander gelegt. Lediglich die Erwähnung von Tom Riddle schien seine strahlenden Augen für einen Moment zu verdunkeln. Aber vielleicht war es auch nur das Licht. »Und zu welchem Schluss führt dich deine Erfahrung?«, fragte er schlicht, als sie geendet hatte. Minerva straffte sich. »Ich traue Mulciber nicht. Er kann es sich nicht leisten, mich allzu offen zu belügen, nicht in seiner Position. Aber seine Unterstützung der Reinblüterbewegung ist mindestens fragwürdig. Vielleicht gefällt ihm, was die Entführer tun und da ist Elphinstone nur ein Ärgernis für ihn.« Der Schulleiter nickte nachdenklich. »Womöglich verfolgt er eigene Motive. So wie du es schilderst, wäre es denkbar, dass die Erinnerung manipuliert wurde. Allerdings bringt eine oblivierte Person in der Regel instabile Gedanken hervor, daraus kann man also nichts schließen. Jedenfalls ist Mr Mulcibers Hilfe nicht etwa selbstlos, sondern gebunden an Forderungen. Das spricht selten für Aufrichtigkeit.« »Ich bin froh, dass ich mit der Einschätzung nicht alleine bin«, erwiderte Minerva mit ehrlicher Erleichterung. »Elphinstone hingegen vertraue ich umso mehr. Es wäre einfach, ihn wegen Haus und Stand zu verurteilen, aber dafür kenne ich ihn zu lange.« Sie hob die Schultern. »Er ist nicht seine Schwester. Er liebt sie, wie ich meine Brüder liebe. Das alleine ist noch kein Verbrechen. Ich weigere mich, an bösen Willen zu glauben.« »Außerdem hat er Gefühle für dich«, ergänzte Albus ruhig. »Du bist ihm wichtig. Die Macht der Liebe sollte man nie unterschätzen. Sie lässt uns hin und wieder sogar die eigenen Grenzen überschreiten.« Verlegen sah sie auf die Phiole in ihren Fingern hinab. Die Röte wärmte bereits wieder ihre Wangen. Ihr war schmerzlich bewusst, woran – an wen – er bei diesen Worten dachte. »Es fragt sich nur, zu wem seine Liebe größer ist, wenn es darauf ankommt. Seiner Familie? Oder allem, wofür ich stehe?« »Das eine muss das andere nicht ausschließen. Manchmal ist man gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, aber ich traue Mr Urquart zu, dass er seine Werte weise vertritt. Ich kenne ihn vornehmlich aus dem Gamot, doch er ist mir zweifellos einer der sympathischeren Kammervorsitzenden. Zumal seine Arbeit durchaus sorgfältig ist, wie der Fall der bedauerlichen Miss Smith zeigt.« »Deshalb – Wer wäre ich, ihm jetzt zu misstrauen, nur weil es Mulciber gefallen würde? Ich habe Elphinstone nicht umsonst mein Vertrauen geschenkt.« »Und es ist nie verkehrt, sich in diesen Dingen selber zu vertrauen.« Aus blauen Augen musterte Albus sie eindringlich. »Dennoch denke ich, dass ich dir einen zusätzlichen Blickwinkel verschaffen kann, auf alle Verflechtungen, die sich offenbart haben. Was du daraus machst, liegt bei dir, Minerva.« Er erhob sich aus seinem hoch aufragenden Lehnstuhl und trat bedächtig zu ihr ans Denkarium. Es war nicht das erste Mal, dass sie sah, wie er eine Erinnerung aus der Schläfe zog, aber der Anblick jagte ihr immer noch einen Schauer über den Rücken. Unzeremoniell legte er den Gedanken in das Steinbecken und richtete die Hand darauf. »Bitte, nach dir.« Erneut holte Minerva tief Luft und tauchte ab. Dieses Mal war der Ort ihres Auftauchens ebenso bekannt wie das Café zuvor. Der Innenhof mit dem Wyvernbrunnen war von herbstlichen Blättern übersät, als wäre sie nur eben nach draußen getreten, nicht Jahre in die Vergangenheit gereist. Albus tauchte direkt hinter ihr auf – in doppelter Ausführung. Eine deutlich jüngere Version mit rötlichem Haar und kurzem Bart neben seinem heutigen ergrauten Selbst. Der Zeitpunkt musste vor ihrer eigenen Schulzeit liegen, denn so hatte sie ihren einstigen Verwandlungslehrer nicht in Erinnerung. Ihnen gegenüber, auf einer Bank am Brunnen, saßen zwei Schüler, ausweislich ihrer Roben aus Slytherin und Ravenclaw, vermutlich im fünften Jahr. Minerva erkannte den Slytherin sofort, auch wenn er so viel jünger war. Das Foto auf seinem Kaminsims hatte Elphinstones Sommersprossen unterschlagen, aber sonst war es sein unverkennbares Abbild. Den Jungen neben ihm kannte sie nicht. Er war dunkelhäutig, mit hübschen schwarzen Locken – und weinte unter heftigen Schluchzern. Unwillkürlich trat sie einige Schritte näher. Weinende Schüler kamen immer wieder vor – Heimweh, eine verhauene Prüfung, Liebeskummer – und jedes Mal wünschte sie, den Kindern die Last nehmen zu können. »Archie«, flehte der junge Elphinstone an der Seite seines Mitschülers, »du kannst mir sagen, wer es war. Ich sorge dafür, dass es aufhört! Oder meine Schwester, sie ist Schulsprecherin!« Er sah auf, als Albus’ Erinnerungsgestalt sich durch den Innenhof näherte. »Sag es wenigstens Professor Dumbledore, bitte«, flüsterte er eindringlich. »Er kann auf jeden Fall etwas tun!« Doch der Ravenclaw schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein. Dann bringen sie mich um.« »Archie, was redest du da?« »Ich bin ein elendes Schlammblut, sieh es doch ein, Elph. Ich bin es nicht wert.« Der Schulleiter trat hinter Minerva. »Abgesehen vom Unterricht hatte ich nie viele Berührungspunkte mit deinem Freund«, erklärte er, »doch diese Szene hat sich mir eingeprägt.« Nervös verschränkte sie die Hände vor dem Bauch. Der Junge namens Archie schien ernsthaft aufgewühlt. Das war kein schlichtes Heimweh, er hatte Angst. Nur wovor – vor wem? »Mr Urquart, Mr Hastings, kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte der junge Albus indes die beiden Schüler. »Nein, Sir«, stieß Archie sofort hervor. »Doch!« Ungeachtet seines Freundes, der sich mit dem Umhangärmel die Tränen abtupfte, sprang Elphinstone auf. »Sir, er will es mir nicht sagen, aber irgendwer hat ihn nach dem Unterricht in den Gewächshäusern angegriffen. Ich kam erst später, aber ... ich glaube, es waren Slytherins.« Der Junge auf der Bank hinter ihm lief dunkel an. »Lass das, Elph!«, zischte er. »Du weißt ja nicht, wovon du redest!« Albus’ Augen schossen zwischen den beiden hin und her. »Mr Hastings, Sie können versichert sein, dass ich Angriffe unter den Schülern nicht toleriere. Wenn Sie möchten, können Sie sich mir jederzeit anvertrauen. Im Zweifelsfall spreche ich mit Ihrem Hauslehrer und überlege, was wir tun können, um Sie zu schützen.« »Nein.« Archie schüttelte heftig den Kopf. »Es geht mir gut, Sir.« Zu allem Überfluss tauchte jetzt aus einem Bogengang eine ganze Horde Schüler auf, offenbar auf dem Weg in die große Halle. Darunter befanden sich einige Slytherinschüler der höheren Jahrgänge. Lautes Geschwätz ergoss sich über den Innenhof. Minerva bemerkte, dass Albus neben ihr die Menge sorgsam absuchte. Und dann sah sie die Clique. Fünf Slytherins, deren Schritte sich verlangsamten, als sie die kleine Dreiergruppe um den Brunnen erspähten. Tom Riddle trug bereits viele Züge von dem Mann, dem sie Jahre später während den Ermittlungen zum Mord an einem Ministeriumsbeamten in Northumberland begegnen würde. Der desinteressierte, beobachtende Gesichtsausdruck war der Gleiche, nur war er jünger, weniger hart im Gesicht. Das Schulsprecherabzeichen glänzte an seiner Uniform. Seinen Begleitern fehlte diese Selbstbeherrschung. Dem Größten von ihnen glitt ein hämisches Grinsen über die Züge und er stupste den beinahe ebenso hochgeschossenen dunkelhaarigen Jungen neben sich an, in Richtung des Brunnens nickend. Der Angestupste lachte nicht, zog aber die Augenbrauen kurz hoch. »Das ist ...« »Richtig. Alston Mulciber. Und Gideon Rosier kennst du ja ebenfalls. Ihnen folgen Everard Nott und Lewis Avery. Eine Gruppe, die man so schnell nicht vergisst. Horace würde sagen, sie sind allesamt dazu bestimmt, Großes zu erreichen. Nun, damit mag er gewissermaßen recht haben. Aber Großes muss nicht immer Gutes sein.« Minervas Blick wanderte von den älteren Schülern zurück zu Elphinstone und seinem Ravenclaw-Freund. Dessen Gesicht war in einer furchtsamen Grimasse erstarrt. Wie vom Doxy gebissen sprang er auf, rannte in die andere Richtung davon und verschwand in einem Bogengang. Betroffen sah der junge Elphinstone ihm hinterher. Aber der Schulsprecher hatte sich bereits von seinen Freunden gelöst und kam lässig zum Brunnen herübergeschlendert. Ihm folgte aus der Menge heraus eine blonde Slytherin, deren Bekanntschaft Minerva erst kurz zuvor gemacht hatte. Elladora war deutlich jünger, aber nicht minder elegant. Elphinstone stand starr da und sah den beiden gefasst entgegen. Minerva entging nicht, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hatte. Riddle musterte seinen jüngeren Hauskameraden durchdringend, bevor er Albus direkt ansprach. »Gibt es ein Problem, Sir?« Die Höflichkeitsfloskel trug eine schneidende Schärfe. »Das Gleiche könnte ich Sie fragen, Mr Riddle.« Der ließ sich nichts anmerken. »Ich fragte mich nur, was ein Schüler meines Hauses wohl angestellt hat, dass es den armen Jungen aus Ravenclaw in die Flucht geschlagen hat.« Hinter ihm baute sich jetzt Elladora auf, ihr Kinn ebenso stolz gereckt wie schon in der vorigen Erinnerung. »Tom, du willst doch nicht etwa andeuten, dass mein Bruder daran Schuld hat?« »Nun, er ist nicht derjenige, der unter Tränen fortgelaufen ist. Rein logisch betrachtet, legt das eine gewisse Verantwortung nahe.« Die Urquart-Geschwister tauschten einen stummen Blick aus und Minerva sah, wie Elphinstone sich aufrichtete. Er war höchstens fünfzehn, doch eine Andeutung des Zauberers, der er eines Tages werden würde, schimmerte bereits durch. Es war eigenartig, seine Vergangenheit zu erleben, aber sie war stolz auf ihn. »Jemand hat Archie angegriffen. Hinter den Gewächshäusern. Aus unserem Haus.« Elladoras Augen zuckten zu ihrem Schulsprecherpendant hinüber. »Weißt du wer?« »Das wollte er nicht sagen.« Tom Riddle zeigte die Andeutung eines Lächelns. Zumindest hoben sich seine Mundwinkel leicht. »Dann sollten wir wohl besser die Augen offenhalten, nicht wahr, Professor Dumbledore, Sir? Nicht, dass noch jemandem etwas zustößt.« »Ganz recht, Mr Riddle.« Die blauen Augen des Lehrers bohrten sich fest in die seines Gegenübers und dieser starrte mindestens ebenso entschlossen zurück. Die unangenehme Atmosphäre schienen Elladora und ihr Bruder ebenfalls zu bemerken. Schützend legte die Schulsprecherin eine Hand auf Elphinstones Oberarm. »Ich helfe euch beiden«, sagte sie leise zu ihm. Dann brach der intensive Moment unvermittelt auf und Riddle kehrte zu seiner Freundesgruppe zurück, während Elladora mit Elphinstone in die Richtung davonging, in die sein Ravenclaw-Freund geflohen war. Der Innenhof löste sich auf und Sekunden später waren Minerva und Albus wieder im Büro des Schulleiters. Ihr Kopf schwirrte stärker als nach der ersten Erinnerung. »Oh Merlin ...« Sie nahm sich einen Moment, um durchzuatmen. »Bemerkenswert, wie oft ich im Zuge der Ermittlungen über diesen Personenkreis gestolpert bin«, murmelte sie, gegen die Schranktür des Denkariums gelehnt. »Warum wundert es mich nicht, dass es immer wieder die Reinblüter sind?« »Der Hass, den sie schüren – du hast ihn am eigenen Leib erfahren, Minerva. Er breitet sich aus, das lässt sich nicht länger verbergen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Elladora Rosier von diesem Gedankengut durch ihre Verbindungen in jene Kreise vereinnahmt wurde.« Albus schritt in Gedanken auf und ab. »Möglicherweise handelt sie für Tom Riddle – oder Lord Voldemort, wie er sich meinen Informationen nach inzwischen nennen lässt. Das Flugblatt von dem du erzählt hast, dürfte aus seinem innersten Kreis stammen. Er konnte andere stets gut beeinflussen.« »Ich weiß nicht ... ich kann es kaum glauben, wenn ich Elladora so sehe.« Minerva dachte an das Flugblatt und schließlich die Entführer. Kinder hatte Mulciber sie genannt. Sie konnte es nicht greifen, doch das Gefühl, nur an der Wahrheit zu kratzen, blieb. »Zumindest Mulciber war genauso ein Opfer der Entführer wie Elphinstone und ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn! Grundsätzlich passt das Motiv vielleicht – aber warum sollten solche Leute ausgerechnet einen Erstklässler entführen? Da fehlt etwas und bei Merlin, ich werde rausfinden, was!« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)