Ganz tief drin von Maginisha ================================================================================ Kapitel 3: Der letzte Dreck --------------------------- „Hast ja schnell den Schwanz eingekniffen.“ Der provozierende Unterton in Svens Stimme war auch über das Geräusch, mit dem sich die Säge in die Holzlatten fraß, nicht zu überhören. Ich hob den Kopf und schickte ihm einen herausfordernden Blick. „Was willst du damit sagen?“ Er grinste dreckig, während er fortfuhr, die Latte zu zersägen, die ich auf dem Bock festhielt. „Dass du ne Pussy bist. Das will ich damit sagen.“ Die Säge erreichte das Ende der Latte und mit einem Knirschen gab der Rest des Holzes nach. Das Stück, das Sven abgesägt hatte, fiel zu Boden. Er senkte die Hand mit der Säge, während er die andere affektiert in die Höhe hob, das Handgelenk abknickte und mit fistiliger Stimme verkündete: „Hi, ich bin Manuel und ich steh auf Ponys und Regenbögen.“ Meine Finger krallten sich in das unbehandelte Holz in meinen Händen. Ich wusste, dass ich mir entweder gleich einen Splitter einfing oder Sven das Ding in die Fresse knallen würde. Bevor es jedoch so weit kommen konnte, tauchte Tobias wie aus dem Boden gewachsen auf. „Na, alles klar bei euch? Sind die Latten fertig?“ „Klar“, gab Sven grinsend zurück. „Mit Latten kennt Manuel sich aus.“ Er ließ offen, wie er das meinte, und trollte sich zu den anderen. Ich sah ihm nach und fragte mich, wie er jetzt auf einmal darauf kam. Ob Leif was gesagt hatte? „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Tobias sah mich fragend an. „Ja, alles bestens“, knurrte ich. Die Antwort war eine Lüge, aber eine andere gab es nicht. Es war nichts in Ordnung und Tobias wusste das. Sonst hätte er wohl nicht hinterhergeschoben, dass ich jederzeit zu ihm kommen konnte, wenn ich was auf dem Herzen hatte. Diese verständnisvolle Tour ging mir langsam echt auf die Eier. Der sollte aufhören, mich wie ein kleines Kind zu behandeln. „Ich kann auf mich aufpassen, klar?“, fuhr ich ihn an. Ich brauchte niemanden, der mir Händchen hielt. Ich konnte meine Probleme selbst lösen. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre auch gegangen. Eine rauchen. Runterkommen. Aber das ging ja nicht, weil ich in diesem Scheißknast festsaß. Mit Arschlöchern wie Sven, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatten, mir den Aufenthalt hier zur Hölle zu machen. Und mit denen musste ich jetzt ein Hochbeet basteln. Um noch mehr Gemüse anzubauen. Lecker und ökologisch und leck mich doch am Arsch. Wozu gab es schließlich Supermärkte? Thomas klatschte tatkräftig in die Hände. „Wenn die Latten fertig zugesägt sind, können wir jetzt die Kopfenden aufstellen. Danach kommen die Seitenteile dran.“ Nico und Jason, die gerade noch kräftig den Pinsel geschwungen hatten, machten sich jetzt daran, die kürzeren Bretter zwischen den Holzpfählen zu montieren, die Thomas zuvor zusammen mit Leif in die Erde getrieben hatte. Unnötig zu sagen, dass ich sie dabei beobachtet hatte. Leif hatte auf dem Boden gekniet und den Pfahl gehalten, während Thomas mit einem schweren Hammer draufgeschlagen hatte. Dabei hatte das Fröschlein mich keines Blickes gewürdigt wie auch schon beim „Kaffeetrinken“, das aus ein paar trockenen Keksen und Limo bestanden hatte. Ich hatte die Brühe, die aus der altersschwachen Kaffeemaschine getröpfelt war, zwar probiert, aber schnell gemerkt, dass es ohne Zigarette dazu nur halb so befriedigend war. Dabei mochte ich Kaffee. Oder hatte ihn zumindest gemocht. Es war das Einzige, was zu Hause neben Alkohol immer vorrätig gewesen war. Ich streckte mich und bildete mir ein, in meinem Rücken etwas knacken zu hören. Seit über einer Stunde werkelten wir hier schon herum. Die Sonne brannte vom Himmel und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Die anderen hatten alle eine Flasche zum Trinken. Mir hatte niemand etwas angeboten und ich hatte mir nicht die Blöße geben wollen, um etwas zu bitten. „Hey, lass dich von Sven nicht ärgern. Der ist nur sauer, weil ihm sein Ausgang heute gestrichen wurde.“ Jason war neben mir aufgetaucht und strahlte über beide Hamsterbacken. Ihm schien dieser Scheiß hier sogar Spaß zu machen. Was er gesagt hatte, ließ mich allerdings aufhorchen. „Ausgang?“, fragte ich möglichst beiläufig nach. „Ja. Wir kriegen hier doch Ausgang. Anfangs nur kurz, aber später sind bis zu zwei Stunden drin. Wusstest du das nicht?“ Nein, das hatte ich nicht gewusst. Eine interessante Neuigkeit. Meine Mundwinkel zuckten. „Und warum kommt ihr danach wieder her?“ Die Frage war mir rausgerutscht, bevor ich es verhindern konnte. Jason hob die Schultern. „Weiß nicht. Am Anfang hab ich auch gedacht, dass ich es hier nicht aushalte, aber … Die Alternative ist halt auch Mist. Und hier hört einem wenigstens jemand zu, wenn man Probleme hat. Thomas und die anderen helfen einem. Auch mit der Schule. Ich will ja später mal was aus meinem Leben machen. Einen Beruf lernen und so.“ Jason wollte wohl noch mehr sagen, aber als Nico nach seinem Haustier pfiff, trabte er ganz brav zurück und hielt die Schrauben, die dazu dienen sollten, die längeren Latten zu befestigen. Mir war klar, dass das nur ein Vorwand war, um ihn von mir wegzubekommen. Die wollten mich hier nicht. Um das zu kapieren, brauchte ich keinen Schulabschluss. Das hatte ich oft genug erlebt. „Manuel? Hilfst du uns mal mit dem Gitter?“ Tobias hatte eine große Rolle Kaninchendraht in der Hand und Leif stand daneben mit Hammer und Nägeln. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, das Zeug beiseitezulegen um mitanzupacken. Aber offenbar war das nicht gewollt. Weil ich ja auch eine Aufgabe brauchte. Damit ich mich dazugehörig fühlte. Haha! „Nö.“ Ich hatte keinen Bock, mich noch weiter herumschubsen zu lassen. Sollten die Pisser ihr Scheißbeet doch alleine bauen. Ich würde mich hier ausklinken. „Ich geh mal ne Runde spazieren“, verkündete ich und hatte mich umgedreht, bevor jemand was dagegen sagen konnte. Ich kam jedoch kaum zehn Meter weit, bevor ich jemand hinter mir her joggen hörte. Es war natürlich Tobias. „Hey, du kannst nicht einfach so abhauen. Nachher hast du noch Freistunde, aber jetzt wird was gemeinsam gemacht.“ „Ach ja?“, fauchte ich, „Dann frag doch die anderen mal, wie viel Bock sie auf den Scheiß haben, zu dem ihr uns hier zwingt. Das hier ist doch auch nicht viel anders als im Knast. Mit euren Schlüsseln und Regeln und der ganzen Scheiße. Such dir wen anders, dem du damit auf den Sack gehen kannst.“ Ich merkte, wie meine Unterlippe zu zittern begann. Scheiße! Ich würde jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Ich würde nicht heulen. Oder ihn schlagen, denn meine Hand hatte sich ganz von allein zur Faust geballt. Tobias hingegen blieb total ruhig. „Ist der Entzug, was?“ „Was?“ Ich sah ihn einige Momente lang verständnislos an, bis ich kapierte, was er meinte. Als mir dann bewusst wurde, dass ich gerade tatsächlich unbedingt eine rauchen wollte, wurde das Gefühl nur umso drängender. Ich wollte das jetzt. Ich brauchte es. Diese tiefe Befriedigung, wenn der Rauch durch meine Lungen strich, das beruhigende Gefühl, wenn das Nikotin die Blutbahn erreichte. Wenn alles irgendwie leichter und ein bisschen weiter weg schien. „Willst du was dagegen haben? Kaugummis oder so.“ Ich wollte keine Scheißkaugummis. Ich wollte eine Zigarette. „Ja, vielleicht“, murmelte ich trotzdem und sah zu Boden. Fuck, ich war doch kein Junkie. So verkorkst war ich nicht. Ich ging nicht auf den Strich, nahm keine Drogen, hielt meine Sachen sauber. Selbst Jens hatte damals ganz verblüfft festgestellt, wie ordentlich ich war. Ich hasste es, wenn jemand etwas durcheinander brachte. Dementsprechend scheiße hatte es sich angefühlt, als Tobias mir gesagt hatte, dass hier darüber Protokoll geführt wurde, wie oft ich duschte, mir die Zähne putzte, meine Wäsche wechselte und wusch. Hier wurde einfach alles kontrolliert und ich wollte nur noch weg. Ich hatte das Gefühl, hier nicht atmen zu können. Es erdrückte mich. „Du gewöhnst dich dran“, meinte Tobias plötzlich, als hätte er meine Gedanken erraten. Im nächsten Moment sagte ich mir, dass das Unsinn war. Es war einfach nur irgendeine Floskel, die er da von sich gab. Leeres Blabla ohne was dahinter. „Und ich kann dir wirklich gerne was besorgen, das es leichter macht.“ „Was denn? Gras?“ Ich lachte rau, weil es in meinem Hals kratzte. Er begann zu grinsen. „Na, wenn dir nach Gras ist, kannst du dir gerne den Rasenmäher schnappen. Ich werde dich nicht aufhalten.“ Ganz kurz sah ich zu ihm hoch und dieses Lächeln, ein echtes Lächeln, fühlte sich irgendwie gut an. Ein schneller Blick über seinen Körper, der inzwischen in kurzen Klamotten steckte, verriet, dass das, was sich da unter dem Stoff verbarg, nicht von schlechten Eltern war. Außerdem hatte er wohl wirklich noch mehr Tattoos. An seinem Bein ringelte sich ein Drache nach oben und verschwand irgendwo im rechten Hosenbein. Wo er wohl endete? Scheiße! Jetzt denke ich schon über Sex mit Tobias nach. Hätte er mich und Leif nicht unterbrochen, hätten wir dieses Problem jetzt nicht. Ob das wohl auch in meiner Akte stand? Dass ich am anderen Ufer fischte? Wahrscheinlich nicht. Aber Jens hatte es vielleicht erwähnt, als er den Platz für mich gesucht hatte. Aber ob die das von Leif auch wussten? Konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. Das hieß wohl, dass wir safe waren, solange uns keiner erwischte. „Wie sieht’s eigentlich mit Sport aus?“ Tobias’ Lächeln wurde breiter. Ich hatte wohl das Richtige gefragt. „Du kannst dich gerne austoben, wenn du willst. Wir haben den Park oder auch den Sportplatz, da kannst du joggen gehen. Bälle sind auch vorhanden. Wir spielen oft alle zusammen Fußball oder Basketball. Manchmal auch Volleyball, gehen am See schwimmen. Ist alles möglich.“ Schwimmen am See? Mit Tobias? Nette Vorstellung. „Und wie sieht’s mit Kraftsport aus?“ Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein, dafür haben wir hier nichts da. Du kannst dir natürlich gerne ein paar Wasserflaschen ausborgen, um die als Hanteln zu benutzen. Sag uns einfach, wenn du was brauchst.“ Der letzte Satz fegte die Anfänge des Lächelns, das sich in mein Gesicht geschlichen hatte, wieder hinfort. Richtig, da war ja was. Ich musste fragen, wenn ich etwas wollte, statt es mir einfach nehmen zu können. Sogar wenn es um so einfache Sachen wie Kaugummis oder eine Flasche Wasser ging. Es war wirklich zum Kotzen. „Ja, danke.“ Für nichts. „Komm, wir gehen zurück zu den anderen. Nach dem Kaninchendraht kommt die Folie ins Beet, da müssen wir alle mitanpacken.“ Es war eine billige Ausrede. Das Beet maß maximal drei Meter in der Länge und selbst vier Leute wären mehr als genug gewesen, um das Ding auszukleiden. Ich musterte die sprichwörtliche Hand, die Tobias mir entgegengestreckt hatte, mit einem argwöhnischen Blick. Sicher, ich hätte ihm jetzt folgen können. Aber ich wusste, wie das ausgesehen hätte. Als hätte er mich dazu gebracht zurückzugehen. Und das Schlimmste war, dass es die Wahrheit gewesen wäre. Es hätte ausgesehen, als wäre ich eingeknickt. Hätte mich weichkochen lassen. Als hätte ich keinen Respekt verdient. „Ich … ich will mich erst noch ein bisschen … abregen. Ist das okay?“ Ich legte einen bittenden Unterton in meine Stimme, versuchte weich auszusehen. Das, was die anderen nicht sehen sollten, weil sie es für echt gehalten hätten. Aber Tobias fiel darauf rein. Wie dumm! „Klar“, meinte er gönnerhaft. „Du kannst dich ja ein bisschen im Park umsehen. Aber nicht über die Mauer steigen.“ Er zwinkerte mir zu, bevor er sich umdrehte und zu den anderen zurückging. Im Weggehen gönnte ich seinem Hintern einen langen Blick. Ja, da war tatsächlich so einiges Schönes dran. Aber es war ja kein Rankommen. Da bildete ich mir nichts ein. Selbst wenn er schwul war, würde er nichts mit mir anfangen. Nicht solange ich hier drinnen unter seiner Fuchtel stand. Scheiße! Kein Sex, keine Zigaretten, kein Sport. Was soll ich denn hier sonst machen? Ich beschloss mir das, was Tobias als „Park“ betitelt hatte, mal genauer anzusehen. Beim Näherkommen stellte sich jedoch heraus, dass es sich dabei lediglich um eine große Rasenfläche handelte, auf der einige Bäume standen. Begrenzt wurde sie von einer hohen, grau verputzten Mauer, auf der eine Reihe von roten Ziegeln lag. Ätzend und sterbenslangweilig. Ich begann, mitten über die Wiese zu wandern. Einfach um nicht auf dem Weg zu bleiben. Unter den Bäumen war es nur unmerklich kühler. Einige von ihnen blühten. Ich hörte Bienen, die scheißefleißig über mir rumsummten, und zu meinen Füßen krabbelte einer von diesen rotschwarzen Käfern eilig in eine mir unbekannte Richtung. Wie er sich da so vorwärts plagte über Stöcke und Steine und doch unbeirrt seinen Weg fortsetzte, kochte auf einmal die Wut in mir hoch. Wieso wusste so ein Drecksinsekt genau, wo es hinwollte, während ich so gar keinen Plan hatte? Ich stand doch weit über so einem beknackten Käfer. Ehe ich es mir recht überlegt hatte, hob ich den Fuß und zermatschte das Vieh mit einem einzigen Tritt. Danach wartete ich darauf, dass ich mich besser fühlte, aber die Wirkung blieb aus. Stattdessen hatte ich jetzt Käferschmiere an meiner Sohle kleben und fühlte mich noch mieser als vorher. Scheiße! Während ich meinen Schuh am Gras abwischte, erregte auf einmal einer der Bäume meine Aufmerksamkeit. Er stand näher als die anderen an der Mauer. Wenn man dort hochkletterte, war die Freiheit nur noch einen Katzensprung entfernt. Ich konnte es riechen. Schnell blickte ich mich nach Tobias und den anderen um. Ob sie von dieser Möglichkeit wussten? Ich war doch unter Garantie nicht der erste, der aus dieser abgefuckten Anstalt abhauen wollte. Vielleicht haben sie es übersehen. Oder der Baum ist erst dieses Jahr so groß geworden. Könnte ja sein. Am besten sehe ich mir das mal genauer an. Unter dem Baum angekommen, stellte ich fest, dass ich mich tatsächlich nicht geirrt hatte. Wenn man es schaffte, irgendwie die unteren Äste zu erreichen, sollte es möglich sein, sich an einem von ihnen bis zur Mauer zu hangeln. Dahinter befand sich, wie ich wusste, eine ruhige Allee. Die Gefahr, bei einem Ausbruch entdeckt zu werden, war somit gleich Null. Es war perfekt. „Brauchst du Hilfe beim Raufkommen?“ Ich schrak zusammen und wirbelte herum. Zu meiner Erleichterung war es nicht Tobias, der hinter mir stand, sondern Leif. Seine Gestalt wirkte im Sonnenlicht seltsam durchscheinend. „Du hast also die Hintertür gefunden. Gratuliere.“ Ich erwiderte nichts darauf. Er schnaubte belustigt, schlenderte an mir vorbei und legte die Hand auf die glatte, braune Rinde. „Ich hab damals ne Woche gebraucht, bis ich’s geschnallt habe. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass damals auch Winter war. Alles voller Schnee und so.“ Er warf einen Blick über die Schulter zu mir zurück. „Und? Soll ich dir nun raufhelfen?“ Ich drückte den Rücken durch und steckte die Daumen in die Hosentaschen. „Ich hatte nicht vor abzuhauen.“ „Ach nein? Wärst du der Erste.“ Arschloch! Ich hätte ihm am liebsten seine überhebliche Fresse poliert. Erst machte er einen auf Anmache, dann zeigte er mir die kalte Schulter und verriet mich sogar an Sven, nur um jetzt wieder angekrochen zu kommen? Konnte er vergessen. „Ich sagte doch, ich hab nicht vor abzuhauen.“ „Okay.“ Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme regte mich noch mehr auf als die Tatsache, dass er mich nicht mal ansah, während er mit mir sprach. Er wollte also Spielchen spielen. Na fein. Darin war ich auch nicht schlecht. „Hast du eigentlich vor, noch zu Ende zu bringen, was du vorhin angefangen hast? Oder war das nur heiße Luft, die da aus deinem Froschmaul kam?“ Er wurde kurz langsamer, beendete die Runde jedoch erst noch, sodass er mir ins Gesicht blicken konnte, bevor er antwortete. „Wenn du den Schneid dazu hast“, gab er lässig zurück. „Klar“, antwortet ich sofort. „Sag mir einfach wann und wo.“ Erst nachdem ich das gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich ihm damit die Zügel überlassen hatte. Und mit Garantie hatte er es genau darauf angelegt. Diese Ratte! Er lächelte, wie um mir zu zeigen, dass es ihm scheißegal war, dass ich ihn durchschaut hatte. „Dann heute Nacht, wenn das Licht aus ist. Ich komm zu dir rüber. Warte einfach, bis ich klopfe.“ Ich nickte betont lässig. „Geht klar.“ Er sah nochmal hoch zu dem Baum, als wolle er sich verabschieden. „Gut, dann sollten wir zurückgehen. Und uns heute Abend benehmen. Wenn sie einen von uns einschließen, wird es nichts.“ Mir lag auf der Zunge zu fragen, wie er denn überhaupt zu mir rüberkommen wollte – ich wusste immerhin, dass es eine Nachtwache gab und da war ja auch noch die Sache mit den Türen – aber eigentlich war es mir auch egal. Solange ich ihn dann vielleicht dazu brachte, mit seinem Lippen auch was anderes zu machen, als nur große Töne zu spucken, sollte es mir recht sein.     Die Zeit bis zum Abendessen verbrachte ich damit, die Wand in meinem Zimmer anzustarren und mir auszumalen, was ich machen würde, wenn ich erst hier raus war. Als Tobias mich dann holen kam, warf er einen erstaunten Blick auf meinen Koffer. „Ich dachte, du hättest inzwischen ausgepackt.“ „Keinen Bock gehabt“, gab ich zurück. Er schnalzte mit der Zunge. „Nach dem Essen wird aber ausgeräumt. Der Koffer muss aus dem Zimmer. Klar?“ „Ja Ma’am“ Er lachte und ich grinste ebenfalls, als hätte ich einen lustigen Witz gemacht. Ich konnte so scheißefreundlich sein. Damit war es jedoch vorbei, als ich Sven über den Weg lief. „Na, Schönheitsschlaf vorbei?“ „Fick dich doch!“ „Manuel!“ Henning, ein neuer Erzieher, der sich mir beim Runterkommen als „die Nachtschicht“ vorgestellt hatte und die Aufsicht über die Vorbereitung des Essens innehatte, runzelte vorwurfsvoll die Stirn. „So reden wir hier nicht miteinander. „Jaaa, ich weiß.“ Heute Nachmittag hatte ich mehr als einmal dieser und ähnlichen Ermahnungen lauschen dürfen. Tobias war da wesentlich toleranter. Ich wurde zum Tischdecken abkommandiert und verteilte Teller und Besteck auf der ovalen Holzplatte. Draußen schien immer noch die Sonne. Um diese Jahreszeit blieb es schon eine ganze Weile hell. Durch die Fenster konnte man in den Garten sehen, wo bereits das Gerüst des Hochbeets stand. Sah gar nicht mal schlecht aus. Andererseits hatte ich ja nicht viel dazu beigetragen. Die meiste Arbeit hatten die anderen gemacht. „Hey, sag mal, pennst du? Mach mal hinne. Ich hab Hunger.“ Ich bekam einen Stoß in den Rücken. Schon wieder Sven. So langsam reichte es mir. Ich fuhr mit geballten Fäusten zu ihm herum. „Pass auf, was du sagst, sonst könnte es sein, dass du bald aus ner Schnabeltasse trinken musst.“ „Ach ja?“, höhnte Sven und grinste schon wieder dreckig. „Das will ich sehen. Du haust doch nicht mal ne Fliege aus den Latschen.“ Wie von selbst spannte sich mein Arm und ich war kurz davor zuzuschlagen, als sich Henning zwischen uns schob und uns auseinanderdrängte. Da er ein ziemlicher Bär war, gelang ihm das mühelos. „Schluss jetzt“, brummte er. „Manuel, du machst jetzt den Tisch fertig. Und du kümmerst dich um Brot und Brötchen, wie ich dir gesagt habe. Sven grollte und wollte wohl noch etwas sagen, aber dann trollte er sich und ließ mich mit Henning alleine zurück. Der sah von oben auf mich herab. Mit den roten Haaren und dem Bart erinnerte er mich ein bisschen an einen Wikinger. Hägar der Schreckliche oder so. „Ich weiß, dass es hier am Anfang nicht immer einfach ist. Aber wenn du Schwierigkeiten hast, dann komm zu uns, statt es selbst zu regeln. Wir sind für euch hier.“ Wieder dieser Spruch, den auch schon Tobias gebracht hatte. Es war so lächerlich einfach zu durchschauen. „Ja, sicher“, brummte ich jedoch scheinbar nachgiebig und drehte mich um, um den Tisch weiter einzudecken. In meinem Rücken hörte ich Getuschel und wusste, dass Sven mit irgendwem über mich redete. Wahrscheinlich mit Nico. Arschlöcher. Alle beide. Das Essen verlief größtenteils schweigend. Ich bekam am Rande mit, dass Tobias mit Leif diskutierte, weil der noch was essen sollte. Leif weigerte sich zunächst, bis er schließlich einknickte und noch eine weitere Scheibe Brot völlig ohne jeden Belag zu sich nahm. Nachdem alle fertig waren, wurde gemeinsam abgeräumt und die Küche gereinigt, bevor wir uns zum Fernsehen ins Wohnzimmer zurückziehen durften. Irgendwer hatte eine dieser billigen Krimiserien eingeschaltet. Apathisch hingen alle auf ihren Sesseln und glotzten auf den Bildschirm, auf dem alle paar Minuten massenweise Autos in die Luft flogen. Erst, als ich mir die Fernbedienung krallte, kam plötzlich Leben in den müden Haufen. „Hey, Flossen weg. Ich will das sehen.“ Jason hatte sich aufgeplustert und machte Anstalten, mir das ergatterte Elektronikteil wieder wegzunehmen. „Aber ich nicht“, meinte ich lapidar und begann umzuschalten. „Na warte. Henning!“ Sofort erschien Henning mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm bei seiner Körpermasse gar nicht zugetraut hätte, auf der Bildfläche. Wahrscheinlich hatte er nebenan in der Küche gesessen und uns von dort aus beaufsichtigt. „Was ist denn los?“ „Manuel hält sich nicht an die Fernsehregelung.“ „Na und?“, fauchte ich. „Das war doch der totale Schwachsinn, was da lief.“ „Gar nicht“, maulte Jason zurück und Henning kam einfach zu mir und nahm mir die Fernbedienung wieder aus der Hand. „Man hat dir doch bestimmt erklärt, dass hier über das Programm abgestimmt wird. Wenn es dir nicht zusagt, kannst du gerne gehen und für nächste Woche eigene Wünsche anmelden.“ Ich stand da wie vom Donner gerührt. Hatte Tobias davon was gesagt? Ich kramte in meiner Erinnerung, aber da war nichts. Scheiße! „Das hättet ihr Wichser mir ja auch einfach sagen können“, motzte ich mit einem halben Seitenblick auf Leif, der so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Wütend wollte ich den Raum verlassen, doch Henning trat mir in den Weg und ließ mich nicht vorbei. „Wie mir scheint, hast du ein bisschen Schwierigkeiten damit, dir die Hausregeln zu merken“, brummte er. „Ich denke, da sollten wir nochmal nacharbeiten.“ „Und wie?“, fragte ich gedehnt. „Indem du sie jetzt einfach mal abschreibst. „Was?“ Ich starrte ihn an und hoffte, dass das ein Scherz war. Aber Henning sah nicht aus, als würde er Witze machen. „Ich krieg ne Strafarbeit, weil ich umgeschaltet habe?“ Henning schüttelte den Kopf. „Nein. Du bekommst Gelegenheit, dir die Regeln noch einmal einzuprägen, damit dir das Leben hier in Zukunft etwas leichter fällt. Oder ist es etwa nicht besser, wenn du weißt, wie hier was funktioniert?“ „Besser für euch vielleicht.“ Henning lächelte leicht. „Ach ja? Wenn du gewusst hättest, dass du nicht umschalten darfst, würdest du dann jetzt nicht immer noch da drüben sitzen und weiter mit den anderen fernsehen, anstatt auf deinem Zimmer zu hocken und die Hausordnung abzuschreiben?“ Ich schnaubte und wollte etwas Gepfeffertes darauf erwidern, aber ich konnte nicht. Mir fiel einfach nichts ein.   Wieder in meinem Zimmer schmiss ich Zettel und Stift wütend gegen die Wand. Der Stift hinterließ eine Spur auf der Tapete, bevor er auf mein Bett plumpste. Die Zettel flatterten wirkungslos zu Boden. „So eine dreimal verfluchte Scheiße!“, schrie ich noch einmal, bevor ich mich auf mein Bett schmiss, den Stift von dort ebenfalls auf den Fußboden beförderte und mich zusammenrollte, um nichts mehr hören oder sehen zu müssen. Kaum eine halbe Stunde später hörte ich Lärm im Treppenhaus. Die anderen kamen zurück. „Zähne putzen und dann ab ins Bett“, dröhnte Henning auf dem Gang. Einen Augenblick später wurde meine Zimmertür geöffnet. „Los, Manuel! Zeit fürs Bett.“ „Es ist ja noch nicht mal dunkel.“ Das stimmte nicht. Draußen war es sogar schon ziemlich dunkel und ich war mir sicher, dass es gerade mal neun Uhr durch sein konnte. Viel zu früh, um ins Bett zu gehen. „Ihr müsst aber morgen früh raus. Also los, ab ins Bad mit dir.“ Als ich nicht reagierte, seufzte Henning. Er hob die Zettel und den Stift auf, legte alles auf den Tisch und trat ans Bett. „Das bringt doch nichts“, meinte er noch ein wenig versöhnlicher als gerade eben. „Wenn du dich weigerst, wird es nur umso schlimmer. Außerdem: Bist du dir wirklich so wenig wert, dass du dir nicht mal die Zähne putzen willst? Dann hast du mit 30 nur noch Stummel im Mund. Kein besonders schöner Anblick.“ Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. Henning seufzte wieder. „Na schön. Ich kann dich nicht zwingen. Aber wenn du nicht kooperierst, wird das Konsequenzen haben.“ Ich hätte ihm nur zu gerne gesagt, wohin er sich seine Konsequenzen stecken konnte, aber ich ließ es bleiben. Draußen hörte ich, wie sich Leif und Sven unterhielten. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen, aber besonders freundlich klang es nicht. Dann jedoch liefen Schritte in Richtung Leifs Zimmer und die Badezimmertür klappte zu. Schisser! Erst, als ich das Wasser im Bad rauschen hörte, fiel mir ein, dass ich ja eigentlich eine Verabredung hatte. Und dass ich vorher hatte duschen wollen. Schnell sprang ich auf, schnappte mir mein Handtuch und eilte nach draußen. Auf dem Flur lief ich beinahe in Tobias hinein. „Hey“, rief er lachend. „Ich wollte mich noch von dir verabschieden. Hab jetzt Feierabend.“ Seine Worte waren wie Salz in meinen Wunden. Ich kniff die Lippen zusammen und reagierte nicht. Tobias schien es nicht zu merken. „Morgen ab neun bin ich wieder hier. Hab extra mit Thomas getauscht, damit ich diese Woche die Tagschicht habe. Wenn du aus der Schule kommst, erwarte ich dich also schon.“ Wieder sagte ich nichts. Sollte er doch denken, was er wollte. Morgen würde ich eh hier abhauen. „Na gut, Manuel. Mach’s Henning nicht so schwer, ja? Er ist ein guter Kerl.“ „Er ist fett“, rutschte es mir über die Lippen. Tobias stockte und war wohl für einen Augenblick sprachlos. Als er seine Worte wieder gefunden hatte, war da Bitterkeit in seiner Stimme. „Er ist vor allem ein Mensch. So wie du und ich und wir alle hier. Außerdem ist es doch überhaupt nicht wichtig, wie jemand aussieht. Das, was wirklich zählt, ist das, was hier drin steckt.“ Er schlug sich mit der Faust gegen den Brustkorb. Auf dem mit ziemlicher Sicherheit ein Tattoo prangte. Aber darauf kam es ja nicht an, hatte er gesagt. „Ich wünsche dir eine gute Nacht, Manuel.“ Damit drehte Tobias sich um und ließ mich stehen. Und ich? Ich kam mir vor wie der letzte Dreck der Menschheit.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)