Rose von tobiiieee ((Yuffies Version)) ================================================================================ Prolog: I Knew You Were Trouble ------------------------------- Er konnte kaum fassen, wie heiß und vor allem feucht es in Wutai war; die Luft so dick, dass er kaum atmen konnte. Er sah sie schon von Weitem herankommen in einem hellblauen Gewand mit gelben und weißen Details. Vor allem aber war er beeindruckt davon, wie unpassend es in Anbetracht des Wetters schien. Unter dem langen, dicken Stoff mussten Millionen von Grad herrschen. Doch noch etwas anderes fiel ihm ins Auge. „Sie ist recht jung, oder?“, wandte er sich an seinen Vater neben sich. Der gab als Antwort nur ein unbestimmtes Geräusch von sich. Ihm rutschte das Herz in die Hose. „Bitte sag mir, dass sie wenigstens volljährig ist.“ Sein Vater wirkte verärgert. „Denk daran, dass diese Eheschließung nur pro forma ist. Mach ein paar Schwüre, steck dem Mädchen einen Ring an den Finger und danach kannst du von mir aus treiben, was du willst“, wies er ihn zurecht. Danach lächelte sein Vater wieder zufrieden. „Maximale Ausbeute bei minimaler Investition ...“ Kapitel 1: Fearless (Yuffies Version) ------------------------------------- Frei. Frei für eine Nacht. Nach einer langen, heftigen Regenzeit, die Erde noch immer feucht unter ihren nackten Füßen, schlich sie sich zum ersten Mal wieder in stiller Dunkelheit durch das Dorf. Tief in der Nacht schlief alles ruhig und wohlbehalten, während nur der Mond an einem sternübersäten dunkelblauen Himmel über Wutai hing und ein wenig Licht auf die Wege zwischen den Dächern warf.             Durch nicht weiter beleuchtete labyrinthartige Gassen streifte sie, nichts weiter als eine kleine dunkle Figur, gekleidet in einen langen Mantel mit hochgezogener Kapuze, die ihr Gesicht gut verbarg. Sie huschte ungesehen mit einer Leichtigkeit umher, die klarmachte, dass sie sich auch in einer bewölkten Nacht bestens zurechtgefunden hätte. Den Blick gen Sternenhimmel gehoben, schritt sie langsam lautlos voran, machte dann aber Halt und horchte. Und plötzlich breitete sie die Arme aus, drehte sich auf der Stelle, als wäre sie wieder ein Kind, die offenen Haare wehten im Kreis hinter ihr her, die Augen in ihrem nach oben gerichteten Gesicht waren geschlossen wie im Traum, als ob sie einen plötzlich niederkommenden warmen Regen genießen würde – doch die ganze Zeit blieb sie völlig stumm, machte keinen Laut; vielleicht raschelte ihr Mantel ein wenig, und doch – niemand hätte sie gehört.             Daran allerdings dachte Yuffie in diesem Moment nicht mehr. In ihren Gedanken lachte sie laut, sie lachte lang, lachte alles heraus, jauchzte vor Freude, schrie den Hügel herab, fröhlich, endlos, verlor sich in der Dunkelheit und in dem Licht, das von oben herabstrahlte, genoss das Gefühl der Erde zwischen ihren Zehen, vom leichten Wind im Haar, der kühlen Nachtluft auf ihrer Haut. Ihre Kapuze war schon längst heruntergefallen, ihr Mantel flog um ihr einfaches Unterkleid herum, langsam wurde ihr schwindelig, trotzdem hätte sie ewig im Kreis herumtanzen können ...             Abrupt blieb sie jedoch stehen und lauschte in die Nacht hinein: War da ein Geräusch gewesen? Während sich die Welt um sie herum noch ein wenig drehte, schlich sie sich, den Atem flach in der Brust, die Ohren gespitzt und die Augen alarmiert in der Dunkelheit suchend, aus der engen Gasse heraus und spähte auf die Hauptstraße, die sich nun vor ihr erstreckte. Weit und breit niemand zu sehen. Sie schloss die Augen und lauschte. Nichts. Vielleicht hab ich selbst das Geräusch gemacht, dachte sie bei sich und nahm sich vor, vorsichtiger zu sein. Leute würden sonst Angst bekommen, wenn sie sie bemerkten. „Ein Geist wandelt nachts durch die Straßen, wusstest du das schon?“ Am Ende würde sie nur erwischt werden. Besser, niemand wusste, dass sie da war. Besser, niemand wusste irgendetwas. Immerhin waren diese Ausflüge alles, was sie hatte.             Behutsam einen Fuß vor den andern setzend bog sie nun in die Hauptstraße ein, die sie nach kurzer Zeit zum Markt führen würde. Auch hier brannte nirgends ein Licht, aber in der Ferne, in der Ebene unten im Tal, weit hinter dem Markt, war es immer hell, sie konnte es den Hügel herauf glühen sehen wie eine mysteriöse, grünlich schimmernde Feuerschale am Rande des Universums. Der Rand ihres Universums, das Ende ihrer Welt, wo Flammen grünlich sein konnten, die Nacht hell, Männer so groß und schrecklich wie der Wald, neben dem sie hausten, und hinter dem eine unendliche, grausame Freiheit begann. Doch dort ging sie nicht hin. Tatsächlich war sie noch nie dort gewesen. Und auch jetzt ging ihr ein Schauer über Rücken und Arme.             Sachte kam sie vor dem verlassenen Markt zum Stehen. Die hölzernen Auslagen waren nicht abgebaut, nur leergeräumt worden für die Nacht; im leicht einfallenden Mondschein glänzten sie silbrig. Geistesabwesend schritt Yuffie durch die Reihen und in ihrem Innern erstrahlte eine Erinnerung. Nur Stunden zuvor war sie hier gewesen, in gleißendem Sonnenlicht bei vollen Marktständen.             Etwas wackelig war sie auf den edlen Schuhen, ohnehin beinahe verdeckt von ihrem schweren, steifen Gewand; die golddurchwirkte Borte am Saum ihrer Kleider schwebte wenige Fingerbreit über dem Boden mit ihr voran. Sie hörte, wie in den Häusern Leute an die Fenster rannten, um einen Blick auf sie zu erhaschen; hörte es, richtete den Blick allerdings starr geradeaus. Menschen am Wegesrand, so sah sie aus den Augenwinkeln, blieben schlagartig stehen oder warfen sich gar zu Boden, wenn sie vorbeikam. Yuffie konnte es ihnen nicht recht verdenken: Auch sie erstarrte häufig in Ehrfurcht vor den farbenprächtigen Kleidern, die für sie gefertigt wurden, seit sie verheiratet war. Mit der dicken Schicht weißer Schminke im Gesicht musste sie alles in allem vollkommen unmenschlich wirken. Die Hände unter den weiten Ärmeln ihres Gewandes ineinander verschränkt, schritt sie langsam in Begleitung ihrer Wache die Straße zum Markt entlang.             Viele Dinge wurden in der Mittagssonne angeboten: Obst, Gemüse, Wurzeln, Sprossen, Teigwaren, Tee, Gewürze – alles, was die Gegend hergab. Dennoch konnte Yuffie auch von Weitem erkennen, dass der Markt Lücken aufwies: Es fehlte an Reis und Hülsenfrüchten; körperlich anstrengende Arbeit konnte nicht auf einem Magen voll Pfirsichen getan werden. Eine unnatürliche Stille breitete sich über dem Markt aus, als nach und nach alle Umstehenden Yuffie bemerkten und sich zu ihr umdrehten. Yuffie schaute reihum in die Gesichter der Einwohner: Zum Glück war ihnen kein Hunger anzumerken. Jedenfalls noch nicht.             In einer auswendig gelernten und vielfach geübten Rede versprach Yuffie den Dorfbewohnern Unterstützung; sie lobte die Tapferkeit und Unerschrockenheit der Menschen vor nahendem Hunger und verglich die Leute mit Wüstenblumen, die trotz Kargheit der Umgebung dennoch umso schöner wuchsen. Sie entfachte den Glauben daran, dass bald bessere Zeiten anbrechen würden; dabei verschwieg sie, dass in wenigen Tagen eingekaufte Lieferungen von Übersee eintreffen würden, mit denen der Marktstand aufgefüllt werden sollte.             Ein Sturm der Dankbarkeit überkam sie daraufhin, der dem Regensturm, der für die Misere verantwortlich war, in nichts nachstand. Mit allen Menschen zu sprechen, die auf dem Markt versammelt waren, und auch mit denen, die später noch hinzukamen, nahm mehr Zeit in Anspruch, als zum Dorf herunterzukommen und die Rede zu halten. Yuffie lächelte, nickte, hörte zu, gab Versprechen, spendete Trost und hob allgemein die Moral. Die Sonne brannte auf ihrem hochgesteckten schwarzen Haar, in ihrem Nacken, schuf eine unerträgliche Hitze auf ihrer Haut, doch Yuffie konnte keine Miene verziehen.              Als die Sonne nicht mehr genau über dem Markt stand, wanderte ihr Blick an den Auslagen vorbei zum Horizont. Hinter dem Dorf fiel die Landschaft sanft in ein Tal herab, wie sie wusste, auch wenn es dort, wo sie stand, nicht zu sehen war. Unter dem Rand seines Helms folgten die Augen des Hauptmanns ihrem Blick. „Wie wäre es mit einem kleinen Abstecher?“, fragte sie ihn unwillkürlich.             Der Hauptmann wirkte etwas betreten. Etwas umständlich verneigte er sich in seiner Rüstung. „Wir haben Befehl von Eurem Vater, Euch sofort wieder zurückzubegleiten, Prinzessin“, sagte er, ohne ihr in die Augen zu schauen. Da war er: der Grund, der ihr sagte, dass es keinen Nutzen hatte, zu widersprechen.             Yuffie strich ihre Kleider glatt, ebenfalls, ohne ihren Hauptmann anzusehen. „Das war ja auch nur eine Probe“, log sie schnell. „Wir sollen da ja gar nicht hingehen.“ Ihr Hauptmann wirkte erleichtert, wenn auch nicht halb so erleichtert, wie sie sich fühlte, als sie den langsamen Rückweg antreten durfte. Sie konnte es kaum erwarten, alles von sich zu werfen und sich zu begraben.             Ein plötzliches Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Blitzartig verbarg Yuffie sich im Schatten eines Standes, zog die Kapuze ihres dunklen Mantels wieder über den Kopf und wandte der Geräuschquelle den Rücken zu in der Hoffnung, mit der Nacht zu verschmelzen. Atemlos spitzte sie die Ohren, bis sie das Gefühl hatte, jeden Grashalm wehen zu hören; gespannt vernahm sie jemanden ein paar Schritte gehen, dann ein Schwappen, wieder ein paar Schritte und eine sich schließende Tür. Mit wild rasendem Herzen verharrte Yuffie noch einige Momente, obwohl sie längst verstand, dass nur irgendjemand irgendein Gefäß ins Abwasser entleert hatte. Dunkelheit und Einsamkeit waren nichts, wovor sie Angst hatte. In Wahrheit suchte sie diese Dinge sogar. Aber was tun, wenn sie durchbrochen wurden?             Yuffies Herz schlug noch immer schnell, nachdem die unbekannte Person lange wieder in ihr Haus verschwunden war. Erstarrt drückte sie sich an das Holz in ihrem Rücken, die Augen weit aufgerissen, und versuchte, die Kontrolle über sich wiederzuerlangen. Ewig konnte sie immerhin nicht zitternd auf dem Marktplatz stehen bleiben. Ihre Atmung begann sich zu normalisieren. Sie kehrte besser um.             Vorsichtig überquerte Yuffie den Markt und bog in eine andere Gasse ein, sodass sie nun parallel zu dem Weg laufen konnte, den sie gekommen war. Der leise glühende Horizont am Fuße des Hügels lag jetzt zu ihrer Linken. Sie tastete sich an der Häuserwand entlang, nicht mehr sicher, dass ihre Füße sie tragen würden, wohin immer sie wollte. Leicht keuchend bog sie um die Ecke. Ihre Augen weiteten sich beim Blick in die Gasse vor ihr. Schock hinderte sie daran, zu schreien.             Vor ihr ragte eine finstere Kreatur empor, im Dunkeln kaum auszumachen, doch größer als sie allemal, deutlich größer, zumal sie unwillkürlich sogleich eine kampftaugliche, beinahe kauernde Haltung einnahm, bereit zum Sprung, bereit auf diese Kreatur loszugehen, von der sie nur die roten Augen über sich wirklich klar sehen konnte, rot, hell im Dunkel, rot leuchtend unter den silbernen Sternen waren sie möglicherweise das Letzte, das sie je sehen würde. Sie war unbewaffnet.             Entschlossen, sich mit Klauen und Zähnen bis aufs Letzte zu verteidigen, nahm sie eine Bewegung vor sich wahr, ihr eigener Körper bis in die letzte Faser angespannt und auf Kampf aus. Im Licht des Mondes sah sie etwas Helles vor sich. Nichts geschah. Sie sah genauer hin, Schemen wurden zu Formen, die ihr Verstand zusammensetzte. Rote Augen in einem bleichen, schmalen Gesicht, umrandet von langem schwarzen Haar, ein Körper ebenfalls gehüllt in Schwarz, nur die weißen Hände unschuldig erhoben, die Handflächen in ihre Richtung gedreht, um zu zeigen, dass sie ebenso unbewaffnet waren wie sie selbst. „Ein Mensch?“, wunderte sie sich laut, während sie sich wieder aufrichtete.             „Das, ähm, kann man wohl so sagen“, hörte sie eine tiefe, beinahe heiser klingende Stimme sagen.             Sie legte abwägend den Kopf schief. „Ein Mann?“, fragte sie.             „Wie lange willst du das noch spielen?“, fragte der Mann missbilligend. Sie fasste ihn so scharf ins Auge wie möglich. Er musste zu denen gehören. Und er wirkte in der Tat zwar weder überschwänglich nett noch gesprächig, aber als sie sich einmal an die leuchtend rote Farbe gewöhnt hatte, glaubte sie, zumindest kein feindseliges Wesen in seinem Blick zu sehen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Wieso waren sie überhaupt aufeinander getroffen? Er gehörte in deren Welt, sie in diese. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, begann er wieder zu sprechen: „Ich denke nicht, dass die Prinzessin um diese Uhrzeit alleine umherstreifen sollte – ich könnte mich als Geleitschutz nach Hause anbieten.“             „Danke“, fauchte sie, „ich wollte sowieso gerade gehen.“ Dann hielt sie inne. „Kennen wir uns?“, fragte sie, als ihr klarwurde, dass dieser Mann sie offenbar irgendwie erkannt hatte.             „Natürlich kenne ich die Prinzessin des Landes“, sagte er geschmeidig, doch sie vertraute seiner Antwort nicht ganz: Sie kam zu schnell, klang zu ausweichend. Yuffie schaute ihm in der Dunkelheit noch einmal genauer ins Gesicht, und vielleicht bildete sie es sich ein, doch er kam ihr eindeutig bekannt vor. Jetzt neugierig, nahm sie sein Angebot doch an.             „Gehen wir“, sagte sie und wies in die Richtung, die sie zuvor hatte einschlagen wollen. Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, während sie überlegte, wie sie aus ihm herausbekommen konnte, ob sie sich nicht doch kannten, und woher. Sie schaute ihn neugierig von der Seite an. Seine Haut strahlte beinahe so hell wie die Sterne selbst. Sie hatte so etwas noch nie gesehen. „Du bist aus dem Lager, oder?“ Bei diesen Worten kroch ihr unweigerlich Kälte in die Knochen.             „Nicht direkt“, sagte er aber nur. Dann fügte er hinzu: „Aber irgendwie schon, ja.“ Der Weg stieg langsam ein wenig an. Er schien keine Anstalten zu machen, noch irgendetwas zu sagen. Yuffie schwieg, weiterhin in Gedanken, welche kluge Frage sie ihm stellen konnte.             Als sie auf einer leichten Anhöhe hinter dem Dorf angekommen waren, konnte sie den Gebäudekomplex erahnen, der ihr Zuhause war. Gänge umschlossen einen Hof im Innern, in einem zweiten Stockwerk lagen die Zimmer. Das Licht in der Küche würde wie immer brennen und sie wusste, in den Fluren waren Kerzen verteilt, doch im Moment konnte sie all das nicht sehen, da es hinter einer Mauer verborgen war, so hoch wie zwei Männer. Die Nachtwache patrouillierte obenauf. Yuffie gab ihrem Begleiter ein Handzeichen, stehenzubleiben. Sie verharrten knapp außerhalb des Lichtkegels, den die Fackeln warfen, die vor der Mauer in den Boden gesteckt waren.             Sie spürte einen fragenden Blick im Nacken, während sie konzentriert auf das Muster der Wachen achtete und auf die Lücke darin wartete; es gab immer eine Lücke. „Niemand weiß, dass ich mich davonstehle“, flüsterte sie. „Und das soll auch so bleiben.“ Momente später erspähte sie ihre Chance, ungesehen auf die Mauer zuzuhuschen, und nutzte sie augenblicklich; ihr mysteriöser Begleiter folgte ihr geräuschlos. Sie drückte sich an den Stein in ihrem Rücken, um nicht gesehen zu werden. „Hier schauen sie meistens nicht hin“, hauchte sie ihrem Begleiter als Erklärung zu. Jetzt, im Licht der Fackel, drehte sie sich zu ihm um, damit sie ihn eingehend betrachten konnte. Er war älter als sie, aber nicht alt, ging es ihr durch den Kopf. Er sah streng aus, doch möglicherweise täuschte die Nacht. Immerhin hatte er ihr hilfsbereit Unterstützung angeboten. Sie zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Er passte nicht in ihr Bild von denen.             Doch hier im Licht kam er ihr noch bekannter vor.             „Ich schätze, ich bin hiermit am Ende meiner Aufgabe angelangt“, sagte er ebenfalls leise, doch sie fürchtete, dass seine tiefe Stimme weit tragen würde. Sie mussten sich jetzt schnell verabschieden. Ihr kam eine letzte Idee.             „Bei wem bedanke ich mich?“                      „Nicht hierfür, Prinzessin.“             „Aber ich möchte!“, beharrte Yuffie, bevor sie verstand, was er soeben gesagt hatte.             Auf seinem Gesicht erschien ein verstehendes schiefes Lächeln. Er durchschaute sie. „Vincent Valentine, Prinzessin“, sagte er mit einem sarkastischen Grinsen, ehe er eine Verbeugung andeutete, bei der er sie keinen Moment aus den Augen ließ, die sie, rot leuchtend, mit einem intensiven Blick fesselten. „Gute Nacht.“ Dann drehte er sich langsam auf der Stelle um und machte sich auf seinen einsamen Weg in die Dunkelheit hinter den Fackeln, die ihn nur einen Atemzug später verschluckte. Bevor sie ins Haus schlüpfte, suchte sie noch lange mit den Augen die Finsternis ab, in die er verschwunden war. Kapitel 2: Tell Me Wh(o You Are) (Yuffies Version) -------------------------------------------------- Es war auch Finsternis, die sie in ihre Träume verfolgte. Sie spürte die Stunden an sich vorbeiziehen, in denen die Dunkelheit sie umschloss. Durch die Schatten tönte eine entfernte Stimme: „Trag ...! Tu ...! Sag ...! Geh ...!“ Die Schwärze umfing sie so undurchdringlich, dass sie nicht sagen konnte, ob sie stand oder lag. Sie wollte gehorchen, wenigstens antworten, doch die Schatten legten sich auf ihre Zunge, auf ihren Atem, wurden zu Wolken aus Finsternis, die sich in ihr ausweiteten, zu ihr wurden, sie zu sich machten ...             Stimmengewirr, Schreie erschreckten sie; ihr Kopf fuhr herum, in all die Richtungen, die in den Schatten ihre Bedeutung verloren, wenn sie nur, wenn sie doch nur einen kurzen Blick erhaschen würde, wenn ihr doch nur jemand sagen würde ...             Angst. Es war Angst in ihrer Brust. Wenn sie jetzt nicht entkam, wer wusste schon, was passieren konnte. Aber wo war der Weg? Ihr war vage, als ob sie ihn einst gekannt hätte, doch die Dunkelheit war nun auch in ihrem Kopf und trennte sie von sich selbst, wenn sie nur wieder ein Gefühl von sich selbst bekam ... von sich ... sie ... sie war ... hier ...             Und auf einmal veränderte sich, was sie sah. Sie kniete auf dem Boden, atmete schwer, allerdings kam sie diesmal auf die Beine und lief, lief, lief, rannte davon, die Wand hinter sich, rannte so schnell, dass sie den Boden unter den Füßen verlor und auf dem Wind selbst reiste, sie sah den Himmel, kristallklar und hellblau, sie drehte sich um sich selbst, unter sich die saftigen grünen Wiesen und Wälder einer Welt, die sie schon lange nicht mehr besuchte, voll von bekannten und aufregend neuen Geräuschen, und am Rand – das Meer, der Ozean – die Weite ...             „Prinzessin!“ Yuffie hörte ein Wispern nah an ihrem Ohr, von einer Stimme, die ihr entfernt bekannt vorkam. Sie atmete langsam aus und spürte die weiche dünne Decke über sich. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen und kniff sie sofort wieder zusammen, als das erste, in das sie sah, eine Kerzenflamme war. Sie schaute sich um: Verzierte Papierwände, die eine Landschaft mit viel Himmel zeigten, ihr gegenüber eine Kommode, an der Wand rechts Kimonos und Fächer, neben ihr eine Bedienstete, die sie wecken sollte – ihr Traum hatte sie so weit von ihrem Schlafzimmer davon getragen, dass sie es beinahe nicht wiedererkannt hätte.             Sie blinzelte verschlafen und richtete sich langsam auf, um zu bedeuten, dass sie wach war, auch wenn sie sich in Wahrheit nicht so fühlte. Die Bedienstete nickte, deutete eine Verbeugung an und verschwand mit einem leisen Rascheln aus dem Zimmer.             Yuffie seufzte und sackte in sich zusammen. Ihr war noch nicht danach, wieder aufzustehen. Um ihre Lebensgeister etwas zu wecken, griff sie blind in die kleine Schale, die neben ihrem Schlafplatz auf dem Boden stand, nahm ein paar Blätter daraus und steckte sie sich in den Mund. Sie kaute träge: Beinahe augenblicklich breitete sich ein angenehm frisches Aroma in Mund und Nase aus. Sie atmete tief durch, richtete sich auf, streckte sich und erhob sich ungelenk. Instinktiv ging sie zum Fenster, um es zu öffnen – und stellte fest, dass es schon geöffnet worden war. Draußen war es nur immer noch dunkel.             Noch etwas schlaftrunken schaute Yuffie aus dem Fenster; um den finsteren Wald ins Auge fassen zu können, musste sie den Kopf leicht in den Nacken legen und ihren Blick weit in Richtung des stockdusteren Himmels wandern lassen, an dem die Sterne zu verschwinden begannen. Der Wald begann nicht weit hinter der Mauer und umschloss ihr Zuhause auf drei Seiten; ihr fielen die zahlreichen Geschichten ein, welche Gefahren darin lauerten: rasende, mannshohe Affen, die sie mit ihren scharfen Zähnen zerreißen würden, bösartige Fuchsfeuer, die sie zu einer ruhelosen Toten machen konnten, giftige Monster, klebrige Netze so groß wie ein Haus, riesige Vögel, die sie mit ihrem bunten Gefieder anlocken, aber dann mit spitzem Schnabel zerfleischen und als Beute in ihre Nester hoch über dem Boden mitnehmen würden. Alles in allem war ihr klar: Wenn sie nur einen Fuß in den Wald setzte, würde sie nicht lebend wiederkehren.             Im Moment allerdings rauschte der Wind unschuldig durch die Äste und Yuffie konnte nichts erkennen, was darauf aus war, sie zu packen und zu verschleppen. Die Wache patrouillierte ja auch nicht umsonst auf den Mauern, vor denen auch die Fackeln die Kreaturen des Waldes abschrecken sollten. Da fiel ihr der Fremde aus der Nacht ein. Wobei, im Licht einer dieser Fackeln war sie zu dem beinahe sicheren Schluss gekommen, dass er gar kein Fremder war. Sie kannte ihn, ganz sicher. Nur – woher?             Eine Bewegung auf ihrer linken Seite ließ sie zu ihrer Schlafstätte zurückschauen: Im Halbdunkel war unter der Decke gerade so ein blonder Haarschopf zu erkennen. Yuffie warf die zerkauten Blätter aus dem Fenster, schaute ein letztes Mal auf den sich allmählich heller verfärbenden Himmel und verließ das Zimmer.             Leise schob sie die Tür hinter sich zu. Auf dem Gang warteten schon weitere Bedienstete, die sie unter ihre Fittiche nahmen und ins Bad begleiteten. Sie taten vorsichtige Schritte auf dem Holzboden, um keinen Lärm zu verursachen, und schirmten ihre Kerzen ab, um nicht zu viel Licht durch die Papierwände der Korridore fallen zu lassen. Es ging eine Treppe ins Erdgeschoss hinab und dann einen kurzen Weg über den äußeren Hof zum Badehaus, wo ein Becken mit warmem Wasser in den Boden eingelassen war. Zwei der Frauen, die sich um sie kümmerten, nahmen Yuffie den Morgenrock ab und schrubbten und wuschen alles an ihr, was sie erreichen konnten, ohne die Narbe an ihrer Schulter zu reizen, wohingegen die anderen Frauen Handtücher und ihre Gewänder für diesen Tag herbeibrachten.             Während der Prozedur, die sie stumm ertrug, hatte Yuffie genug Zeit, wie immer zur Ablenkung die Bilder in den Papierfenstern zu betrachten. Es handelte sich dabei um drei wunderschön gearbeitete, farbprächtige Malereien, die eine Geschichte erzählten. Ganz rechts, im Bild eingefasst von rosa und weißen Blüten, waren die grünen Terrassen eines Reisfeldes am Fuße eines Berges zu erkennen. Im mittleren Bild änderte sich die Farbe der Blüten in ein zartes Blau und die Terrassen wechselten sich nun grün und gelb ab. Und ganz links nun war zwischen den Terrassen eine einzelne, prächtig blaue Blume zu erkennen, die inmitten der Felder wuchs.             Yuffie kannte die Geschichte der einsamen, aber tapferen Himmelsblume, die es sich in den Kopf setzte, den Berg zu erobern, obwohl sie dort nichts zu suchen hatte, und sich dort als einzige blaue Pflanze niederließ. In der Tat kannte sie die Erzählung sogar Wort für Wort auswendig, denn ihre Mutter hatte sie ihr immer und immer und immer wieder erzählen müssen. Früher jedenfalls ...             Intensiv gesäubert stieg Yuffie aus dem Bad, ließ sich in ein weiches Handtuch einwickeln und betrachtete skeptisch ihr neuestes Kleidungsstück. Gänzlich vermochte sie seine Pracht nicht zu fassen: Es war ein einzelnes, durchgehendes Stück zum Umwickeln, das rot wie die glühend aufgehende Sonne strahlte, überall mit goldenen Stickereien verziert und am unteren Saum von einem violetten Muster durchbrochen. Ihr Geschmack war es jedenfalls nicht: Es war ... einfach zu viel.               Es dauerte eine ganze Weile, bis sie in derart viel Stoff eingekleidet war, vor allem da es zuvor Schicht für Schicht mehrere Untergewänder anzulegen galt, die ihren Körper für ihr eigentliches Gewand formen sollten, das man ihr abschließend mit einem prächtigen Gürtel um den Körper wand. Als die Schärpe fertig geknotet war, fühlte sie sich förmlich eingeschnürt.             Danach wurde sie in einen anschließenden Raum gebracht, in dem ein Bronzespiegel an der Wand hing, vor dem wiederum ein kleines Sitzkissen lag. Yuffie ließ sich seufzend darauf nieder, richtete ihren Blick starr auf den Spiegel und betrachtete sich selbst dabei, wie sie erst gründlich gekämmt wurde, ehe man ihr Haar aufwändig mit zahlreichen Utensilien frisierte. Ihre Miene blieb dabei ausdruckslos. Sie dachte an das Gesicht des Fremden, den sie doch kannte. Woher? Er war aus dem Lager, in das sie nie einen Fuß gesetzt hatte. Dort konnten sie sich also nicht begegnet sein. Und wenn sie ihm jemals einfach so über den Weg gelaufen wäre wie in der Nacht zuvor, hätte sie sich daran erinnern müssen. Er musste irgendwann einmal irgendwo am Rande aufgetaucht sein, wo sie ihn zwar bemerkt, ihm aber nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Auf ihrer Hochzeit vielleicht, sie konnte sich immerhin unmöglich an jeden Gast erinnern.             Aber irgendwie konnte sie die beiden Erinnerungen nicht zusammenbringen.             Und er hatte auf diese seltsame Weise „nicht hierfür“ gesagt – wofür dann?             Zum Schluss wurde noch Schmuck in ihrem Haar platziert, man parfümierte sie, trug eine dünne Schicht heller Farbe auf ihr Gesicht auf, ölte ihre Wimpern und bemalte ihre Lippen hellrosa. Noch während sie auf dem Kissen vor dem Badspiegel kniete und die Routine über sich ergehen ließ, traten die ersten Boten des Tages an sie heran, überbrachten Nachrichten, stellten Fragen, nahmen Anweisungen entgegen und trugen ihr Wort mit sich wieder davon. Als Yuffies Erscheinungsbild Form angenommen hatte, dämmerte es bereits.             Nun hängte ihr die Bedienstete, die sie zuvor geweckt hatte, die Kette mit dem Familienwappen um: Auf dem Amulett waren ein Phoenix und ein Drache zu erkennen, die um eine Lotosblüte kreisten. Yuffie fragte sich häufig, ob die beiden die Blume beschützten oder ob sie sich darum stritten.             Sie seufzte, dankte allen, die sie hergerichtet hatten, und schickte sie schließlich hinaus. Ihr war danach, das Gesicht in den Händen zu vergraben, doch sie wagte es nicht, die Farbe zu verwischen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als starr auf ihrem Kissen zu verharren und im Inneren zu schmelzen, zu zerfließen, bis sie nicht mehr existierte, in ihrem Innern aufzuheulen, zu schreien, bis es nach außen gekehrt wäre, sich im Innern vorzustellen, wie sie ihr Gesicht abrieb, sich die Haare raufte, die schrecklichen eleganten Kleider von sich riss und davonlief. Sie sah diese grässliche Frau im Spiegel, wunderschön, mit ihrem Familienwappen und in ihren Kleidern. Sie war perfekt. Sie atmete ein, schloss die Augen. So lange, wie es dauern würde, würde sie weitermachen. Nicht für sich. Aber für alle andern um sich herum. Und vielleicht würde sie sich selbst im Laufe des vorbestimmten Weges finden.             Als Yuffie die Augen wieder öffnete, leuchtete vor dem Fenster der Sonnenaufgang, der sie von ihrem Kissen herunterholte: Sie erhob sich vorsichtig in ihrem schweren, steifen Gewand und verließ das Badehaus, um den Hof wieder zu durchqueren und das Familienfrühstück im Erdgeschoss aufzusuchen. Sie trat durch eine Tür ein, die der gegenüberlag, durch die sie hinausgegangen war, wandte sich nach rechts und kam durch eine aufgeschobene Tür direkt in den Raum, in dem ihre Familie die Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Ihr Blick fiel als erstes auf ihren Vater, der am ihr näheren Ende eines länglichen Tisches saß, mit dem Rücken zu ihr. An der langen Seite rechts davon saß ihr Mann, blond und weiß gekleidet nach deren Art. Er unterhielt ihre kleinen Brüder auf der gegenüberliegenden Seite, die die ersten waren, die sie in der Tür bemerkten.             „Yuffie!“, riefen sie einstimmig. Alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung.             „Na, ihr beiden?“, begrüßte Yuffie sie, während sie langsam den Raum betrat.             „Yuffie“, sagte auch ihr Vater, ruhiger allerdings, auf seine Weise liebevoll. Yuffie schritt auf ihn zu, beugte sich leicht herab und deutete einen Kuss auf seine Stirn an.             „Guten Morgen, Vater“, sagte sie. Er lächelte selig.             Zuletzt wandte sie sich Rufus zu. „Du siehst hübsch aus“, sagte er ohne Umschweife. „Ohne mich zu sehr loben zu wollen, das mit dem Rot war eine großartige Idee.“             Yuffie sah an sich herunter. „Vielen Dank für das Kompliment“, sagte sie, mehr aus Höflichkeit als aus Freude. „Und für das Gewand.“             Rufus winkte ab. „War mir ein Vergnügen, wenn‘s dir gefällt.“ Er streckte ihr hilfsbereit eine Hand entgegen, auf die sie sich dankbar stützte, während sie sich neben ihm zu Boden sinken ließ und ihren Platz am Tisch einnahm. Verspielt grinste sie sodann Karui und Teiso zu, die ihr mit Grimassen antworteten. Yuffie lachte, ehe ihr bewusst wurde, dass der Platz zwischen ihnen noch frei war – ebenso der Platz am anderen Ende des Tisches, zu dem Yuffies Augen ganz automatisch wanderten. Sie fragte sich – wie jeden Morgen –, ob er wohl verlassen bleiben würde ...             Als sie den leeren Platz ihrer Mutter nachdenklich beobachtete, bemerkte sie aus den Augenwinkeln, wie Rufus eine Hand hob, wohl in der Absicht, über ihr Haar zu streichen. Sie zuckte zurück. „Nicht!“, sagte sie. „Die Frisur!“             Rufus nahm seine Hand zurück und tat ganz unschuldig. „Ist ja gut“, sagte er. „Dafür bist du heute so schnell aus dem Bett? Ich dachte, ich steh früh auf ...“             „Es gibt heute viel zu tun“, sagte Yuffie erklärend.             „Allerdings“, pflichtete Godo ihr bei. Sie wandten sich ihm zu. „Wir haben heute als allererstes einen Streitfall zu schlichten, wir können es uns also nicht leisten zu trödeln.“ Er betrachtete Yuffie liebevoll. „Unsere Gäste verdienen es, dass wir uns bestens herrichten. Ich für meinen Teil liebe es, ihnen meine schöne Tochter zu zeigen.“             Yuffie schlug kurz die Augen nieder; viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf: dass sie nicht nur schön war; dass sie eigentlich überhaupt nicht schön war; dass sie sich in den Gewändern, die sie tragen sollte, nicht wohlfühlte, und sich auch eine simplere Garderobe vorstellen konnte, wie sie sie noch wenige Jahre zuvor getragen hatte. Das Familienwappen schwer auf dem Herzen, sprach sie davon allerdings nichts aus; stattdessen wandte sie mit schnell pochendem Herzen den Blick nach links zurück zum Eingang, als sie Schritte auf dem Korridor hörte. Ihr Onkel erschien in der Türöffnung – Yuffie wartete gespannt, mit angehaltenem Atem, die Augen weit vor Spannung, was geschehen würde – doch sie sah schnell, dass er allein war. Yuffie sackte in ihrer stillen Enttäuschung beinahe unmerklich zusammen. Mit ausdruckslosem Blick folgte sie Tseng, der die versammelte Familie begrüßte und sich auf seinem Platz zwischen den Zwillingen niederließ, wobei er niemandem so recht in die Augen sah. Auch Yuffie senkte ihren Blick nun auf die Stäbchen, die vor ihr lagen. Der Platz ihrem Vater gegenüber blieb häufig leer, dennoch konnte sie sich nicht einer allmorgendlichen geringen Hoffnung erwehren, dass es diesmal vielleicht anders ...             Ihr Vater eröffnete das Frühstück und auch Yuffie griff zögernd nach ihren Stäbchen. Hunger hatte sie kaum, doch zumindest ein wenig Reis würde sie wohl aus reiner Höflichkeit essen müssen, und zumindest eine kleine Kelle Suppe. In Gedanken war sie bei einer längst vergangenen Zeit, da Tseng – streng genommen nicht wirklich ihr Onkel, aber der Einfachheit halber hatte sie ihn als Kind so genannt und dann nie damit aufgehört – morgens nicht allein erschienen war, sondern – so blass, zittrig und schwach sie meist gewesen sein mochte – in Begleitung ihrer Mutter, die es zumindest schaffte, morgens für ein paar Stunden aufzustehen. Yuffie ahnte mittlerweile, wie unfassbar viel Kraft es sie jedes Mal gekostet hatte – Kraft, die sie nach all den Jahren wohl einfach nicht mehr aufbringen konnte. Es waren damals andere Zeiten gewesen – damals, vor ... –             Und mit einem Blick auf Tsengs Gesicht, die Stäbchen auf halbem Weg zum Mund, als ein Bildersturm in ihrem Kopf explodierte, fiel es ihr schlagartig ein. Kapitel 3: All Too Well (Yuffies Version) ----------------------------------------- Der Tee dampfte aus der Tasse in Yuffies Händen. Sie starrte gedankenversunken in die grüne Flüssigkeit, während ihre anderen Sinne mehrere Jahre in die Vergangenheit reisten. Sie roch Brand und Blut. Sie hörte Schreien und Flehen, Krachen und Explosionen. Leute liefen im Staub durcheinander, übereinander, ineinander, aufeinander. Kinder kreischten erbärmlich. Angst verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Gassen, Panik. Menschen waren eingekesselt.             Und dann, später, nach Tagen des Chaos – war da plötzlich diese … trügerische Stille. Jeder Atemzug war unerträglich laut zu hören. Der Krieg sollte zu Ende sein? Sie waren geschlagen? Sie konnte nicht ertragen, untätig herumzusitzen. Sie spürte die spitzen Steine unter ihren Füßen.             Yuffie tauchte vollends in ihre Erinnerung ein.             Sie lief durch die verlassenen Gänge, so schnell ihre kurzen Kinderbeine sie tragen konnten. Es war niemand da, niemand, der ihr sagte, was vor sich ging. Sie musste es selbst herausfinden. Wie wild lief sie den Weg hinab in Richtung des Dorfes, die Steine bohrten sich schwer in ihre Füße, dicker Rauch schlug ihr entgegen und sie hielt hustend an. Es dauerte lange Momente, bis sie, keuchend mitten auf dem Weg stehend, in sich aufnahm, was sie sah: Das Dorf war beinahe vollkommen zerstört, die Häuser niedergehauen, der Markt am Ende der Straße in Trümmern, die Gassen voll von denen.             Ohne nachzudenken, drehte Yuffie um, rannte weiter, aber nicht zurück, sondern wandte sich nach rechts, in Richtung Wald, wo die Jahrhunderte alten Bäume sie vielleicht beschützen würden, egal, was die Erwachsenen gesagt hatten, was der Wald alles verbarg. Atemlos kam sie am Waldrand zum Stehen. Sie spähte umher. Sie sah sie zwar nicht, aber sie spürte, auch hier waren Menschen. Nur – Feind oder Freund? Sie hörte Männerstimmen rufen, weit entfernt, sie konnte die Sprache nicht ausmachen. Vorsichtig schlich sie sich weiter, um sich zwischen den Bäumen zu verstecken, wollte den Streifen Niemandsland überqueren, da hörte sie aus dem Nichts schnelle Schritte, die von hinten auf sie zugehastet kamen. Noch ehe sie sich ganz umgedreht hatte, schlossen sich Arme um sie.             „Prinzessin!“ Sie erkannte Tsengs fassungsloses Gesicht. „Ihr solltet nicht hier sein, sie durchsuchen den Wald! Flieht! Sucht Zuflucht im Palast! Schnell!“ Sie verstand nur die Hälfte dessen, was er sagte, aber sobald er sie wieder freigab, lief sie davon, zurück, sie wollte sich beeilen, doch Geräusche nur Momente später hielten sie zurück. Sie drehte sich um.             „Tseng!“, kreischte sie. Schneller, als ihr rasendes Herz einen Satz machen konnte, verstand sie, was das Knäuel aus Männern auf dem Boden zu bedeuten hatte, zwei Soldaten von denen mit den Knien auf Tsengs Rücken, dessen Gesicht ins Gras gedrückt war, nun erhob sich einer von ihnen, nahm etwas von seinem Rücken … „Nein!“ Ehe sie es realisierte, war Yuffie zurückgerannt und warf sich blindlings zwischen die Männer, Tseng um den Hals, der nun auf dem Boden vor dem Wald hockte, die Arme schützend um sie legte, denn auch der zweite Soldat hatte sich aufgerichtet, Yuffie sah sich nach den beiden um – und ihr starrer Blick fiel geradewegs auf die Spitze des Gewehrlaufs, der auf sie gerichtet war. Sie wagte nicht, sich zu bewegen.             Tseng versuchte, sie hinter sich zu verstecken. „Nein, ihr versteht nicht“, flehte er die Männer an. „Lasst sie gehen, lasst sie nur gehen!“             Die Soldaten schienen nicht verstehen zu wollen. Beide richteten ihre Waffen auf sie. Einer der Soldaten bewegte etwas an seiner Waffe, sodass sie klickte. Yuffie starrte ihn regungslos mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr wurde schwindelig. Gleich würde es vorbei sein, so oder so. Tseng redete weiter wie von Sinnen auf die Männer ein, doch sie hörten nicht.             Da ertönte eine andere Stimme. „Was glaubt ihr, was ihr dort tut?“             Die Soldaten fuhren herum. „Sir!“ Ein Mann war hinter ihnen erschienen, anders gekleidet als die Soldaten, doch unverkennbar von denen. Ein Mann mit schmalem, weißem Gesicht und langem, schwarzem Haar. Ein Mann mit roten Augen. Einer von denen. Von dort. Vom grün glühenden Ende ihrer Welt.             „Yuffie.“ Yuffie blinzelte und schlug die Augen auf. Ihr Vater hatte sich zu ihr heruntergebeugt; eine Hand lag sanft auf ihrer Schulter, aber seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen. „Nicht einschlafen.“             Yuffie bemerkte, dass sie den Atem angehalten hatte. „Ich bin nicht eingeschlafen“, sagte sie, auch wenn sie sich dessen nicht sicher war.             „Natürlich nicht.“ Ihr Vater setzte sich ihr gegenüber auf den Boden seines Besprechungsraums. „Besser, du trinkst deinen Tee, bevor er kalt wird.“ Yuffie, noch ganz durch den Wind, befolgte den Ratschlag, um etwas zu tun zu haben. Der eben noch dampfend heiße Grüntee hatte nun die ideale Wärme zum Trinken. Yuffies Blick versank erneut in der Tasse in ihren Händen. Ganz gewiss, der Mann aus ihrer Erinnerung war derselbe Mann, dem sie in der Nacht begegnet war. Und ebenfalls gewiss war dies das erste Mal gewesen, dass sie sich seitdem wiedergesehen hatten. Erst jetzt wurde Yuffie klar, was all diese Dinge von damals zu bedeuten hatten. Wenn dieser Mann, wenn Vincent nicht eingeschritten wäre … Er hatte recht. Dafür sollte sie ihm danken. Umgehend.             „Mein Vögelchen, wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragte sie ihr Vater mit einem etwas hilflosen Lächeln.             „Nirgends“, sagte sie. „Es war nur sehr früh heute Morgen.“             „Allerdings“, pflichtete er ihr bei. Dann: „Es gibt immer noch Sturmschäden zu beseitigen, darüber müssen wir uns Gedanken machen.“             Blitzschnell kehrten Yuffies Gedanken dorthin zurück, wo sie sein sollten. „Wir werden wohl wieder Rufus fragen müssen“, sagte sie kühl. Godos Gesichtsausdruck zeigte so etwas wie bedauernde Zustimmung.             „Es scheint, Shin-Ras Einmischung hat doch gelegentlich etwas Gutes.“ Yuffie erwiderte daraufhin nichts, sondern schürzte nur die Lippen. Sie leerten ihre Teetassen, bevor der erste Streitfall des Tages vorgelassen wurde.  Die Sonne war längst weit über ihren Zenit geschritten, als Yuffie ihre letzte geschäftliche Angelegenheit geklärt, das letzte Dokument unterzeichnet und mit Siegel versehen und dem letzten Einwohner zugehört und schnelles Handeln versprochen hatte. Die Türen wurden zugeschoben und sie und ihr Vater, der noch über Papieren auf einem Tisch gebeugt saß, waren die einzigen, die im Raum zurückblieben. Yuffie schloss die Augen und während sie mehrere sehr tiefe Atemzüge tat, spürte sie, wie eine bis dahin unbemerkte Anspannung von ihrem gesamten Körper abfiel: Sie ließ den Kopf und die Schultern etwas sinken, drückte die Knie nicht mehr so stark zusammen und ihre Eingeweide fühlten sich auch gar nicht mehr so verkrampft an wie nur Momente zuvor. Und Erschöpfung fiel über Geist und Seele.             Den ganzen Tag hatte sie sich nicht recht auf das konzentrieren können, was sie eigentlich tun sollte: Ständig tauchten ungebetene Erinnerungen und Gedanken in ihrem Kopf auf. Der Geruch von Rauch. Ein flüchtiger Eindruck von Grasflecken auf ihrer Kleidung. Wieder und wieder das Gefühl, ein Stein hätte sich in ihre Fußsohle gebohrt. Ein metallisches Klicken. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.              „Du bist fertig für heute?“, hörte sie ihren Vater fragen. Yuffie brachte nur ein stummes Nicken zustande. „Spatz, wenn du gehen möchtest, kannst du das ruhig, du hast deine Aufgabe hier erledigt.“ Yuffie ließ ihre zitternden Finger wieder sinken. Ihr Vater hatte von seiner Arbeit aufgeblickt und schaute sie durch den Raum an, die Augenbrauen zusammengezogen und die Stirn in Falten gelegt. Sie rang sich ein Lächeln ab, nickte noch einmal und kämpfte sich auf die Beine, um schwerfällig auf die Tür zuzugehen, die sie aufschob. Ihr Blick ging nach rechts und links: Der Korridor mit einer Treppe an jedem Ende war wie ausgestorben.             Sie wandte den Kopf zurück in Richtung ihres Vaters. „Ich denke, ich werde mich bis zum Abendessen etwas ausruhen.“             Ihr Vater sah noch einmal auf. „Tu das, mein Vögelchen“, sagte er lächelnd. Sie versuchte sein Lächeln zu spiegeln, scheiterte aber. Stattdessen schleppte sie sich den Korridor links voran, dann die Treppe hinauf und durch eine Schiebetür in ein Zimmer, das als einziges im Haus nur ihr vorbehalten war: Abgesehen davon, dass es ihr persönlicher Rückzugsort war, hatte es keinen speziellen Zweck und war daher mit verschiedenen Dingen wie etwa Regalen mit Schriftrollen, Steinen und Muscheln, mit Kissen und anderen Dingen ausgestattet, doch das Wichtigste für sie war in diesem Moment die gepolsterte Liege, auf die sie sich fallen ließ, obwohl sie wusste, dass davon ihr Gewand knittern würde: Sie hatte keine Kraft übrig, um sich darum zu scheren.             So lag sie da, nicht einmal froh, dass der Tag vorbei war, weil es auch jetzt nichts gab, das es besser machen konnte. Sie hätte sich auch gar nicht dazu aufraffen können, wenn es etwas gegeben hätte. Sie konnte nur wie tot liegen bleiben, bis es Zeit zum Abendessen wurde, etwas essen, obwohl sie nicht hungrig war, und dann auf die Nacht warten, die sie vielleicht beleben würde. Und vielleicht würde sie etwas Abwechslung erfahren, indem sie nachts wieder auf Vincent traf.              Umständlich und schwer atmend richtete Yuffie sich auf. Vincent. Er hatte recht: Sie sollte ihm wirklich danken. Umgehend, hatte sie sich noch am Morgen gedacht. Aber umgehend war keine Option: Sie hatte ihr Zuhause nicht zu verlassen, es war auf Anordnung ihres Vaters verboten. Niemand würde sie nach draußen lassen. Tagsüber musste es außerdem beinahe unmöglich sein, sich davonzuschleichen; probiert hatte sie es zwar noch nicht, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie ungesehen das Haus verlassen, das Tor passieren und den Weg hinunter zum Dorf nehmen sollte.             Langsam sank sie wieder aufs Polster, wobei das Wappen von ihrer Brust rutschte und an der Kette an ihrer Seite hing. Umgehend würde es vielleicht nicht klappen – aber mit etwas Glück, dachte sie, und ihr Blick wanderte wieder zur Decke, in der folgenden Nacht ... „Mein Vögelchen“, sagte ihr Vater beim Abendessen, „das ist nur ein Spitzname – du sollst nicht wie eins essen.“             Yuffie betrachtete die Stäbchen in ihren Händen, die kaum drei Reiskörner aus der Schüssel vor ihr herausgeholt hatten. „Ich hab keinen Hunger“, sagte sie leise. Außerdem drückten ihre Kleider und ihre Schärpe auf ihren Magen.             „Du brauchst nicht noch dünner zu werden“, sagte ihr Vater vergnügt, „du kannst ruhig essen.“             Verwundert schaute Yuffie erst auf ihren Vater und dann an sich herunter, als sie schon Rufus‘ Hand auf ihrem Rücken spürte und seine Lippen an ihrem Ohr: „Und selbst wenn du noch so dick wärst, könntest du trotzdem essen, was immer du wolltest“, sagte er leise genug, dass nur sie es hörte. Sie wandte sich zu ihm um und sah in diese ungewöhnlichen Augen von der Farbe des Nachthimmels, an die sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte; vielleicht nie gewöhnen würde. Dennoch deutete sie ein Lächeln an und Rufus nahm seine Hand von ihrem Rücken.             „Was tuschelt ihr beide da?“, fragte ihr Vater.             „Nichts“, sagte Yuffie schnell.              „Gar nichts“, sagte auch Rufus, längst wieder am Essen.             „Junge Liebe“, sagte Godo und schüttelte lächelnd den Kopf. Yuffies Brüder begannen zu kichern. Nur ins Tsengs vertrauten dunkelbraunen Augen sah Yuffie keine Heiterkeit: Denn er wusste es besser.             Bis zum Ende der Mahlzeit hatte Yuffie ihre kleine Reisschüssel geleert und genug vom Gemüse gegessen, um nicht als unhöflich zu gelten. Als ihr Vater die Tafel aufhob, folgte sie ihm auf den Korridor in Richtung des Archivs gegenüber seinem Empfangszimmer. „Vater?“, fragte sie. „Können wir kurz über etwas reden?“ Sie zog die Tür der Bibliothek hinter sich zu.             „Mein Vögelchen“, sagte ihr Vater, während er Schriftrollen mit alten Urteilen ihrer Vorfahren aus den Regalen zog, „was gibt es?“             „Wegen der Robe, die Rufus mir geschenkt hat ...“, sagte sie vorsichtig und deutete auf das rote Gewand, das sie trug, „meinst du nicht auch, sie ist unpassend?“             „Wie meinst du?“, fragte Godo, die Stirn gerunzelt über einer Schriftrolle.                       „Na ja, sie sieht nicht aus wie die Kleider, die wir sonst tragen.“             „Ach“, machte ihr Vater. Jetzt richtete sich sein Blick auf sie. „Rufus ist nicht von hier, der weiß so was eben nicht. Er hat es nur lieb gemeint, du solltest dankbar sein – am besten trägst du das Gleiche morgen noch mal, damit zeigst du, dass es dir gefällt.“             „Tut es aber nicht“, rutschte es Yuffie heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte.             „Yuffie!“, wies sie ihr Vater also zurecht. „Das Kleidungsstück ist sehr schön und du siehst gut darin aus, es ist sehr angemessen und seine Pracht passt sehr wohl zu deiner Position.“             „Was das angeht ...“, sagte Yuffie leise.             „Was ist denn jetzt noch?“, fragte ihr Vater ungeduldig.             „Ich dachte nur ...“ Yuffie wand sich. „Vielleicht sind ja nicht immer so große, prächtige Gewänder ... nötig.“             „Yuffie Kisaragi, jetzt reicht es aber!“, brauste ihr Vater auf.             „Ich mein doch nur!“, sagte Yuffie verzweifelt. „Ich will nicht undankbar sein, nur – so viele Leute haben in diesem letzten Sturm so viel verloren –“             „Yuffie, jetzt hör mir mal zu!“, sagte ihr Vater in kalter Wut. „Du trägst die wertvollsten Kleider im ganzen Land, und gerade von dir hätte ich erwartet, dass du das zu schätzen weißt. Die Gewänder in deinem Besitz sind Tradition und teilweise lange vererbt. Es zeugt von Respekt, wenn du dich an die Regeln hältst, wie du dich als Prinzessin zu kleiden hast. Möchtest du Menschen, die dich aufsuchen, etwa in Lumpen gegenübertreten? Glaubst du wirklich, das wäre angemessener? Wutai hat ein Unglück erfahren, aber wir stehen weiter stark, und dafür sehen Leute zu dir auf. Was glaubst du, was es wirklich bringen würde, ausgerechnet jetzt mit Traditionen zu brechen? Nichts und wieder nichts, es würde die Leute nur in die Verzweiflung stürzen. Yuffie, ich bin enttäuschte von deiner Gedankenlosigkeit.“             Yuffie zuckte zurück. Sie verneigte sich tief vor ihrem Vater. „Bitte verzeih.“             „Und jetzt geh zu deinen Brüdern, wo du hingehörst“, sagte Godo. „Ich will nie wieder ein Wort davon hören.“               Ohne den Blick wieder anzuheben, richtete Yuffie sich auf und verließ das Archiv, woraufhin sie den Korridor weiter entlanglief und sich nach rechts wandte. Sie blieb vor der Tür zum Spielzimmer stehen und linste hinein: Tseng saß an einem Tisch und, das Gesicht in tiefer Konzentration, kümmerte sich um Korrespondenz, während Rufus, unbekümmert auf dem Boden sitzend, mit den Zwillingen spielte; von ihrem Lachen zu schließen hatten sie ihren Spaß.             Yuffie hingegen zitterte. Sie spürte ihr Herz pochen – ungefähr in ihrem Hals. Sie hatte ihren Vater nicht verärgern, nicht enttäuschen wollen. Alles, nur das nicht. Nein, sie wollte wirklich nicht undankbar, nicht respektlos sein. Sie fragte sich, was sie hatte erreichen wollen. Warum hatte sie überhaupt gesprochen? Es waren nur Kleider. Kleider, in denen sie sich unwohl fühlte, zugegeben. Aber am Ende des Tages eben doch nur Kleider. Kein Grund, Streit mit ihrem Vater anzufangen. Sie fühlte sich so unglaublich dumm. Schämte sich.              Statt ins Spielzimmer zu den andern zu gehen, nahm sie die Treppe nach oben und warf sich wieder auf ihr Polster. Später betrat sie, ihres Tagesgewandes und des Familienwappens entledigt, das über Nacht sicher aufbewahrt wurde, ihr Schlafzimmer, in dem Rufus sich auch gerade umzog.             „Du warst plötzlich verschwunden“, sagte er, als er sie bemerkte. „Hat dich das so getroffen, was dein Vater beim Essen gesagt hat?“             Yuffie setzte sich aufs Bett und überlegte, was Rufus meinte. „Oh, das“, sagte sie, als es ihr schließlich einfiel. „Ja, die Bemerkung war seltsam. Aber ich mach mir da keine Gedanken.“ Rufus setzte sich zu ihr. „Ich war immer zierlich, das ist nicht das Problem.“             „Da bin ich froh.“ Er beugte sich zu ihr und seine Lippen berührten ihren Kiefer. Sie zog allerdings ihren Kopf zurück. „Alles klar“, sagte Rufus, woraufhin er sich auf seine Seite des Bettes zurückzog. Sie löschten die Kerzen und Yuffie konnte beinahe dabei zusehen, wie Rufus im hereinfallenden Mondlicht allmählich in einen ruhigen Schlaf hinüberglitt. Sie selbst hingegen war hellwach.             Unter normalen Umständen wäre sie in dieser Nacht im Bett liegen geblieben. Ihr Vater war ohnehin bereits wütend auf sie, und falls sie erwischt werden sollte – was sie, da sie so aufgewühlt und neben der Spur war, nicht für unwahrscheinlich hielt –, würde ihn das nur weiter in seine Enttäuschung hineinziehen. Normalerweise würde sie das nicht noch extra riskieren.             Aber sie musste diese Nacht für ihren Versuch nutzen, Vincent aufzusuchen. Jedenfalls wollte sie das nicht weiter aufschieben; ihre kreisenden Gedanken hatten sie den ganzen Tag lang von ihrer eigentlichen Arbeit abgelenkt. Daher wollte sie die Aufgabe endlich erledigt wissen. Die Nacht mochte ungünstig sein – aber es würde ihr nicht helfen, noch länger abzuwarten. Mit einem Blick auf Rufus, um sicher zu sein, dass er nicht aufwachte, stahl sie sich aus dem Bett. Aus ihrem Zimmer nebenan holte sie ihren dunklen Mantel, mit dessen Hilfe sie sich aus dem Haus und dann durch das Tor schlich; hinter dem Lichtkegel, den die Fackeln warfen, atmete sie auf. Wieder einmal geschafft.             Doch entgegen ihrer Erwartung war Vincent nirgendwo anzutreffen. Sie war fest davon ausgegangen, dass auch er an einem Wiedersehen interessiert sein musste – warum sonst hatte er sie so auf ihre verbindende Vergangenheit hingewiesen? Aber egal, wo und wie lange sie suchte und wartete, er war nicht zu finden.             Yuffie kehrte an die Stelle zurück, in der sie sich in der Nacht zuvor über den Weg gelaufen waren, auch hier keine Spur. Über ihre Schulter aber schienen gerade die letzten Strahlen des grünlichen Glühens von unten aus dem Tal. Sie wandte sich um. Sollte sie ...?             Sie überquerte den Markt und verließ das Dorf in Richtung des Hügelrandes, an dem sie stehen blieb. Unten im Tal, auch dort, wo sie stand, bestens zu erkennen, breitete sich ein zweites kleines Dorf aus, eines aus großen und kleinen Zelten und, wenn sie sich nicht täuschte, sogar einem kleinen Haus, das nicht größer war als die größten Zelte des Lagers. Alles war hell erleuchtet von diesem seltsamen weißen Licht, dessen Ränder so grünlich waren. Dort unten musste Vincent zu finden sein.             „Nicht direkt“, hatte er gesagt, komme er aus dem Lager. „Aber irgendwie schon.“             Vielleicht war er also doch gar nicht dort. Und vielleicht war es diese Möglichkeit, die Yuffie an Ort und Stelle fesselte. Oder vielleicht war es doch die Aussicht, sich im Dunkeln an ein bewaffnetes Militärlager heranzuschleichen. Die Idee kam ihr wahnsinnig vor. Dennoch blieb sie stehen, anstatt umzudrehen und zurückzulaufen. Wenn sie nicht Nacht für Nacht für Nacht auf gut Glück nach Vincent suchen wollte, sah sie keine andere Möglichkeit, als zu ihm zu gehen. Aber irgendetwas, das wohl oder über sehr eng mit einer sehr bestimmten Erinnerung an einen Gewehrlauf zusammenhing, hielt sie davon ab, den Hügel herabzusteigen. Alles hatte seine Zeit. Und dies war nicht die richtige, um sich an einen Militärposten heranzuschleichen. „Ich glaube, Papa ist sauer auf mich.“             „Ach was.“             „Er schickt mich doch sonst nicht raus, nur weil es nichts zu tun gibt.“ Yuffie pausierte nachdenklich. „Außerdem gibt es immer irgendetwas zu tun.“             „Ich dachte eigentlich, Ihr wärt hier, weil Ihr gestern nicht da wart.“             „Woher soll er das denn wissen?“              „Ihr glaubt auch, wir würden nicht miteinander reden, oder?“ Tseng bedachte sie auf der Decke, die sie im Innenhof ausgebreitet hatten, um darauf sitzend ihre Brüder beim Spielen zu beobachten, mit einem verschmitzten Lächeln. Unwillkürlich erwiderte sie es erleichtert.             „Ja, stimmt, glaub ich“, sagte sie scherzeshalber. Tseng schüttelte amüsiert lächelnd den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf die Zwillinge, während Yuffie tief durchatmete. Also hatte ihr Vater sie nur früher entlassen, damit sie Zeit mit ihren Brüdern verbringen konnte, und nicht um sie loszuwerden, weil er noch immer genervt war. Beruhigt sank sie gegen Tsengs Schulter, woraufhin er ihr einen vorsichtigen Kuss auf ihr hochgestecktes Haar gab.             Bei Tseng waren die Dinge immer so entspannt. Sie musste nicht aufpassen, was sie sagte oder wie sie saß. Es war immer so gewesen, so lange, wie sie sich erinnern konnte: Was immer ihre Eltern gerade durchmachten, Tseng hatte Zeit für sie. Wenn sie, noch ein Kind, hinfiel und sich das Knie aufschlug, half Tseng ihr auf und wusch mit ihr den Kratzer aus; wenn sie Bauchschmerzen hatte, holte Tseng ihr Tee aus der Küche und strich ihr über den Kopf, bis es besser wurde; wenn etwas sie störte, konnte sie es ihm sagen, ohne dass er wütend wurde; wenn es ihr einfach nicht gut ging, konnte sie schweigend neben ihm sitzen und irgendwann ging es ihr wieder gut. Egal, woran sie sich erinnerte, irgendwo war Tseng, meist im Hintergrund, leise, aber dort, wo sie ihn sehen und wo er sie bestärken konnte.             „Hab ich dir gesagt, dass ich froh bin, dass du da bist?“, fragte Yuffie, wobei sie zu Tseng nach oben schaute. Der lächelte zwar, mied aber ihren Blick.             „Nicht sentimental werden, Prinzessin“, sagte er nur. Yuffie setzte sich wieder aufrecht hin. Mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie war sich nicht sicher, warum Tseng so abweisend war. Vielleicht war ihm dieselbe Erinnerung durch den Kopf gegangen wie ihr am Tag zuvor: Dass nicht viel gefehlt hatte und er wäre tatsächlich nicht mehr da gewesen. Wenn nicht ... Vincent ...             Sie seufzte. Sie war wieder bei ihrem alten Problem angekommen. Wie sollte sie ihn finden? Sie hatte natürlich einen Anhaltspunkt: das Militärlager. Rufus ging dort täglich ein und aus, theoretisch hätte sie ihn fragen können – aber nicht, ohne zu erklären, dass sie auf Vincent getroffen war, weil sie sich jede Nacht davonschlich. Selbst hingehen konnte sie auch nicht ohne Weiteres, weder tagsüber noch nachts.             Sie war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht möglich war, sich auch am Tage ungesehen aus dem Haus und bis zum Tor zu schleichen. Aber danach würde man sie irgendwann von der Mauer aus auf dem Weg zum Dorf sehen. Und falls das nicht, dann würden die Dorfbewohner sie unweigerlich irgendwann sehen, selbst wenn sie nicht durch die Straßen, sondern am Dorf vorbei lief. Und nicht nur sollte sie das Haus nicht ohne Grund verlassen, sondern auch das Dorf nicht ohne Anlass aufsuchen. Und das Militärlager war vollkommen verboten. Sie wusste das alles. Und dennoch suchte sie nichts weiter als das eine Schlupfloch, das es ihr erlauben würde, am Tag ins Tal hinabzusteigen, ohne erwischt zu werden.             Denn sie hatte es sich längst in den Kopf gesetzt, endlich ins Tal zu gehen, auf das sie schon so lange neugierig war. Zwar konnte sie sich nicht überwinden, sich dem Lager nachts im Dunkeln zu nähern, aber sie sagte sich, dass es tagsüber schon sicher sein würde; immerhin hatte es keine Vorfälle gegeben, seit es unten im Tal installiert war. Also würde ihr schon nichts passieren. Wenn sie nur einen Weg fand.             Ihren Vater einfach um Erlaubnis zu bitten war, wie sie am Vortag herausgefunden hatte, egal, was Tseng sagte, keine Option. Ihre einzige Möglichkeit bestand darin, sein Verbot zu umgehen, ohne dass er davon Wind bekam. Und wie das funktionieren sollte, das musste sie herausfinden.             Tseng holte sie aus ihren Gedanken, indem er sich neben ihr rührte und sich erhob. „Ich denke, wir wechseln besser nach drinnen, es gibt gar keinen Schatten mehr.“ Die Sonne war hinter dem Wald hervorgekommen und stand nun direkt über dem Dorf, sodass tatsächlich keine Schatten mehr in den Hof fielen. Während Tseng die Zwillinge ins Spielzimmer komplimentierte, erhob auch Yuffie sich.             „Ich bring die Decke wieder nach oben“, sagte sie, während sie diese gebückt zusammenfaltete. Tseng nickte ihr zu und sie gingen zusammen nach drinnen; Yuffie durchquerte das Spielzimmer und den Korridor und ging die Treppe nach oben, die ihrem Zimmer am nächsten lag. In ihrer kleinen Kammer legte sie die Decke oben auf ein Regal, ehe ihr Blick gewohnheitsmäßig zum Fenster ging.             Und dann kam ihr eine Idee.             Erneut eine wahnsinnige Idee.             Aber es war diese Idee, die ihr bisher am machbarsten erschien.             Was, wenn sie sich zum Tor stahl und dann an der Mauer entlangging und anschließend in den Wald lief, um in dessen Sichtschutz am Dorf vorbeizukommen, bis sie am Ende der Ebene angekommen war und unentdeckt den Hügel hinabsteigen konnte?             Wie in Trance schritt sie auf das offene Fenster zu und krallte die Hände in dessen Rahmen. Der Wald. Er sollte angeblich unfassbar gefährlich sein. Ihr ganzes Leben hatte sie das gehört. Eine dicke Mauer mit Wachen darauf umgab ihr ganzes Zuhause nur, um die Gefahren des Waldes draußen zu halten. Und doch war der Wald eine Möglichkeit, nicht gesehen zu werden. Eine potentiell tödliche Gefahr. Aber ansonsten hatte sie am Tage keine Option. Und nachts zu gehen, das hatte sie ja schon festgestellt, war ebenso potentiell tödlich. Also musste sie sich entscheiden, wo sie im Falle eines Falls lieber sterben wollte.             Und von einem Teil ihrer Heimat getötet zu werden kam ihr besser vor als von denen.             „Ich kann es wenigstens versuchen“, sagte sie sich abwesend. Wenn einer von denen wieder sein Gewehr auf sie richten sollte, würde es kein Zurück geben; sollte sie im Wald auf ein Hindernis stoßen, konnte sie vielleicht immerhin davonlaufen.             Ihre Hände, die noch immer den Fensterrahmen festhielten, begannen zu zittern.             Hiermit wurde es echt. Riskant. Wenn sie jetzt ging, lief sie so vielen Gefahren direkt in die Arme. Und alle konnten mit ihrem Tod enden, nicht zuletzt, wenn man sie erwischte. Natürlich würde man sie nicht töten im engsten Wortsinne. Aber einsperren. Oder unter ständige Bewachung stellen. Nie wieder würde sie dann unter den Sternen spazieren.             Bei dieser Vorstellung lief ein Schauer durch Yuffies gesamten Körper. Wenn es etwas gab, das sie bei Verstand hielt, dann war es das Wissen, sich zumindest nachts unbeobachtet und frei bewegen zu können. War es das wirklich wert? Sie schüttelte den Kopf und schob den Gedanken beiseite.             Es gab mehrere mögliche Wege. Sie konnte die Treppe nehmen, die sie heraufgekommen war. Danach konnte sie durch dieselbe Tür gehen, durch die sie allmorgendlich zum Badehaus lief – die Möglichkeit verwarf sie sofort: Beim Durchqueren des äußeren Hofs zum Tor würde sie garantiert von der Wache gesehen werden, die auf der Mauer patrouillierte. Stattdessen konnte sie durch den inneren Hof laufen: „Aber Karui und Teiso sind im Spielzimmer und Tseng könnte mich durch die offene Tür sehen“, widersprach sie sich selbst. „Im Esszimmer ist vielleicht noch niemand ... dann hinter den Büschen im Hof zum Ausgang ... das könnte klappen ...“             Die Treppe vor ihrem Zimmer schied also aus. Vorsichtig schob sie ihre Tür auf: Wie sie geahnt hatte, war niemand zu sehen. Ihr Vater war immerhin noch in seinem Arbeitszimmer unten, ihre Brüder unter Tsengs Aufsicht im Spielzimmer und Muttern lag wie eigentlich immer im Bett. Und genau an ihr musste Yuffie vorbei. Sie schob die Tür behutsam hinter sich zu, ging an der Treppe vorbei und schlich den Korridor entlang, der am Zimmer ihrer Eltern vorbeiführte. Bedächtig verharrte sie an der Tür, regungslos, ohne zu atmen. Eine Hand am Papier, lauschte sie.             „Mama ...“, hauchte sie in die absolute Stille hinein. Wie erwartet bekam sie keine Antwort. Sie ließ die Hand und den Kopf sinken. Ihre Atmung ging so leise wie möglich, als sie an ihre Mutter dachte, krank im Bett in der Dunkelheit, ungesehen, ungehört. „Mama.“ Sie hörte noch immer nichts. Sie musste ihren Weg zur anderen Treppe fortsetzen, die sie auf der anderen Seite herunterführen würde. Langsam, zögernd setzte sie sich in Bewegung. Am Ende der Treppe angelangt, sah sie wieder die offen stehende Tür zum Arbeitszimmer.             Ohne das kleinste Geräusch zu verursachen stahl sie sich wie sonst am Morgen ins Esszimmer, steckte allerdings erst probeweise den Kopf hinein: Es war richtig von ihr gewesen anzunehmen, dass noch niemand da war. Sachte setzte sie auf dem Reisstroh einen Fuß vor den andern und lief am Tisch vorbei zu der Schiebetür, die in den Hof führte: Hier hechtete sie hinters Gebüsch auf der rechten Seite, das Herz wild pochend, als sie durch die Blätter lugte: Durch die offene Tür auf der anderen Seite hörte sie die Stimmen ihrer Brüder aus dem Spielzimmer. Langsam schlich sie hinter dem Gebüsch an der Hauswand entlang, bis sie am Durchgang zum äußeren Hof ankam, der allerdings zwischen den Gemächern, Arbeits- und Aufenthaltsräumen der Palastbediensteten hindurchführte: Sie musste einige Momente warten, bis die Luft rein war.              Schnell schlich sie sich durch den Durchgang, und als sie im äußeren Hof angekommen war, drückte sie sich rückwärts an die Hauswand: Es war kein weiter Weg bis zum Tor, sie konnte es in wenigen Schritten erreichen, aber sie musste Acht geben, dass sie weder von drinnen noch von der Mauer aus entdeckt wurde: Falls irgendjemandem auffallen sollte, dass sie nicht auffindbar war, würde jedem, der sie hier draußen gesehen hatte, klar sein, dass sie sich weggeschlichen hatte, und dann würde es vorbei sein mit ihrer Freiheit.             Sie sah sich atemlos links und rechts um: Auf dem kurzen Weg zum Tor gab es keinerlei Deckung. Wenn sie es schaffen sollte, das Tor ungesehen zu passieren, würde sie an der Mauer entlangkrauchen müssen, allerdings musste sie zuerst zum Tor gelangen. Doch sich davonzustehlen war ihre leichteste Übung, es war ja auch niemand zu sehen … Einen Schritt nach dem andern wagte sie über das Grün. Sie musste sich nur –             „Prinzessin!“ Yuffie zuckte zusammen. Nicht ausgerechnet diese Stimme. Sie hatte nicht daran gedacht, hinter sich zu schauen, ob ihr jemand folgte. Ertappt drehte sie sich um. „Ich dachte, ich hätte etwas Rotes vorbeihuschen sehen. Wo wollt Ihr denn so plötzlich hin? Ich dachte, Ihr bringt nur die Decke weg?“, fragte Tseng sie skeptisch; er hatte die Arme missbilligend verschränkt. Genauso, wie sie sich für gewöhnlich ganz gut davonstehlen konnte, hatte er ein Talent dafür, wie aus dem Nichts aufzutauchen.             „Das hab ich auch. Ich wollte mich nur ein bisschen bewegen“, log Yuffie. „Nur ein wenig hin und her gehen, weißt du?“             Tsengs Augenbrauen hoben sich leicht. „Verständlich“, erwiderte er. „Immerhin habt Ihr den ganzen Tag gesessen …“             „Ja, genau“, stimmte Yuffie vielleicht etwas zu schnell zu. Sie verstand Tsengs Blick, den er ihr daraufhin zuwarf. Er hatte sie durchschaut. Sie versuchte, ihn mit großen traurigen Augen auf ihre Seite zu ziehen. Tseng seufzte irritiert auf.             „Ich vermute, Ihr befindet Euch auf Eurem Zimmer?“ Yuffie nickte begeistert. Tseng seufzte erneut tief, als konnte er nicht glauben, was er tat, aber er nickte mit dem Kopf in Richtung des Tores, durch das Yuffie eilends hindurchschlüpfte.             Sie begann die Luft ihrer Freiheit zu atmen. Langsam begann ihr Abenteuer, sie zu begeistern. Sie drückte sich leicht gebeugt mit dem Rücken an die Mauer und spähte ihren weiteren Weg aus. Sie musste sich nun links querfeldein zum Wald durchschlagen. Der Weg war nicht kurz, das Risiko, erwischt zu werden, nicht gering. Ihr Magen kribbelte. „Los geht’s!“, flüsterte sie sich selbst zu.             Sie drückte sich weiter an der Mauer entlang, die Augen immer auf den Waldrand gerichtet, der bedrohlich näherkam. Mit schnell schlagendem Herzen machte sie sich so klein wie möglich, kroch beinahe über das Gras, die Ohren jederzeit gespitzt: War das der Wind? Waren es Schritte? Atemlos verharrte sie, in ihrem roten Gewand deutlich zu sehen, sollte jemand vorbeikommen. Doch es waren wohl nur ihre Nerven. Flugs stahl sie sich weiter zum Wald hin, sie kam an die Biegung, die die Mauer machte, lugte um die Ecke: Auf dem Streifen Gras, der Mauer und Waldrand voneinander trennte, war nichts und niemand zu erkennen, keine tödliche Kreatur, aber auch kein Mensch.             Ihr Blick ging hoch an den Bäumen, die in ihren Augen hundertmal so groß wirkten wie sie selbst. All die Geschichten aus ihrer Kindheit kamen ihr wieder in den Sinn und sie war wie festgefroren. Noch konnte sie umkehren. Lieber riskieren, jemandem in die Arme zu laufen, als im Wald aufgefressen zu werden. Wenn sie die freie Wahl hatte, hätte sie sich natürlich für nichts davon entschieden. Aber nun stand sie hier, die Bäume vor ihr sicher so alt wie die Zeit selbst, und wer wusste schon, wie schrecklich die Geheimnisse zwischen ihnen waren. Sie war plötzlich gar nicht mehr so erpicht darauf, es herauszufinden.             Mit einem Mal hörte sie hinter sich doch eindeutig Geräusche, Stimmen diesmal: Bedienstete, die den Palast verließen. Panik überfiel sie, ihr Denken erstarb. Ihr Körper reagierte nur: Wenn sie nicht in ein paar Momenten gesehen werden wollte, musste sie jetzt rennen. Sofort.             In einem kopflosen Lauf überquerte sie den Streifen Gras, der sie noch vom Wald trennte, und machte nicht Halt, bis sie zwischen den Bäumen angekommen war, den sausenden Wind in den Ohren, die aufgewühlte Erde zwischen ihren Zehen. Keuchend verschnaufte sie zwischen den Bäumen. „Das war ja vielleicht doch gar nicht so schlecht“, sagte sie zu sich, als sie etwas zu Atem gekommen war. Sie horchte: Es schien nicht, als ob ihr jemand folgen würde.             Erleichtert richtete sie sich auf, ließ ihren Blick um sich herum schweifen, über die Bäume, durch den Wald. Und seltsamerweise konnte sie keine Bedrohung ausmachen. Behutsam wandte sie sich um und wollte gerade ein Stück weiter in den Wald hineinspazieren, als sie zu Tode erschrocken abrupt stehen blieb und sofort einen Satz zurückmachte: Beinahe wäre sie geradewegs in ein mächtiges Spinnennetz gelaufen, dessen Besitzerin, so groß wie Yuffies Gesicht, mittendrin prangte, zwei der Hinterbeine drohend erhoben.             „Ganz ruhig!“, sagte Yuffie zu der Spinne, während sie sich vorsichtig und langsam zurückbewegte, ohne aber den Schutz der Bäume zu verlassen. „Ich geh schon! Kein Grund, mich anzugreifen.“ Sie glaubte zu sehen, dass die Spinne sich beruhigt hatte, als sie den Wald fast wieder verlassen hatte. Endlich wagte auch Yuffie wieder Luft zu holen. Sie musste vorsichtiger durch den Wald laufen, allerdings musste sie auch tiefer hineingehen, damit die rote Farbe ihres Gewands von den Bäumen geschluckt wurde und nicht von außen gesehen werden konnte. „Ich hätte mich einfach vorher umziehen sollen“, murrte Yuffie.             Sie fand einen anderen Weg in den Wald hinein, ehe sie eine scharfe Wendung nach rechts machte und so in einigem Abstand parallel zu dem Pfad lief, der sie ansonsten ins Dorf geführt hätte. „Ich darf den Wald nicht zu früh wieder verlassen“, ermahnte sich Yuffie, während sie sich behutsam durchs Unterholz arbeitete. „Sonst sieht man mich vom Dorf aus, was ich ja gerade mit diesem Waldspaziergang zu vermeiden versuche.“ Yuffie fühlte sich zunehmend wohl zwischen den dicht stehenden Bäumen, zwischen den Vögeln, die davonstoben, den Echsen, die eilends davonliefen, den Blumen, die sich an den Stämmen entlangschlängelten. Nur wenn sie nach oben sah und zwischen den Baumkronen kaum etwas vom Himmel erkennen konnte, wurde ihr etwas mulmig: Es war fast, als wäre sie wieder von den Wänden und Mauern umgeben, denen sie gerade entflohen war.             Sie entfernte sich weiter und weiter. Es brauchte ein wenig kühlen Kopf, um abzuschätzen, wann sie weit genug gegangen war: Sie wusste, sie konnte den Weg zum Dorf im Schlaf finden, aber ihr Herz pochte derart schnell, ihr Verstand arbeitete plötzlich so blitzartig, dass schon eine Ewigkeit vergangen schien, als sie noch gar nicht lange unterwegs gewesen sein konnte. Sie musste ruhig bleiben. Alles richtig machen.             Alles richtig machen.             Yuffie grinste.             Alles richtig machen, das konnte sie.             Nun wusste sie: Sie würde noch ein Stück gehen, dann musste sie auf Höhe des Dorfes sein. Wenn sie dann noch einmal dieselbe Strecke zurücklegte, musste sie weit genug entfernt sein, um am Rande ihres Universums angekommen zu sein.             Die zweite Hälfte des Weges verging viel schneller als die erste. Langsam, immer darauf bedacht, niemandem in die Arme zu laufen, begab sie sich zurück zum Waldrand und steckte ihren Kopf nur ein wenig zwischen den Bäumen hervor: Wie sie erwartet hatte, war sie hinter dem Dorf herausgekommen, nah genug, um es zu sehen, doch weit genug entfernt, um nicht genau gesehen zu werden. Das Gras vor ihr ging allmählich in einen sanften Hügelabhang über und fiel ins Tal hinab, in die Feuerschale, die sie nachts so häufig bewundert hatte. Tagsüber glühte daran freilich nichts. Nur die Sonne am Horizont hinter dem Hügel begann langsam ihren Weg nach unten.             Bevor Yuffie aus dem Wald hervortrat, betrachtete sie ihre Situation: Sie war verbotenerweise davongelaufen, aber Tseng deckte sie, sie hatte den Wald durchquert, der seine ganz eigenen Gefahren barg, um nicht durchs Dorf laufen zu müssen, in das sie ohne explizites Anlegen nicht gehen sollte, und war nun sogar kurz davor, sich nach unten ins Tal zu begeben, wo sie erst recht nicht hingehörte, und ganz klar war ihr nicht, was sie unten erwartete.             Yuffie schaute ein Mal links und rechts, ob die Luft rein war, und verließ ohne groß nachzudenken, aber mit vor Aufregung wild pochendem Herzen den Wald. Kapitel 4: Bonus: Happy Birthday, Yuffie Kisaragi ------------------------------------------------- ~ The Best Starlight ~ „Mama, schau!“ So recht war nicht zu erkennen, was Mama Kisaragi genau anschauen sollte. Kasumi konnte nur raten, dass ihre Tochter ihr einen Tanz präsentierte, da sie, wenn auch unkoordiniert, ihre kleinen Gliedmaßen zappeln ließ und auf der Stelle hüpfte. Kasumi seufzte leise. Die Sterne und der Mond badeten Yuffie in ihrem silbernen Licht. Sie war noch immer aufgekratzt nach ihrer Rückkehr, doch Kasumis Erschöpfung war jenseits von allem, was sie kannte; ihr gekrümmter Körper ging buchstäblich ein wie eine Pflanze. „Mein kleiner Lotus“, sagte sie dennoch sanft. Yuffie hielt inne. Trotz der hereingebrochenen Nacht war im Innenhof noch genügend zu erkennen, dass Kasumi, im Gras sitzend, sehen konnte, dass Yuffie gespannt erwartete, was sie zu sagen hatte. Eigentlich hatte sie ihr überhaupt nichts sagen wollen, die Worte hatten sich einfach nur aus ihrem Mund ergossen, ohne dass sie darüber nachgedacht hatte. Sie streckte die Arme nach Yuffie aus, die auf sie zugerannt kam und sich in die Umarmung stürzte. Kasumi drückte ihre Tochter fest an sich, sodass ihr Herz gegen den kleinen warmen Körper an ihrer Brust pochte. Sie gab Yuffie einen Kuss auf das glänzende schwarze Haar und lockerte ihren Griff. „So, ich glaube, es wird langsam Zeit ...“, sagte sie dann. „Nein, Mama!“, bat Yuffie. „Lass uns noch tanzen, die Sterne sind so schön!“ „Mein Spatz“, sagte Kasumi mitfühlend. „Das können wir alles morgen noch machen, aber jetzt ist es spät. Denk noch an deine Muschel, bring sie hoch und dann geht es schlafen. Mama ist müde.“ Sie überreichte Yuffie die Muschel, die sie als Andenken mitgenommen hatten und die Yuffie vermutlich schon wieder fast vergessen hatte, dann stand sie auf und strich sich die Kleider glatt. „Komm, wir sagen noch Papa Gute Nacht.“ Und so nahm sie Yuffie an die Hand und brachte sie für die Nacht ins Haus. Kapitel 5: Hey (You) (Clouds Version) ------------------------------------- Durch das offene Fenster wehten die morgendlichen Geräusche des Militärlagers ins Zimmer hinein: Begrüßungen, Befehle, Wachablösungen, aber auch Fragen nach Kaffee und Frühstück. Ganz kam das Lager nie zur Ruhe, doch dem noch etwas verschlafenen Morgen wohnte ein Friede inne, den Cloud gerne beobachtete, ehe auch er seinen Tag startete. Als die Dämmerung genug Licht spendete, wurde die künstliche Beleuchtung nach und nach ausgeschaltet: Cloud nahm das als sein Signal, seine Uniform anzulegen und das Zimmer zu verlassen. Durch die offen stehende Tür, die seiner direkt gegenüber lag, sah er, dass Genesis wie immer noch im Bett lag. Er stieg die kurze, etwas steile Treppe herab. „Seph ist also schon wieder unterwegs“, murmelte er, als er die kleine Sitzküche im Erdgeschoss verlassen vorfand. „Erst mal Kaffee.“             Gerade, als Cloud sich die erste Tasse eingoss, öffnete sich die einzige Zimmertür im Erdgeschoss und herausgeschlichen kam eine junge Soldatin zweiten Ranges; als sie ihn bemerkte, wirkte sie etwas peinlich berührt.             „Elissa“, sagte er und versuchte, enttäuscht zu klingen. In Wahrheit fand er die Situation sehr erheiternd, weswegen er ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.             „Dir auch einen guten Morgen“, sagte Elissa mit einem Augenverdrehen. Dann lächelte sie ihn doch verlegen an.              „Kaffee?“, fragte er. Elissa nickte dankbar und kam zu ihm herüber, woraufhin er ihr eine Tasse eingoss und überreichte. „Genesis schläft übrigens noch oben – aber den kann sowieso nichts wecken, wenn er nicht aufstehen will, also mach dir keine Mühe, leise zu sein.“             „Ich hätte mich also unbemerkt rausschleichen können ...“             „Hier kannst du dich nicht unbemerkt rein- oder rausschleichen, irgendjemand ist immer da, um dich zu verurteilen.“ Elissas Blick sagte ihm unmissverständlich, dass er mit seiner eigentlich ironisch gemeinten Bemerkung etwas weit gegangen war. „Natürlich verurteile ich dich nicht, ich bin wirklich der Letzte, der ...“             „Ja, ja“, sagte sie, als sein Murmeln ohnehin schon am Verklingen war. Eine Stille entstand, da er nicht recht wusste, was er sagen sollte. Sie leerten ihre Kaffeetassen.             „Wenn du eh schon hier bist, können wir zusammen zum Frühstück rüber“, schlug er anschließend versöhnlich vor.             „Ich würd mich aber vorher gerne ein bisschen frischmachen gehen“, erwiderte Elissa, während sie mit einem Finger behelfsmäßig in die ungefähre Richtung wies, in der die Waschräume liegen mussten.             „Dann sehen wir uns drüben“, sagte Cloud, stellte die Tassen in die Spüle, ließ Elissa den Vortritt und schlug den Weg nach links zur Essensausgabe ein, während sie sich nach rechts wandte. Beim Frühstück setzte er sich zu Kunsel in eine Ecke. „Und, was ist deine Beschäftigungstherapie heute?“, fragte er und balancierte krümeliges Rührei auf seiner Gabel.             „Es wurde entschieden, dass wir mal wieder Gewaltmärsche üben müssen“, murrte Kunsel unmotiviert. „Bei ungefähr 40 Grad im Schatten.“             „Haha“, kommentierte Cloud schadenfroh.             „Und du?“             „Wache am Eingang, zwölf bis zwanzig.“             „Haha“, sagte Kunsel noch um einiges schadenfroher.             „Ja, hast recht, das ist sogar noch sinnloser, wenn das überhaupt geht“, räumte Cloud ein. Nach einer Weile stieß Elissa dazu. Sie fragten sie nach ihrer Tagesaufgabe.             „Ich bin erst morgen wieder eingeteilt, also denk ich, ich werd ein bisschen allein im Wald trainieren und dann im Dorf rumhängen, das Essen dort ist deutlich besser als hier und die Leute sind überraschend nett.“ Sie fing die fragenden Blicke der Männer auf. „Also, ich meine, dafür, dass wir hier quasi wie Besetzer auf ihrem Land leben? Findet ihr nicht?“             „Ich geh meist nicht hoch ins Dorf“, sagte Cloud, „blonde Männer sind da so was wie eine Attraktion und ich hab nicht so große Lust, mich anstarren zu lassen.“ Elissa und Kunsel lachten; den Rest des Frühstücks verbrachten sie abwechselnd in friedlichem Schweigen und mit etwas Smalltalk.              Pünktlich um zwölf bezog Cloud wenn auch etwas widerwillig seine Stellung am Eingang des Lagers; die Wache, die er ablöste, musste allerdings noch auf den Infanteristen warten, mit dem er eingeteilt war. „Marty, hi“, begrüßte er diesen, als er mit mehreren Minuten Verspätung auftauchte. „Wo ist nur die Disziplin der jungen Leute hin?“, rügte er ihn dann augenzwinkernd.             „Du bist doch selbst jung“, erwiderte Marty nur schulterzuckend, als sie sich vor dem Lagereingang aufstellten.                  „Ja, aber weißt du, ich bin verheiratet und habe Kinder, das macht mich innerlich ungefähr achtzig Jahre alt.“ Marty grinste; während die Sonne in ihrem Rücken in den folgenden Stunden über den Himmel wanderte, verbrachten sie die meiste Zeit in einer angenehmen Stille, in der sie sich beide hauptsächlich darauf konzentrierten, nicht vor Hitze zu zerfließen. Aus dem angrenzenden Waldstück neben dem Lager kam der Lärm von allen möglichen Tieren, denen Cloud nicht unbedingt begegnen wollte, aber nicht der kleinste Wind wehte durch die Blätter der Bäume.             Es war ihm höchst zuwider, ausgerechnet in der heißen Sonne Wutais am Lagereingang Wache zu stehen. In all der Zeit, die er hier verbracht hatte, war noch nie etwas geschehen, das es aus seiner Sicht nötig machte, den Eingang überhaupt zu bewachen. Sicherlich ging mehr Gefahr vom Wald aus mit seinen Spinnen und Schlangen als von irgendwo sonst.             Die Schatten wurden nach qualvollen Stunden langsam länger und eine leichte Brise setzte ein, die ihn unter seiner schwarzen Uniform zu kühlen begann, aber es war immer noch unerträglich. Es würde noch mindestens eine weitere halbe Stunde dauern, bis sich die ostwärts wandernden Schatten bis zu seiner Wachposition strecken und ihm Linderung verschaffen würden. Mit einem Seitenblick auf Marty überlegte er, wessen Uniform in dieser Sonneneinstrahlung wohl schlimmer war, seine eigene schwarze, die auch noch genug Haut zum Verbrennen freiließ, oder dessen zwar helle, die dafür aber den ganzen Körper einschloss und noch über einen Helm verfügte. Er konnte nur zu dem Schluss kommen, dass es höchste Zeit wurde, dass die Nachmittagssonne langsam gen Erde sank: Sein Gehirn fühlte sich nach fast sechs Stunden weichgekocht an.             Daher fragte er sich tatsächlich, ob er schon halluzinierte, als er oben auf dem Hügel vor dem Lager eine verschwommene Figur zu entdecken glaubte. Das Bild flimmerte in der heißen Luft wie eine Fata Morgana, weswegen er sich erst nicht sicher war, was er sah. Erst als die Figur etwa den halben Hügel herabgestiegen war, meinte er, in ihr eine schwarzhaarige einheimische Frau in einem farbprächtigen Kimono zu erkennen.             „Meinst du, die will zu uns?“, fragte Marty, nachdem sie beide die Figur eine Weile beobachtet hatten.             „Sie hält jedenfalls ziemlich direkt auf uns zu“, sagte Cloud ratlos. „Keine Ahnung, was sie hier in der Gegend sonst wollen würde.“ Je näher die Frau kam, desto mehr konnte er erkennen. Tatsächlich handelte es sich vielmehr um ein Mädchen: Ihr Kimono leuchtete von Weitem im selben Rotton wie Shin-Ras Firmenlogo herüber. Als sie näherkam, bemerkte er ihren sehr aufrechten, etwas steifen Gang, ihr Gesicht war beinahe gespenstisch weiß geschminkt und sie bewegte sich mit einer unverkennbaren Würde und Eleganz. Er überlegte, wo sie wohl herkam. Als sie am Fuß des Hügels angekommen war, bemerkte er allerdings, dass sie barfuß auf sie zuschritt, was ihn verwunderte. Er versperrte ihr den Weg.             „Was gibt’s?“, fragte er sie salopp und in der Hoffnung, dass sie bald wieder verschwand. Er musterte sie genau und blieb an den braunen Augen in ihrem kalkweißen Gesicht hängen, die sich auf einmal weiteten und erstrahlten. Verblüfft trat er unbewusst einen halben Schritt zurück.              „Ich kenn dich“, stellte sie fest und sie klang verträumt, als wären ihre Gedanken weit weg. „Weißt du nicht mehr?“ Cloud tauschte einen Blick mit Marty aus, der sich angespannt versteifte. Offenbar hatten sie den gleichen Gedanken, nämlich, ob dieses Mädchen als Ablenkung geschickt worden war, damit das Lager von anderer Seite angegriffen werden konnte. Cloud wäre vielleicht beunruhigt gewesen, wenn ihm diese Möglichkeit nicht so unfassbar unwahrscheinlich vorgekommen wäre. Er entschied sich, auf das Gesagte einzugehen.             Er schaute dem Mädchen noch einmal ins Gesicht. „Nein, gar nicht“, gab er zu. Vielleicht, wenn sie überhaupt meinte, was sie sagte, verwechselte sie ihn, auch wenn ihm nicht klar war, mit wem. So viele blonde Männer in seinem Alter und mit seiner Statur gab es wohl nicht in Wutai.             „Na ja, es ist auch schon etwas länger her“, sagte sie. „Aber da hast du auch Wache gestanden.“ Cloud begann zu dämmern, was sie meinte. Sein Geist setzte die Bausteine nur langsam zusammen. „Damals, während der Friedensverhandlungen. Du wolltest mich nicht reinlassen, weil ich zu klein war. Dann hab ich versucht, dich zum Spielen zu bewegen.“ Sie musste kichern und Cloud führte das Kind von damals und das Mädchen hier vor sich zusammen. Natürlich! Damals, als Wutai sich geschlagen geben und mit Shin-Ra verhandeln musste. Der Präsident war in den Palast geladen worden und hatte seine eigene Wache vor dem Verhandlungsraum aufgestellt. Cloud war sich so wichtig vorgekommen, damals als einfacher Infanterist ausgewählt worden zu sein, auch wenn seine Aufgabe, wenn man es genau betrachtete, nur aus Herumstehen bestanden hatte.             Und tatsächlich war irgendwann ein Mädchen aufgetaucht, das versuchte, sich in den Raum zu schleichen, doch sie war nicht erfolgreich gewesen, also bat sie ihn ganz offen, sie hereinzulassen, es sei ihr Vater, der dort verhandele. Cloud allerdings folgte den eindeutigen Anweisungen: niemand herein, niemand heraus. Das war nun lange her, dachte er bei sich – vielleicht sieben Jahre.             Das Mädchen von damals war also die Teenagerin, die jetzt vor ihm stand, die Prinzessin des Landes, und – soweit er informiert war, auch: „Die Frau vom Chef also, ja?“, fragte er kurz angebunden.             Sie nickte. „Yuffie.“             „Freut mich“, sagte er unbeeindruckt. „Ich denke nicht, dass Rufus im Moment abkömmlich ist.“             „Rufus ist nicht derjenige, zu dem ich möchte“, sagte Yuffie ruhig und unbeirrt.             „Sondern?“, fragte Cloud, jetzt doch etwas neugierig.             „Vincent Valentine“, sagte sie zu seiner immensen Überraschung. „Könntest du mir sagen, wo ich ihn finde?“             Cloud brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, was sie gesagt hatte. „Hör mal“, sagte er dann, „ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist.“             „Ich möchte nicht unhöflich sein“, sagte Yuffie mit einem etwas eingefrorenen Lächeln, „aber das war nicht meine Frage.“             Cloud verschlug es kurz die Sprache, doch dann lächelte er unwillkürlich. Diese Yuffie gefiel ihm. Er nickte also. „Na gut, wenn du unbedingt willst, führ ich dich hin.“             Yuffies Gesicht erstrahlte von Neuem. „Ich wäre äußerst dankbar.“             Cloud wusste nicht genau, was ihn trieb, vielleicht wollte er einfach nur aus der Sonne heraus, aber er bedeutete Yuffie, ihm zu folgen, wandte sich um und ging ihr voran zurück ins Lager. Sie nahmen den Weg geradeaus an der Essensausgabe vorbei, doch kurz bevor er um die Ecke bog, bemerkte er, dass Yuffie ein Stück zurücklag, weil sie sich umsah und offenbar versuchte, alle Eindrücke in sich aufzunehmen. Endlich schloss sie zu ihm auf. „Hier, ähm, sind die temporären Zelte, weißt du“, erklärte er ihr, „von denen, die nicht so lange bleiben?“             Sie nickte begeistert und schaute ihn wissbegierig an. Er entschied sich, fortzufahren.             „An der Ecke da gibt’s Essen“, sagte er mit einer überflüssigen Geste. An der Essensausgabe hatte sich die erste Schlange für ein frühes Abendessen gebildet und viele Gesichter wandten sich in Yuffies Richtung, die in ihrem blutroten Kimono doppelt und dreifach auffiel. „Und, was ich vorhabe, ist, also – es gibt im Lager dieses eine kleine Haus, wo wir wohnen, ich denke, da wird er sein, und wenn nicht, ähm – werden wir schon eine Lösung finden.“             „Sicherlich.“             „Hey, Strife!“, hörte er es aus der Schlange an der Ecke rufen. „Wen hast du denn da aufgegabelt?“              Cloud drehte sich um. „Das geht dich überhaupt nichts an, Diras, und jetzt verzieh dich.“ Doch Diras war nicht im Dienst und ließ sich von Cloud nichts sagen, nur weil er ranghöher war.             „Man wird ja wohl noch fragen dürfen. Na, Schätzchen?“, wandte er sich nun direkt an Yuffie. Die reagierte mit nichts als einem ehrlich irritierten Blick. Fasziniert beobachtete Cloud, wie Diras nach und nach in sich zusammensackte und schließlich das Feld räumte.             „Wo ihr herkommt, werden die Leute wohl nicht erzogen“, sagte Yuffie, als Diras verschwunden war.             „Ich hab keine Ahnung“, sagte er entschuldigend. „Aber das war tolle Zusammenarbeit.“             „Du willst sagen, ich habe zu Ende geführt, was du nicht geschafft hast.“             „Oder das, ja“, gab Cloud zu. „Na los, weiter.“ Sie kamen nun an den größeren, festeren Zelten vorbei, die, wie er Yuffie erklärte, denjenigen dienten, die länger in Wutai weilten und höhere Ränge bekleideten, und die vor allem etwas Schatten spendeten. Bevor der Pfad wiederum rechts abbog, sahen sie ein besonders großes, prächtiges Zelt. „Rufus‘ Büro, wenn du so willst“, sagte er, indem er darauf deutete.             „Ich war vorher noch nie hier“, sagte Yuffie mit einem langen Blick auf das Zelt. „Ich sehe das zum ersten Mal.“             „Wenn du kurz vorbeischauen willst, kann ich warten“, bot Cloud an – dann konnte er ein wenig im Schatten  abkühlen.             „Nein“, sagte Yuffie bestimmt. Als sie Clouds neugierigen Blick bemerkte, setzte sie ein Lächeln auf. „Aber vielen Dank. Ist es noch weit?“             „Nein, gar nicht, man sieht es schon von hier aus.“ Er deutete auf das einzige befestigte kleine Haus, das sich zwischen den Zelten erhob. „Mein Fenster ist das obere.“             „Das offene?“             „Sie sind, ähm ... – alle offen.“             „Oh, ja, richtig!“, rief Yuffie aus und lachte herzlich über ihren Fehler; sie wirkte plötzlich viel gelöster auf ihn.             „Im andern Zimmer sind ...“, setzte er an zu erklären, aber Genesis‘ und Sephiroths Namen würden Yuffie wohl nichts sagen. „Ist ja auch egal, aber worauf ich hinauswill, ist, dass das Zimmer unten praktisch unbewohnt ist, und Vincent benutzt es, wenn er da ist.“             „Benutzt?“, fragte Yuffie etwas ratlos. Es stimmte, dass Cloud absichtlich nicht „bewohnt“ gesagt hatte.             Er schaute ihr direkt in die Augen. „Du erinnerst dich, dass ich meinte, das wär eine schlechte Idee?“ Für einen Moment wich sie seinem Blick aus, doch kurze Zeit später erwiderte sie ihn erneut.             „Lass uns gehen.“ Cloud machte eine Handgeste, die Yuffie bedeutete, dass er ihr den Vortritt ließ; sie ging voraus, sicheren Schrittes auf die ebenfalls offene Haustür zu. Noch davor blieb sie allerdings stehen.             „Ach, hier seid ihr!“, sagte Cloud, als er aufgeschlossen hatte: Im Schatten neben dem Haus, zuvor verdeckt vom Zelt nebenan, saß Vincent mit Sephiroth auf zwei Bänken in ein Schachspiel vertieft, das den Großteil des Tisches zwischen ihnen einnahm. Beide blickten auf; Sephiroth ergriff als erster das Wort, während Vincent noch dabei war, Yuffie ins Auge zu fassen.             „Ja, das Phänomen nennt sich Schatten“, sagte Sephiroth trocken. „Cloud, was machst du hier? Du hast einen Posten.“             Cloud deutete behelfsmäßig auf Yuffie. „Ich hab einen Gast begleitet.“             Sephiroth zog eine skeptische Augenbraue hoch. „Dann hast du deine Aufgabe ja jetzt offensichtlich erledigt und kannst auf deinen Posten zurückkehren.“             Doch Cloud ließ sich nicht beeindrucken. „Ich wäre eine schlechte Wache, wenn ich sie unbeaufsichtigt durchs Lager spazieren lassen würde. Warum bist du überhaupt so angefressen – wieder am Verlieren?“             „Was, gar nicht!“, wehrte sich Sephiroth trotzig.             „Oh, doch, sehr wohl“, warf Vincent gnadenlos ein. Sephiroth warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sagte aber nichts weiter dazu, sondern richtete das Wort wieder an Yuffie.             „Und was will dieser unser Gast?“             Auch Cloud, der sich darüber bisher eigentlich keine genaueren Gedanken gemacht hatte, wandte sich interessiert Yuffie zu, obwohl er eigentlich erwartete, dass sie Vincent um ein Wort unter vier Augen bitten und er so überhaupt nicht erfahren würde, was ihr Anliegen war. Zu seinem Erstaunen antwortete sie allerdings: „Ich bin hier, um mich zu bedanken.“             „Ach?“ Die Überraschung auf Vincents Gesicht überzeugte Cloud nicht.             „Ich weiß wieder, woher wir uns kennen“, fuhr Yuffie unbeirrt fort, „auch wenn es lange her ist. Damals nach Kriegsende hast du meinen Onkel vor der sicheren Hinrichtung bewahrt, für diesen Akt der Gnade bin ich aufrichtig dankbar.“ Sie verbeugte sich leicht in Vincents Richtung. Cloud staunte nicht schlecht.             „Ich dachte mir, dass es dir wieder einfallen würde.“             „Du musst wissen, meine Familie verlässt sich sehr auf meinen Onkel“, erklärte Yuffie, wieder aus ihrer Verbeugung aufgetaucht. „Sein Tod hätte für uns einen Verlust jenseits jeder Vorstellung bedeutet. Wenn wir jemals etwas tun können, um uns zu revanchieren, lass es mich wissen.“             „Ich komm drauf zurück“, sagte Vincent, klang allerdings nicht, als ob er es ernst meinte. Cloud beobachtete, wie Yuffie sich nun etwas unbeholfen umschaute. Er wollte ihr anbieten, sie nun wieder nach draußen zu begleiten, da sie offenbar erledigt hatte, weswegen sie gekommen war, aber Vincent kam ihm zuvor. „Möchtest du dich nicht setzen?“, fragte er Yuffie. Sein schadenfroher Blick richtete sich auf Sephiroth. „Ich bin dabei, meinen Sohn Demut im Angesicht der sicheren Niederlage zu lehren.“ Sephiroth warf ihm einen gehässigen Blick zu.             Yuffie allerdings setzte sich tatsächlich zögernd auf die Bank neben Vincent und schaute Sephiroth etwas verwundert an. Dem fiel es offenbar ein, sich vorzustellen: „Seph.“             Yuffie lächelte erfreut und nannte ihren Namen. Sephiroth wandte sich wieder zu Cloud um. „Ich erinnere dich noch mal an deinen Posten.“             Cloud überlegte nicht lange. „Ich bin hier der Bodyguard“, sagte er scherzhaft mit erneutem Verweis auf Yuffie.             Sephiroth gab sich geschlagen und ließ Cloud neben sich Platz nehmen. „Der ewige Rebell“, kommentierte er.             „Sei doch ehrlich, das ist das, was du an mir am meisten liebst“, neckte Cloud ihn. Sephiroth lächelte und wandte sich wieder dem Spiel zu.             „Ich kann das aber noch gewinnen“, sagte er knapp.             „Wenn du meinst“, erwiderte Vincent mit einem spöttischen Lächeln.             „Nein, das war eher als Frage gemeint“, gab Sephiroth zu. Vincent lächelte zufrieden. Sephiroth betrachtete angestrengt das Brett.             „Wie bewegt man die Figuren?“, fragte Yuffie dazwischen.             „Alle unterschiedlich“, sagte Vincent leise und zeigte auf die verschiedenen Figuren, während Sephiroth sich weiterhin intensiv konzentrierte. „Die Bauern hier nur jeweils ein Feld nach vorn, den Turm hier nur gerade, aber so weit, wie du willst, die Dame uneingeschränkt in alle Richtungen, der Läufer diagonal, und so weiter.“             Yuffie stützte sich interessiert auf den Tisch auf und studierte nun ebenfalls das Brett, auf dem bereits viele Figuren geschlagen waren. „Und was ist das Ziel?“             „Den König bewegungsunfähig zu machen“, sagte Vincent und deutete auf die entsprechende Figur. Yuffie versank in stiller Nachdenklichkeit; offensichtlich machte sie sich Gedanken, wie ein Schachspiel funktionierte. Cloud fand das alles andere als spannend.             „Kann ich dir einen Kaffee anbieten?“, fragte er Yuffie, die aus tiefen Gedankengängen aufzutauchen schien. Sie schaute ihn mit großen Augen an.             „Was ist Kaffee?“             Cloud fasste die Frage nicht ganz. „Ist das ein Witz?“, fragte er.             „Bist du Starbucks?“, sagte Sephiroth unerwartet, aber ohne vom Schachbrett aufzuschauen. „Dann gib ihr einen Tee.“             „Schon gut, schon gut“, sagte Cloud und stand auf.             „Aber wenn du gerade eh dabei bist ...“, sagte Sephiroth dann noch.             „Ok“, sagte Cloud augenverdrehend. Drinnen schaute er aus dem Fenster, während das Wasser zu kochen begann.             „Und kann man mit jeder Figur anfangen?“, hörte Cloud Yuffie fragen.             „Nein, du kannst nicht über deine eigenen Figuren drüber springen, außer mit dem Reiter hier ...“ Yuffie ging völlig im Erlernen des Spiels auf. Sie zeigte begeistert auf Figuren und fragte, was passieren würde, wenn sie sie bewegte. Cloud fiel auf, dass Sephiroth, der seinen Zug immer noch nicht getan hatte, ebenfalls aufmerksam zuhörte. Cloud hingegen kehrte zu dem kochenden Wasser zurück und goss es in zwei Tassen. Während der Tee zog, konnte er immer noch Yuffies Stimme und Vincents leises Brummen im Wechsel zum Fenster hereinwehen hören. Schließlich brachte er die Tassen nach draußen.             „Ach so, der“, sagte Yuffie gerade zu Sephiroth. „Von dir hab ich schon mal gehört – man kann also wirklich nicht sagen, ich würde mich in Gesellschaft von Fremden befinden.“             „Wohl nicht“, erwiderte Sephiroth mit einem irritierten Lächeln. Cloud stellte den beiden den Tee hin, den sie dankend annahmen. Er setzte sich wieder dazu.             „Und was machst du sonst so, wenn du gerade nicht von Nicht-Fremden Schach lernst?“, fragte Cloud rundheraus. Yuffie blinzelte ihn an, als hätte er sie auf dem falschen Fuß erwischt.             „Nun ja“, sagte sie und begann ihre Hände im Schoß zu kneten. „Ich helfe meinem Vater, Angelegenheiten zu regeln, die unser Volk betreffen. Wenn er einmal ... nicht mehr ist, übernehme ich das alleine.“ Sie schaute niemandem von ihnen in die Augen, sondern richtete ihren Blick auf die Tischplatte und sagte nichts weiter dazu. Cloud fing Sephiroths Blick auf.             „Und ... hast du sonst keine Hobbies?“, hakte er noch einmal nach. Ihm war sehr wohl klar, was sie als Prinzessin zu tun hatte.             „Hobbies?“, fragte Yuffie ratlos.             „Na ja, irgendwann am Tag werdet ihr fertig sein, oder? Was machst du danach?“             Yuffie zögerte merklich. „Meistens sitze ich nur im Garten oder drinnen und schaue meinen kleinen Brüdern beim Spielen zu.“ Es folgte eine etwas peinliche Stille, in der Yuffie ihrer alle Blicke mied.             „Man hört, du bist verheiratet?“, fragte Sephiroth schließlich.             „Ja“, bestätigte Yuffie mit einem düsteren Gesichtsausdruck. Zögernd legte sie ihre rechte Hand auf den Tisch, um ihren Ring zu zeigen.             Cloud überlegte nicht lange. Auch er hob seine linke Hand. „Hey, ich hab auch so einen“, sagte er und hielt seinen Ehering neben Yuffies. Wie er gehofft hatte, lachte sie daraufhin und war wieder fröhlich. „Du kannst einfach öfter hier rumhängen, dann hast du was anderes zu tun.“             Yuffies geweitete Augen richteten sich auf ihn. „Wirklich?“             Cloud wandte sich an Sephiroth. „Was meinst du?“             „Klar, warum nicht.“ Er zuckte die Schultern und schaute Cloud unberührt an. Dann richtete er sich an Yuffie.  „Es ist ja dein Land, nicht meins.“             Yuffie schürzte die Lippen. „Shin-Ra und Wutai sind vereint, es ist also genauso dein Land wie meins“, sagte sie in einem kalten, abweisenden Ton. Die flirrende Luft war zum Zerschneiden dick. Es war Vincents ruhige Stimme, die durch das Schweigen drang.             „Und dennoch wird Shin-Ra hier in spätestens einem Jahr verschwinden.“             „Und das sind Informationen, die das Lager nicht zu verlassen haben“, sagte Sephiroth missbilligend, doch Vincent schien unbeeindruckt.             „Und du glaubst wirklich, dass das Informationen sind, die nur in diesem Lager zirkulieren?“, fragte er, ohne den Blick von Sephiroth abzuwenden.             „Natürlich weiß meine Familie davon“, warf Yuffie ein. „Rufus hat im Grunde nur darauf gewartet, dass sein Vater stirbt, um endlich mit dem Plan zu beginnen und das Lager abzubauen.“ Sephiroth starrte Vincent weiterhin stur nieder.             „Also ...“, sagte Cloud unbeholfen. „So oder so werdet ihr uns dann los. – Und ich kann’s auch kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen ...“ Sephiroth gab es auf, Vincent mit Blicken zu töten.             „Oder mal wieder in Banora sein ...“             Yuffie sah sich in der Runde um, während Cloud und Sephiroth in Wunschvorstellungen schwelgten. „Im Moment will ich euch gar nicht loswerden.“             Cloud war überrascht angesichts dieser plötzlichen Offenbarung. Yuffies Gesicht wirkte in diesem Moment unter der weißen Farbe so ehrlich und verletzlich. Ihre großen braunen Augen waren die eines einsamen Kindes. Cloud erwiderte ihre Offenheit mit einem Lächeln. „Warte lieber ab, du findest uns im Moment nur nett, weil wir dir Tee gegeben haben.“ Und wieder hatte er Yuffie zum Lachen gebracht. Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und wandte sich mit den andern dem Schachbrett zu.             Die Sonne wanderte weiter in Richtung Westen und abwärts und der kühle Schatten neben dem Haus wuchs, während Yuffie sich von Vincent und Sephiroth die Schachgrundlagen erklären ließ und das eine oder andere Testspiel wagte. Cloud gefiel es, den dreien zuzuschauen und nach einem langen sonnigen Tag im Schatten abzukühlen. Sephiroth erfuhr gerade wieder eine haarsträubende Niederlage, als Cloud bemerkte, dass Yuffies Blick an ihm vorbeiging. Urplötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. Als er sich umdrehte, sah er als erstes einen in der Sonne strahlenden weißen Anzug.             „Yuffie!“ Rufus kam in offenbar ungläubiger Freude auf sie zu. „Dich hab ich hier ja noch nie gesehen.“             „Ich lerne Schach“, sagte Yuffie und verwies überflüssigerweise auf das Brett auf dem Tisch.             „Seh ich“, sagte Rufus. Er schaute sich in der Runde um, bis sein Blick auf Cloud fiel. „Und hab ich dich vorhin nicht woanders gesehen?“             Cloud versuchte es ein drittes Mal mit seiner Ausrede: „Ich bewache deine Frau.“             Rufus sah nicht aus, als ob er es ihm abkaufen würde. „Wofür bezahl ich dich noch mal?“             „Keine Ahnung“, sagte Cloud ertappt. Bevor es Ärger gab, fügte er hinzu: „Wir wollten eh gerade gehen.“             Yuffie verstand glücklicherweise und stimmte ihm zu. „Es war schön“, sagte sie zu Vincent und Sephiroth und es war Cloud schmerzlich klar, wie gerne sie geblieben wäre. Sie erhob sich und als sie mit Rufus und Cloud wieder in Richtung Lagerausgang lief, drehte sie sich noch mehrmals um, ehe sie ihren Blick fest nach vorn richtete.             „Was hat dich eigentlich hergeführt?“, fragte Rufus plötzlich neugierig. Cloud warf Yuffie einen gespannten Seitenblick zu, doch soweit er sehen konnte, verzog sie keine Miene.             „Ich hab Cloud besucht“, sagte sie zu seiner Überraschung.             „Ach ja?“, fragte auch Rufus erstaunt.             „Ja, wir haben festgestellt, dass wir uns von früher kennen.“              „Ah“, sagte Rufus nur, offensichtlich nicht überzeugt. „Wann genau soll dieses Früher gewesen sein?“             „Ewig her, ich hätte sie fast nicht erkannt.“ Auf diese Bemerkung hin blieb Rufus stehen und auch Cloud, den Rufus sehr genau beobachtete, hielt inne. Rufus war ein wenig größer als Cloud, doch er ließ sich nicht einschüchtern, auch als er einen Schritt näher kam. „Was ist, willst du dich irgendwie mit mir anlegen oder so?“ Rufus antwortete nicht, sondern taxierte ihn nur weiterhin, während Cloud versuchte, sich nicht provoziert zu fühlen.             Yuffie kam zu ihnen zurück; sie musste gemerkt haben, dass sie ihr nicht mehr folgten. Sie stellte sich zwischen sie beide und wandte sich langsam, ebenfalls wortlos, in Rufus‘ Richtung, den Rücken zu Cloud, sodass sie schützend vor ihm stand. Rufus schaute sie an und wich zurück. „Quatsch, wie kommst du auf so was“, sagte er schließlich zu Cloud und gemeinsam folgten sie Yuffie weiter zum Ausgang, wo Marty schon ungeduldig wartete.             Cloud verabschiedete Yuffie und Rufus wenige Momente später. Er sah sie den Hang hinaufgehen, weiß und rot nebeneinander, und als Yuffie sich ein letztes Mal zu ihm umdrehte, spürte er, obwohl sie schon viel zu weit weg war, um es zu sehen, die Sehnsucht in ihrem Blick. Kapitel 6: Untouchable (Yuffies Version) ---------------------------------------- Als sein Wachdienst endlich wirklich um war, schleppte Cloud sich wieder heim. Vincent war nirgends mehr zu sehen, doch Sephiroth saß mit einer neuen Tasse Tee und einem Buch am Tisch in der Essküche, durch die mittlerweile ein angenehmer Zugwind wehte. „Na“, begrüßte ihn Sephiroth. „Ist dein Dienst jetzt auch wirklich vorbei?“ Cloud hatte nur einen bösen Blick für ihn übrig. „Kaffee?“             „Um die Uhrzeit?“, fragte Cloud. Sephiroth zuckte nur die Schultern. Cloud gab schließlich nach: „Ja, bitte.“ Und er ließ sich auf einen Stuhl sinken, während Sephiroth eine Tasse hervorholte.             „Was hast du von der ganzen Sache gehalten?“, fragte er Cloud, als er ihm den fertigen Kaffee vorsetzte.             „Ich glaub, irgendwas versteh ich nicht“, sagte er müde, die Hände um die Tasse gelegt. „Ich denke nicht, dass es normal ist, dass eine Prinzessin höchstpersönlich irgendwo auftaucht. Und als ich sie weggebracht hab und Rufus wissen wollte, was sie hier macht, tischt sie ihm eine glatte Lüge auf.“             „Soll heißen, sie wollte nicht, dass Rufus weiß, dass sie eigentlich meinen Vater aufgesucht hat“, schlussfolgerte Sephiroth. „Jetzt zähl zwei und zwei zusammen.“             „Ew“, sagte Cloud. „Ich weiß nicht, vielleicht ist Rufus auch einfach ein unangenehmer Zeitgenosse und neigt zur Eifersucht. Was ich aber denke, ist, dass wir sie im Auge behalten sollten.“             „Sicher keine schlechte Idee“, stimmte Sephiroth zu, die Augen aufs offene Fenster gerichtet. „Sie kam mir etwas einsam vor. Etwas wie ich in dem Alter. Ich denke nicht, dass sie Freunde hat.“             „Kann gut sein“, räumte Cloud ein. Er war zu erschöpft, um sich Gedanken über all diese Dinge zu machen. „Ich mochte sie jedenfalls.“             „Was mir allerdings Sorgen macht“, sagte Sephiroth, „ist, wenn sich diese arme Frau wirklich mit meinem Vater einlässt ...“             Cloud fühlte seine Lebensgeister wieder erwachen, als er an seinem Kaffee schlürfte. Mittlerweile war die Sonne untergegangen und draußen dämmerte es. Als es gänzlich dunkel zu werden drohte, öffnete sich das Gitter an der Tür und Genesis erschien.             „Hal-lo, schöner Mann“, begrüßte ihn Sephiroth überschwänglich, worauf Genesis nur ungeduldig die Augen verdrehte. „Wir haben uns heute eine neue Freundin angelacht“, fuhr Sephiroth ohne Umschweife fort.             „Spannend“, sagte Genesis abwesend, doch Sephiroths Lächeln wich nicht. „Entschuldigt ihr mich dann?“, fragte Genesis dann und stieg die Treppe nach oben.             Cloud warf Sephiroth einen ratlosen Blick zu. „Redet ihr noch manchmal?“             „Siehst du doch“, sagte Sephiroth verstrahlt.             „Tja, was frag ich eigentlich?“, sagte Cloud und leerte seinen Kaffee. Ja, was fragte er eigentlich ... Im letzten schwindenden Sonnenlicht reflektierte Yuffie ihren Tag. Sie hatte Rufus überzeugen können, dass sie nicht gesehen werden durften, und sie hatten es gerade rechtzeitig zum Abendessen zurückgeschafft. Soweit sie es überblicken konnte, war ihre Abwesenheit außer Tseng niemandem aufgefallen. Sie dachte an das Angebot, das Cloud ihr gemacht hatte. Ganz war ihr nicht klar, wie sie es annehmen sollte, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Aber sie spürte tief in sich, so sicher wie der nächste Sonnenaufgang, dass sie es sehr, sehr gerne annehmen wollte. Dort unten, in dieser anderen Welt, unter all diesen halb-fremden Leuten war etwas mit ihr geschehen, sie wusste nicht, wieso, aber all der Druck und die Anspannung, die sie mit ihrem Zuhause verband, waren von ihr abgefallen, und sie hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben gefühlt, als hätte sie so etwas wie –             „Na?“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Rufus kam über das Gras des Innenhofs auf sie zu und setzte sich zu ihr auf den Boden. Sie lächelte ihn an. „Das war schön heute.“             „Ich hätte nicht dort sein dürfen“, sagte Yuffie sofort.             „Deswegen ja auch der Umweg.“ Yuffie schaute ihn gespannt an, woraufhin Rufus etwas irritiert wirkte. „Was? Willst du, dass ich dir sage, wie böse du warst? Ich kann dich vollkommen verstehen, ich würde auch nicht immer nur die ganze Zeit hier bleiben wollen.“              Yuffie legte erstaunt den Kopf schief. So etwas hatte sie noch nie gehört.             „Ich müsste dann noch ein bisschen ins Archiv“, sagte Rufus, richtete sich halb auf, beugte sich aber noch zu Yuffie herab. „Tust du mir einen Gefallen und bleibst nicht allein im Dunkeln hier sitzen?“ Yuffie nickte. Rufus überbrückte die Distanz zwischen ihnen und küsste sie sanft auf die Lippen, was sie für einige Momente mit geschlossenen Augen ebenso zärtlich erwiderte. Als Rufus sich daraufhin erhob und an ihr vorbei auf die Tür des Archivs zuschritt, schaute sie ihm nach, sein blondes Haar und seine weiße Kleidung waren umgeben von dem hellen Licht, das in der Bibliothek noch brannte; dann schob er die Tür hinter sich zu und war verschwunden. Yuffie dachte nach.             „Ich weiß jetzt, wie es geht“, sagte sie schließlich. „Wenn mir wieder danach ist, werd ich den Weg schon wiederfinden.“ Sie erhob sich und schickte sich an, ins Bett zu gehen nach diesem langen Tag. „Ich sollte nur aufpassen, dass ich es nicht zu weit treibe ...“ Kapitel 7: Superstar (Yuffies Version) -------------------------------------- Yuffies neueste Erlebnisse gaben ihr für die nächsten Tage Kraft: Sie schaffte es, früh aufzustehen, sogar ein wenig zu essen und durch den Tag zu kommen, ohne vollkommen zu verzweifeln. In dem Wissen, dass sie ausbrechen konnte, wenn es ihr schlecht ging, biss sie sich durch ihren Alltag, egal, wie oft sie denselben Leuten das Gleiche sagen, auf die immer gleichen Klagen dasselbe versprechen musste. Und danach saß sie abends bei ihren Brüdern und Tseng, manchmal mit Rufus, und dachte an alles, was sie gesehen hatte: ein ganzes Zeltlager voll mit Menschen, die sie noch nie gesehen hatte, kleine Zelte, größere Zelte, ein Zelt so groß wie ein kleines Haus und rot verziert, Menschen, Frauen und Männer, überall, und alle sahen sie so anders aus ...             Und sie dachte an Cloud; Cloud, den sie nach so vielen Jahren wiedergefunden hatte und der sie wohl noch immer für ein Kind hielt, dabei waren sie mittlerweile beide verheiratet. Sie fragte sich, ob Cloud selbst wohl Kinder hatte; sie wusste, von ihr wurde eines erwartet, seit sie verheiratet war, doch es grauste ihr ...              Und manchmal, da dachte sie auch an Vincent, vor allem nachts, wenn sie sich davonstahl und nach ihm Ausschau hielt. Wäre sie ihm nicht begegnet und hätte er nicht so geheimnisvoll getan, überlegte sie, wäre sie wohl nie den Hügel herabgestiegen. Sein Verhältnis zu seinem sogenannten Sohn hatte sie nicht ganz verstanden. Ohnehin, „Sohn“, was für ein seltsamer Witz war das? Vincent und Sephiroth mussten gleich alt sein. Alles in allem war vieles offen geblieben, was einen weiteren Besuch für sie unumgänglich machte. Sie musste nur den richtigen Moment abpassen.             Dieser richtige Moment allerdings ließ auf sich warten. Es vergingen weitere Tage, an denen sie zwar aufstand, aber zunehmend widerwillig; sie schluckte so wenig wie möglich vom Frühstück; sie quälte sich durch Besprechungen, Planungen, Gespräche, Verhandlungen, und als sie fertig war, lag sie wie tot.             Und so hing Yuffies Blick ein Mal mehr an der Decke über ihren Polstern. Die Zimmerdecke war dunkel, aus Holz, mit verworrenen Mustern verziert, die sich vor ihren Augen wanden und drehten. Wieder einmal lag sie da, erschlagen von einem erneuten Tag, unfähig auch nur einen Arm zu heben.             Irgendwann wurde die Tür aufgeschoben. Yuffie wandte den Kopf ein wenig zur Seite, doch es dauerte, bis sie verstand, dass Rufus vor ihr stand. „Na?“, sagte er und setzte sich zu ihr aufs Polster. Sie antwortete nicht, betrachtete ihn nur mit diesem leeren Blick. „Es gibt bald Abendessen, ich soll dich holen.“             „Ich hab eigentlich keinen Hunger“, hörte Yuffie sich mit kleiner Stimme sagen.             Rufus zuckte die Schultern. „Hauptsache, du bist da.“             „Kommt Mama?“, fragte Yuffie unvermittelt.             „Tseng schaut nach ihr, aber ich denke nicht, dass sie ...“ Ungebeten tauchten in Yuffies Gedanken Bilder auf, von einem dunklen Raum, einer einsamen Figur in einem zu großen Bett, den Blick starr auf die Decke gerichtet, dennoch nichts sehend ...             „Hilfst du mir hoch?“, fragte Yuffie kraftlos und stemmte sich vorsichtig auf. Rufus zog sie sanft auf die Beine und hielt sie fest.             „Geht’s?“, fragte er. Yuffie nickte; sie spürte Leben in ihre Glieder strömen, doch da war immer noch dieses Etwas ... so etwas wie eine dunkle Hand, die sie zurückhalten wollte ... „Sollen wir vielleicht auch nach Kasumi sehen?“, fragte Rufus plötzlich. Yuffie blickte auf. Er war schon an der offenen Tür und zeigte über den Korridor.             Yuffie erschauderte bei dem Gedanken. „Lieber nicht“, sagte sie und schloss zu Rufus auf, sodass sie gemeinsam die Treppe nach unten gehen konnten. Im Esszimmer war nur ihr Vater zugegen, das Mahl war noch nicht aufgetragen.             „Deine Brüder werden noch gewaschen“, erklärte er ihnen, „wir müssen ihnen unbedingt beibringen, nicht den ganzen Tag in der Erde zu spielen. – Rufus, deine Frau hat heute wieder außergewöhnliche Arbeit geleistet, alle waren begeistert, wie ruhig sie allem Anschein nach unlösbare Probleme angeht.“              Yuffies Blick war fest auf den leeren Tisch gerichtet; sie spürte Rufus‘ Arm um ihre Taille und seine Lippen an ihrer Stirn. „Das glaub ich dir, sie ist super.“ Yuffie war danach, um sich zu schlagen und zu schreien. Stattdessen lächelte sie, als wäre sie berührt.             „Mama kommt heute wieder nicht?“, fragte sie dann.             Ihr Vater seufzte. „Ich war heute bei ihr“, sagte er sehr leise. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie das ... mitbekommen hat.“             Yuffies Magen zog sich mit einem Mal zusammen, als sie das hörte, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie merkte, wie warm ihr war, sie wollte am liebsten gehen, wohin, wusste sie nicht, nur aufstehen und ...             „Entschuldigt die Verspätung“, hörte sie es von der Tür sagen; sie wandte sich um. Tseng war mit den Zwillingen eingetreten, die auf ihre Plätze zueilten. Yuffie beobachtete die Szene, um aus dem Morast ihrer Gedanken aufzutauchen.             „Hallo, ihr beiden“, sagte sie betont fröhlich, langsam befreit von ihrer Beklemmung. „Ich hab gehört, ihr habt heute wieder die Erde umgegraben, stimmt das?“ Tseng ließ sich auf seinen Platz zwischen ihren Brüdern nieder und Bedienstete servierten das Abendessen.             Yuffie stocherte mit ihren Stäbchen im Reis, während die andern begeistert speisten und redeten, doch Yuffie, in Gedanken bei ihrer Mutter und ihrem eigenen Zustand, sagte noch immer nichts, wenn nicht angesprochen. Die Unterhaltung kam ihr im Kontrast unsinnig vor; sie hatte die Augen auf Tsengs Gesicht geheftet wie an jenem anderen Tag. Sie wartete nur darauf, dass die Mahlzeit beendet wurde. Dieser Tag musste der richtige Moment werden.             „Tseng?“, flüsterte sie im allgemeinen Aufbrechen, nachdem alle Stäbchen abgelegt und alle Platten und Schüsseln abgeräumt worden waren. Vorsichtig berührte Yuffie Tsengs Ärmel, als er schon im Gehen begriffen war. Verwundert drehte Tseng sich um. Yuffie war entschlossen „Kann ich dich kurz was fragen? Draußen?“             Unbemerkt schlichen sie sich hinaus; Yuffie konnte den Wald und in der Ferne das Badehaus sehen. Tseng wandte sich ihr zu. „Prinzessin, was gibt es? Ist alles in Ordnung?“             „Ja, ich ... ich brauch nur deine Hilfe.“ Yuffie hatte das Gefühl, dass Tseng sie sehr genau betrachtete. „Du musst mich wieder decken, wenn ich rausgehe.“             „Noch einmal?“, fragte Tseng ungläubig. „Prinzessin, was soll das werden? Nein.“             „Was soll das heißen, ‚nein‘?“             „Beim letzten Mal dachte ich, Ihr wärt kurz weg und kämet gleich wieder. Aber Ihr wart sehr lang weg. Könnt Ihr Euch denken, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Euch hätte sonst etwas zugestoßen sein können.“             Yuffie hörte von diesen Sorgen zum ersten Mal. „Aber es ist ja nichts passiert.“             „Und wie soll ich es Eurem Vater erklären, wenn doch?“             „Tseng, was glaubst du denn, was ich tue?“, fragte Yuffie, die Tsengs Reaktion vollkommen überzogen fand.             „Das möchte ich überhaupt nicht wissen“, versetzte Tseng. „Ich heiße es nicht gut, wenn Ihr das Gelände verlasst, und ich möchte Euch inständig bitten, es nicht zu tun; sollte dennoch festgestellt werden, dass Ihr fehlt, werde ich nicht behaupten, Ihr wärt hier.“             „Tseng“, sagte Yuffie bittend, doch Tseng ließ sich nicht erweichen. Yuffie seufzte und suchte nach den richtigen Worten, um sich zu erklären. „Du sollst ja nur sagen, du hättest mich eben noch gesehen, das hast du ja auch, genau jetzt. Tseng, bitte, du bist der Einzige, dem ich vertraue. Ich muss gehen, bitte hilf mir.“             Plötzlich lockerte sich Tsengs Haltung und sein Gesichtsausdruck wurde entspannter, weicher. „Ihr seht Eurer Mutter unheimlich ähnlich“, sagte er und fasste sie liebevoll an beiden Schultern, doch Yuffie, die verstanden hatte, dass Tseng wieder auf ihrer Seite stand, hatte es nun eilig.             „Ich weiß das“, sagte sie kurz angebunden. „Ich muss jetzt los.“ Ohne eine Antwort abzuwarten wich sie zurück, wandte sich abrupt um und ließ Tseng stehen. Diesmal war sie vorbereitet, wusste, wo die Wachen waren, und vor allem trug sie deutlich unauffälligere Kleidung ... Cloud stand diesmal nicht am Lagereingang Wache, als Yuffie im Tal ankam. Als sie allerdings ihren Namen nannte, wurde sie abermals mit dem Kommentar „Oh, die Frau vom Chef“ durchgelassen. Etwas verunsichert betrat Yuffie daraufhin das Lager, wobei sie nicht recht wusste, was sie tun, wo sie hin sollte. Sie entschied sich, erst einmal demselben Weg zu folgen wie beim letzten Mal und einfach zu hoffen, dass sie schon auf jemanden treffen würde, den sie kannte.             Am Ende einer mehr oder weniger geraden Gasse aus kleinen Zelten stand ein großes, halboffenes dunkelgraues Zelt; Cloud hatte es beim letzten Mal die Essensausgabe genannt, und in der Tat sah sie Leute darin mit Tellern und Tassen hantieren. Sie war schon dabei, das Zelt zu passieren, als sie durch eine sich auftuende Lücke einen bekannten hellen Kopf erspähte: „Cloud!“, sagte sie unwillkürlich, ehe sie darüber nachgedacht hatte. Clouds Blick zuckte in ihre Richtung, als ob er nicht sicher wäre, ob er etwas gehört hätte.             „Yuffie“, rief er dann, als er sie erkannt hatte. Er hob einen Arm, um sie heranzuwinken. „Du bist wieder da.“ Yuffie näherte sich ein paar Schritte, blieb dann allerdings wie angewurzelt stehen, als sich ihr die gesamte Szene eröffnete: Cloud saß mit einer ganzen Gruppe von Leuten offenbar beim Abendessen zusammen, die Yuffie allesamt nicht kannte.             „Ähm“, sagte sie zögernd, „vielleicht ...“             „Oh“, machte Cloud, der ihrem Blick gefolgt war. „Hey, hört mal alle her“, machte er die Gruppe aufmerksam, deren Köpfe sich in Yuffies Richtung drehten, „das ist Yuffie, die Prinzessin von oben. – Und Yuffie, das sind – na ja, alle eben.“             „Ey!“, empörte sich eine Frau am anderen Tischende.             „Was, willst du sagen, ihr habt Namen?“, fragte Cloud in die Runde, was mit allgemeinem Gelächter belohnt wurde. Er wandte sich wieder an Yuffie. „Komm doch ran, wir organisieren dir einen Stuhl – hier ist schon einer – setz dich einfach dazu, die Gruppe ist immer offen.“ Er zog einen Stuhl hervor und schaute mit einem einladenden Blick zu Yuffie hoch. Mit klopfendem Herzen näherte sie sich langsam dem Tisch und setzte sich auf den angebotenen Stuhl; die Aufmerksamkeit der Gruppe kehrte zu den Einzelgesprächen zurück, die offenbar vor Yuffies Auftauchen geführt worden waren. Cloud warf Yuffie ein aufmunterndes Lächeln zu. „Und, was machst du so?“, fragte er sie.             „Nichts“, sagte Yuffie reflexartig. „Sitzen“, fügte sie dann hinzu.             „Hm, klar“, sagte Cloud nickend. Yuffie blickte sich noch einmal um: Am Tisch vor ihr saßen in etwa zehn Leute, mehr Männer als Frauen, mit schwarzem oder hellem Haar, mit dunklerer oder hellerer Haut, alle jung, alle sahen zäh und stark aus, als ob sie den ganzen Tag laufen konnten, ohne müde zu werden. Und interessanterweise wirkten sie alle entspannt und ausgelassen.             Yuffie beugte sich zu Cloud vor. „Sind das alles deine Freunde?“, fragte sie ihn und kam sich selbst dabei kindisch vor.             Cloud warf einen kurzen Blick über den Tisch. „Mehr oder weniger“, sagte er locker dahin. Yuffie war beeindruckt. Sie konnte sich kaum vorstellen, mit so vielen Leuten gleichzeitig befreundet zu sein. „Ach, übrigens, möchtest du noch was? Ich denke, wir sind eigentlich alle so weit fertig“, sagte Cloud und deutete auf die Teller auf dem Tisch, auf denen noch Essensreste zu erkennen waren. „Oder wir können dir sicher auch noch ein richtiges Essen organisieren.“             „Oh, nein, vielen Dank“, lehnte Yuffie ab. Mit einem genaueren Blick auf die Teller fragte sie dann: „Was ist das?“             „Tja, ich schätze, das ist für uns alle ein großes Mysterium“, sagte Cloud geheimnisvoll, woraufhin ihr Gespräch versandete. Yuffie versuchte, niemanden zu intensiv anzuschauen, während sie nach und nach die Gesichter der andern studierte: Sie sah kurze, breitere Nasen wie die Ihre, aber auch lange Nasen, schmale Münder, dünne Lippen, in Rosa, in Braun, sie konnte schwören, eine der Frauen hatte sich die Lippen rot angemalt, doch es sah nicht so wie bei ihr selbst aus, wenn sie geschminkt wurde, die Augen waren braun oder blau oder grau oder grün ... „Kann ich dir helfen?“, fragte Cloud plötzlich, wobei er an Yuffie vorbeischaute.             Yuffie wandte sich um: Der junge Mann neben ihr betrachtete sie recht eingehend. „Ich bewunder nur dieses Schneiderkunstwerk“, sagte er. „Ich meine, schau dir an, wie hübsch dieser Kimono ist. – Er kleidet dich wunderbar, Prinzessin.“             „Ich hab einen Namen“, platzte es aus Yuffie heraus, ehe sie sich zurückhalten konnte.             „Oh, sorry“, sagte der Mann unbeeindruckt. „Ich auch, Bektaş, freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“              Als Bektaş ihr seine Hand entgegenstreckte, legte Yuffie ihre in seine. Sie fand Bektaş‘ dunkelbraune Augen mit den langen dichten Wimpern sehr hübsch. Er kam ihr näher.             „Könnte ich den Stoff vielleicht kurz mal berühren?“ Yuffie nickte überrascht und Bektaş strich vorsichtig mit den Fingern über den Stoff an ihrem Arm. „Ah, herrlich!“             „Es ist Seide“, sagte Yuffie, einfach, um etwas zu sagen.             „Ich finde, Shin-Ra könnte so was ruhig als Uniform sponsern“, sagte Bektaş laut und lenkte die Aufmerksamkeit aller andern auf sich. „Yuffie, meinst du, du kannst das deichseln? Du hast doch den Draht nach oben.“             Yuffie blinzelte verständnislos. „Ich glaube, du sprichst für sie in Rätseln“, sprang Cloud ein. Bektaş schaute sie an, als ob sie schwer von Begriff wäre.             „Ob du deinen Mann fragen kannst“, sagte er sehr deutlich, als spräche er mit jemandem, der nicht gut hört. „Aber lass gut sein, es war eh nur ein Witz.“             Yuffie starrte Bektaş mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund an. Es verstrichen mehrere Momente, doch dann breitete sich ein großes Lächeln auf Yuffies Gesicht aus und sie fing an zu lachen. Die Situation war zu absurd.             „Ha!“, rief Bektaş und streckte triumphierend die Arme gen Himmel. „Ich hab jemanden gefunden, die über meine Witze lacht!“             „Hat ja auch nur zehn Jahre oder so gedauert“, sagte Cloud und am Tisch brach wieder Gelächter aus.             „Oh, fuck you, Strife“, sagte Bektaş, und auch wenn Yuffie nicht verstand, was er sagte, hatte sie das Gefühl, dass es sich um einen liebevoll-piesackenden Austausch handelte, wie er in ihrer Familie auch manchmal vorkam.             „Seit er mit den Firsts rumhängt, hält er sich für was Besseres“, warf die Frau vom andern Tischende wieder ein.             „Na ja, das liegt daran, dass wir besser sind“, sagte Cloud offenbar scherzhaft.             „Oh, buh!“, sagte die Frau und warf einen übriggebliebenen Brocken Brot in Clouds Richtung.             „Anaïs“, erklärte Cloud an Yuffie gewandt. „In Wirklichkeit steht sie auf mich.“             „Dreiste Lüge!“, rief Anaïs. „Ein einziges Mal in meinem Leben möchte ich das Selbstbewusstsein haben wie ein durchschnittlicher Mann!“             „Entschuldigung, durchschnittlich?“, fragte Cloud aufgebracht.             Anaïs verschränkte die Arme vor der Brust. „Ts, ich wette, ich bin schneller als du.“             „Da würde dir meine Frau aber widersprechen.“ Am Tisch brach ein unkontrollierbares Gelächter aus, während Yuffie erst ein paar Momente brauchte, um zu verstehen, was Cloud meinte. Als sie es erkannte, war sie entsetzt, doch offenbar war sie da die Einzige.             „Strife, immer noch König darin, sich selbst fertig zu machen.“             „Wenn ich es nicht mache, wer dann?“, fragte Cloud mit unschuldig erhobenen Händen.             Anaïs‘ Blick wanderte von Cloud zu Yuffie. „Also ... Yuffie. Hängst du öfter hier im Lager bei uns rum? Wir Frauen könnten dich mal einladen, dann musst du dich nicht mit diesen Hampelmännern abgeben ...“             „Mit ...“, echote Yuffie. „Was?“             „Frag dich einfach durch, wenn dir danach ist, du findest uns schon“, sagte Anaïs. „Und bring am besten noch ein paar von diesen Kimonos mit, dann machen wir ‘ne Modenschau, wie wär’s?“             „Da müsst ihr aber Einladungen verteilen, das möchte ich auch sehen“, sagte Bektaş. Yuffie suchte verunsichert Clouds Blick.             „Einfach nicken“, flüsterte der ihr zu. Yuffie grinste. Kurze Zeit später löste sich die Tafel auch schon auf. „Kommst du wieder mit rüber? Ich könnte dir einen Tee machen.“             Yuffies Augen strahlten. „Ja, gerne“, sagte sie mit einem freudigen Lächeln.             „Dann warte hier noch kurz, wir räumen das erst mal alles weg ...“ Cloud und Bektaş räumten den Tisch ab und verschwanden im Zelt der Essensausgabe. Eine blonde Frau blieb noch zurück und schien zu warten. Yuffie erhob sich langsam. Ihr war noch ganz schwindelig von dem Gespräch mit so vielen Leuten.             „Können wir?“, fragte sie, als Cloud zurückgekehrt war.             „Eine Sekunde noch“, sagte er, dann zu der blonden Frau: „Elissa – du hast die Änderung im Wachplan mitgekriegt?“             „Ja, in der Tat, der Buschfunk funktioniert für gewöhnlich ganz gut.“             „Ok, ich will nicht, dass du wieder zu spät kommst.“             „Aber alle sind ständig zu spät!“             „Ja, aber du nicht“, sagte Cloud ruhig, „dafür bist du zu gut.“             „Aw, du bist süß“, sagte Elissa gerührt.             „Und leider schon verheiratet.“             „Weißt du, ich glaub, Anaïs hat recht“, sagte Elissa und hob beide Fäuste. „Du gehörst mal ordentlich vermöbelt.“             Cloud lachte und legte seine Hände auf Elissas Fäuste. „Wir sehen uns dann morgen“, sagte er, verabschiedete sich von Elissa und gab dann Yuffie ein Zeichen, dass sie mit ihm gehen sollte. Wieder gingen sie den Weg an Rufus‘ Zelt vorbei. Nach all dem Lachen beim Essen schien es Yuffie unerträglich, nun zu schweigen, also suchte sie etwas.             „Du bist verheiratet“, sagte sie entsprechend aus heiterem Himmel.             „Ja“, stimmte Cloud zu.             „Wo ist deine Frau?“             Clouds Ton wurde bitter. „In Midgar.“             „Da ist Rufus manchmal“, sagte Yuffie, „ich weiß, dass es sehr weit weg ist.“             „Auf jeden Fall“, sagte Cloud kurz angebunden. Sie sahen sein Haus nun von Weitem. Wieder waren alle Fenster offen, doch von einem seltsamen Netz überspannt.             „Wenn Rufus manchmal da ist, wirst du sie doch wohl auch manchmal sehen“, sagte Yuffie schüchtern.             „Ja, aber nicht oft genug“, sagte Cloud zähneknirschend. Sie verfielen wieder in Schweigen. Yuffie richtete den Blick nach vorn. Sie hätte sich gerne noch  erkundigt, ob Cloud nun Kinder hatte oder nicht, aber er wirkte nicht mehr sehr erpicht auf Fragen. Die Tür des Hauses öffnete sich. Eine Frau in dunkelblauer Uniform trat heraus und ging in die andere Richtung davon. Durch die Küchenfenster konnte Yuffie erkennen, dass die untere Zimmertür offenstand. Ihr fiel ein, wie Cloud erzählt hatte, dass Vincent das untere Zimmer benutzte, wenn er da war.             Yuffie blieb wie angewurzelt stehen. Plötzlich war ihr gar nicht mehr nach Tee, sie wollte gehen, egal, wohin, ihr Kopf tat weh und ihr wurde schlecht. Auch Cloud war stehen geblieben.             „Yuffie ...“, sagte er, doch sie begegnete seinem Blick nicht.             „Ich denke, den Tee trinken wir wann anders“, sagte sie mit zugeschnürter Kehle, dann wandte sie sich um und ohne auf irgendjemanden oder irgendetwas zu achten lief sie davon, aus dem Lager heraus, den Hügel herauf, durch den Wald, an den Wachen vorbei und in ihr privates Zimmer, auf die Polster, wo sie, überwältigt von dem ganzen Abend, vollkommen erledigt auf ihrem Polster zusammenbrach. Kapitel 8: State of Grace (Yuffies Version) ------------------------------------------- Trotz ihrer Erschöpfung fand Yuffie lange keinen Schlaf; sie beobachtete Rufus neben sich, der sich unter der dünnen Decke mal auf seine linke, mal auf seine rechte Seite drehte und mehr oder weniger friedlich vor sich hin schlummerte. Manchmal lief ein Zucken über sein Gesicht oder durch seine Hand, so als ob er im Traum nach etwas greifen würde. Yuffie wunderte sich, dass sie ihn nie nach seinen Träumen fragte, obwohl sie so häufig wach lag, während er schon schlief. Sie sah, wenn sich sein Gesicht im Schmerz verzog und wenn er selig lächelte; und dennoch fragte sie ihn später nie nach dem Grund. Seltsam.             Just in dieser Nacht gab es hingegen ein paar Gründe, die sie in der Tat interessierten. Und all ihre unausgesprochenen Fragen zentrierten sich um Vincent. Warum hatte er sich mit einer anderen Frau getroffen? Was hieß das überhaupt, mit einer „anderen“ Frau? Hatte sie etwas anderes erwartet? Warum scherte sie sich so darum? Sie warf sich unnötig heftig im Bett herum; von Rufus, nun hinter ihr, hörte sie eine Regung, doch er schien weiterzuschlafen. Sie brummte leise in ihrer Unzufriedenheit.             Im Grunde ärgerte sie sich über sich selbst; darüber, dass sie die Begegnung mit Vincent für Schicksal und ihre Verbindung – Verbindung, welche Verbindung?! – für etwas Besonderes gehalten hatte. Denn offenbar war nichts von alledem besonders, nicht ihr Aufeinandertreffen, nicht sie und am allerwenigsten er. Und es verärgerte sie, dass sie so lange anders gedacht hatte.             Die dunklen Wolken in ihrem Geist lichteten sich etwas. Yuffie fühlte sich ruhiger. Sie wollte jetzt wirklich schlafen, aber nachdem sie sich zum wiederholten Mal hin- und hergedreht hatte, musste sie einsehen, dass trotz ihrer geglätteten Gedanken kein Schlaf zu finden war. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und hievte sich hoch; sie nahm ihren versteckten dunklen Mantel aus dem Zimmer nebenan und machte sich auf den Weg in die Nacht, wobei sie sich davon zu überzeugen versuchte, dass sie Vincent nicht begegnen wollte, obwohl sie im Innern sehr genau wusste, dass sie ihm nur zu gerne noch einmal über den Weg gelaufen wäre ...   Yuffie saß zwar nicht ganz ausgeschlafen, aber deutlich zufriedener als zuvor am nächsten Tag am Frühstückstisch neben Rufus; ihr Vater, Tseng und ihre Brüder waren ebenfalls zugegen, was bedeutete, dass wieder einmal nur ihre Mutter fehlte. Yuffie brachte ihren morgendlichen Reis in kleinen Bissen herunter, während Rufus sich großzügig an der Teigtaschen-Suppe bediente.             „Na, haben wir Hunger?“, triezte Yuffie ihn leise.             „Ja“, sagte Rufus enthusiastisch. „Ich hab heute ‘ne Menge zu tun.“             Kurz darauf betrat ein Bote den Raum, verneigte sich vor Godo und überbrachte ihm eine Nachricht. Yuffie blickte dem Boten hinterher, als er den Raum wieder verließ. Sie sah ihren Vater fragend an. „Jing aus Fushan ist letzte Nacht verstorben“, informierte er sie mit schwerer Stimme.             „Oh nein“, sagte Yuffie betroffen. Sie hatte die Dorfälteste gemocht. „Das heißt, wir müssen zur Beisetzung.“             Godo schaute sie nachdenklich an. „Ich weiß nicht, ich denke, ich könnte auch allein gehen und du kümmerst dich weiterhin um die Angelegenheiten auf dem Markt, denn es sieht schlecht aus, wenn nicht bald jemand auftaucht, und du warst schon das letzte Mal da. Ich müsste mir das aber noch durch den Kopf gehen lassen.“             Rufus beugte sich vor. „Würdest du direkt heute gehen?“, fragte er.             „Aber selbstverständlich!“, rief Godo entrüstet aus.             „Und das war ... wo?“              Godo zeigte mit einer Hand in eine ungefähre Richtung hinter sich. „Durch den Wald hindurch, nicht weit.“             „Also könntest du heute Abend schon wieder da sein?“, fragte Rufus.             „Die Zeremonien werden mindestens bis morgen andauern“, erklärte ihm Godo.             „Ach so“, sagte Rufus ernüchtert. „Das wusst‘ ich nicht.“             „Du wieder“, zog Yuffie ihn auf, „von nichts eine Ahnung.“             „Was? Ich bin nicht von hier“, verteidigte sich Rufus. Yuffie stieß ihm spielerisch gegen den Arm, woraufhin er lächelte und ihr einen liebevollen Kuss auf die Stirn gab.             „Warum fragst du?“, sagte Godo, als sie fertig waren, aber Rufus winkte ab.             „Erklär ich dir dann.“             „Jedenfalls werden wir das also so machen“, entschied Godo schließlich. „Ich werde nach dem Frühstück aufbrechen und du schaust heute auf dem Markt vorbei, sprichst mit den Leuten, fragst, ob sich alle normalisiert hat und ob es noch an irgendwas fehlt – Rufus, dann müssten wir im Zweifelsfall wieder auf deine Hilfe zurückgreifen.“             „Ist doch kein Problem“, sagte Rufus mit einem Schulterzucken.             Yuffie lauschte gespannt: Für sie klang gerade alles nach ihrer Freiheit, die nach ihr rief. Wenn ihr Vater ging, würde es im Palast deutlich leerer sein und sie konnte sich umso leichter wegschleichen und Cloud besuchen. Immerhin schuldete sie ihm noch ein Teetreffen, da sie ja am Vortag so überstürzt aufgebrochen war. Ihr Blick traf Tsengs: Sein Gesicht sagte ihr, dass er ganz genau wusste, was in ihr vorging. Sie zuckte die Schultern. Ihr Plan stand fest.   Nachdem Yuffie in Anschluss an ihren Besuch auf dem Markt die schrecklich edlen Schuhe, die sie bei solchen Anlässen zu tragen gezwungen war, in eine Ecke gepfeffert und die Schminke aus ihrem Gesicht entfernt hatte, tauschte sie ihre prächtige, golddurchwirkte Robe gegen ihr Lieblingsstück: ein leichtes, grasgrünes Gewand mit sonnengelbem Muster auf dem Rock. Die Schnürung an der Taille konnte sie locker knoten, statt eine große steife Schleife binden zu müssen. Außerdem löste sie ihre Frisur und befestigte ein loses Band um die Längen. Sie fand, in einer derart lockeren Aufmachung konnte sie ruhig zum Tee bei Freunden gehen. Bei Freunden ...             Geübt schlich Yuffie sich anschließend in den Wald. Sie war mittlerweile an die Strecke gewöhnt, die sie gehen musste, um vom Dorf aus nicht gesehen zu werden. Während sie niedrigen Ästen auswich und um Spinnennetze manövrierte, überlegte sie, ob sie wirklich neue Freunde gefunden oder ob sie das Wort vorschnell benutzt hatte. Cloud war nett zu ihr, das lag auf der Hand. Er war aufmerksam, erkundigte sich nach ihr und nahm sie auf, sei es das Lager, in das er sie geführt hatte, sei es seine Freundesgruppe, die er ihr vorgestellt hatte. Aber sie hatte auch gesehen, dass er zu allen nett war und mit allen gut auskam.             „Was sind eigentlich Freunde?“, murmelte Yuffie ratlos.             Noch in der hellen Tagessonne ging sie über den Hügel hinunter ins Lager, vorbei an der Wache, die mittlerweile wusste, dass sie einzulassen war, vorbei an der Essensausgabe, von wo aus ihr ein paar von Clouds Freunden winkten, auch vorbei an Rufus‘ Arbeitszelt und auf das kleine Haus zu, in dem sie Cloud vorzufinden hoffte.             Doch Cloud war nicht da, als sie das Gitter öffnete; stattdessen saß Sephiroth an einem mit Papieren übersäten Tisch vor dem Fenster, ins Gespräch vertieft mit einer Frau in Uniform. „Ach, Yuffie, komm doch rein“, sagte Sephiroth, als er aufgeschaut und sie bemerkt hatte.             Yuffie zögerte. „Ich wollte eigentlich zu Cloud.“             „Der ist nicht da“, erklärte ihr Sephiroth, „aber du kannst trotzdem bleiben, ich mach dir gleich einen Tee, wenn du willst.“ Yuffie überlegte: Sie hätte gerne mit Cloud gesprochen, Sephiroth hingegen war ihr noch so gut wie unbekannt. Sie entschied allerdings, da sie schon den weiten Weg auf sich genommen hatte, dass sie immerhin ein wenig bleiben konnte. Schüchtern setzte sie sich Sephiroth gegenüber, der sogleich das Gespräch mit der Soldatin wiederaufnahm: „Sind die Informationen gesichert?“             „Na ja, nein“, gab die Soldatin zu, „wie gesagt, es sind eher Gesprächsfetzen, die oben im Dorf mitgehört wurden, und genau wissen wir eigentlich nicht, wie zuverlässig die Gerüchteküche hier in der Gegend funktioniert.“ Sie betrachtete ihn in abwartendem Schweigen.             „Das heißt, es klingt erst mal so, als ob wir schnell handeln müssten“, sagte Sephiroth, das Gesicht angestrengt in eine Hand gestützt, „aber wenn unsere Informationen falsch sind und wir die Sache überstürzen, könnte das übel ausgehen.“             „Genauso übel, wenn die Informationen stimmen und wir nicht handeln“, warf die Soldatin ein, den Blick weiterhin auf Sephiroth gerichtet.             „Wir könnten noch heute Späher aussenden“, schlug Sephiroth vor. Er begann, in den Dokumenten auf dem Tisch zu wühlen. „Wo ist noch mal dieses – dieses Dorf?“              Die Soldatin half ihm auf die Sprünge: „Linfen.“ Yuffie horchte auf. „Uns fehlt die genaue Entfernung, aber erfahrungsgemäß sind es ungefähr drei Marschstunden.“             „Was sind das für Informationen, über die ihr redet?“, fragte Yuffie dazwischen.             Sephiroth warf ihr einen etwas verärgerten Seitenblick zu. Es dauerte einige Momente, bis er sagte: „In erster Linie vertrauliche.“             „General“, schaltete sich die Soldatin ein, „sie ist von hier?“ Sephiroth bestätigte mit einem Brummen. „Was sagt dir das dann?“ Sephiroths Blick wanderte zwischen Yuffie und der Soldatin hin und her.             „Fein“, sagte er schließlich an Yuffie gewandt. „Was weißt du?“             „Meine Mutter stammt aus Linfen“, sagte Yuffie. „Ich kenne das Dorf, ich war manchmal da.“ Yuffie konnte Sephiroths Gesichtsausdruck nicht deuten; er schien sehr genau nachzudenken, aber sie erkannte nicht, in welche Richtung diese Gedanken gingen. Es überraschte sie daher, als er sich entschied, die Informationen doch mit ihr zu teilen.             „Das Dorf scheint einen Aufstand zu planen, es gilt also, schnell zu reagieren.“             „Unmöglich“, sagte Yuffie instinktiv. Sephiroth zog verwundert eine Augenbraue nach oben, sagte aber nichts. Yuffie fühlte sich zu einer Erklärung veranlasst. „Na ja, das Dorf ist sehr alt – also, die Leute dort sind sehr alt. Die meisten jungen Leute, wie meine Mutter ja auch, sind von dort weggezogen. Es sind höchstens Enkel, die ihre Großeltern dort besuchen, und ein paar Leute, die sich um die Kranken kümmern, ansonsten –“             „Gerade diese Enkel und Kümmerer könnten rebellieren“, wandte Sephiroth ein.             „Aber wieso?“, fragte Yuffie.             „Wir sitzen auf ihrem Land“, sagte Sephiroth. „Aber darüber hatten wir ja schon gesprochen.“             „Allerdings“, sagte Yuffie, und ihre Augen blitzten. Sephiroth hielt das nicht davon ab, sie weiterhin zu beobachten. Er schien wieder intensiv nachzudenken.             „Solange nicht genügend Informationen vorliegen, werde ich keine Entscheidung treffen“, verkündete er schlussendlich. „Amanda, sei so nett, bring Rufus auf den aktuellen Stand und sag ihm, dass ich später noch mal mit ihm darüber sprechen werde.“ Amanda nickte, sammelte ihre Dokumente zusammen, verabschiedete sich und verließ das Haus. Sephiroth seufzte und erhob sich ebenfalls. „Magst du eigentlich lieber grünen oder schwarzen Tee?“             Yuffie blinzelte kurz ob es abrupten Themenwechsels. „Grünen“, sagte sie. Sephiroth nickte. Sie konnte nicht sehen, dass er irgendetwas tat, aber irgendwann kam aus dem Gefäß vor ihm Dampf und er goss heißes Wasser in zwei Tassen, aus denen je ein seltsamer dünner Faden ragte. Er stellte die Tassen und einen Teller auf den Tisch. Yuffie schaute ihn fragend an.             „Ich schätze, ihr benutzt eher Blätter als Beutel“, sagte Sephiroth entschuldigend.             „‚Beutel‘?“, fragte Yuffie und warf einen genaueren Blick in die Tasse. Tatsächlich, am Ende des Fadens befand sich ein unförmiger Klumpen, der wohl ein Beutel voll Tee war.             „Es ist ganz praktisch, wenn man nur kleine Mengen Tee macht“, sagte Sephiroth.             „Ja, ich schätze schon“, stimmte Yuffie zu. Sie war noch nie in die Verlegenheit gekommen, kleine Mengen Tee zuzubereiten. Dann fiel ihr etwas ein. „Wo ist Cloud?“             „Zu Hause“, sagte Sephiroth knapp. Auf Yuffie wirkte er müde. Sie überlegte kurz.             „Bei seiner Frau?“             Sephiroth nickte. „Und den Kindern.“             „Kennst du die Kinder?“, fragte Yuffie interessiert. Es gab also doch welche.             „Nur von Bildern und Erzählungen.“ Sephiroths Blick war auf die Tischplatte gerichtet. „Kannst du mir mehr von diesem Dorf erzählen?“             „Ich könnte dir von den Geistergeschichten erzählen, die es dort gibt, aber ich schätze, das meinst du nicht.“ Er schaute sie verwundert an. „Es gibt wirklich nicht viel zu wissen. Die Dorfälteste ist Xiran, aber wie das mit Dorfältesten so ist, könnte sich das schon wieder geändert haben ...“ Sie dachte an Jing.             „Und deine Mutter kommt von dort“, sagte Sephiroth, wobei er wieder eine Augenbraue leicht erhoben hatte. Yuffie brauchte nicht lange zu überlegen, was er meinte.             „Du willst sagen, meine persönliche Bindung trübt meine Einschätzung.“             „Na ja“, sagte Sephiroth, und zog die Schultern hoch, „wenn du nicht gerade ein ganz schreckliches Verhältnis zu deiner Mutter hast – oh. Das tut mir leid, ich wollte nicht ...“ Yuffie hatte nicht verhindern können, dass bei der Erwähnung ihres Verhältnisses zu ihrer Mutter ihr Gesicht und ihr gesamter Körper etwas zusammensackten. Sie seufzte.             „Nein, nein, so ist es nicht“, sagte sie, und sie hörte selbst, dass ihre Stimme plötzlich klang, als wäre sie sehr erschöpft. „Es ist nur so ... Meine Beziehung zu meiner Mutter ist im Grunde nicht vorhanden, wenn du so willst.“ Sie hatte Mitleid in Sephiroths Miene erwartet, doch stattdessen las sie Verständnis.             „Hör mal, ich will nicht zu sentimental werden, aber ich kann das nachvollziehen, ich hab meine Mutter nie kennengelernt“, sagte Sephiroth, wobei er ein Stück an Yuffie vorbei schaute. „Sie ist kurz nach der Geburt verstorben, weißt du.“             Yuffie nickte. Ihr Herz schlug ihr plötzlich bis zum Hals. „Meine Mutter ist krank“, sagte sie unwillkürlich. Sephiroth erwiderte nichts. Sie wusste nicht, warum sie redete. „Sie ist sehr schwach und kommt nicht aus dem Bett. Wir haben bestimmte Bedienstete, die nur dafür da sind und sich darum kümmern, dass sie zumindest etwas isst und trinkt, aber sie steht nie richtig auf oder so. Ich kenn sie ja eigentlich nicht anders, es war immer Teil von ihr, aber eben nur ein Teil, verstehst du, solange ich mich erinnern kann, wusste ich immer, dass es eben den einen oder anderen Tag geben wird, an dem Mama nicht aus ihrem Zimmer kommt, und eigentlich war ich ihr fast immer zu viel, deswegen hat mich in Wahrheit auch mein Onkel großgezogen, also, er ist nicht wirklich mein Onkel, meine Großmutter hat ihn aufgenommen und er und mein Vater sind wie Brüder aufgewachsen.“ Yuffie wusste nicht, warum sie Sephiroth das alles erzählte, immerhin hatte er nicht darum gebeten, doch sie konnte nicht mehr aufhören.             „Als meine Brüder kamen, wurde es mit unserer Mutter noch schlimmer, seitdem hab ich sie fast nicht mehr zu Gesicht bekommen, und, ich mein, die Zwillinge werden acht. Eigentlich sollte ich auch gar keine Brüder haben, meinem Vater ist es eigentlich nur erlaubt, ein Kind als Erbe zu haben, aber die beiden sind auch nur meine Halbbrüder, ich weiß gar nicht, wer der Vater ist – ich weiß nicht mal, ob mein Vater weiß, wer der Vater ist, damals hat mich so was nicht interessiert, und heute möchte ich nicht mehr fragen, weil, na ja – weil es Mutter seitdem so schlecht geht.             Aber es muss auch mal ganz anders gewesen sein, immer wenn ich Geschichten über sie höre, bevor sie Kinder hatte, krieg ich den Eindruck, dass sie ein außergewöhnlich fröhlicher Mensch gewesen sein muss, und – ich weiß nicht – dann ... kamen wir ...“ Ihre Stimme verlor sich. Sie warf einen unsicheren Blick auf Sephiroth, der sie aufmerksam betrachtete und bisher nicht ein einziges Mal versucht hatte, sie zu unterbrechen. Sie hatte nicht das Gefühl, sich gut erklärt zu haben. „Weißt du, mein Onkel kannte sie recht lange, er hat sie meinem Vater vorgestellt.“             „Yuffie.“ Sephiroth sprach sehr ruhig, doch mit einer Autorität, die sie sofort zuhören ließ. „Ich kenn mich ein bisschen mit komplizierten Familiengeschichten aus. Und ich weiß, es steckt noch viel mehr dahinter, als ich eben gehört hab. Aber ich glaube, es gibt eine Sache, die du hören solltest. Schau mich mal an.“ Yuffie hob zögernd den Blick und begegnete Sephiroths klugen grünen Augen. Er ließ ein paar Momente verstreichen, in denen Yuffie sich ihres Herzschlags und ihrer Atmung schmerzlich bewusst wurde. Sephiroth beugte sich ihr über den Tisch fast unmerklich zu und sagte sehr deutlich: „Es ist nicht deine Schuld.“             Yuffie wandte augenblicklich den Blick ab. Sie wollte nicht antworten, ihre Kehle war zugeschnürt. In ihren Augen standen Tränen. Sie blinzelte.             Sephiroth ergriff wieder das Wort. Er sprach monoton. „Ich könnte dir meine Geschichte erzählen, aber ich fürchte, dann würden wir morgen noch hier sitzen“, sagte er ruhig und unbeeindruckt. „Lass es mich darauf abkürzen, dass ich zwanzig Jahre in dem Glauben gelebt habe, ein Mann wäre mein Vater, der am Ende versucht hat, mich umzubringen.“ Als Yuffie schockiert aufblickte, bohrten sich Sephiroths Augen in ihre. Dennoch kamen sie ihr vor wie geschlossene Fenster. „Das ist jetzt acht Jahre her und ich knabber immer noch daran, aber wie dem auch sei, es hat dieses Ereignis gebraucht, damit ich verstanden habe, dass alles, was vorgefallen ist, nicht meine Schuld war, dass ich nichts davon provoziert habe und vor allem, dass ich eine solche Behandlung genauso wenig verdiene wie jeder andere Mensch auf dieser Welt. Rauszufinden, wer wirklich mein Vater ist“ – Er zuckte mit dem Kopf in Richtung der unteren Zimmertür – „war zwar nicht unbedingt das größte Glück, aber seitdem fühl ich mich etwas besser.“             Yuffie versuchte, ihre Stimme wiederzufinden. „Und jetzt spielt ihr zusammen Schach“, sagte sie leise und mit einem schwachen Lächeln.             Sephiroth grinste. „Manchmal. Wenn ich ihn grad ertrage. Oder wenn er hier ist.“             Yuffie schaute sich um. „Das ist er wohl nicht häufig.“             „Mein Vater ist mal hier, mal da“, sagte Sephiroth nur. „Ich kann ihn nicht empfehlen.“             „Du scheinst was gegen ihn zu haben“, sagte Yuffie vorsichtig.             Sephiroth antwortete darauf nicht, sondern wich aus. „Weißt du, was, ich werd mit Rufus reden müssen, vielleicht weiß er auch was über ...“             „Linfen.“             „Richtig, Linfen.“ Es war das erste Mal, dass er ihr ein verschmitztes Lächeln zuwarf. „Normalerweise bin ich besser darin, mir Namen zu merken.“             „Warum ‚normalerweise‘?“ Yuffie versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln.             „Weil ich nicht weiß, was heute mit mir los ist“, sagte Sephiroth düster und erhob sich. „Linfen. Hoffentlich kann ich mir das die paar Meter merken. Ist nicht so kompliziert, zwei Silben.“ Er schaute auf sie hinunter. „Trink du noch deinen Tee und bleib oder geh, wie es dir beliebt. Vielleicht kommt auch Genesis bald noch zurück.“             „Wer ist das?“             Sephiroth setzte an zu sprechen, unterbrach sich aber, dann sagte er: „Darüber reden wir dann, wenn es so weit ist, Genesis ist ... etwas schwierig zu erklären.“ Yuffie gluckste über Sephiroths Hilflosigkeit. Der erwiderte ihr Lachen und verabschiedete sich. „Genieß deinen Tee.“             Gerade als er durch die Tür treten wollte, ging das Gitter von der anderen Seite auf, und wer immer Genesis war, er war es nicht, der hereinkam. Es war Vincent. Yuffie fühlte die Raumtemperatur sinken. „Du gehst gerade?“, fragte er Sephiroth.             „Es gibt Dinge zu besprechen“, sagte er knapp und drückte sich an Vincent vorbei nach draußen. Der schaute ihm kurz nach, dann richtete er das Wort an Yuffie.             „Was immer er dir über mich erzählt hat, du solltest nicht alles glauben.“             „Es ist interessant, dass du glaubst, er hätte schlechte Dinge über dich gesagt. Du scheinst davon auszugehen, dass es Schlechtes über dich zu erzählen gibt.“             Vincent seufzte. „Ich habe Fehler gemacht, das gebe ich zu.“ Er setzte sich an die ihr gegenüberliegende Ecke des Tisches, was ihr die Möglichkeit gab, ihn genau anzuschauen.             „Es stimmt sogar, ihr seht euch wirklich ähnlich.“             „Das hoffe ich doch“, sagte Vincent entrüstet. Es war das Gesicht, das sie vor sich sah und das sie eindeutig in Sephiroths Gesicht wiedererkannte: Schmal, länglich und hell, das eine mit roten, das andere mit grünen Augen, intelligent, tiefsinnig, die in ihr immer den Eindruck auslösten, dass in den beiden Köpfen mehr vorging, als herauskam.             „Eigentlich wollte er nicht über dich reden“, sagte Yuffie schließlich. „Er sagte allerdings, dass du nicht häufig hier bist. Aber offenbar häufig genug, um mich ständig abzupassen.“ Vincent wirkte überrascht.             „Ich kann mich nicht erinnern, dich seit unserer glorreichen Schachpartie hier gesehen zu haben.“             „Ich war gestern hier, aber du warst wohl beschäftigt. Ich wollte nicht stören.“             Sie sah Erkenntnis in Vincents Gesicht. Es verging ein Moment. „Ich bin ein erwachsener Mann und ich verbringe Zeit mit erwachsenen Frauen, das ist nicht verboten“, sagte er schließlich ruhig, doch nicht so unberührt wie sein Sohn. Seine roten Augen öffneten sich ihr wie die Flammen eines Festtagsfeuers.             „Ich schätze, ich hab dich einfach für eine bessere [andere?] Person gehalten, als du bist.“             „Das kommt vor.“             „Dabei kennen wir uns gar nicht.“             Vincent gluckste. „Das können wir ändern. Was willst du wissen?“             „Wo soll ich anfangen?“, fragte Yuffie, nun ebenfalls belustigt. Ihr fiel allerdings doch etwas ein. „Wo bist du, wenn du nicht hier bist?“             „Mal hier, mal da“, sagte Vincent ausweichend. Yuffie war enttäuscht. Sie hatte gedacht, nun endlich ehrlich Antworten zu bekommen. Sie wandte den Blick ab.             „Und sind wir nur zufällig aufeinandergetroffen?“ Als Yuffie zunächst keine Antwort erhielt, schaute sie über den Tisch zu Vincent. Der sah überrascht drein.             „Ja“, sagte er verwundert. „Ich bin häufig nachts unterwegs – selten im Dorf vielleicht, aber es ist schon vorgekommen.“             Yuffie nickte. „Ich bin auch häufig nachts draußen. Ich dachte, vielleicht sieht man sich ja mal wieder – zufällig.“             Vincent schmunzelte. „Wie ich es verstehe, wirst du hier jetzt öfter Zeit verbringen, ist das nicht so?“             Yuffie hätte nichts lieber getan, als diese Frage zu bejahen. „Das werden wir sehen“, musste sie stattdessen sagen.             „So oder so“, sagte Vincent und er schaute sie dabei sehr genau an, „wir müssen es ja nicht auf den Zufall ankommen lassen.“             Es entstand eine Pause, in der Yuffie sich Vincents Angebot durch den Kopf gehen ließ. Wenn er gerade dabei war, ihr entgegenzukommen, überlegte sie, konnte sie ja noch etwas fragen, was ihr schon lange durch den Kopf ging: „Eins musst du mir erklären – wie kann es sein, dass ihr Vater und Sohn seid?“             Vincent antwortete nicht sofort. Dann seufzte er erst nur. Schließlich räumte er ein: „Ich schätze, wir müssen ganz von vorne anfangen ...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)