See you at the bitter end von rokugatsu-go ================================================================================ Epilog: It may be elaborate fantasy, but it's the perfect place to start ------------------------------------------------------------------------ „It may be elaborate fantasy, but it's the perfect place to start“   Placebo, „Bright Lights“   „Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Herr Fukuzawa.“ Joyce schob seine Brille hoch, während er und Wilde dem Chef in der Detektei gegenüberstanden. „Wegen allem, was geschehen ist, hätten wir es beileibe verstanden, wenn Sie uns gegenüber feindlich gesinnt wären, doch stattdessen ließen Sie uns Hilfe zuteil werden und dafür danken wir Ihnen von Herzen.“ „Danke, dass Sie es möglich gemacht haben, dass Matty im Grab seiner Familie beigesetzt werden konnte und dass Sie die Einäscherung von Aldy organisiert haben.“ Wilde umklammerte die kleine Urne, die er in den Armen hielt, noch etwas fester. Wie es von ihm gar nicht anders zu erwarten war, reagierte Fukuzawa minimalistisch und deutete lediglich ein Kopfschütteln an. „Das verstand sich von selbst. Ihr Verlust tut mir leid.“ Atsushi stand mit den anderen Detektiven im Hintergrund und besah sich die Szene. Es waren fünf Tage vergangen, seit die Detektei angegriffen worden war und die Angreifer so kurz darauf gestorben waren. Ranpo war der Erste gewesen, der am darauffolgenden Tag wieder zu sich gekommen war. Und er war nicht glücklich gewesen, denn zum einen – so beschwerte er sich fortlaufend – war es wirklich kein Spaß gewesen, angeschossen zu werden und zum anderen war dann auch noch der Chef verletzt worden, woran man seiner Meinung nach mal wieder erkennen konnte, dass der Laden ohne ihn, den großen Meisterdetektiv, einfach nicht lief. Vor allem wurmte ihn aber die Erkenntnis, dass er über einen Tag verloren hatte, an dem er keinerlei Süßigkeiten hatte zu sich nehmen können. Was für eine maßlose Verschwendung von Zeit! Kurz nach Ranpo war Kunikida wieder zu sich gekommen und auch er war nicht sonderlich glücklich gewesen, als Atsushi ihm im Groben geschildert hatte, was alles passiert war. Atsushi hatte kaum etwas von dem lesen können, was Kunikida seitdem ständig in sein Notizbuch kritzelte, aber er war sich ziemlich sicher den Satz gesehen zu haben: „Ihm gehörig den Kopf dafür waschen, den Bengel so erschreckt zu haben.“ Auch Kyoka war etwa zu diesem Zeitpunkt wieder aufgewacht. Wie es schien, hatte Huxley ihr keine so hohe Dosis verpasst. Da Atsushi anwesend war, als sie wieder zu sich gekommen war, hatte ihre erste Reaktion darin bestanden, ihm um den Hals zu fallen. Erst als der Junge ihr glaubhaft hatte versichern können, dass er nicht verletzt war, hatte er sie dazu überreden können, sich weiter auszuruhen. Yosano und Kenji waren am dritten Tag wieder aufgewacht und die Ärztin war halb beeindruckt, halb sauer, dass Kenjis Bärenkräfte ihm wohl dabei halfen, dass das Soma viel schneller als bei ihr abgebaut wurde. Ihre schlechte Laune hatte vor allem auch daher gerührt, dass fast alle Kollegen lädiert waren und sie nichts für sie hatte tun können. Für sie – und ihr Vergnügen. Selbst nach ihrem Erwachen war sie noch zu geschwächt, um ihre Fähigkeit anwenden zu können. Mit seiner Schulterwunde hatte Fukuzawa innerlich ein Dankgebet gesprochen, dass dem so war und auch der verletzte Wilde hatte, nachdem man ihm von Yosanos Fähigkeit erzählt hatte, drei Kreuze gemacht. Kenji hingegen war einfach nur froh. Froh, dass es Tanizaki gut ging, froh, dass niemand von ihnen gestorben war und froh, dass Haruno daran gedacht hatte, seine Pflanzen während seiner Abwesenheit zu wässern. Und nun befanden sie sich alle wieder in der Detektei. Fast alle, denn einer fehlte: Dazai war seit dieser tragischen Nacht verschwunden. „Herr Wilde“, Naomi trat an den Iren heran, „ich möchte Ihnen noch dafür danken, dass Sie die Verletzung meines Bruders behandelt haben.“ „Oh, nein, nein, nein, schönes Kind“, Wilde winkte mit einer Hand ab, „nicht doch. Die unseligen Umstände hatten es ja nötig gemacht, dass dein Bruder zum Einsatz kommen musste. Wenn überhaupt haben wir ihm zu danken.“ „Trotzdem“, meldete sich Tanizaki unaufdringlich zu Wort, „Sie haben schließlich sich selbst verletzt, um mich zu heilen. Das ist nicht selbstverständlich und dafür danke ich Ihnen. Ich kenne es sonst nur, dass ich bei der Behandlung erst noch schlimmer zugerichtet werde.“ Den letzten Satz fügte er so leise an, dass er kaum gehört wurde. Allerdings sprach der blanke Horror in seinen Augen Bände. „Durch Selbstverletzung Verletzungen anderer aufheben“, kommentierte Yosano. „Also eine Heilfähigkeit, bei der der Heiler hinterher selbst einen Arzt braucht. Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen. Aber da Ihre Wunde noch nicht ganz verheilt ist … ich bin wieder fit!“ Sie leckte sich mit der Zunge über ihre Lippen. „Äääh“, auf Wildes Stirn bildeten sich ein paar Schweißtropfen, „d-das kann ich unmöglich verlangen. Außerdem merke ich die Wunde kaum noch. Gerade heute Morgen habe ich zu Jimmy noch gesagt, wie wenig ich diese Wunde doch nur noch merke, nicht wahr, Jimmy?“ Der Angesprochene kreuzte seine Arme vor der Brust und trommelte missgelaunt mit einem Finger auf seinem Arm. „Ich werde mal so nett sein und dir einfach zustimmen, obwohl du mich die ganze Zeit wieder 'Jimmy' nennst und ich dir schon tausend und ein Mal gesagt habe, dass du das in der Öffentlichkeit lassen sollst.“ Ah, ging es Atsushi durch den Kopf, da fiel ihm doch noch etwas ein, das er die beiden die ganze Zeit schon hatte fragen wollen. „Mich würde da eine Sache noch interessieren“, begann er höflich und die beiden Iren blickten aufmerksam zu ihm. „Wieso haben Sie mich angesprochen, um nach Dazai zu fragen?“ Die zwei Iren tauschten einen Blick aus. „Nun ja“, Joyce räusperte sich verlegen, „das war so. Wir hatten uns im Vorfeld Informationen über die bewaffneten Detektive eingeholt und waren zu der Erkenntnis gekommen, dass Sie alle ein sehr … nun ja, wie soll ich sagen, einschüchternder Haufen sind.“ Yosano freute diese Aussage unangemessen heftig, Tanizaki war sie sichtlich unangenehm, Kyoka blinzelte lediglich, Ranpo grinste sich einen zurecht, Kenji strahlte wie immer, der Chef verzog nicht eine Miene und Kunikida schrieb „An Außenwirkung arbeiten“ in sein Notizbuch. Atsushi wusste nicht, ob er dazu etwas sagen sollte, denn irgendwie ... gab er dem Iren vollkommen recht. „Tja, aber da wir weiterkommen mussten ...“ fuhr Joyce zögerlich fort, ehe Wilde ihm ins Wort fiel: „... entschieden wir uns dafür, den Detektiv mit dem treudoofsten Gesicht anzusprechen, weil dieser am ungefährlichsten wirkte.“ Treu. Doofstes. Gesicht. Atsushis Augen begannen unwillkürlich zu zucken, während er versuchte, das Gegluckse seiner Kollegen auszublenden. Gab es hier immer noch kein Loch, in das man sich verkriechen konnte? „Herr Fukuzawa“, wandte sich Joyce ein wenig oberlehrerhaft an den Chef, „ich will Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Leute erziehen sollen, aber Sie müssen doch mal ein ernstes Wort mit den jüngeren Angestellten Ihrer Detektei wechseln. Der Junge ist einfach so mit zwei ihm völlig fremden Männern mitgegangen. Da muss ihm doch mal jemand sagen, dass das nicht geht.“ Für den Bruchteil einer Sekunde entglitten sogar Fukuzawa die Gesichtszüge bei diesem Vorwurf. Zum einen war er natürlich verstimmt darüber, belehrt zu werden, zum anderen fragte er sich, ob dies nicht wirklich ein Versäumnis seinerseits war. Dann wiederum aber war das, was Joyce beschrieben hatte, mehr oder weniger die Art und Weise gewesen, wie Atsushi überhaupt für das Büro angeworben worden war. „Jimmy“, warf Wilde gespielt tadelnd ein, „verärger nicht immer alle hübschen Männer, die uns begegnen.“ Während Haruno sich im Hintergrund heftig an einem Schluck Wasser verschluckte und Yosanos Glucksen zu einem ausgewachsenen Lachanfall wurde, war sich Atsushi ziemlich sicher, dass der Chef sich spätestens jetzt auch ein Loch zum Darin-Verkriechen herbeisehnte. „Und was haben Sie nun vor?“, fragte der Junge die Iren, um geschmeidig das Thema zu wechseln – auch weil er eine Vene an Joyces Stirn hervortreten sah, die ihn sehr an die von Kunikida erinnerte. „Wir kehren nach Hause zurück und machen mit dem weiter, was wir eigentlich tun wollten. Auch wenn wir nur noch zu zweit sind.“ Es ließ sich nicht leugnen, dass Joyces Antwort einen stark wehmütigen Unterton hatte. Verdenken konnte man ihm dies wohl kaum. „Vielleicht“, ergänzte Wilde betont fröhlich und zwinkerte, „finden wir ja auch neue Mitglieder und dann werden wir auch ein so einschüchternder Haufen. Obwohl ich dann die schöne Zweisamkeit mit Jimmy vermissen werde.“ Eine zweite Vene trat auf Joyces Stirn hervor. „Du testest doch gerade aus, wie weit du deine Scherze treiben kannst, nicht wahr?“ „Aber wo denkst du hin, Jimmy.“ Zusätzlich zu seiner nun verschmitzten Miene klimperte Wilde schelmisch mit den Wimpern. „Ich weiß nicht, was du meinst … Jimmy. Der rote Teint, den sich dein Gesicht gerade zulegt, steht dir übrigens sehr gut ... Jimmy. Etwas Farbe im Gesicht schadet nie … Jimmy.“ „DU WIRST MEIN UNTERGANG SEIN!!“ Die Mitglieder des Büros starrten ungläubig ihre beiden Gäste an. „Diese ...“, Tanizaki versuchte, seine Sprachlosigkeit angesichts dieser Situation zu überwinden und hauchte den anderen leise zu: „Diese Ähnlichkeit ist ja wirklich beängstigend. Findet ihr nicht?“ „Wie ein schief gegangenes Klonexperiment mit ungewissen Folgen für die Welt.“ Selbst Yosano schien dies zu unheimlich zu sein. „Ich bin einzigartig!“ Ranpo schob sich ungeniert einen ganzen Muffin in den Mund. Kyoka beobachtete aufmerksam Kunikida, der überhaupt nicht auf das gerade Geschehene reagierte. „Kann es sein, dass es ihm selbst gar nicht auffällt?“ „Das ist unmöglich“, widersprach Tanizaki und seine Schwester stimmte ihm zu: „Das muss er bemerken.“ „Bitte sag mir, dass dir diese Ähnlichkeit auffällt“, forderte Yosano letztlich von Kunikida ein. Der Angesprochene blickte aus seinem Notizbuch hoch. „Von was für einer Ähnlichkeit redet ihr da überhaupt? Wer soll wem ähneln?“ Alle außer Kunikida schlugen sich gedanklich mit einer Hand gegen die Stirn. „Wo ist Dazai eigentlich?“, warf Kenji vergnügt ein. „Ich hab ihn die ganze Zeit noch nicht gesehen.“ „Er schwänzt mal wieder die Arbeit, was sonst“, antwortete Kunikida angefressen. „Er wurde als einziger nicht verletzt und rührt trotzdem keinen Finger.“ Kyokas Blick ging zu Atsushi, der bei den Worten Kenjis und Kunikidas zusammengezuckt war. „Atsushi, sollen wir ihnen nicht sagen, was Dazai vor fünf Tagen getan hat?“ Sie achtete peinlichst genau darauf, so leise zu flüstern, dass die Kollegen nichts davon mitbekamen. Stimmt ja, dachte der Junge bekümmert, sie haben keine Ahnung. Sie haben keine Ahnung, dass Dazai gekündigt hat. Und da er bis jetzt nicht zurückgekommen ist, heißt das wohl … es ist ihm ernst. Anscheinend hatten weder der Chef, noch Naomi die anderen darüber in Kenntnis gesetzt. „Hört mal“, setzte er an und sein beklommener Tonfall ließ die restlichen Detektive aufhorchen. „Dazai, er …“ „Atsushi.“ Fukuzawas tiefe Stimme unterbrach den Jungen harsch. „Ich möchte dich unter vier Augen sprechen.“ Der Chef rauschte hinaus und Atsushi folgte ihm auf dem Fuße, die Kollegen verwundert zurücklassend. „Was Dazais Kündigung betrifft“, sagte Fukuzawa, sobald sie im Flur standen und Atsushi die Tür hinter sich geschlossen hatte, „will ich, dass du ihm etwas von mir ausrichtest.“   Dazai beugte seinen Kopf zurück, sodass er ihn gegen Odasakus Grabstein anlehnte und er in den blauen Himmel hinaufgucken konnte. Was für ein schöner Tag es war. „Sie würden dir ohne jeden Zweifel gefallen“, sagte er leise. „Sie sind laut und chaotisch und jeder, wirklich jeder von ihnen hat mindestens eine Macke. Aber wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat, dann ….“ Ein sanftes Lächeln umspielte Dazais Lippen. Sie waren ihm ans Herz gewachsen und das war ein Umstand, den er nicht leugnen konnte. Es war ein unbeschreibliches, unfassbares Gefühl und genauso wie er sich darüber wunderte, was dort mit ihm geschah, war er ihnen dankbar dafür, dass dort etwas mit ihm geschah. Er war ihnen dankbar für jeden Tag, an dem er sie und ihre Eigenarten beobachtete und er ein Teil von ihnen geworden war, während sie ein Teil von ihm geworden waren. Kenji mit seiner unschuldigen Gutgläubigkeit, die ihm so viel Fröhlichkeit verlieh, dass selbst diese Stadt und die in ihr lauernde Finsternis ihm nichts anhaben konnten. Der unscheinbare und gutmütige Tanizaki, der sein Licht ständig unter den Scheffel stellte und sich seiner Stärke gar nicht bewusst war, sie aber in den richtigen Momenten trotzdem immer couragiert abrufen konnte. Yosano, die wie eine blutrünstige Irre wirkte und … es auch war, aber nichtsdestotrotz sich um jeden einzelnen ihrer zusammengewürfelten Truppe sorgte und kümmerte als wären sie ein Teil ihrer eigenen Familie. Der vor Arroganz und Egozentrik strotzende Ranpo, der nicht nur wegen seiner Intelligenz und Beobachtungsgabe der Stützpfeiler der Detektei war, sondern auch weil er alle anderen dazu antrieb, das Beste aus sich herauszuholen. Die traumatisierte Kyoka, die es geschafft hatte, tiefe Verzweiflung in neuen Lebensmut umzuwandeln und sie alle damit daran erinnerte, dass man den Kampf um seine Seele nie aufgeben durfte. Kunikida, der … - Dazais Lächeln wurde beim Gedanken an ihn kurz zu einem beinahe diabolischen Grinsen – der, wenn er nicht aufpasste, aufgrund seiner Ideale noch zu einer Gefahr für sich selbst werden würde. Aber es waren eben seine Ideale, sein unerbittlicher Glaube an Recht und Ordnung, die ihm die Kraft gaben, gegen das Chaos und die Finsternis in dieser Welt anzukämpfen. Kunikida war jemand, der sich kümmerte, egal, ob derjenige dies überhaupt zu schätzen wusste oder ob derjenige ihn in den Wahnsinn zu treiben versuchte. Kunikida würde sich immer um jeden und alles kümmern, weil er nicht einfach nur Wertvorstellungen darüber besaß, was es wohl hieß, ein guter Mensch zu sein, sondern weil er nach diesen Vorstellungen zu leben versuchte und ihn dies zu einem guten Menschen machte. Dazai konnte bei diesen Gedankengängen nicht anders, als an die Worte zurückzudenken, die Herr Taneda aus dem Innenministerium damals zu ihm gesagt hatte. Fukuzawa hatte ein sehr offenes und sehr gutes Herz? Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Der Chef war so unglaublich gutherzig, dass er selbst einem ehemaligen Führungsmitglied der Hafen-Mafia eine Chance gegeben hatte. Und Fukuzawa war jemand, der sich die Ausmaße von Dazais früheren Verbrechen ohne Weiteres vorstellen konnte. Trotzdem. Trotz alldem hatte er ihn bei sich eingestellt, nein, aufgenommen. Bis vor einigen Jahren hätte Dazai so jemanden als einen absoluten Idioten erachtet, aber jetzt wusste er dass dies keine unsägliche Idiotie war, auch kein bemitleidenswerter Idealismus – es war das, was Odasaku ihm damals beschrieben hatte. Es war der schönere Weg. Ja, wenn er sie alle betrachtete, dann verstand er, was es bedeutete, ein guter Mensch zu sein. Dazai war weit davon entfernt, sich glücklich zu nennen (oh nein, das war er ganz sicher nicht), aber er hatte etwas gefunden, das sich so anfühlte, als könnte er darin Erfüllung finden. Wenn er mit diesem bunten Haufen Wahnsinniger zusammen war und sie ihre aberwitzigen Fähigkeiten einsetzten, in dem Vertrauen, dass das, was sie taten, das Richtige war, dann wurde das nagende Gefühl in seinem Innern manchmal ganz leise, so als würden die anderen es in Schach halten. Vielleicht, so schoss ihm gelegentlich eine flüchtige Hoffnung durch den Kopf, vielleicht war er mit ihrer Hilfe, wenn er mit ihnen zusammen auf dem schöneren Weg blieb, in der Lage, es irgendwann abstellen zu können. Ob Odasaku dies geahnt hatte? Mit einem zufriedenem Lächeln im Gesicht schloss Dazai seine Augen. Ja. Das hatte er bestimmt. Odasaku war viel klüger als er selbst gewesen und er war sein Freund gewesen. Er hatte gewusst, was das Beste für ihn war. Und so hatte es Dazai damals auch nicht verwundert, dass er an Odasakus Worte hatte denken müssen, als ihm ein gewisser Waisenjunge, der sich unbewusst in einen Tiger verwandelte, über den Weg gelaufen war und ihm sein Leid geklagt hatte. Atsushi war verzweifelt, verängstigt und einsam gewesen. Kurzum: eine schwache Waise, die gerettet und beschützt werden wollte. Als hätte Odasaku persönlich den Jungen zu ihm geschickt. Was Dazai damals überrascht hatte und heute eigentlich immer noch überraschte, war wie sehr er ihn retten und beschützen wollte. So gesehen war Atsushi das komplette Gegenteil von ihm selbst: Er war aufrichtig, emotional, hatte einen natürlichen Sinn dafür das Richtige zu tun und vor allem einen immensen Überlebenswillen. Fukuzawa hatte sich zweifellos etwas dabei gedacht, den Jungen ausgerechnet in seine Obhut zu geben – so wie es mit Sicherheit auch kein Zufall war, dass er und Kunikida ein Team bilden sollten. Es hatte Dazai daher auch nicht überrascht, als Atsushi und Kyoka ihm zu Hilfe hatten kommen wollen. Vielmehr hatte er dies ja sogar erwartet, denn der Junge konnte nicht anders. Wenn jemand in Gefahr war, dann regte sich etwas in ihm; ein unabdingbarer Drang, Menschenleben zu retten. Das Lächeln im Gesicht beibehaltend, öffnete Dazai seine Augen wieder. „Was gibt es, Atsushi?“   Atsushi hatte Dazai schon ausfindig gemacht, als er die Treppen zum Friedhofsgelände heruntergekommen war. Stutzend blieb er vor dem Grab mit der Inschrift „S. Oda“ stehen. Dazai hatte ihm den Rücken zugewandt und er war auf so leisen Sohlen herangeschlichen, wie in aller Welt hatte er ihn gehört? Was für ein übermenschliches Hörvermögen hatte der Mann eigentlich? „Ich habe dich gesucht. Wo hast du die letzten Tage gesteckt?“ Dazai schmunzelte bei dem unterschwellig vorwurfsvollen Ton des Jungen. „Mal hier, mal da“, gab er lapidar und ganz absichtlich unbefriedigend zur Antwort. „Das Büro nimmt heute wieder den Regelbetrieb auf.“ „So?“ „Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.“ „Na ja.“ Obwohl er ihn nicht sah, konnte Dazai sich vorstellen, wie Atsushi bei diesem schleppend verlaufenden Gespräch langsam den Kopf hängen ließ. Nicht nur, dass es tatsächlich so war, zusätzlich erfüllte ein angestrengtes Seufzen des Jungen die Umgebung. Dann trat für einen Moment ein Schweigen zwischen ihnen ein, ehe Atsushi tief Luft holte, als würde er sich darauf vorbereiten, etwas zu sagen, das ihn Überwindung kostete. „Was … was hättest du gemacht, wenn Joyce und Tanizaki nicht aufgetaucht wären?“ „Das ist eine unsinnige Frage, Atsushi. Sie sind schließlich gekommen.“ „Du weißt, was ich meine“, drängte er. Dazai seufzte. Nach Atsushis heftiger Reaktion auf das Trugbild vor einigen Tagen war ihm nicht danach, ihm zu sagen, dass er dann trotzdem abgedrückt hätte. Dass er eigentlich schon im Begriff gewesen war, abzudrücken, als er die Geräusche im Haus vernommen hatte und eine einzelne grüne Schneeflocke in sein Blickfeld gefallen war, die das Kommen Weiterer angekündigt hatte. Doch das musste Atsushi jetzt nicht wissen. Die Tränen des Jungen waren Dazai noch allzu präsent und er wollte sich keine Wiederholung davon ansehen. „Das liegt doch jetzt schon in der Vergangenheit. Und die kann man eh nicht ändern.“ Er stand auf, steckte seine Hände in die Taschen seines Mantels und drehte sich zu seinem Schützling. Atsushis große Augen verrieten ihm, dass er mit dieser Antwort noch immer nicht zufrieden war. Ein Pokerface hatte der Junge wirklich nicht. „So gesehen ist dies genau das, woran Barrie zerbrochen ist. An der Unveränderlichkeit der Vergangenheit.“ Trübsinn legte sich über Atsushis Miene. Er war niemand, der solche Erlebnisse einfach abhakte. Er war vor allem niemand, der den Tod von Menschen einfach in Kauf nahm. „Hätte man Barrie noch irgendwie retten können?“, fragte der Junge mit einem Tonfall, der ebenso trübsinnig klang. Dazai wusste, dass er ihm irgendetwas an Antworten geben musste, damit er die Sache verarbeiten konnte. Er zuckte geringfügig mit den Schultern. „Wenn er einen besseren Weg gefunden hätte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, hätte er eventuell eine Zukunft sehen können. Aber es ist nicht allein sein Fehler gewesen. Die Umstände haben ihn zu dem gemacht, der er zum Schluss war.“ Barries Pech, fasste Dazai für sich selbst lakonisch zusammen, war es gewesen, dass sich ihre Pfade damals gekreuzt hatten. Sein wahres Unglück aber hatte darin bestanden, dass sie danach ihre Rollen getauscht hatten: Der Mensch hatte den Dämon gejagt, der zu einem Menschen geworden war, der von einem Dämon gejagt wurde. Neugierig erwiderte der Brünette nun Atsushis Blick, der ihn mit einer gewissen Unbeirrbarkeit in der Mimik betrachtete. Die Fragerunde war also noch nicht beendet. „Du hast viele Menschen ermordet, oder?“ Dazai entwich ein erstauntes „Oh“, denn mit einer solchen Direktheit hatte er nicht gerechnet. Es ließ ihn innerlich schmunzeln, da er es liebte, wenn Atsushi ihn überraschte. „Viele wäre nicht einmal das passende Wort.“ Der silberhaarige Junge nickte bedächtig. „Ich gebe zu, dass ich meine Augen davor hatte verschließen wollen, was du als Mitglied der Hafen-Mafia wohl alles so getan hast. Ich wollte es verdrängen, obwohl es mir immer klarer wurde, dass dies unmöglich ist.“ Er machte eine kurze Pause, in der er seinen Blick ein wenig senkte. „Ich hatte Angst, dass, wenn ich mich deiner Vergangenheit stelle, ich dich dann mit anderen Augen sehen würde – und das wollte ich nicht.“ „Und? Was siehst du jetzt?“ Dazai sah weiterhin gefasst zu ihm. Aber tief in seinem Inneren war er auf die Antwort gespannt. „Kyoka erzählte mir, du hättest sie mal gefragt, ob sie glaubte, dass jemand, der andere getötet hat, kein guter Mensch mehr werden könnte.“ Endlich blickte Atsushi wieder auf und schaute Dazai direkt an. „Ich habe darüber nachgedacht und … ich halte dich für einen guten Menschen. Der Dazai, der jetzt und hier vor mir steht, ist der, der mich gerettet hat und dem ich mein Leben zu verdanken habe. Es gab mal einen anderen Dazai, der wahrscheinlich sehr viele schreckliche Dinge getan hat, aber über ihn kann ich nicht viel sagen, da ich ihm nie begegnet bin. Und um ehrlich zu sein, bin ich sehr froh darüber, ihn nicht kennen gelernt zu haben. Doch ich bereue es nicht, dich damals aus diesem Fluss gezogen zu haben, denn du bist ein guter Mensch, Dazai. Du bist ein Mensch, der andere Menschen beschützt und ich will, dass du noch möglichst lange an meiner Seite bleibst.“ Der Ältere der beiden blinzelte ihn verblüfft an. Das war … schon wieder eine Überraschung gewesen. Und ein bisschen zu viel Pathos für seinen Geschmack, aber wie auch immer – Atsushi hatte ein Händchen dafür, solche emotionalen Reden zu schwingen. Dazai lächelte in sich hinein und schüttelte gleichzeitig gedanklich den Kopf darüber. Die Worte des Jungen trafen in seinem Herzen auf unerwartet viel Zuspruch. Mit so etwas konnte er nicht gut umgehen. Oje, dachte er, was soll ich denn darauf antworten? Zu viel, Atsushi. Zu viel! Da fehlt ja nur noch die Liebeserklärung am Ende! „Weswegen hast du mich eigentlich gesucht?“ Dazais Frage kam so unerwartet, dass es nun an Atsushi war, verwundert inne zu halten. Weil der Braunschopf es aber geschafft hatte, sie so nonchalant vorzutragen, sammelte der Junge sich relativ schnell wieder, auch wenn man in seinen Augen ablesen konnte, wie enttäuscht er war, dass Dazai nicht auf das eingegangen war, was er ihm unter Zusammennehmens all seines Mutes gesagt hatte. „Ah, ja! Ich soll dir etwas vom Chef ausrichten.“ „Vom Chef?“ Ein Lächeln fand den Weg zurück auf Atsushis Gesicht. „Der Chef lässt dir ausrichten, dass du zu spät zur Arbeit kommst.“ Dazai stutzte kurz, bevor er das Lächeln erwiderte. Das hieß dann wohl, dass seine Kündigung ignoriert wurde. Dem Chef widersprach man eben nicht so einfach. Nicht einmal er. Dazai setzte sich in Bewegung und schloss zu Atsushi auf und während sie gemeinsam den Friedhof verließen, drehte der Brünette sich noch einmal zu Odasakus Grabstein um. „Aber wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat, dann … möchte man sie nicht mehr missen“, flüsterte er in dessen Richtung. „Huh? Hast du was gesagt?“, fragte Atsushi und Dazai schüttelte amüsiert den Kopf. „Im Übrigen bin ich schon fleißig gewesen, während ihr alle noch eure Wunden geleckt habt“, antwortete er stattdessen und irgendetwas an seiner schelmischen Bemerkung beunruhigte Atsushi zutiefst.   Kunikida hatte damit begonnen, sich dem riesigen Stapel Dokumente zu widmen, der sich auf seinem Schreibtisch türmte. Ein paar Tage Abwesenheit und schon hielt im Büro das Chaos Einzug. Aber nicht mit ihm! Auch wenn sein Kopf noch schmerzte, begab er sich beflissentlich an die Arbeit und begann, alle Papiere, die vor ihm lagen, nach Wichtigkeit zu sortieren. Doch ... was war das für ein Dokument? Das sah ja aus wie eines der Formulare zur Quartalskostenaufstellung. Neugierig zog der Brillenträger es aus dem Stapel heraus und sein Blick fiel als allererstes auf die Namenszeile im oberen Teil des Formulars. Dazai? Dazai hat freiwillig die Kostenaufstellung neu ausgefüllt? Ungläubig blinzelte er den Namen seines Partners an, ehe sein Blick zu den Zeilen darunter wanderte und seine Augen immer größer wurden, während sein Blutdruck immer weiter anstieg und die Venen auf seiner Stirn eine nach der anderen hervortraten. Das Blatt Papier war von oben bis unten voll gekrakelt. In der linken Hälfte war eine ganze Herde von Kühen mit Brille und Pferdeschwanz zu sehen, denen alle Sprechblasen anhafteten, in denen „KUHnikida“ stand. Über einen Großteil der Seite war einfach immer nur „KunikunikunikunikunikunikuniKIDA!“ gekritzelt worden und dann gab es noch ein großes Herz, in dem zu lesen war: „Kunikida + seine Brille.“ Doch in mitten all dieses kindischen Geschmieres entdeckte Kunikida ein in mikroskopisch kleiner Schrift geschriebenes Wort, das einem weniger aufmerksamen Menschen sicherlich entgangen wäre. Er musste beinahe mit seinem Gesicht in das Papier kriechen, um entziffern zu können, was in aller Welt da geschrieben stand: „Danke.“ Kunikida betrachtete das Formular wortlos für einige Sekunden, ehe er eine Schublade an seinem Schreibtisch öffnete, es dort hineinlegte und die Schublade wieder schloss. Dann räusperte er sich und widmete sich von neuem seiner Arbeit, während er unbeirrt sagte: „Neu ausfüllen muss er es aber trotzdem.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)