See you at the bitter end von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 10: And as the two of us rebel -------------------------------------- „And as the two of us rebel“   Placebo, „The never-ending why“   Hastig eilte Atsushi mit Kyoka und den beiden Iren im Schlepptau in die Etage des Krankenhauses, auf der ihre verwundeten Kollegen lagen. Bereits am Eingang war ihnen aufgefallen, dass etwas hier vorgefallen sein musste. Die Militärpolizei war vor Ort, Rettungskräfte von anderen Kliniken waren gekommen und behandelten Ärzte und Pflegepersonal des Krankenhauses. Überall waren die Fenster und Türen aufgerissen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Atsushi, wie Joyce und Wilde immer zerknirschter wurden. „Haruno!!“, rief der silberhaarige Junge der im Flur stehenden Sekretärin entgegen, als sie am Zimmer, in dem Yosano, Ranpo und Kenji lagen, angekommen waren. Haruno hielt sich am Türrahmen fest; ihre Beine wackelten auffallend und ihr gesamter Teint sah ungesund blass aus. „Was ist passiert??“, fragte er atemlos. „Sie waren hier. Die Attentäter.“ Ihre Stimme klang wieder gefestigter und doch konnte man den Schrecken über das Geschehene noch mehr als deutlich heraushören. „Was ist mit-?“, begann Atsushi, als Haruno bereits zu dem gegenüberliegenden Zimmer zeigte. „Der Chef ist hier.“ Naomi erschien in der offenen Tür des anderen Raums und sah genauso bleich und mitgenommen aus wie Haruno. Kyoka und Atsushi stürmten an dem dunkelhaarigen Mädchen vorbei ins Zimmer, wo sie erschrocken vor dem Bett zum Stehen kamen, in dem der Chef – leichenblass, nicht bei Bewusstsein, an mehrere Infusionen (eine davon augenscheinlich eine Bluttransfusion) angeschlossen und die rechte Schulter dick einbandagiert – lag. „Habt ihr die Angreifer gesehen? Wie lange ist das her?“, fragte Kyoka sogleich mit bebender Stimme. Naomi wackelte zu dem Stuhl neben dem Bette ihres nach wie vor ohnmächtigen Bruders zurück und ließ sich an seiner Seite nieder. „Ich wünschte, wir könnten euch irgendwas dazu sagen, aber Haruno und ich wurden direkt von diesem Gift ausgeknockt. Sie haben es durch die Lüftungsanlage im Krankenhaus verteilt.“ Ein schmerzerfülltes Ächzen ließ die Blicke der zwei jungen Detektive von Naomi zu der Gestalt ihres Chefs zurückschnellen. Mit sichtlicher Mühe öffnete Fukuzawa seine Augen und kniff sie einige Male angestrengt zusammen. „Chef!“ Atsushi eilte an seine Seite. „Sind Sie schwer verletzt?“ „Atsushi ...“, raunte er erleichtert. Er blinzelte erneut, ehe er panisch die Augen aufriss. „Kyoka! Wo ist Kyo-“ „Ich bin hier.“ Das Mädchen stellte sich rasch zu ihrem Kameraden und als Fukuzawa sie sah, atmete er auf. „Euch ist nichts passiert?“ „Uns geht es gut“, erklärte Atsushi gerührt über die Fürsorge des Älteren und zugleich besorgt um ihn. „Aber was ist mit Ihnen?“ „Einer von ihnen besitzt eine Giftfähigkeit … ich habe nichts dagegen ausrichten können. Ein Anderer hat mir diese Verletzung zugefügt … aber es ist nichts Schlimmes. Das Gift scheint das größere Problem zu sein. Ich sehe nach wie vor alles verschwommen.“ Fukuzawa stockte, als er die zwei Fremden im Türrahmen erblickte. „Wer ist das?“ Atsushis Augen folgten dem Blick des Chefs, bevor er schwermütig erklärte: „Das … das sind die beiden Iren, von denen ich erzählt habe.“ Die Erwähnten hatten zuvor einen Blick an Haruno vorbei auf die dort in dem anderen Zimmer liegenden Verletzten geworfen und sich dann mit betretener Miene in den Raum zu Atsushi und den anderen begeben. „Herr Fukuzawa, ja?“, ergriff Joyce bedrückt das Wort, als er und sein Partner näher kamen. „Sie um Verzeihung zu bitten, erscheint mir heuchlerisch und doch … tut es mir– uns schrecklich leid, was Ihnen und Ihren Leuten zugestoßen ist.“ „Dann kennen Sie unsere Verfolger?“, entgegnete der Chef. „Nun …“, begann Wilde und nestelte dabei nervös mit den Fingern herum, „ … ja.“ Er seufzte lang und tief. „Wir … wir gehörten einst zusammen. Sie sind … waren unsere Kameraden.“ Die beiden Iren hatten nun die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. „Mein Partner und ich sind Ihnen aber keineswegs feindlich gesinnt“, fügte Joyce hastig hinzu. „Wir wollten nicht, dass es hierzu kommt.“ „Und trotzdem konnten wir es auch nicht verhindern“, ergänzte Wilde betrübt. Kyoka hatte absolut Recht, dachte Atsushi. Von diesen beiden ging keinerlei Gefahr aus. Als er die Iren betrachtete, fiel dem Jungen plötzlich etwas äußerst Wichtiges ein. „Was ist mit Dazai und Kunikida?!“ „Haruno hat Dazai wegen des Angriffs Bescheid gegeben“, antwortete Naomi. „Anscheinend … wurde Kunikida wohl verletzt und Dazai bleibt bei ihm, bis seine Versorgung abgeschlossen ist.“ Mit einer verstörenden Gleichzeitigkeit machten sich Erleichterung und Sorge in dem jungen Detektiv breit. Dazai war unverletzt, aber es hatte Kunikida erwischt. Hoffentlich, flehte er innerlich, war es nichts Gravierendes. Kunikida war hart im Nehmen, richtig? Er konnte so einiges aushalten. Außerdem war Dazai bei ihm, also musste er sich keine größeren Sorgen machen …. Atsushi schluckte schwer, als er über seine eigenen Gedanken stolperte. Hieß das, Dazais Theorie stimmte? Hatten sie es eigentlich auf ihn abgesehen? Bei Erwähnung von dessen Namen hatten die Iren zudem gerade einen gequälten Blick gewechselt. „Was wollen sie von Dazai?“, fragte Fukuzawa frei heraus und als hätte er seine Gedanken lesen können. „Rache“, erwiderte Joyce knapp. „Einer von ihnen will Rache an ihm nehmen.“ „Ja, so etwas hatte ich schon befürchtet.“ Beim Klang dieser ihnen so vertrauten Stimme gingen die Blicke der Detektive ruckartig zur Tür, von wo sie sie gehört hatten. Dazai trat ein, die Hände in den Manteltaschen und die Mimik unlesbar. Er wirkte gefasst, aber Atsushi beschlich das ungute Gefühl, dass es sich dabei mehr um Schein als um Sein handelte. Hinter Dazai folgten ein paar Schwestern und Pfleger, die ein Bett mit einem ohnmächtigen Kunikida darin hereinrollten und es rechts von Fukuzawas Krankenbett abstellten. Das Pflegepersonal verließ den Raum schnell wieder, als sie alles eingestellt und überprüft hatten. Obwohl die Militärpolizei jetzt hier war, hatten sie alle offensichtlich Angst, sich länger als nötig bei den Detektiven aufzuhalten. Bei ihnen war es nicht sicher. „Es ist gut, dass Kunikida so einen Dickschädel hat“, äußerte Dazai und trotz seines überzeugenden Versuchs, nonchalant zu klingen, hörte Atsushi etwas Düsteres, Bedrückendes aus der Stimme seines Mentors hinaus. „Er hat eine schlimme Gehirnerschütterung, aber er wird wieder.“ Fukuzawa hatte, soweit ihm das von seiner Position möglich war, seinen Kopf zu Kunikida gedreht und mit sichtbar schwerem Herzen zu ihm geschaut, ehe er sich an Dazai wandte. „Du bist unverletzt?“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Noch.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete Atsushi wie Joyce es vermied, Dazai anzusehen, während Wilde verstohlen und auf seiner Unterlippe kauend zu ihm blickte. „Ich denke“, sprach Dazai weiter, „ich habe jetzt eine Ahnung, um was es hier geht. Aber ich würde trotzdem gerne noch die weiteren Hintergründe erfahren.“ Joyce nahm dies als sein Stichwort und holte tief Luft. „Wir gehörten zu einer Gruppe“, erläuterte er voller offenkundiger Wehmut in der Stimme, „die sich eigentlich um ehrsame Ziele hatte bemühen wollen. Vielleicht waren wir gar mit Ihrer Detektei zu vergleichen. Wir übernahmen schwierige Fälle, beschützten die Schwachen und wollten uns um Frieden bemühen. Der Gründer der Gruppe, Aldous Huxley, er reiste viel um die Welt, um uns ein Netzwerk aufzubauen und dann, eines Tages vor über sieben Jahren … lief ihm in Japan ein verstörtes Kind namens James Matthew Barrie in die Arme, den er bei uns aufnahm und von da an … änderte sich alles.“ „Ein Junge, der ursprünglich mit seiner Familie aus Schottland nach Yokohama gekommen war, oder?“, warf Dazai ein und in der Art, wie er es sagte, konnte man ahnen, dass es keine Frage gewesen war. „Ja“, übernahm Wilde die weitere Erklärung, „sein Vater hatte wohl Geschäfte mit Banden aus der Unterwelt getätigt und die … die Familie des Jungen ist in Yokohama von jemandem aus der Hafen-Mafia ermordet worden.“ Atsushi und Kyoka schreckten bei dieser Äußerung auf. Wenn es bei dieser ganzen schrecklichen Geschichte um Rache an Dazai ging, überlegte der Junge, während sich ein massiver Kloß in seinem Hals bildete, dann bedeutete dies etwa …? „Die Familie ist von jemandem aus der Hafen-Mafia ermordet worden.“ Kyoka sprach seine Gedanken aus. „Nach dem, was wir jetzt wissen, muss der Mörder also ….“ Sie stockte. Anscheinend fiel es auch ihr nicht leicht, dies auszusprechen. Stattdessen wanderten ihre Augen zu dem brünetten Kollegen. Dazai reagierte nicht. Er sah vor sich, doch sein Blick verriet, dass er nichts im Konkreten ansah, sondern einfach durch alles hindurch starrte. „Die grausame Geschichte, die Barrie ihm damals erzählte“, fuhr Joyce wieder fort, „erschütterte Huxley so sehr, dass er nicht nur beschloss den Jungen bei uns aufzunehmen, sondern ihm auch versprach, eine so bösartige Kreatur wie den Mörder seiner Eltern und Geschwister auszulöschen. Denn in einer Welt, in der etwas so Bösartiges wandelt, ist kein Frieden möglich. Seine Worte, nicht meine.“ Bei diesen Sätzen hatte Atsushi das Gefühl, dass sich eine Tonne Gewicht auf seinen Brustkorb legte. Sein Kopf konnte kaum verarbeiten, was er gehört hatte. „Geschwister?“, flüsterte er fast tonlos und sah dabei mit weit aufgerissenen Augen zu Dazai, der immer noch Löcher vor sich hinstarrte. „Moment“, wandte Naomi energisch ein, „wissen Sie ganz genau, dass Dazai das gewesen sein soll? Und wenn es sieben Jahre her ist, warum rächen sie sich dann erst jetzt?“ „Die Zeitspanne lässt sich einfach erklären“, fuhr Joyce fort, „denn Barrie kannte weder den Namen des Mörders, noch sein Aussehen. Er hatte ihn damals lediglich gehört und so sein Alter geschlussfolgert.“ Dazai zuckte zusammen. „Er hat mich gehört?“ „Ja, er war im Garten, als es passierte“, antwortete der blonde Ire. Ein flüchtiges „Hah“, das kaum als Lachen durchging, entfuhr Dazai und Atsushi fühlte sich, als würde ihm die Luft zum Atmen genommen. „Dazai ...“, sagte der Junge mit zittriger Stimme, „soll das heißen, du hast wirklich …?“ Endlich wandte sich der Brünette seinem Schützling zu. Seine Mimik war besonnen wie immer. „Atsushi, du weißt doch, dass ich früher bei der Hafen-Mafia war. Das sollte dich nicht so sehr überraschen.“ „A-aber ...“ Atsushi wusste nicht, was er eigentlich einwenden wollte. Ich konnte mir nie vorstellen, dass du ein kaltblütiger Mörder warst? Er hatte es sich ja auch nie vorstellen wollen. Er hatte diesen Gedanken immer und immer wieder verdrängt, weil er seinen Mentor für nichts Anderes als ein großartiges, selbstloses Genie hatte halten wollen. Übelkeit stieg in ihm hoch und er wandte seine Augen von Dazai ab. „Wir haben einen guten Teil der letzten sieben Jahre damit verbracht Informationen zu sammeln und herauszufinden, wer Mattys Familie getötet hat“, erzählte Wilde. „Schließlich fielen uns Informationen über einen 'Osamu Dazai' von der Hafen-Mafia in die Hände und ...“, er seufzte schwermütig, „ab da wurden die Rachepläne so konkret, dass Jimmy und ich ausgestiegen sind. Wir hatten vorher schon unsere Zweifel. Eine Gruppe, die Frieden schaffen will und dann die Ermordung von jemandem plant? Das wollten wir nicht mehr mittragen. Aber Aldy und Matty ließen sich nicht mehr davon abbringen. So sehr hatten sie sich da hinein gesteigert.“ „Vor ein paar Wochen“, übernahm Joyce wieder das Wort, „erfuhren wir dann, dass die beiden nach Japan abgereist waren und wir sind ihnen hinterher. Aber hier wiederum erfuhren wir alle vier, dass dieser Osamu Dazai gar nicht mehr bei der Hafen-Mafia war, sondern bei den bewaffneten Detektiven.“ Fukuzawas Blick verfinsterte sich bei diesen Worten. „Das heißt, die Angriffe auf die Detektei sind erst hier vor Ort geplant worden?“ „Nun ...“ Wilde nestelte wieder mit seinen Fingern, „ja. Aldy ist ein wahnsinnig guter Stratege. Er kann mit wenigen Informationen in Nullkommanichts detaillierte Pläne erstellen. Aber damit hatten wir nichts zu tun! Wirklich!“ „Sie haben aber auch nichts getan, um die Angriffe zu verhindern“, sagte Kyoka vorwurfsvoll. „Wir befinden uns in einem moralischen Dilemma“, erläuterte Joyce sachlich. „Die einzige Möglichkeit, Huxley und Barrie noch aufzuhalten, besteht darin, sie auszuschalten. Doch, Sie müssen verstehen“, er wandte sich an Fukuzawa, „diese beiden waren unsere Kameraden.“ „Aldy und Matty sind keine schlechten Menschen!“, ergänzte Wilde lauthals. „Auch wenn Sie das jetzt vielleicht denken, aber eigentlich haben die beiden ein gutes Herz! Diese verdammte Vergeltungsgeschichte hat sie nur völlig vereinnahmt. Wir waren hin und her gerissen, was wir tun sollten. Wir wollten uns selbst ein Bild von dem Mörder von Mattys Familie machen. Allerdings kamen wir zu keinem klaren Ergebnis und beschlossen, uns nicht einzumischen. Doch inzwischen ist uns klar geworden, dass wir alles falsch gemacht haben. Unsere Tatenlosigkeit hat diese unschuldigen Leute in Lebensgefahr gebracht.“ Joyce seufzte schwer. „Sie werden erst damit aufhören, wenn sie haben, was sie wollen.“ „Das wissen Sie schon, nicht wahr, Chef?", warf Dazai abgeklärt ein. Fukuzawa schloss kurz seine Augen und als er sie wieder öffnete, blickte er zu den Iren und ignorierte Dazais Frage. „Können Sie uns etwas über diese Giftfähigkeit erzählen? Und besitzt Barrie auch eine Fähigkeit?“ „Das Gift ist tatsächlich mehr eine Art Droge namens 'Soma'“, legte Joyce dar. „Huxley bildet diese Droge in seinem Körper und er kann die Zusammensetzung des Soma ändern, je nach dem für was er es einsetzen will. Es kann berauschen und gleichzeitig auch betäuben und eingeatmet ist es um einiges harmloser als über die Zuführung per Hautkontakt. Da kann es schnell und hochdosiert verabreicht werden, was es so gefährlich macht.“ Bei dieser Erklärung grummelte Fukuzawa innerlich. Eine Droge hatte ihn umgeworfen? Großartig. „Lässt sich die Wirkung des Soma irgendwie aufheben?“, fragte er den blonden Iren, doch dieser schüttelte gleich entschuldigend den Kopf. „Tut mir leid. Das Soma muss vom Körper wieder abgebaut werden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ Der Blick des Chefs ging zu Dazai, aber auch dieser antwortete mit einem Kopfschütteln. „Ich habe bei Yosano und Kenji sofort probiert, ob ich etwas neutralisieren kann, aber ohne Erfolg.“ „Wenn das Soma erst einmal freigesetzt ist“, ergänzte Joyce, „hilft auch keine Fähigkeit mehr, die andere Fähigkeiten aufhebt. Nur die Freisetzung ließe sich so verhindern.“ „Ich hatte den Eindruck, Barrie schien immun gegen die Droge zu sein“, hakte Fukuzawa nach und ließ Wilde stutzen. „Immun? Oh, nein, nein.“ Er seufzte erneut. „Matty ist über die Jahre … nun ja … an das Soma gewöhnt worden. Es … hilft ihm gegen seine Angstzustände und Albträume.“ „Soll heißen, er ist abhängig.“ Für diesen Kommentar zog Dazai sich erboste Blicke seitens der Iren zu, die ihm damit wohl vorwerfen wollten, wessen Schuld das Ganze denn überhaupt erst war, aber es brachte ihn nicht aus der Fassung. „Und Barries Fähigkeit?“ Wilde verzog ein wenig das Gesicht, als wäre es ihm selbst nicht ganz geheuer, darüber zu sprechen. „Mattys Fähigkeit, die 'Lost Boys', besteht darin die Seelen gewaltsam zu Tode gekommener Kinder zu sammeln und zu materialisieren und sie sozusagen wie Marionetten einsetzen zu können.“ Bei dieser Erklärung zog Naomi scharf die Luft ein und sogar Kyoka wirkte erschüttert. Atsushi hatte derweil seinen Blick längst stoisch dem Boden zugewandt, doch er hörte weiterhin zu und diese Fähigkeit jagte ihm augenblicklich einen gewaltigen Schauer durch Mark und Bein. Die Seelen verstorbener Kinder? Was für eine schauderhafte Fähigkeit war denn das? Aber Befähigte konnten sich dies eben nicht aussuchen. Er und Kyoka konnten ein Lied davon singen. „Wie Marionetten?“, überlegte Dazai laut. „Er kann diese Kinder alleine losschicken, ja?“ „Ja“, bestätigte Wilde ihm, „sie scheinen keinen eigenen Willen mehr zu haben und nur noch seinem Befehl zu folgen. Er kann sie zu quasi allem ausbilden, wofür er sie brauchen könnte und dann gibt er ihnen Aufträge. Außerdem ist er in der Lage, sie aus dem Nichts erscheinen zu lassen und er kann durch ihre Augen alles sehen, was sie sehen, egal, wo er selbst sich befindet.“ Dazai atmete hörbar aus. „Jetzt ist mir alles klar.“ Er wandte sich wieder an den Chef. „Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wie es möglich war, Kunikida und mich sowohl bei den Lagerhäusern als auch bei den zwei Bomben zu beobachten, während gleichzeitig der Angriff im Krankenhaus stattfand. Barrie hat seine Fähigkeit benutzt, um uns im Blick zu behalten und um Kunikidas Sprengsatz zu zünden. Wahrscheinlich hat auch eines dieser Kinder auf Ranpo geschossen. Ein Kind kann viel einfacher in der Menge untertauchen als ein Erwachsener. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass sie so jeden einzelnen von uns ausspionieren konnten.“ „Das sind wirklich problematische Fähigkeiten“, resümierte Fukuzawa ernüchtert. „Und wir konnten ihnen bislang nicht viel entgegen setzen.“ „Wie viele von diesen Lost Boys gibt es denn?“, fragte Kyoka. Beide Iren zuckten mit den Schultern. „Es waren schon nicht wenige als wir noch in Europa waren. Wer weiß, wie viele hier noch hinzugekommen sind“, antwortete Joyce bestürzt. „Eine unbekannte Anzahl an Feinden“, fasste Kyoka analytisch zusammen. „Das ist schlecht. Wir sind eindeutig in der Unterzahl.“ Fukuzawa nickte. „Dazai, hast du eine Idee?“ „Oh ja, die habe ich“, antwortete der Brünette unangemessen überschwänglich. „Zuallererst einmal hören wir auf, so zu tun, als hätten die Briten Ihnen nicht gesagt, was Sie machen sollen, um das hier zu beenden.“ Die Mimik des Chefs wurde abrupt angespannter. „Es ist ganz ausgeschlossen, dass sie Sie nicht aufgefordert haben, mich auszuliefern“, fuhr Dazai in gleicher Tonlage fort. „Alle Attentate bis hierhin sollten uns wahrscheinlich nur warnen. Wenn sie mich nicht bekommen, dann wird es so weiter gehen und immer schlimmer werden, bis tatsächlich jemand aus der Detektei sein Leben verliert. Vielleicht haben sie für diesen Zweck auch Atsushi und Kyoka aufgespart.“ Der erwähnte Junge schreckte, die Augen weiterhin gen Boden gerichtet, zusammen. Natürlich würde er um jeden Preis zu verhindern versuchen, dass Kyoka etwas zustieß, doch ihre Feinde gingen so heimtückisch vor, dass er Zweifel daran hatte, sie wirklich auf jeden Fall vor jedem Unheil bewahren zu können. Seine zu Fäusten geballten Hände begannen zu zittern. In was für eine schreckliche, verfahrene Situation waren sie hier nur geraten? „Du wirst dich ihnen nicht ausliefern“, sagte der Chef in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete. „Wir überlegen uns etwas anderes.“ „Etwas anderes?“ Dazai klang beinahe spöttisch. „Wollen Sie wirklich Atsushi und Kyoka in die Höhle des Löwen schicken, wohl wissend, dass dort ausgehungerte Raubkatzen warten?“ „Nnngh“, machte Wilde leise in Joyces Richtung. „Vielleicht sollten wir die bewaffneten Detektive das unter sich klären lassen.“ Joyce nickte und sie zogen sich lautlos aus dem Zimmer zurück. „Ich will natürlich keines eurer Leben in Gefahr bringen“, entgegnete Fukuzawa eisern. „Nüchtern betrachtet gibt es nicht mehr viel, was die Detektei noch ausrichten kann“, sagte Dazai ungewöhnlich harsch klingend. „Sie können in Ihrem Zustand nicht kämpfen; es wäre unverantwortlich Kyoka alleine mitzuschicken und Atsushi … schafft es nicht einmal mehr, mich anzusehen, nachdem er dies alles gehört hat. Sowieso sollten nicht auch noch die beiden meinetwegen ihr Leben aufs Spiel setzen. Also nein, es gibt keine andere Möglichkeit mehr.“ Erneut zuckte Atsushi zusammen – und doch schaffte er es in der Tat nicht, seinen eigentlichen Mentor anzuschauen, obwohl er dessen Augen auf sich spürte. Er war wütend, enttäuscht, frustriert und – auch wenn er sich bewusst war, wie komplett unlogisch dies war – er fühlte sich von Dazai verraten und getäuscht. Das Bild, das er von ihm hatte, von ihm hatte haben wollen, war gewaltsam zerrissen worden. Aber … wessen Schuld war das? Dazais? Seine eigene? Atsushi fand aus dem Stand heraus keine Antwort auf diese Frage. „Du gehörst genauso zur Detektei wie wir alle und daher werde ich dich nicht in den Tod schicken. Du gehst nicht. Das ist ein Befehl“, ordnete Fukuzawa gestreng an. „Ein Befehl?“ Dazai blinzelte ihn an, ehe er lachend den Kopf schüttelte. „Hey!“, mischte sich Naomi, erbost über seine Reaktion, ein. „Werd nicht respektlos, Dazai! Der Chef will doch nur nicht, dass du-“ „Ich will nicht respektlos sein“, unterbrach der Brünette sie ernst, „und ich bin Ihnen dankbar, Chef. Für alles. Aber jetzt gerade sind Sie einfach unvernünftig.“ Stillschweigend verharrte er einen Moment lang an Ort und Stelle, seinen Blick auf Fukuzawa gerichtet. Dann wandte er sich ab und machte sich auf zur Tür. „Dazai!“, ertönte Fukuzawas Stimme todernst und warnend, wie das Grollen eines Donners, das einen Gewittersturm ankündigte. Der Angesprochene blieb kurz stehen, aber er drehte sich nicht mehr zu ihnen um. Die untergehende Sonne tauchte das Zimmer und besonders den Mann im Trenchcoat in ein auffallend dunkles Rot. „Ich kündige.“ Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür und ließ die anderen fassungslos zurück. „Atsushi, was sollen wir jetzt tun?“, fragte Kyoka und sah ihren Kameraden aufgewühlt an, doch sie bekam keine Antwort von ihm. „Atsushi!“ Sie rüttelte aufgebracht an seinem Arm, um eine Reaktion von dem stoisch vor sich hin blickenden Jungen zu bekommen. „Dazai wird sterben!“ Ein Ächzen ließ ihn doch wieder seinen Kopf heben. Fukuzawa versuchte, sich aufzurichten, wurde aber sogleich von einer – so schnell es ihr momentan möglich war - heraneilenden Naomi daran gehindert. „Chef, Sie sind zu schwer verletzt und doch immer noch benebelt.“ Der Älteste im Raum knirschte missmutig mit seinen Zähnen. „Ich kann nicht einmal meine eigenen Leute-“ „Ich folge ihm.“ Atsushis halblaut geäußerter Satz ließ alle Augen zu ihm wandern. Weder sah er entschlossen aus, noch klang er sonderlich kämpferisch. Doch trotzdem konnte man in seinem Gesicht ablesen, dass er längst eine Entscheidung getroffen hatte, von der er nicht mehr abzubringen war. „Dann komme ich mit“, sprach Kyoka ohne zu zögern und der junge Detektiv senkte seinen Kopf etwas. „Das wird sehr gefährlich werden. Ich will nicht, dass dir etwas-“ „Ich komme mit“, wiederholte das Mädchen noch eine Stufe bestimmter. „Wenn du gehst, gehe ich auch.“ Ein flüchtiges Lächeln legte sich auf Atsushis angespanntes Gesicht. Er wusste, dass er sie nicht davon abhalten konnte. „Einen Moment“, wandte der Chef ein. „Ich kann euch nicht einfach gehen lassen. Dazai hat Recht. So sehr ich auch an eure Stärke glaube, es ist zu gefährlich.“ Diese Worte ignorierend, setzte Atsushi sich in Bewegung und noch während er dies tat, griff Kyoka nach seiner Hand und ging mit ihm mit. „Dazai will nicht, dass ihr ihm folgt.“ Fukuzawa wurde lauter. Viel größer als sein Missfallen darüber, dass niemand mehr seinen Befehlen Folge leistete, war sein Unmut, dass er nicht an ihrer statt gehen konnte; er konnte sie nicht einmal aufhalten. Atsushi drehte sich ihm zu, bevor er die Tür erreichte. In seinem betrübten Blick regte sich langsam die Entschlossenheit. „Wir wollen auch nicht respektlos sein, aber …. Das Büro der bewaffneten Detektive hilft und beschützt Menschen, die in Gefahr sind. Wir sind bewaffnete Detektive, also tun wir jetzt genau das. Das verstehen Sie doch, oder, Chef?“ Fukuzawa hatte gerade einmal die Gelegenheit Atsushis Blick zu erwidern, ehe der Junge und das Mädchen den Raum verließen. Durch die geschlossene Tür konnten sie hören, wie er ihnen hinterher brüllte, zurückzukommen. Als eine letzte Bestärkung, dass sie das Richtige taten, schaute Kyoka zu Atsushi hoch und nickte entschlossen. Sie gingen los. Die beiden hatten gerade den Flur verlassen, als eine Frage des Mädchens sie jäh wieder innehalten ließ. „Wie kriegen wir heraus, wo Dazai hin ist?“ Verdammt!, fluchte Atsushi innerlich. Im Gegensatz zu Dazai hatten sie ja keine Ahnung, wo die Briten auf ihn warteten. Was sollten sie denn jetzt machen? „Ihr müsst hierhin.“ Ein Zettel, auf dem eine Adresse geschrieben stand, schob sich in Atsushis Blickfeld. Der Junge sah auf, um zu sehen, wer ihm das Stück Papier hinhielt. Es war Joyce - und er war offensichtlich nicht glücklich über die Entscheidung der Kinder, Dazai zu folgen. „Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Ihre Kameraden nicht zu Schaden kommen werden.“ Atsushi sprach mit gedämpfter Stimme und sah den Zettel an, ohne ihn zu nehmen. Joyce entfuhr ein schwermütiger Seufzer. „Darum geht es jetzt nicht mehr, Junge. Vielleicht kann eine verdorbene Seele nicht mehr gerettet werden. Aber vielleicht kann sie davon abgebracht werden, noch mehr Verderben zu bringen.“ Ohne weiteres Zögern nahm Atsushi nun das Papier entgegen und die Entschlossenheit, die Joyce in seinen Augen sah, als ihre Blicke sich trafen, ließ den Iren staunen. Schweren Herzens blickte er den zwei jungen Detektiven hinterher, als sie das Krankenhaus verließen. „Wir können das nicht den Kindern allein überlassen.“ Mit einem schwachen, fast traurigen Lächeln gesellte sich Wilde zu ihm. Niedergeschlagen schüttelte Joyce den Kopf. „Ich habe kaum noch Lehm übrig. Und selbst wenn … in einem Kampf wären wir Huxley und Barrie unterlegen.“ „Ja, schon“, wandte Wilde ein, „aber wenn wir den Kindern Hilfe schicken würden …?“ „Hilfe?“ Joyce hob gespannt eine Augenbraue. Das Lächeln des Dunkelhaarigen wurde wieder verschmitzt. „Du erinnerst dich an das Gerät, das Aldy entwickelt hat, um Telefonnummern von Handys in der eigenen Umgebung abzugreifen?“ Aus der Spannung wurde Argwohn. „Ja ... wieso?“ „Nun, als wir die zwei damals verlassen haben, hast du einige von Aldys Fernzündern samt Sprengsätzen mitgenommen, aber du warst nicht der einzige, der was hat mitgehen lassen.“ Mit einem spitzbübischen Grinsen hielt Wilde ein flaches, nur wenige Zentimeter großes, schwarzes Kästchen hoch. „Meinst du nicht auch, diese beiden würden sich eventuell einmischen?“ Baff stutzte Joyce. „Du hast …?“ „Ah huh.“ „Hmm“, machte der blonde Ire nachdenklich. „Diese beiden würden sich vielleicht tatsächlich einmischen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)