Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 29: Familie ------------------- „Du bist dir also wirklich sicher?“   Wahrscheinlich hätte es mich nicht überraschen sollen, dass Tobias das fragte. Immerhin saßen wir gerade auf einer Bank vor einem Gerichtssaal und warteten darauf, dass man uns aufrief. Die Wände um uns herum waren mit dunklem Holz vertäfelt. Das letzte Gericht, in dem ich gesessen hatte, war auch so ein alter Kasten gewesen. Mit Freitreppen und breiten Gängen, aber ansonsten hell und freundlich. Mehr wie ein Märchenschloss. Das hier war muffig und dunkel, der Fußboden abgetreten, auch wenn das Muster der Steinfliesen vielleicht irgendwann mal hübsch gewesen war.   Während ich noch die Fliesen in Augenschein nahm, betrachteteTobias mich von der Seite. Anscheinend wartete er immer noch auf eine Antwort. Ich sah zu ihm rüber. „Ja, bin ich“, sagte ich mit mehr Überzeugung, als ich eigentlich hatte. Ich wollte das hier, aber sicher, dass es die richtige Entscheidung war, war ich mir deswegen noch lange nicht. Trotzdem war es wichtig, dass ich heute hier war. Um ein Zeichen zu setzen. „Wenn ich es schaffe, dass meine Eltern endlich aufhören, sich in mein Leben einzumischen, dann kriegt Leif das vielleicht auch hin.“   Denn natürlich war es nicht so einfach geworden, wie es sich zuerst angehört hatte. Leifs Eltern stellten sich immer noch quer, was die Sache mit der eigenen Wohnung anging. Vermutlich würde es auch bei ihm auf eine Gerichtsverhandlung hinauslaufen, denn die Zeit, die ihm in Thielensee genehmigt worden war, lief Ende nächsten Monats aus. Da Herr Steiner sich mit Sicherheit gegen eine Verlängerung aussprechen würde, hieß das im Grunde, dass Leif wieder nach Hause musste, wenn er seine Eltern nicht dazu bekam, einer anderen Lösung zuzustimmen. Allerdings wehrte er sich mit Händen und Füßen gegen diese Idee. „Ich kann doch meine Eltern nicht vor Gericht zerren“, hatte er gesagt und dabei vollkommen verzweifelt geklungen. „Das muss doch irgendwie anders gehen.“ „Wird es aber nicht“, hatte ich geantwortet. „Sie werden es nicht einsehen, wenn du sie nicht dazu zwingst. Isso und wird sich auch durch alles Hoffen und Beten nicht ändern.“   So ganz wollte er immer noch nicht daran. Deswegen saß ich heute hier. Um ihm zu zeigen, dass es ging. Dass man es schaffen konnte, auf eigenen Füßen zu stehen. Und dass er nicht allein war. Tobias’ Lächeln auf meine Antwort wirkte ein wenig gestellt. Natürlich. Er war nicht so ganz glücklich damit, wie sich die Sache mit Leif und mir entwickelt hatte. Besonders nicht, seit Jason uns kurz nach der Geschichte mit dem Kino zusammen erwischt und das Ganze natürlich prompt rumerzählt hatte. Es dann noch aufzuhalten, war ungefähr dem Versuch gleichgekommen, die Niagarafälle mit einem Teesieb zu stoppen. Irgendwann hatte auch Herr Steiner Wind von der Sache bekommen und natürlich hatte es Ärger gegeben. „Tut mir leid wegen dem ganzen Stress, den du mit uns hast.“   Tobias winkte ab. „Ach was. Ist doch mein Job.“   Ich sah auf meine Hände herab.   „Ja schon. Aber wenn Leif und ich vorsichtiger gewesen wären, dann …“   Tobias unterbrach mich. „Nein, das stimmt nicht. Nicht ihr seid diejenigen, die etwas falsch gemacht haben. Das System ist es. Oder die ganze Welt. Es sollte egal sein, wen man liebt.“   Als er das sagte, fühlte ich ein komisches Kribbeln in meiner Nase. Es war nicht das erste Mal, dass ich das hörte. Wir hatten in der Gruppe darüber gesprochen. Thomas hatte gemeint, dass es am besten wäre, offen damit umzugehen. Immerhin verstieß es nicht gegen die offiziellen Regeln, dass Leif und ich zusammen waren. Leider waren die anderen diesbezüglich nicht besonders offen gewesen.   „Ich schlaf auf gar keinen Fall zwischen zwei Schwuchteln“, hatte Sven gemeint und einen Riesenaufstand gemacht, dass er ein anderes Zimmer wollte und sich kein Badezimmer mit uns teilen würde und so weiter. Am Ende war vereinbart worden, dass er vorerst im Betreuerzimmer unterkam, was bedeutete, dass Henning nachts bei uns auf dem Gang schlief. Nicht unbedingt das Nonplusultra, aber besser als sich die ganze Zeit dämliche Sprüche anhören zu müssen. Und bald würde er ja Thielensee ohnehin verlassen. Thomas bemühte sich gerade, seinen Umzug schon früher stattfinden zu lassen. Dann würde jemand Neues bei uns einziehen. Die Wartelisten waren voll.   „Glaubst du, wir kriegen das hin?“, fragte ich leise. Tobias sah mich fragend an. „Was meinst du? Das mit deinen Eltern oder das mit Leif und dir?“   Ich lachte leicht. Schon komisch, dass ich mir mehr Sorgen darüber machte als über das, was direkt vor mir lag. Vielleicht war das ein gutes Zeichen.   „Das mit Leif.“ Tobias antwortete nicht sofort. Er wusste natürlich von Leifs und meinen Plänen. Auch er hatte sich dafür ausgesprochen, dass wir jeder eine eigene Wohnung bekamen. Vielleicht in ein passendes Wohnprojekt übersiedelten, wo uns noch mehr unter die Arme gegriffen wurde. Aber das wollten wir nicht. Wir wollten zusammenziehen. Auch aus den Gründen, die das Leben in Thielensee jetzt kompliziert machten.   „Tja, keine Ahnung“, meinte er schließlich mit einem nicht gut versteckten Seufzen in der Stimme. „Stur genug seid ihr jedenfalls dafür. Aber zusammenwohnen ist nicht so einfach, wie ihr euch wahrscheinlich das vorstellt. Jeder hat so seine Vorstellung, wie das Ganze auszusehen hat. Leif zum Beispiel ist sehr viel unselbstständiger als du. Chaotischer. Da besteht immer die Gefahr, dass man sich wegen allem Möglichen in die Haare bekommt. Und wenn es nur darum geht, wer den Müll runterbringt. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Bei meiner Freundin und mir sind deswegen schon mehr als einmal die Fetzen geflogen.“   Als er mein langes Gesicht sah, lachte er. „Aber es kann auch echt toll sein. Abends zusammen einschlafen, morgens zusammen aufwachen. Einfach das Gefühl, eine gemeinsame Basis zu haben. Einen Ort, an dem man immer wieder zurückkehren kann. Das ist viel wert.“   Er wollte wohl noch mehr sagen, aber da öffnete sich plötzlich die Tür neben uns und eine Dame in einem grauen Kostüm trat heraus. „Manuel Heuser?“   Ich stand auf. „Das bin ich.“ „Wenn Sie mir folgen würden.“   Mein Herz machte einen Satz. Jetzt war es soweit. Jetzt würde ich gleich meinen Eltern gegenüberstehen. Meine Handflächen wurden feucht. Schnell wischte ich sie an der Hose ab und strich mein Hemd glatt. Es war immer noch das einzige das ich hatte. Leif hatte mich heute Morgen damit gesehen und mich ganz merkwürdig angeschaut. „Was ist los?“, hatte ich gefragt. Er hatte gelächelt. „Nichts. Du siehst nur so anders aus.“ „Gut anders oder schlecht anders?“ Er hatte einen Augenblick darüber nachgedacht, dann war er zu mir getreten und hatte den Kragen meines Hemdes gerichtet und gemeint: „Anders halt. Nicht so, wie du wirklich bist.“ Darüber hatte ich eine ganze Weile nachgedacht und es dann wieder vergessen. Jetzt, wo ich den Gerichtssaal betrat, fiel es mir wieder ein.   Nicht so, wie ich wirklich bin.   Vielleicht war das der Schlüssel.     Drinnen saßen bereits mehrere Leute. Am Kopfende des Raumes an einem quergestellten Tisch drei Frauen. Alle drei blond, zwei jünger, eine schon älter. Die in der Mitte trug eine schwarze Robe mit einem weißen Oberteil darunter. Das musste die Richterin sein. Das letzte Mal hatte ich einen Mann gehabt. Ein älterer Herr mit beginnender Glatze. Der hatte sich ganz väterlich gegeben und mir gut zugeredet, bis ich einfach Ja und Amen gesagt hatte. Dieses Mal würde es anders werden.   Auf meiner Seite, der Seite, auf der wir reingekommen waren, saß ein Mann, von dem ich wusste, dass er der Anwalt war, der mich hier vertreten sollte. Tobias hatte uns beide vor einigen Tagen vorgestellt und wir hatten besprochen, was heute passieren sollte. Er war ein hagerer, schon leicht angegrauter Typ, der seinen Job aber wohl verstand und eigentlich ganz nett war. Er machte nicht viele Faxen, sondern kam immer schnell zum Punkt. Das hatte mir gefallen.   „Wir werden das Ganze so kurz wie möglich halten“, hatte er gemeint. „Den Antrag auf alternative Unterbringung werde ich vorher schon einreichen, dann sollte es möglich sein, das zusammen abzuhandeln.“   Ich hoffte nur, dass er Recht damit hatte.   Auf der anderen Seite saßen nebeneinander meine Eltern und ihr Anwalt. Meine Mutter war blass, ihre Haut teigig und unter ihren Augen hingen dicke Tränensäcke. Mein Vater hingegen wirkte, als würde er gleich irgendetwas zertrümmern. Rot und voller Wut. Eigentlich erwartete ich, dass sich bei dem Anblick irgendetwas regte. Erinnerungen vielleicht. An die Streits, die Schläge, das Geschrei. Aber da war nichts. Die Dinge, an die ich mich erinnerte, waren eher anderer Natur. Mein kleines, mit einer Schrankwand und einem Bett vollgestopftes Zimmer, die Küche mit der abgewohnten Küchenzeile und den Trockenblumen, die auf dem kleinen Tisch gestanden hatten, an dem ich immer gefrühstückt hatte. Das Badezimmer mit dem plüschigen, rosa Vorleger und dem Geruch nach feuchter Wäsche, der von den Leinen herrührte, die über der Badewanne gespannt waren, und schließlich die Zocksessions im Zimmer meines Bruders, bei denen er mich nie gewinnen ließ. Meine Eltern kamen darin nicht vor. Ich wusste, dass sie da gewesen sein mussten, aber ihre Präsenz war merkwürdig nebulös. Gleichzeitig da und nicht da. Wie Geister.   „Manuel Heuser?“ wurde ich schon wieder gefragt. Als ich nickte, lächelte die Richterin. „Schön, dann können Sie – oder soll ich lieber du sagen?“ „Du ist okay.“ „Gut, dann kannst du gerne an der Seite Platz nehmen. Du musst dich nicht in die Mitte stellen.“ „Ich möchte aber.“   Während Tobias sich neben meinen Anwalt setzte, trat ich zu dem Tisch, der in der Mitte des Raumes stand. Hier drinnen war es deutlich freundlicher als draußen. Die Tische und Stühle waren aus hellem Holz und durch die großen Fenster schien die Sonne herein. Neben mir hörte ich meinen Vater atmen.   Die Richterin erklärte noch einmal, warum wir hier waren. Das meine Eltern einen Antrag eingereicht hätten, um die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung auszusetzen, und dass ich gleichzeitig einen Gegenantrag gestellt hätte auf Unterbringung in einer betreuten Wohnanlage. Zum Schluss meinte sie, dass sie nun gerne noch einmal von mir hören wollte, warum ich den Antrag gestellt hatte.   Als sie schwieg und es an mir war, das Wort zu ergreifen, wurde mir flau im Magen. Plötzlich wusste ich nicht mehr, ob ich das wirklich schaffen würde. Ob das mit Leif nicht doch eine Schnapsidee war und ob ich nicht lieber sagen sollte, dass ich weiter in Thielensee bleiben wollte. Ich war doch noch nicht so weit. „Manuel? Möchtest du etwas sagen?“   „Ich …“, begann ich und brach ab. Dabei hatte ich es doch geübt. Ich hatte es geübt!   „War ja klar“, murmelte mein Vater neben mir. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie meine Mutter ihm die Hand auf den Arm legte. Er aber knurrte sie an, dass sie gefälligst die Finger von ihm lassen sollte. Da wusste ich, was ich zu tun hatte. „Ich weiß, dass ich noch nicht lange in Thielensee bin, aber ich denke, dass ich in der Zeit große Fortschritte gemacht habe. Ich bin wieder zur Schule gegangen, hab an meinem Aggressionsproblem gearbeitet und ich rauche nicht mehr. Und natürlich hab ich auch sonst keine Drogen genommen. Ich habe dort ein neues Leben begonnen und …“   An dieser Stelle schnaubte mein Vater.   „Wer’s glaubt.“   Langsam drehte ich mich zu ihm herum. „Weißt du was?“, sagte ich zu ihm. „Es ist mir egal, ob du es glaubst. Die Wahrheit ist, dass ihr euch nie großartig um mich geschert habt. Euch geht es doch gar nicht um mich, sondern nur um das Geld, das ihr bekommt, wenn ich wieder bei euch wohne. Und dass ihr nicht aus der Wohnung rausmüsst. Aber ihr habt es verkackt. Ihr habt es verkackt, richtige Eltern zu sein. Für mich und für Pascal.“ „Manuel!“ Die Richterin sah mich streng an. „Bitte mäßige deinen Ton. Du bist hier immer noch vor Gericht. „Ja, natürlich“ , murmelte ich. „Entschuldigung“   Es war wirklich unglaublich, dass der Typ mich immer noch so aus der Fassung bringen konnte. Aber damit sollte jetzt Schluss sein. Endgültig. „Meine Eltern möchten, dass ich wieder nach Hause komme. Aber mein Zuhause ist kein Zuhause. Es ist ihre Wohnung, wie sie nicht müde werden, mir zu erzählen, und ich darin nur ein ungern gesehener Gast. Und deswegen möchte ich … ich möchte mir ein eigenes Zuhause schaffen. Ich möchte einen Platz haben, an den ich gehöre, zusammen mit einem Menschen, der mich liebt.“ Wieder konnte mein Vater sich nicht zurückhalten. Er lachte. „Also das ist es. Du hast dir ein Mädel aufgerissen und willst sie in Ruhe knallen können. Als wenn du das bei uns nicht könntest.“   Ich atmete tief durch. Das war die Vorlage, auf die ich gewartet hatte. „Es ist kein Mädchen“, sagte ich und sah ihm dabei direkt in die Augen. „Sein Name ist Leif und ich liebe ihn.“   Für einen Augenblick war es so still im Gerichtssaal, dass man wohl die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können, wenn da nicht Teppichboden unter meinen Füßen gelegen hätte.   Mein Vater starrte mich einfach nur an. „Sag das nochmal“, verlangte er. Ich konnte förmlich sehen, wie sein Gesicht immer röter wurde. „Ich sagte, dass ich ihn liebe und er mich. Und das ist wohl mehr, als ihr von euch behaupten könnt.“   Die Richterin fing hinter mir an zu sprechen. Irgendwas von der Wohnanlage, die wir als möglichen neuen Wohnort angegeben hatten, und meinem Schulabschluss und alles solchen Dingen. Ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Stattdessen beobachtete ich meinen Vater. Wie würde er reagieren?   „Nun, Herr und Frau Heuser. Möchten Sie unter diesen Umständen Ihren Antrag wirklich aufrecht erhalten?“   Mein Vater würdigte die Richterin keines Blickes und auch meine Mutter, die sich hilfesuchend an ihn wandte und sich von ihm vielleicht Zuspruch oder ein tröstendes Wort erhoffte, sah er nicht an. Seine stechenden Augen richteten sich einzig und allein auf mich, bevor er den Mund auftat und voller Widerwillen verkündete: „So einen will ich bei mir zu Hause nicht haben.“ Damit stand er auf und verließ den Gerichtssaal, obwohl ihm die Richterin nachrief, dass er nicht so einfach gehen könnte und das Ganze ein Bußgeldverfahren zur Folge haben würde. Als die Tür hinter ihm zufiel, herrschte erneut Schweigen. Meine Mutter sah mich aus feuchten Augen an. „Ist das wahr?“, fragte sie. Ihre Stimme quietschte unangenehm. „Ja, ist es“, sagte ich. Sie tat mir leid, wie sie da saß in ihrem besten Kleid, das lange schon kein gutes Kleid mehr war, und offenbar nicht imstande war zu begreifen, was hier gerade abging. Vielleicht war sie selbst einmal da gewesen, wo ich gerade stand. Jung, glücklich, verliebt. Heirat, Kinder, eine eigene Wohnung und jede Menge Pläne. Wie es aussah, hatte sich keiner davon erfüllt.   Meine Mutter sah den Anwalt an. „Dann soll er gehen. Ich … ich will ihm da nicht im Weg stehen.“ „Heißt das, dass Sie den Antrag zurückziehen?“, wollte die Richterin wissen. Meine Mutter schniefte. „Ja. Ja, das tue ich.“   Sie wandte sich wieder an mich. „Es tut mir so leid. Ich hab das alles nicht gewollt.“   „Ich weiß“, antwortete ich. „Aber du hast es auch nicht verhindert. Du bist genauso schuld daran wie er.“   „Aber was hätte ich denn tun sollen?“, jammerte sie. „Dein Vater …“   „Du hättest dir Hilfe suchen können“, sagte ich und sah sie nicht mehr an. Ich wusste, dass ich sonst eingeknickt wäre. Ich brauchte jetzt diesen Schnitt, damit ich endlich frei sein konnte. Ein Schritt, den sie vermutlich bereits vor Jahren verpasst hatte. Aber das war nicht meine Schuld. Ich konnte ihr nicht helfen. „Dann wird hiermit dem Antrag von Manuel Heuser stattgegeben. Bis die angestrebte Unterbringung eingerichtet werden kann, verbleibst Du zunächst noch in Thielensee. Alles Weitere werden wir dann mit deinem Anwalt klären. Du bist entlassen.“   Ich wartete noch, dass der unvermeidliche Hammerschlag erfolgte, aber den gab es hier im Familiengericht wohl nicht. Im Grunde war er auch nicht notwendig, denn der Stein, der mir vom Herzen polterte, sorgte schon für genug Donnern. In meinen Ohren hörte ich meinen Pulsschlag hämmern. Tobias, der sich ebenfalls erhoben hatte, lächelte mich an. „Na los, Großer. Dann fahren wir mal nach Hause, ja?“   „Okay“, antwortete ich und auch wenn ich wusste, dass ich nicht mehr lange in Thielensee bleiben würde, fühlte es sich richtig an, dass er es so sagte. Denn genau das war das Heim inzwischen für mich. Ein Zuhause.     Als wir ankamen, waren die anderen schon mit dem Mittagessen fertig. Tobias hatte mich zur Feier des Tages zu McDonald’s ausgeführt. Nie hatte Fast Food so gut geschmeckt. In der Küche klapperte jemand mit Geschirr. „Ich geh mal gucken, ob ich helfen kann“, meinte ich zu Tobias und bog um die Ecke, nur um im nächsten Moment vor Jason zu stehen. Er mühte sich mit dem großen Suppentopf ab. „Hey, brauchst du Hilfe?“   Jason drehte sich zu mir um und verzog das Gesicht. „Wenn du weißt, wie ich den angebrannten Scheiß hier abkriege, gerne.“ „Lass mal sehen.“   Ohne ein weiteres Wort hielt mir Jason den Topf entgegen. Am Boden klebte eine braune Kruste. Wovon war nicht erkennbar. „Wie ist das denn passiert?“ „Leif hat gekocht.“   Ich zog die Augenbrauen nach oben, sagte aber nichts. Das war auch etwas, das neu war. Leif versuchte sich neuerdings beim Essen einzubringen. Leider schmeckte das, was er zusammenrührte, meist nicht besonders gut. Außerdem bestand es fast nur aus Gemüse. Halbrohem Gemüse. Oder wie Jason es ausdrückte: Es schmeckte ziemlich grün.   „Gib mal ein Spülaschinentab.“ „Und dann?“ „Wirst du ja sehen.“   Ich stellte den Topf auf den Herd, gab Wasser hinein und den Tab. Dann drehte ich die Herdplatte auf volle Pulle. „Und was wird das?“ „Ist ein alter Trick, wie man Angebranntes am schnellsten abkriegt.“ „Hast du das aus dem Internet?“ „Nee, von meiner Oma.“ Dass ich das Ganze doch aus dem Netz hatte, musste er ja nicht unbedingt wissen. Jason stöhnte und lehnte sich an den Tresen. „Dein … Freund ist wirklich ne komische Type.“   Ich drehte mich nicht um sondern sah dem Wasser im Topf dabei zu, wie es anfing zu kochen. Die blau gelbe Tablette begann sich aufzulösen.   „Ja, ich weiß“, gab ich zurück.   „Und ihr beide seid echt … also ich mein …“   Jason stockte, ich seufzte. „Ja, sind wir. Ich dachte, das hätten wir geklärt.“ „Aber du wirkst gar nicht schwul.“   Ich schnaubte und drehte mich nun doch um. Jasons Wangen nahmen einen dunklen Rotton an. „Ah, so mein ich das nicht, aber … du bist doch voll normal. Also ja, du kannst Wäsche waschen und kannst das da.“ Er gestikulierte in Richtung Herd. „Aber eigentlich hatte ich immer gedacht, dass du …“   Ich schnaubte noch einmal. „Ja, tut mir leid, dass ich dich in dem Glauben gelassen habe. Ich geh damit auch nicht unbedingt hausieren, weißt du?“   „Mhm“, machte Jason. Offenbar war da noch etwas, das er auf dem Herzen hatte. Als ich danach fragte, seufzte er.   „Meine Mama hat angerufen. Sie hat ihren Stecher in den Wind geschossen und will, dass ich wieder nach Hause komme.“   Ich nickte leicht. Daher wehte also der Wind. „Und du? Willst du das denn auch?“   Jason zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ich … also irgendwie gehen jetzt ja hier alle. Sven, Nico, du und Leif sowieso. Bei Dennis weiß ich es nicht, aber der schweigt sich ja auch immer aus. Aber irgendwie … irgendwie geht ihr alle eure eigenen Wege. Eigene Wohnung, Lehre und so. Und ich … ich geh wieder nach Hause zu meiner Mutter? Das ist doch scheiße.“   Hinter mir fing der Topf an zu brodeln. Ich stellte den Herd ab und zog den Topf zur Seite. Der Geruch des Spültabs stach mir in die Nase.   „Weißt du … vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn du wieder nach Hause gehst. Familie ist wichtig, weißt du?“ Jason lachte.   „Hast du deine nicht gerade verklagt.“   Ich musste ebenfalls lachen. In dem Zusammenhang klang das schon etwas verrückt. „Tja, manchmal ist die Familie, in die du geboren wurdest, eben nicht die richtige für dich. Dann musst du dir eine neue suchen. Aber wenn sie es ist, dann ist das das Beste, was dir passieren kann.“   Jason sah mich an wie ein Auto. Ich grinste. „Mund zu, Fliegen kommen rein.“   Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Arschloch!“   Ich grinste noch breiter.   „Hab nie behauptet, dass ich keins wäre.“   Er trat zu mir, schubste mich grob zur Seite und grummelte irgendwas darüber, dass der Topf wenigstens sauber sei und das ich ja immerhin das könnte. Ich lächelte leicht, während ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer machte.   Ich mag dich auch, Jason. Als ich um die Ecke bog, stand da jemand gegen die Wand gelehnt. Es war Tobias. Er betrachtete mich mit einem unübersehbaren Schmunzeln. „Was?“, blaffte ich. Tobias hob abwehrend die Hände. „Gar nichts, großer Meister.“   Ich knurrte und ging an ihm vorbei. Er folgte mir und schloss zu mir auf. Als wir an der Treppe ankamen, knuffte er mich. „Das war ganz schön tiefsinnig, was du Jason da erzählt hast.“   „Ach echt?“, fragte ich und tat so, als hätte ich das gar nicht bemerkt. Irgendwie war es mir unangenehm, dass Tobias das mitbekommen hatte. „Ja. Genau das Gleiche, hätte ich ihm auch gesagt. Und ich glaube, er und seine Mutter könnten es hinbekommen. Also irgendwie zumindest. Bis der nächste Mann auf der Bildfläche erscheint.“   Ich musste an meine Mutter denken und seufzte. „Warum sind Männer eigentlich immer die Arschlöcher?“   Tobias begann zu lachen. „Oh, glaub mir. Ich hab da auch schon ganz andere Sachen erlebt.“ „Ach echt? Erzählst du es mir?“   Er lächelte.   „Ein anderes Mal vielleicht. Jetzt wartet erst mal Leif auf dich. Er hat schon drei mal nach dir gefragt.“   Ich nickte.   „Alles klar. Dann … brauchst du mich oben nicht reinzulassen.“ „Ich weiß.“ „Warum bist du dann hier?“ Tobias zögerte.   „Weil … weil ich dir sagen wollte, dass ich echt stolz auf dich bin. Du hast das prima gemacht heute.“   Ich sah zu Boden. Es war immer noch merkwürdig, so gelobt zu werden. „Und wenn du in deinem neuen Zuhause mal Hilfe brauchst, dann melde dich einfach. Ich hab immer Zeit für dich, okay?   Ich lachte spöttisch. „Ja klar. Bis die nächsten Idioten hier auftauchen und dir das Leben schwermachen.“ „Ach, so schlimm ist es nicht. Manchmal hat man Erfolg und dann ist es richtig toll.“ Er legte den Kopf ein bisschen schief und musterte mich. „Wenn du willst, kann ich dir ja mal raussuchen, was man so braucht, um hier zu arbeiten. So als Ausbildung, meine ich.“   Erstaunt hob ich den Kopf. „Jetzt verarschst du mich.“   Tobias lächelte immer noch. „Nein. Wenn das so wäre, würde ich ein ernsteres Gesicht machen. Das hier meine ich so, wie ich es sagte. Ich denke, du hättest das Zeug dazu. Wenn du dein eigenes Leben irgendwann im Griff hast, meine ich. Aber ich glaube, du bist da auf dem richtigen Weg.“   Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber das musste ich auch nicht. Tobias machte bereits eine scheuchende Handbewegung, „Na los. Sieh erst mal zu, dass du Leif nicht länger warten lässt. Husch-husch!“   Ich tat so, als würde ich salutieren, bevor ich mich umdrehte und weiter den Gang entlangging. Vorbei an den Graffitis, die wir hinterlassen hatten. Der Hund, die Katze, die Taube und mein komischer Wurm; für immer an diesen Wänden verewigt. Wie ein Teil von uns, der für immer hier bleiben würde. Oder wenigstens so lange, bis die Wände mal wieder gestrichen werden mussten.   Aber vielleicht komme ich dann wieder und male etwas Neues an die Wand.   Mit dem Gedanken setzte ich meinen Weg zu Leif fort. Fürs Erste würde er das nächste Kapitel in meinem Leben werden. Aber wer wusste schon, was danach kam. Vielleicht ein neues Zuhause, eine neue Stadt, ein neuer Traum. Vielleicht aber auch eine Rückkehr hierher. Zu dem Ort, an dem ich das erste Mal in meinem Leben wirklich angekommen war.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)