Vergeltung von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair. Seit einer gefühlten Ewigkeit bereits hallten diese Worte in Robins Kopf wider, waren zeitweise das einzige, woran er denken konnte. Tage, Wochen, die vergangen waren, und immer dieselben mantraartigen Sätze. Es war einfach nicht fair. Als würde das eine Rolle spielen. Als wäre irgendetwas im Leben fair. Der Grabstein fühlte sich kühl an unter seinen Fingern, als er darüberstrich. Es hatte geregnet letzte Nacht, die Feuchtigkeit war noch immer spürbar, auch wenn die Sonne die Wolkendecke bereits seit einiger Zeit durchbrochen hatte und ihre Strahlen auf die Erde schickte. Wie unpassend. Wieso regnete es nicht in Strömen? So, wie es in Filmen immer geschah, wenn jemand das Grab eines geliebten Menschen besuchte? Wenn es nach Robin ging, dann sollte verdammt noch mal nie wieder die Sonne scheinen! Drei Wochen war es nun her, dass er zum ersten Mal hier gestanden hatte, umgeben von Leuten, von denen er die meisten gekannt hatte. Um genau zu sein waren bloß zwei Personen da gewesen, denen er noch nie persönlich begegnet war, die er bloß aus Erzählungen kannte. Nur zwei Leute aus dem früheren Leben seines Verlobten - ehemaligen Verlobten, korrigierte eine boshafte Stimme in seinem Hinterkopf. Und auch diese beiden hatten gewirkt, als seien sie bloß aufgrund einer unausgesprochenen Verpflichtung dort erschienen. Weil man das eben tat, wenn das eigene Kind, viel zu früh und unerwartet, verstarb. Sie hatten versucht, Emotionen zu zeigen, zu trauern, doch es war mehr als offensichtlich gewesen, dass all das nicht mehr gewesen war als eine Fassade. Dafür hatte Robin ihre Blicke auf sich gespürt, sobald er nicht in ihre Richtung gesehen hatte. Blicke, die ihn musterten, ihn zu durchbohren schienen. Ihn stumm verurteilten, für das, was er war, und für das, was er getan hatte. Das erste hatte ihn nicht gestört, er war es gewohnt, auf diese Art angeblickt zu werden. Das blieb nicht aus, wenn man eine Beziehung, die nicht der noch immer vorherrschenden heteronormativen Form entsprach, offen auslebte. Es war ihm egal, und auch seinem Verlobten war es immer egal gewesen. Der zweite Vorwurf, der in diesen Blicken gelegen hatte, war schlimmer. Viel schlimmer. „Du bist schuld an all dem hier“, schrie dieser Vorwurf ihm stumm entgegen, ließ ihn verkrampfen und Übelkeit in ihm aufsteigen. „Wegen dir stehen wir hier alle, wegen dir ist er gestorben.“ Dieser Vorwurf war schlimm. Denn er war wahr. „Es war nicht deine Schuld, hör auf, das zu glauben“, hatte Lola zu ihm gesagt, als sie vor dem offenen Grab gestanden und zugesehen hatten, wie der Sarg hinabgelassen wurde, verschluckt wurde von der finsteren Erde, die kein Licht mehr hindurchlassen würde, sobald das Loch gefüllt worden war. Robin wusste nicht, wie oft er diese Worte gehört hatte, von Lola und von so vielen anderen, die versucht hatten, auf diese Weise die Last der Schuld von ihm zu nehmen. Aber das konnten sie nicht. Das konnte niemand. Denn Tatsache war: Wäre er nicht gewesen, wäre das nicht passiert. Abwesend ließ Robin seinen Blick über das Grab schweifen, bliebt an der Inschrift des Granitsteins hängen, die er schon so oft gelesen hatte, an jedem Tag der vergangenen drei Wochen. Jonny Wells. Geboren am 22. Oktober, gestorben am 5. April. Beim Anblick des Vornamens musste Robin wie immer kurz lächeln, erinnerte sich daran, wie überrascht er gewesen war, als Jonny ihm erklärt hatte, dass das nicht sein Spitzname und die Kurzform von Jonan oder Jonathan war, sondern dass seine Mutter ihn einfach wirklich so genannt hatte. Eine schöne Erinnerung, so unbedeutend sie auch für Außenstehende erscheinen mochte. Und dann der Schmerz, sobald er den Nachnamen sah. Ein Blick auf die Datumsanzeige seiner Uhr verriet ihm, dass es heute nur noch vierzehn Tage gewesen wären. Exakt zwei Wochen bis zum geplanten Tag ihrer Hochzeit. Bis Jonny Robins Nachnamen angenommen und damit endlich jenen abgelegt hätte, den er mit den schmerzhaften Ereignissen seiner Vergangenheit in Verbindung brachte. Doch dazu war es nicht mehr gekommen, und das würde es auch niemals. Der Name, den Jonny mit der Person geteilt hatte, die ihm so vieles in seinem Leben genommen hatte, stand nun auf seinem Grab, für immer in Stein gebannt und verewigt. Und das Kleid, das Robin sich für die Hochzeit gekauft hatte, hatte er nun zur Beerdigung getragen. „Nicht deine Schuld“, erklang wieder Lolas Stimme in Robins Kopf. Am liebsten hätte er geschrien. Natürlich hatte er nicht gewollt, dass das passierte; niemals hätte er sich so etwas gewünscht. Selbst, wenn sie sich gestritten hatten, was bloß wenige Male in ihrer Beziehung vorgekommen war, hatte Robin niemals auch nur einen finsteren Gedanken Jonny gegenüber gehabt. Und doch war es passiert. Wegen ihm. Weil die Person, die einen so großen Hass gegenüber Robin gehegt hatte, ganz genau gewusst hatte, wie sie ihn am meisten verletzen konnte. Und Robin hatte gewusst, dass sie es gewusst hatte, so, wie auch Jonny es gewusst hatte. Wie oft hatte Robin ihm versprochen, dass nichts passieren würde, dass er aufpassen würde, ihn beschützen würde. Und am Ende hatte er es nicht geschafft. Hatte zusehen müssen, wie sein Verlobter in seinen Armen verblutete, während es eine verdammte Ewigkeit dauerte, bis der Krankenwagen endlich angekommen war. Jonny hatte noch gelebt, als die Sanitäter ihn endlich notdürftig versorgen konnten, auch wenn Robin sich nicht sicher war, wie weit dieser Zustand tatsächlich noch als Leben bezeichnet werden konnte. Er hatte die Fahrt ins Krankenhaus überlebt, bei der Robin seine Hand gehalten und mit ihm gesprochen hatte, wobei er schon längst keine Antworten mehr erhalten hatte. Zwei Stunden hatte Robin im Wartezimmer verbracht, abwechselnd auf einem Stuhl hockend und ruhelos durch den Raum laufend, bis ihn ein alter Mann irgendwann angefahren hatte, er solle sich verdammt noch mal hinsetzen. Seine Gedanken waren wirr gewesen, abwechselnd bei Jonny und der Frage, wie es ihm ging, und bei dem Mann, der ihm ein Messer in den Rücken gerammt hatte, als Robin bereits geglaubt hatte, dass alles gut werden würde. Der geflohen war, während Robin bei seinem sterbenden Freund geblieben war, und der, laut Polizei, keinerlei Spuren hinterlassen hatte. Zwei Stunden im Warteraum des Krankenhauses, die sich gleichzeitig endlos lang und unfassbar kurz angefühlt hatten. Als wäre Zeit nichts weiter als Illusion, vollkommen bedeutungslos. Dann war die Krankenpflegerin eingetreten, hatte Robin gebeten, mit ihr zu kommen. Was genau sie gesagt hatte, wusste Robin im Nachhinein nicht mehr, alles, was in den nächsten Stunden geschehen war, war von einem dumpfen, grauen Schleier überdeckt. Irgendwie hatte er es geschafft, Lola anzurufen, am Telefon das wiederzugeben, was er von der Pflegerin erfahren hatte. Dass Jonny während der Operation, die ihm eigentlich das Leben retten sollte, gestorben war. Lola hatte ihn abgeholt und ihn mit zu sich nach Hause genommen. Sie hatte geweint, das war ihn anzusehen gewesen, doch in Robins Gegenwart hatte sie sich bemüht, sich zusammenzureißen. Hatte nicht gefragt, was genau passiert war, obwohl sie es sich wohl ungefähr hatte denken können. Und Robin hatte nichts gesagt. Dass er wieder weinte, merkte er nicht. Sein Blick ruhte weiterhin auf dem Grabstein, der vor seinen Augen verschwamm, zu einem unidentifizierbaren grauen Fleck wurde. Ebenso schwer greifbar wie alles, was geschehen war. Fünf Wochen später, und sie wären verheiratet gewesen. Fünf Wochen später, und die Inschrift hätte „Jonny Curtis“ gelautet, was nicht wirklich besser gewesen wäre, aber irgendwie doch ein winziges bisschen weniger schmerzhaft - vermutlich. Wer konnte das schon sagen. Fünf Wochen später, und Robin hätte nicht vom Krankenhauspersonal zu hören bekommen: „Tut uns sehr leid, aber sie sind kein Angehöriger. Sie dürfen die Leiche nicht sehen.“ Fünf Wochen später, und das letzte Mal, dass er seinen Verlobten gesehen hätte, wäre nicht im Krankenwagen gewesen, angeschlossen an Maschinen und umgeben von Sanitätern, um sein Leben kämpfend. Bereits mehr tot als lebendig, aber doch noch irgendwie da. „Nicht fair“, schoss es Robin ein weiteres Mal durch den Kopf, während er sich abwandte und den Weg wie automatisch zurück zum Ausgang des Friedhofs hinter sich brachte, noch immer unfähig, zu sehen, aufgrund der Tränen. Seine Hand ruhte in seinem halb geöffneten Mantel, umklammerte das Messer, das er seit jenem Tag bei sich trug für den Fall, dass er dem Mörder der wichtigsten Person in seinem Leben erneut begegnen würde. Die leere Wohnung fühlte sich noch immer falsch an. Sie war zu groß, zu still. Und sah noch immer aus, als würde Robin nicht alleine hier leben. Jonnys Mantel, der an der Garderobe hing; der schwarze mit den Nieten, den er nur trug (getragen hatte, korrigierte die bösartige Stimme erneut), wenn sie ausgingen, weil er zwar schön aussah, aber für den Alltag doch irgendwie unpraktisch war. Die dazu passenden Stiefel mit den Plateauabsätzen - ebenfalls sehr stylisch, doch Robin hatte sich immer etwas verloren gefühlt, wenn Jonny sie getragen hatte und der Größenunterschied zwischen ihnen von den üblichen ungefähr zehn auf gut zwanzig Zentimeter verdoppelt wurde. Robin streifte seinen eigenen Mantel ab, hängte ihn an einen der Kleiderhaken. Den Blick auf Jonnys Klamotten, die, die er nicht getragen hatte als er gestorben war, vermied er, so gut er konnte. Im Wohnzimmer standen noch die Leinwände, manche weiß, andere bemalt. Auf der Staffelei eine mit dem halbfertigen Motiv einer Kreatur, deren violette Augen stumpf auf einen Punkt in der linken unteren Ecke blickten, in der eine schattenhafte Gestalt kauerte. „Ich hab wieder schlecht geträumt“, hatte Jonny gesagt, als Robin ihn am frühen Morgen vor der Staffelei vorgefunden hatte, nachdem er aufgewacht war und sich gewundert hatte, dass er alleine im Bett lag. Das war zwei Tage vor Jonnys Tod gewesen. Und es fühlte sich an, als wären keine zwei Stunden seitdem vergangen. Klar und deutlich erinnerte Robin sich daran, wie er in die Küche gegangen war, Kaffee aufgesetzt hatte und schließlich mit zwei Tassen zurück ins Wohnzimmer gegangen war, sich neben Jonny auf einen Stuhl gesetzt und ihm schweigend zugesehen hatte, ihm ab und zu seinen Kaffee reichend. Ein Morgen wie so viele andere. Keiner von ihnen hatte gewusst, dass es der letzte dieser Art sein würde. Mit den Fingerspitzen strich Robin über die Leinwand, fürchtete einen Augenblick lang, dass die Farbe an seiner Haut kleben bleiben und das Bild verschmieren würde. Aber das passierte nicht. Natürlich nicht. Die Farbe war längst getrocknet. Es war schwierig den Blick abzuwenden, nicht wie eingefroren stehenzubleiben und die Bilder zu betrachten, die sein Verlobter in der Zeit, die sie gemeinsam hier gewohnt hatten, gemalt hatte. Es war eine Art Therapie für ihn gewesen, eine Erleichterung, das, was ihn in seinen Träumen verfolgte, in bildliche Form zu bannen. Aus Erzählungen wusste Robin, dass Jonny das früher bereits getan hatte, als Kind. Dass er die Bilder gesammelt und schließlich verbrannt hatte, dass ihm das das Gefühl gegeben hatte, eine gewisse Kontrolle über seine Ängste zu haben. Jonny hatte viele Alpträume gehabt. Kreaturen, die aus dem entstanden, was ihm in seiner Vergangenheit widerfahren war, die ihn teilweise bereits seit Jahren verfolgten. Nicht einer dieser Träume hatte von seinem späteren Mörder gehandelt, obwohl Jonny gewusst hatte, dass es jemanden gab, der ihn umbringen wollte. Davor hatte er sich nicht gefürchtet. Er hatte Robins Versprechen geglaubt, dass ihm nichts passieren würde. Ein Versprechen, das dieser letztlich nicht hatte halten können. “Es tut mir so leid”, flüsterte Robin in die Stille der Wohnung hinein. Er ließ sich auf die Couch fallen, starrte vor sich hin. Die Leute sagten immer wieder, dass es weitergehen würde. Dass der Schmerz nachlassen würde, er lernen würde, damit zu leben. Vielleicht hatten sie recht. Wahrscheinlich sogar. Aber im Moment fühlte es sich absolut nicht danach an. Robins Gedanken schweiften ab, kehrten unvermeidlich zu dem Tag zurück, an dem er Jonny zum letzten Mal gesehen hatte. Die Schuld, ohnehin immer da wie ein Schatten, der ihn verfolgte, wuchs, als einmal mehr die Vorstellung in ihm hochkroch, was geschehen wäre, wenn er an jenem Morgen ein wenig hartnäckiger gewesen wäre... “Robin, ich muss los.” Jonnys Stimme klang genauso verschlafen, wie er aussah. Mit einem Gähnen richtete er sich ein Stück auf, wirkte dabei selbst nicht gerade so, als wäre er von seinem Vorhaben sonderlich begeistert. Nicht weniger schläfrig blickte Robin zu ihm auf, legte seinen Arm fester um Jonnys Taille. Murmelte mit kratziger Stimme: “Warum denn?“ „Weil in einer Stunde die Uni losgeht.“ Ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen war, dennoch löste Robin seine Umarmung nicht. „Na und? Dann kommst du eben erst zur zweiten Vorlesung…“ „Das geht nicht.“ „Wieso nicht?“ Es war keine ernsthafte Diskussion, die beide miteinander führten. Robin hatte nicht wirklich vor, Jonny zurückzuhalten; ihm war klar, dass sein Verlobter das Studium nicht so locker nahm, wie viele seiner Kommilitonen es wohl taten. Das konnte er auch gar nicht. Zu viel hatte er investiert, um diese Chance zu bekommen, er würde nicht riskieren, aufgrund von mangelnder Präsenz nicht zu den Prüfungen zugelassen zu werden oder durch eine davon durchzufallen. Es war einfach bloß ein Spiel, das sie immer wieder spielten. Kein ungutes Gefühl, das Robin an diesem Morgen dazu veranlasste, Jonny zum Bleiben zu bringen. Keine an Vorsehung grenzende Gewissheit, dass etwas schreckliches passieren würde, auch, wenn es ihm im Nachhinein immer wieder so vorkam, als wäre da etwas gewesen, eine unbestimmte Aura von Unheil. Doch das war bloß ein klassischer Rückschaufehler, nichts weiter. Hätte Robin wirklich geglaubt, dass etwas passieren würde, dann hätte er Jonny niemals gehen lassen. Jonny sah Robin an, seufzte theatralisch. „Ich würde ja wirklich gern hier mit dir liegenbleiben, aber wenn ich jetzt nicht aufstehe, dann tu ich das wahrscheinlich in den nächsten Stunden gar nicht mehr.“ „Du sagst das so, als wäre das etwas schlechtes…“ „Nicht direkt, aber die Uni sieht das sicher anders.“ „Du lässt dir von einem Gebäude vorschreiben, was du tun sollst?“ „Du bist ein Idiot!“ Jonny lachte und richtete sich auf, beugte sich zu Robin und küsste ihn kurz auf die Wange. Robin erschauderte. „Ich weiß“, erwiderte er, während er seine Umarmung ein wenig lockerte, Jonny betont enttäuscht ansah und sich etwas zurücklehnte. „Schön, dann geh halt und lass mich hier alleine zurück…“ Im nächsten Moment atmete er überrascht auf, als Jonny sich über ihn beugte, die Hände auf seine Schultern gelegt, ihn auf die Matratze drückte. Er konnte spüren, wie sein Herz schneller schlug, sein Puls sich beschleunigte, und wie diese Empfindungen sich noch steigerten als Jonny sich zu ihm beugte und ihn erneut küsste. Dieses Mal war es ein richtiger Kuss, und automatisch erwiderte Robin ihn, legte wieder die Arme um seinen Freund und drückte ihn an sich. Eine Wärme breitete sich in seinem Körper aus, angenehm, und gleichzeitig voller Erwartung, Ungeduld. Kurz waren da die bekannten Gedanken, die Befürchtungen, dass er zu anhänglich war. Zu aufdringlich. Zu viel forderte von einer Person, von der er eigentlich bloß wollte, dass es ihr gut ging. Die alten Zweifel, die alte Selbstunsicherheit. Doch diese Gedanken blieben nicht lange. Wurden beiseitegeschoben von den Berührungen, von der Nähe. Diesem unfassbar schönen Gefühl der Geborgenheit. Beide waren etwas außer Atem, als Jonny den Kuss schließlich löste. Er musterte Robin, und in seinem Blick glaubte dieser, so etwas wie Bedauern erkennen zu können. „Tut mir ja wirklich leid, aber ich muss los“, sprach er ein weiteres Mal die grausame Wahrheit aus, die Robin frustriert aufatmen ließ. Löste sich, dieses Mal vollständig, aus dessen Umarmung und setzte sich auf die Bettkante, um nach ein paar Sekunden, die er für gewöhnlich brauchte, bis sein Kreislauf dazu bereit war, auszustehen. „Du bist wirklich gemein!“, rief Robin ihm nach, wobei es ihm nicht gelang, so ernst zu klingen, wie er es beabsichtigt hatte. Noch immer spürte er seinen Puls deutlich, und er hätte viel dafür gegeben, dass Jonny noch länger bei ihm geblieben wäre. Zumindest noch ein paar Minuten. „Ich weiß“, erklang die Antwort aus dem Flur, gedämpft von der angelehnten Zimmertür. Dann folgte das Geräusch der Badezimmertür, die ins Schloss fiel. Robin seufzte. Vermutlich war er doch zu anhänglich, zumindest konnte es doch nicht normal sein, dass es ihn jedes Mal dermaßen störte, wenn Jonny ohne ihn für ein paar Stunden das Haus verließ. Nicht, weil er eifersüchtig wäre - das wäre wirklich albern und vermutlich auch ungesund kontrollierend gewesen, wenn er jedes Mal derartige Gedanken gehabt hätte - sondern einfach, weil er sich einsam fühlte. Ein Gefühl, das ihn viel zu sehr, viel zu schmerzhaft an die dunklen Phasen seiner Vergangenheit erinnerte. Als Jonny wieder aus dem Bad kam hatte Robin es geschafft, sich aufzusetzen, sodass er in den Flur blicken und sehen konnte, wie sein Freund sich auf den Weg in die Küche machte. „Hast du heute Abend Lust auf Sushi?“, rief er ihm zu, worauf Jonny sich zu ihm drehte, kurz zögerte, und dann nickte. „Klar. Ich hab immer Lust auf Sushi.“ „Ja ich weiß… gut, dann bestell ich was!“ Die Idee war Robin spontan gekommen, aber sie gefiel ihm; die Vorstellung, einen gemütlichen Abend zu verbringen, sich zusammenzusetzen und gemeinsam zu essen, etwas, das in der allgemeinen Hektik des Alltags oft unterging, war zumindest ein wenig ablenkend davon, dass er die nächsten Stunden alleine verbringen würde. Was Jonny noch erwiderte verstand Robin nicht mehr, vermutlich war es jedoch etwas gewesen wie „Ich nehm dann das Übliche“, was in seinem Fall einen Haufen Maki mit Gurke und Avocado bedeutete. Das Übliche. Ein ganz normaler Tag. Gegen 5 Uhr verließ Robin die Wohnung, um das Sushi abzuholen. Kurz vorher hatte Jonny ihm geschrieben, dass die letzte Vorlesung ausfiel und er deshalb bereits gegen halb sieben zuhause sein würde, und so war Robin direkt aufgebrochen, nachdem er geantwortet hatte, dass Jonny auf sich aufpassen sollte. Das übliche Prozedere. Sie wussten beide, dass dort draußen jemand war, von dem eine Gefahr ausging, und sie waren beide wachsam. Seit Monaten ging das so, die Drohungen, die höhnischen Nachrichten. Monate, in denen nichts passiert war. Verstrichene Zeit, die langsam immer mehr den Verdacht zuließ, dass niemals wirklich etwas passieren würde. Dass die bedrohlichen Anrufe und Textnachrichten, die in unregelmäßigen Abständen eingingen, nicht mehr waren als hohle Worte eines verdrehten, von Wut zerfressenden Verstandes. So machte Robin sich nicht wirklich Gedanken, als er auf seine letzte Nachricht keine Antwort mehr erhielt. Vermutlich war Jonny beschäftigt, und was hätte er auch anderes zurückschreiben sollen als die üblichen Floskeln; dass er natürlich auf sich aufpassen würde, dass er sich auf heute Abend freute und so weiter. Es war absolut typisch für Jonny, dass er darauf verzichtete, diese ewig gleichen Sätze von sich zu geben und seine Zeit damit zu verschwenden, etwas zu sagen, das Robin ohnehin eigentlich wusste. Trotzdem war es noch nicht einmal halb sieben, als Robin begann, sich Sorgen zu machen. Er wusste nur zu gut, dass Jonny zu pragmatisch war für Smalltalk. Egal, wie oft Robin ihn bat, kurz zu schreiben, wenn er sich auf den Heimweg machte, Jonny vergaß es einfach. Nichts Schlimmes, aber manchmal machte es Robin wahnsinnig. So wie an diesem Tag. Als halb sieben dann vorbei war nahm seine Nervosität zu. Er stand am Fenster und beobachtete die Straße, kontrollierte parallel immer wieder sein Handy auf Anrufe oder Nachrichten, beides ohne Erfolg. Er sah den Bus – bereits den späteren als der, den Jonny normalerweise genommen hätte - an der Haltestelle am Ende der Straße halten, sah Leute ein- und aussteigen. Lauter Fremde. Niemand darunter, den er näher kannte. Vier Mal lief er zur Wohnungstür, kontrollierte, ob die Klingel womöglich ausgeschaltet war. Eigentlich hatte Jonny einen Schlüssel, aber vielleicht hatte er ihn ja vergessen, oder verloren… Er ging ins Treppenhaus, sah sich um, um dann wieder zum Fenster zu laufen und nach draußen zu starren, als hätte sein Beobachten irgendeinen Einfluss darauf, ob Jonny nach Hause kam oder nicht. Er schrieb Lola, fragte sie, ob sie etwas gehört hatte, aber ihre Antwort würde erst Stunden später kommen nachdem sie ihre Schicht im Supermarkt beendet hätte, und zu diesem Zeitpunkt wusste Robin längst, was passiert war. Es war zwanzig vor neun, und langsam fürchtete Robin ernsthaft, den Verstand zu verlieren, als sein Handy klingelte. Jonnys Nummer auf dem Display zu sehen löste in Robin ein starkes Gefühl der Erleichterung aus. Alles war gut, oder zumindest in Ordnung, Jonny würde erklären was passiert war und weshalb er sich nicht eher gemeldet hatte; vermutlich steckte ein absolut bescheuerter Grund dahinter, und sobald das letzte Gefühl von Sorge verschwunden wäre würden sie beide darüber lachen, während sie endlich gemeinsam das Sushi aßen das seit Stunden unberührt auf dem Esstisch herumstand. Dann hörte Robin die Stimme. „Hallo, Robin.“ Sie klang ruhig, gefasst, dabei dezent amüsiert. Als wäre das alles für sie ein riesiger Spaß. Und sie gehörte nicht Jonny. Es war Seine Stimme, die Stimme des Mannes, der immer wieder versuchte, Robins Leben zur Hölle zu machen, seit Jahren bereits. Marcs Stimme. Beinahe hätte Robin das Handy fallengelassen. Er wollte schreien, schwankte, musste sich an der Fensterbank festhalten um nicht in sich zusammenzusacken. Die weiteren Worte des Anrufers verstand er nur schwer, sie waren dumpf, verzerrt, als kämen sie von weit, weit weg. Und ohnehin hatte er sie sofort wieder vergessen. Nicht, dass sie wichtig gewesen wären. Marc hatte aufgelegt, bevor Robin selbst sich so weit hatte sammeln können, dass er auch bloß einen Laut hätte hervorbringen können. Sekunden später vibrierte das Handy in seiner Hand erneut, doch dieses Mal war es kein Anruf. Es waren Fotos. 26 Stück insgesamt, aber bereits nach zweien war Robin nicht mehr in der Lage, sich mehr davon anzuschauen. Er wollte es nicht sehen. Wollte nicht sehen, wie Jonny blutend auf einem dreckigen Betonboden lag, voller Schnittwunden und dunkler Flecken, die auf Schläge hindeuteten. Die nächste Nachricht, die er erhielt, beinhaltete einen Standort, gemeinsam mit den Worten „je schneller du hier bist, desto mehr Schmerz kannst du ihm ersparen.“ Robin hatte nicht eine Sekunde lang daran gedacht, die Polizei einzuschalten. Zu riskant, und dabei wohl nichts weiter als Zeitverschwendung. Es ging dem Absender nicht darum, Geld zu bekommen oder irgendetwas anderes, über das zu verhandeln gewesen wäre. Es ging ihm einfach bloß darum, Robin zu bestrafen. Sich zu rächen für etwas, das in seinen Augen ein furchtbares Unrecht gewesen war. Und Robin hatte geglaubt, dass diesem hasserfüllten Mann das reichen würde. Dass es ihm ausreichend Genugtuung sein würde, zu sehen, wie Robin darunter litt, was seinem Freund passiert war. Dass er mit Freude zusehen würde, wie Robin verzweifelte, und es dann gut sein lassen würde. Robin hatte nicht geglaubt, dass Marc weitergehen würde. Das passte nicht zu ihm; Marc war jemand, der große Töne spuckte, herumpöbelte und gerne mal zuschlug, aber nicht mehr. Nicht so. Und so ging er alleine. Nahm die Waffe mit sich, die immer versteckt in der untersten Küchenschublade lag, nicht wirklich davon ausgehend, dass er sie würde benutzen müssen. Machte sich auf den Weg zu dem Ort den Marc ihm geschickt hatte, rannte große Teile der Strecke, ignorierend, dass das Seitenstechen ihn umbrachten und Panik weiterhin im Begriff war, die Kontrolle über ihn zu gewinnen. Er glaubte nicht, dass Marc Jonny töten würde, aber das bedeutete nicht, dass seine Angst irgendwie gemindert wurde. Jede Sekunde, die sein Verlobter sich in der Gegenwart dieses Mannes befand bedeutete potenziell mehr Leid für ihn, und allein der Gedanke daran brachte Robin beinahe um den Verstand. Er war bereit, alles zu tun, was Marc von ihm verlangte. Ihn anzuflehen, zu betteln, all diese erniedrigenden Dinge, bei denen Robin normalerweise schon der Gedanke daran Übelkeit verursachte. Es war egal. Ganz egal. Hauptsache, es bewahrte Jonny vor mehr Schmerzen. Und all diese Dinge hatte er keine halbe Stunde nach Marcs Anruf wirklich getan. Ein Teil von ihm war von sich selbst angewidert gewesen, davon wie er dort auf dem Boden hockte und zu Marc aufsah, der einige Meter von ihm entfernt stand und ein Messer an Jonnys Kehle hielt, alles sagte, was von ihm verlangt wurde und einfach bloß zu Marcs Belustigung diente. Aber dem Großteil von ihm war egal gewesen, wie armselig er ausgesehen haben musste. Das Einzige, was in diesem Moment wirklich von Bedeutung gewesen war, war, dass Jonny nicht noch mehr verletzt werden würde. Er hatte alles getan, und es hatte ausgesehen, als wäre Marc damit zufrieden. Er hatte Jonny irgendwann von sich weggeschubst und war einige Schritte zurückgewichen, hatte zugesehen wie Robin zu seinem Verlobten gestürzt war und ihn an sich gezogen hatte. Jonny war voller Blut gewesen, er zitterte und verkrampfte immer wieder unkontrolliert, aber die Verletzungen, mit denen er übersät gewesen war, waren nicht lebensbedrohlich gewesen. Und Robin hatte geglaubt, dass es vorbei war. Die Pistole hatte in seiner Manteltasche gesteckt, doch er hatte in diesem Moment keinen Gedanken daran verschwendet, die auf Marc zu richten, denn Marc war jetzt nicht wichtig, er hatte bekommen was er wollte, und sicher würde Robin ihm das irgendwann heimzahlen, aber nicht jetzt, nicht hier, nicht, während Jonny stark blutete und immer wieder bei jeder kleinen Bewegung versuchte, Aufschreie von Schmerz zu unterdrücken. Robin hatte geglaubt, dass er noch Zeit haben würde. Dass es vorbei war, fürs erste. Und plötzlich war Marc wieder da gewesen, direkt hinter Jonny, aber bloß für wenige Sekunden, und Robin hatte nicht verstanden, was überhaupt passierte. Jonny hatte geschrien, und dann war etwas zu Boden gefallen, während Marc sich umgedreht hatte und losgerannt war, dieses Mal wirklich in der Absicht, zu verschwinden. Erst, als Robin das blutige Messer auf dem Boden gesehen hatte, hatte er ansatzweise begriffen. Aber da war es längst zu spät gewesen. „Es tut mir so unglaublich leid“, flüsterte Robin. Das wievielte Mal war es, dass er diese Worte aussprach, Worte, die keinerlei Bedeutung innehatten und ungehört verklangen? Er wusste es nicht. Und es spielte auch keine Rolle. Es war vorbei, es gab nichts, was er noch tun konnte, und das Gefühl der Ohnmacht machte ihn beinahe wahnsinnig. Ebenso, wie die Schuld. Hätte er Jonny bloß nicht gehen lassen… Robin hatte nicht gemerkt, wie er wieder von der Couch aufgestanden war und begonnen hatte, im Zimmer auf und ab zu laufen. Ruhelos von einer Wand zur anderen, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Bloß nicht aufsehen, nicht die Bilder ansehen, oder irgendetwas anderes, das die Erinnerung an seinen Verlobten und damit den Schmerz wieder verstärken würde... Ja, die Wohnung fühlte sich zu leer und zu groß an. Und gleichzeitig gab sie Robin das Gefühl, in ihr zu ersticken. Er musste hier raus. Er ertrug es nicht, hier zu sein, in diesen Wänden in denen er so viele schöne Stunden zusammen mit Jonny verbracht hatte. Stunden, die nun bloß noch der Vergangenheit angehörten und sich niemals wiederholen würden. Der Schmerz war zu groß, und der Druck, den die Trauer in seiner Brust verursachte, nahm ihm den Atem. Diese Wohnung war wie Gift für ihn. Das wurde mit jedem Tag, der verstrich, deutlicher und deutlicher. Als Robin nun wieder seinen Mantel ergriff und ihn sich überzog glitt das Messer aus der Tasche und fiel zu Boden. Kurz betrachtete er es, musterte die silbrige Klinge und überlegte, ob er es aufheben sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Was glaubte er eigentlich, mit diesem Messer ausrichten zu können? Die Chance, Marc zufällig über den Weg zu laufen, war bereits gering genug. Noch unwahrscheinlicher war es, ihn in eine Situation zu bringen in der es ihm gelingen würde, ihn mit einem Messer ernsthaft zu verletzen. Marc war ihm körperlich eindeutig überlegen; gut zwei Köpfe größer als Robin und fast doppelt so breit wie er. Und in der Realität reichte es nicht so wie im Film aus, einmal zuzustechen um jemanden gefährlich zu verwunden. Marc würde ihn überwältigen, und was dann passieren würde wollte sich Robin gar nicht erst vorstellen. Nicht, dass der Gedanke, zu sterben, ihm ernsthafte Angst machte... wenn er an diese Option dachte, war da nichts als Gleichgültigkeit in ihm. Doch würde das auch bedeuten, dass Marc ein weiteres Mal bekommen würde, was er wollte. Dass ihm keine Konsequenzen drohen würden, sofern er es wieder schaffen würde unterzutauchen, so wie er es nach Jonnys Ermordung getan hatte. Und er hätte eine weitere Genugtuung gehabt – die Person, die er so sehr hasste, wie es wohl auch andersherum der Fall war, endlich beseitigt zu haben. Nein, das Messer war keine gute Option. Die Pistole wäre viel sinnvoller. Es war ein Leichtes, die kleine Waffe im Mantel zu verstecken. Robin war nie ein Fan von der laschen Waffenpolitik des Staates Kansas gewesen, doch nun kam sie ihm sehr gelegen. Nicht, dass sie das im Falle, dass er Marc wirklich etwas antun würde, davor schützen würde bestraft zu werden. Aber darum ging es ihm nicht. Sollten sie ihn festnehmen, wenn er wirklich etwas derartiges tun würde, das wäre nur fair. Und es war okay. Dass Marc weiterhin unbehelligt sein Leben lebte, sich darüber freuend, was für Leid er Robin und auch Jonny angetan hatte, hingegen war nicht okay. “Du solltest einfach hoffen, dass du mir nicht mehr über den Weg läufst”, murmelte Robin, während er die Stufen hinunter und durch die noch geschlossene Bar ging, die sich unter seiner Wohnung befand. Und er war sich nicht sicher, ob er selbst das nicht auch besser hoffen sollte. Er hatte bloß ein Glas trinken wollen, allenfalls zwei. Und am Ende waren es wieder drei oder vier geworden. Diesen Drang nach Alkohol hatte Robin bereits früher in seinem Leben einige Male in besorgniserregendem Maße verspürt, es war ihm oft schwergefallen, mit dem Trinken aufzuhören, sobald er einmal begonnen hatte. Nachdem er Jonny kennengelernt hatte, war es weniger geworden – sie waren beide auf ihre Art von Substanzen abhängig gewesen, und sie hatten sich dabei unterstützt, davon loszukommen, ohne sich gegenseitig zu verurteilen. Nach Jonnys Tod jedoch hatte sich der Abgrund wieder geöffnet, und momentan balancierte Robin vielleicht noch an der Kante, doch war es wohl bloß noch eine Frage der Zeit, bis er hineinfallen würde. Heute waren es eben diese drei oder vier (oder fünf?) Gläser Whiskey Cola gewesen, die Robin sich in einer Kneipe bestellt hatte, in die er gelandet war nachdem er eine Weile lang ziellos durch die Straßen geirrt war. Die frische Luft hatte ihm gutgetan, war viel angenehmer gewesen als die von Erinnerungen erfüllte Atmosphäre in seiner Wohnung. Doch irgendwann war er das Laufen leid gewesen. Und nun war er hier. Er saß in einer Nische im hinteren Bereich der Kneipe, geschützt vor neugierigen Blicken oder sonstiger Art von Aufmerksamkeit, die er einfach nicht ertragen konnte. Ein weiterer Vorteil dieses Platzes war die Tatsache, dass die Kellnerin sich nur relativ selten hier her verirrte – ein Vorteil war das deshalb, weil Robin ansonsten wohl bereits noch mehr Gläser der Whiskey-Mischung in sich hineingekippt hätte als es ohnehin bereits der Fall war. Die Menge, die er so zu sich genommen hatte, war vollkommen ausreichend gewesen damit sich das altbekannte schummrige Gefühl in ihm eingestellt hatte, diese dezente Benommenheit, die einen die Umgebung leicht verzerrt wahrnehmen ließ und die schmerzhaften und ungewollten Emotionen betäubte. Abwesend betrachtete Robin das vor ihm stehende Glas. Es war halb leer, und ihm war klar, dass er darauf verzichten sollte, ein weiteres zu bestellen. Ansonsten wäre die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das angenehm beschwipste Gefühl umschlug, und er in einen Strudel aus Selbsthass und Trauer hinabgerissen werden würde, in dem der Alkohol die Gefühle nicht betäuben, sondern um ein Vielfaches intensivieren würde. Das wäre nicht gut. Das wäre ganz und gar nicht gut. Aus dem Augenwinkel sah Robin, wie das Display seines Handys aufleuchtete, das neben ihm auf dem Tisch lag. Es war nicht das erste Mal seit er hier saß, dass er das tat, aber zuvor waren bloß SMS der Auslöser dafür gewesen, während nun auf dem Bildschirm das Eintreffen eines Anrufes angezeigt wurde. Lola. Robin konnte sich denken, dass sie sich Sorgen um ihn machte – dazu bedurfte es keiner Intuition oder dergleichen, immerhin waren die SMS zuvor ebenfalls von ihr gewesen. Seine Freundin wusste, wie sehr Jonnys Tod ihm zugesetzt hatte. Und sie fürchtete, dass er irgendetwas Dummes tun könnte. Seufzend griff Robin nach dem Handy. Ihren Anruf anzunehmen und ihre Stimme zu hören würde er jetzt nicht ertragen, doch zumindest konnte er ihr endlich eine SMS schreiben, ihr sagen, dass alles in Ordnung war. Es wäre nicht fair, sie im Ungewissen zu lassen, zuzulassen dass sie sich immer weiter in ihre Sorgen um ihn hineinsteigerte, Sorgen, die sie womöglich um den Schlaf bringen würden. Da war es wieder, dieses Wort. Fair. Dieses alberne, vollkommen bedeutungslose Wort. Nichts im Leben war fair. Der Bildschirm veränderte sich, zeigte an, dass die Anruferin aufgegeben und aufgelegt hatte. Robin gab seine PIN ein, öffnete das Nachrichtenprogramm und wollte gerade damit beginnen, ihre SMS zu lesen, als er das Lachen hörte. Die Stimme war eine von vielen, vermischte sich mit Grölen, das im Laufe des Abends bereits einige Male ertönt war. Das Gelächter kam von einem Tisch weiter vorne in der Bar, an dem einige ältere Männer saßen und Skat oder Doppelkopf oder irgendein anderes Kartenspiel spielten, das sie scheinbar prächtig amüsierte. Diese Stimme jedoch war neu in diesem Gewirr. Robin war sich sicher, dass er sie ansonsten bereits zuvor bewusst registriert und alarmiert in ihre Richtung geblickt hätte. Schließlich kannte er sie nur allzu gut. Im ersten Moment glaubte er, er hätte sie sich nur eingebildet. Der Alkohol, der verzweifelte Wunsch – und gleichzeitig auch die Angst – dem Besitzer dieser Stimme wieder über den Weg zu laufen, hatten sein Gehirn womöglich dazu gebracht, diesen Klang selbst zu erzeugen, sich seinen Wunsch auf diese Weise zu erfüllen... Doch selbst der Alkohol und die Verzweiflung hätten wohl nicht den Anblick hervorrufen können, der sich Robin nun bot, als er sich vorbeugte und in Richtung der Karten spielenden Männern blickte. Dort, zwischen einem bulligen Typen mit Glatze, dessen Gesicht rot angelaufen war, ob vor Lachen oder aufgrund des Bieres, das in einem beeindruckend großen Glas vor ihm stand, und einem untersetzten Kerl mit Hornbrille, saß Marc. Das Grinsen auf seinem Gesicht, das Robin unwillkürlich an den Moment denken ließ, in dem er Jonny ein Messer an die Kehle gehalten hatte, versetzte Robin einen Schmerzhaften Stich in der Brust. “Na los”, brüllte eine Stimme in seinem Kopf ihn an, laut und energisch, und zu allem entschlossen. “Steh auf und jag dem Arschloch eine Kugel zwischen die Augen! Oder besser zehn, nur um sicher zu gehen!” Das war albern. Zehn Kugeln passten überhaupt nicht in die Pistole, nach der Robin nun unwillkürlich tastete, und deren kühler Stahl unter seinen Fingern eine beeindruckend beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Aber schnell hatte er seine Gedanken wieder so weit im Griff, dass ihm bewusst war, dass die Anzahl der Kugeln nicht das einzige Problem an der ganzen Sache darstellte. Allerdings hatte er auch noch immer nicht ganz verarbeitet, was er dort sah. Das war wirklich Marc, die Person, nach der er die letzten Wochen immer wieder Ausschau gehalten hatte, deren Tod er sich immer und immer wieder ausgemalt hatte, die sein Leben in eine Hölle auf Erden verwandelt und ihm den Menschen genommen hatte, den er mehr geliebt hatte als jemals jemanden zuvor. Marc saß einfach da, in dieser Gruppe von Menschen, lachte und lebte sein Leben ganz normal weiter. Als wäre nicht passiert. Als wäre er kein kaltblütiger Mörder. Hat die Polizei überhaupt ernsthaft versucht, ihn zu finden? schoss es Robin durch den Kopf, und seine Hand krallte sich fester um den Griff der Pistole. Es wirkte nicht so, als würde Marc sich verstecken. Sicher, wenn er gewusst hätte, dass Robin hier war, dann hätte er wahrscheinlich darauf verzichtet, hier aufzukreuzen, aber das hatte er nicht wissen können. Robin war noch nie zuvor hier gewesen. Doch wie auch immer, so unwahrscheinlich dieses Zusammentreffen auch war, was für ein unfassbarer Zufall, und so oft Robin sich auch ausgemalt hatte, was er tun würde, sollte es wirklich zu einer solchen Situation kommen... jetzt, wo es wirklich soweit war, war er vollkommen überfordert. Es war nicht so, wie in seiner Vorstellung. Er fühlte sich nicht kalt und brutal, nicht in der Lage, einfach aufzustehen, auf die Männer zuzugehen und Marc in die Augen zu sehen während er mit der Waffe auf dessen Kopf zielte, den Ausdruck der Furcht auf seinem Gesicht genießend. Es legte sich nicht einfach ein Schalter in ihm um, der Emotionen und Zweifel außer Kraft setzte. Wieso, verdammt, war die Realität immer so viel komplizierter als es in fiktiven Geschichten der Fall war? Wieder lachten die Männer, und ein weiterer Stich bohrte sich in Robins Herz. Nichts an Marc ließ in irgendeiner Weise darauf schließen, dass er einem anderen Menschen das Leben genommen hatte. Er schien sein Leben vollkommen normal weiterzuleben, amüsierte sich und verbrachte die Abende in Bars mit seinen Kumpels, und das, obwohl doch eigentlich die Polizei nach ihm suchen sollte. Als wäre überhaupt nichts geschehen. Und alles, wozu Robin in der Lage war, war, hier zu sitzen und die Person anzustarren, die er mehr als alles andere auf der Welt hasste. Die Zeit, die verstrich, bis sich endlich etwas an der Szenerie veränderte und es ihm ermöglichte, die Starre, in der er sich befand, zu durchbrechen, kam Robin vor wie eine Ewigkeit. Minuten – eine gute halbe Stunde letztlich – in denen er einfach bloß dasaß, eine Hand um sein Glas und die andere um den Griff der Pistole geklammert, und Marc nicht aus den Augen ließ. Marc, der nicht einmal auf die Idee zu kommen schien, dass jemand ihn beobachten könnte. Der kein bisschen nervös wirkte. Als habe er nicht das geringste zu befürchten, weder vor einer Racheaktion seinen ‘Erzfeindes’, wie er selbst Robin einmal bezeichnet hatte, noch vor der Polizei. Er saß einfach da, spielte Karten, leerte sein Bierglas und bestellte sich ein neues, während er sich rege an der Konversation der Gruppe beteiligte, ob mit derben Witzen oder grölendem Lachen als Reaktion auf eben solche. Und dann, schließlich, stand er auf. “Jungs, ich muss pissen”, verkündete er in einer Lautstärke, als wolle er, dass auch der letzte in der Bar sitzende Depp von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt wurde. Als würde er es geradezu darauf anlegen, dass jemand, der ein Problem mit ihm hatte, ihm folgte. Ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein stand Robin auf. Irgendwann in der letzten halben Stunde hatte er sich seinen Mantel wieder übergezogen, sodass es ihm nun wieder ein leichtes war, die Pistole unter dem Stoff zu verstecken. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Nicht, bevor es ohnehin zu spät war. Er verharrte noch einige Sekunden, sah zu, wie Marc die Toilettentür öffnete und in dem Raum dahinter verschwand. Ob sich noch weitere Personen in den Toilettenräumen aufhielten? Wenn ja, konnte es Robin schaffen, sie zu ignorieren und sich auf das zu konzentrieren, was schon so lange sein Vorhaben war? Marc zur Strecke zu bringen, nachdem er die Angst in seinen Augen gesehen hatte, ihn im besten Fall sogar noch dazu gebracht hatte, um sein Leben zu flehen und ihn anzubetteln? So, wie Marc ihn damals um Jonnys Leben hatte betteln lassen... Die Tür quietschte, als Robin etwa eine Minute nach Marc den Toilettenraum betrat. Sofort sah er ihn, er stand am Pissoir und hatte seine Aufmerksamkeit offensichtlich ganz auf das gerichtet, was er dort eben gerade tat, blickte nickt auf, als das Quietschen die Stille des Raumes durchschnitt. Die Kabinentüren waren alle geöffnet. Niemand war zu sehen. Während er langsam die Pistole aus seinem Mantel zog warf Robin noch einen Blick auf die Tür, die zurück in das Zimmer der Kneipe führte, in dem so viele Menschen saßen, die ihn in seinem Vorhaben stören und es im schlimmsten Fall verhindern könnten. Ein Schauer der Erleichterung durchfuhr ihn, als der das drehbare Schloss sah, das direkt unter der Klinke verlockend glänzte und sich mit Leichtigkeit verriegeln ließ. Niemand würde ihn stören. Heute Abend würde es enden. Das Geräusch, das das Schloss machte als es in die Verschlussposition gebracht wurde, bewirkte das, was Robins Eintreten und das Quietschen zuvor nicht geschafft hatten. Marc sah auf und warf einen Blick über seine Schulter. Im ersten Moment war da nichts in seinem Gesicht zu erkennen, was darauf hindeutete, dass er sich in irgendeiner Art Sorgen machte. Er wirkte so unbehelligt wie es bereits den ganzen Abend der Fall gewesen war, und es verstrichen einige Sekunden, in denen er Robin ausdruckslos musterte, bis dieser Ausdruck sich veränderte. Dann jedoch registrierte Robin voller Genugtuung, wie seine Mine sich auf angsterfüllte Weise verzerrte. “Hallo, Marc”, begrüßte Robin ihn in nahezu freundlichem Tonfall. Die Waffe hielt er dabei auf Marcs Brust gerichtet. Weitere Sekunden verstrichen, in denen Marc ihn einfach bloß anstarrte, ohne auch nur ein Wort hervorzubringen. Er schien nicht ganz begreifen zu können, was geschah, blinzelte ein paar Mal als würde ihm das bei helfen, klarer zu sehen. Den Anblick, der sich ihm bot, als eine Illusion zu entlarven. Aber natürlich passierte das nicht. Robin war hier, genauso wie Marc. Sie standen sich gegenüber, starrten sich an. Wie einige Wochen zuvor. Nur, dass die Rollen dieses Mal vertauscht waren. “...Robin.” Endlich war es Marc gelungen, sich zu einer Antwort durchzuringen. Mittlerweile hatte er sich umgedreht, stand mit geöffneter Hose und starrem Blick da, fixierte die Pistole, dessen Mündung eindeutig auf ihn zeigte. Nichts an dieser Situation war im eigentlichen Sinne komisch, dennoch drang ein kurzes Lachen aus Robins Kehle. “Tu mir den Gefallen und mach deine Hose zu. Ich will das nicht sehen, und die Leute, die dich später finden werden, bestimmt auch nicht!” Seine Stimme klang ruhig, selbstbewusst. Das war gut. Vermutlich war es seiner Perplexität geschuldet, dass Marc dieser Aufforderung ohne ein Wort Folge leistete. Er ließ Robin nicht aus den Augen, und dieser konnte deutlich erkennen, dass seine Finger beim Schließen des Reißverschlusses stark zitterten. “Was hast du vor...?”, rang sich der riesige Mann sichtlich mühsam durch, zu sagen, und die Worte lösten in Robin gleichzeitig Genugtuung als auch eine gewisse Wut aus. Ein bitteres Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er einen Schritt auf Marc zu machte. Diese Frage. Was sollte er schon vorhaben? Was hatte Marc geglaubt, zu bezwecken, mit dem, was er getan hatte? “Du hast ihn mir weggenommen”, murmelte Robin, und er war selbst überrascht darüber wie kühl seine Stimme klang. Die Pistole ruhte weiterhin in seiner Hand, zitterte kein bisschen. “Du hast mir meinen Freund weggenommen, die wichtigste Person in meinem Leben. Und jetzt fragst du mich ernsthaft, was ich vorhabe?” Ein erneutes Lachen, das unbewusst aus seiner Kehle drang. Heiser und trocken. Marcs Augen weiteten sich. Er schien unfähig zu sein, die Situation auf einen Schlag vollends zu begreifen, wollte zurückweichen, was durch das Pissoirbecken hinter ihm jedoch verhindert wurde. “Robin...mach nichts dämliches...” “Nichts dämliches?” Dieses Mal war Robins Lachen lauter, und dabei unangenehm schrill. Fassungslos betrachtete er Marc, diesen gigantischen Typen, der nun trotz seiner noch immer vorhandenen körperlichen Überlegenheit verängstigt dastand, aussah, als würde er sich am liebsten auf dem Boden zusammenrollen, die Augen schließen und warten, dass es vorbei war. Wie armselig. Wie gottverdammt armselig. Gut drei Meter lagen nun noch zwischen ihnen, und Robin hatte nicht vor, diesen Abstand weiter zu verringern. Die Pistole sorgte dafür, dass er seinem Gegenüber überlegen war, dass dieser um sein Leben fürchtete und ihn mit einem Ausdruck ansah, in dem sich pure Angst und Flehen vermischten. Er hatte nicht vor, diesen Vorteil aufs Spiel zu setzen, indem er Marc zu nahe kam, zu riskieren, entwaffnet zu werden und sich selbst als Opfer in dieser Szenerie wiederzufinden. Eine Weile lang schwiegen sie beide. In seiner Tasche vibrierte sein Handy ein weiteres Mal, doch lag die Wahrnehmung dessen ganz am Rande von Robins Bewusstsein. In seiner Vorstellung hatte Robin sich ausgemalt, was er sagen wollte, hatte sich vorgestellt, wie er all seinen Schmerz hinausbrüllte um zu verdeutlichen, was Marc angerichtet hatte, ihm damit klarzumachen, dass es für ihn nichts mehr zu verlieren gab, keine Worte, die ihn davon abhalten konnten, die Sache endlich zu beenden... Doch jetzt, wo es soweit war, brachte er nichts davon hervor. Wozu? Marc würde nicht verstehen, was er Robin angetan hatte. Er hatte Jonny nie gekannt, hatte lediglich gewusst, dass er Robin wichtig war, und das hatte vollkommen ausgereicht, um seinen Tod zu besiegeln. Jeder Erklärungsversuch, jede emotionale Rede, wäre verschenkte Energie. Und Robin hatte das sichere Gefühl, dass es das nicht wert war. Marc hingegen fand seine Stimme nun wieder. Murmelte in zittrigem Ton, während er eine Hand in sein Hemd krallte: “Scheiße, nimm die Pistole weg! Du willst mich doch nicht wirklich erschießen?” Die Frage hatte etwas Ernsthaftes an sich, und unwillkürlich spannte Robin sich mehr an. “Ach, denkst du, ja?” Er lächelte, musste einen Moment lang gegen das überwältigende Bedürfnis ankämpfen, auf der Stelle abzudrücken. Noch nicht. Zu früh. “Was glaubst du, wieso ich das nicht tun sollte? Ist dir klar, dass ich dich seit Wochen gesucht habe? Dass ich immer bloß daran gedacht habe, dir gegenüberzustehen und dir zurückzuzahlen, was du meinem Verlobten angetan hast?” Selbst Jonny nur zu erwähnen, fühlte sich irgendwie falsch an. Marc war das nicht wert. “Ich hab mir so oft vorgestellt, dich umzubringen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut sich das angefühlt hat...” Ein weiteres Lachen. “Und du denkst wirklich, dass ich das nicht tun würde?” Er hatte nicht darüber nachgedacht, was er sagte, aber seine Worte schienen die gewünschte Wirkung bei Marc zu entfalten. Jetzt, endlich, schien er wirklich zu begreifen, sich darüber bewusst zu werden, dass das hier kein Spiel war, dass Robin mehr wollte, als ihm bloß ein wenig Angst einzujagen. “Fuck. Nein, hör auf!” Die Stimme schien zu jemand anderem zu gehören, nicht zu dem riesigen Typen, der ansonsten in jeder Lebenslage überheblich und selbstsicher wirkte. Doch genau er war es, der so sprach. Er fürchtete sich um sein Leben, fürchtete, endlich die gerechte Strafe für seine Taten zu erhalten, von denen es noch weitaus mehr gegeben hatte als die, wegen der Robin das alles hier tat. “Wenn...wenn du mich umbringst, kommst du ins Gefängnis! Das ist dir klar, oder?” Wahrscheinlich glaubte Marc, dass dieser Hinweis beeindruckend war. Robin dazu bringen würde, innezuhalten, sein Vorhaben zu überdenken. Aber dem war nicht so. Robin war vollkommen bewusst, was sein Handeln für Konsequenzen nach sich ziehen würde. Womöglich würde er es später einmal bereuen, doch für den Moment hatte der Gedanke an eine Verhaftung nichts Bedrohliches an sich wenn man bedachte, was die Belohnung dafür sein würde. In vollkommen gleichgültiger Tonlage erwiderte er daher: “Natürlich ist es das. Vielleicht ist das etwas unfair, immerhin wäre das Gefängnis eigentlich deine Strafe. Aber weißt du was?” Eine Pause, in der sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, kalt und in gewisser Weise geradezu psychotisch. “Es ist mir egal. Ich weiß, du kannst das wahrscheinlich nicht nachvollziehen, weil du ein narzisstisches, emotionsloses Arschloch bist, aber...” “Das stimmt nicht!” Robin musste zugeben, dass Marcs aufgebrachter Zwischenruf ihn überrumpelte. Perplex starrte er sein Gegenüber an, der seinen Blick seinerseits erwiderte, mit einem Ausdruck in den Augen, der nicht zu deuten war. Wut? Empörung? Er beobachtete, wie Marcs Hand sich fester in den Stoff seines Hemdes krallte, und als dieser weitersprach, war ein Teil der zuvor vorherrschenden Angst aus seiner Stimme verschwunden. “Du tust so, als wärst du unschuldig an dem, was passiert wäre! Dabei warst du doch derjenige, der mir zuerst meine Familie genommen hat!” Der Schmerz, den diese Worte in Robin auslösten, war unbeschreiblich. Er schnappte nach Luft, starrte Marc dabei fassungslos an, und einen schrecklichen Augenblick lang hatte er das Gefühl, dass die Pistole ihm aus den Fingern gleiten und zu Boden fallen würde, wo sie aufschlagen und womöglich in Marcs Richtung rutschen würde, der diese Gelegenheit sofort ergreifen würde, und... Dann jedoch verfestigte sich sein Griff wieder. Seine Mine wurde ausdruckslos, der Schmerz ebbte ab, auch wenn er später mit Sicherheit zurückkehren würde sobald er Marcs Worte Revue passieren lassen würde... Du tust so, als wärst du unschuldig an dem, was passiert ist. Was für ein perfider Hohn. Eine widerliche Scharade. Und Marc schien wirklich zu glauben, dass er im Recht war mit dieser Behauptung. “Wag es nicht, das zu vergleichen”, murmelte Robin. Er klang vollkommen emotionslos, als hätte der Vorwurf jegliches Empfinden aus seinem Körper vertrieben, und ein wenig fühlte es sich auch so an. Er erwartete Widerspruch, weitere Versuche seitens Marc, das gesamte Geschehen mit skurrilen Argumentationen zu rechtfertigen, es so darzustellen, als wäre er der eigentlich leidtragende bei dem Ganzen und Robin der Böse, der verdient hatte, was mit Jonny passiert war. Du warst doch derjenige, der mir zuerst meine Familie genommen hat. In Marcs verdrehter Wahrnehmung, die geprägt war von Egozentrismus und dem Glauben, alles, was er haben wollte, besitzen zu können, mochte das durchaus der Realität entsprechen. Selbstverständlich war sein fragiles Ego gekränkt gewesen, als er mitbekommen hatte, dass seine Frau samt seiner zwei Kinder und dem Hund aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden war, nichts weiter zurücklassend als einen Zettel mit dem Satz “Ich hoffe, du wirst alleine glücklich, Arschloch”. Er war außer sich gewesen damals, war noch am selben Abend in der Bar aufgetaucht, die Robin damals noch mit seiner Mentorin Sapphire geleitet hatte, weil er sich ganz genau hatte denken können, wer seiner Carla dabei geholfen hatte, die Flucht vor ihm zu organisieren. Er hatte getobt, sodass er schnell von Sicherheitsleuten herauskomplementiert worden war, und bereits an diesem Abend hatte er Schwüre ausgespuckt, sich dafür zu rächen, dass Robin und Sapphire und wer wusste wer noch dafür gesorgt hatten, dass seine Familie nicht länger unter seiner Kontrolle stand. “Ich hätte die Schlampe umbringen sollen, als sie das erste Mal von Scheidung gesprochen hat”, hatte er gebrüllt und von außen gegen die Tür getreten. “Aber jetzt wird ich das eben mit euch machen, ihr gottverdammten Wichser!” Kurz darauf war er von der Polizei eingesammelt worden, die von besorgten Nachbarn alarmiert worden war, und eine kurze Zeit lang war er einfach verschwunden gewesen. Das nächste Mal, als er in der Bar aufgetaucht war, hatte er gefasst gewirkt. Keine Flüche, kein Herumgebrülle. Und trotzdem war etwas von ihm ausgegangen, eine Art Aura, die ihn umgeben hatte, das ausgesprochen bedrohlich gewirkt hatte. In den letzten Wochen hatte Robin sich des Öfteren gefragt, was passiert wäre, hätten er und Sapphire damals anders gehandelt. Hätten sie, als Carla Richards mit blauen Flecken übersät in die Bar gekommen war, auf dem Arm ihre kleine Tochter, und mit zittriger Stimme um Hilfe gebeten hatte, einfach abgelehnt. Natürlich waren diese Überlegungen obsolet. Niemals hätte Sapphire sie weggeschickt, war doch mehr als deutlich gewesen, dass Carla sich in der Gegenwart ihres Mannes in ernsthafter Gefahr befunden hatte. Sapphire hätte niemals jemanden in einer solchen Situation ihre Hilfe verwehrt, und auch Robin wäre dazu wohl nicht in der Lage gewesen. Doch, so egoistisch diese Vorstellung auch war... hätten sie Carla nicht geholfen, dann wäre Jonny jetzt noch am Leben. Nicht fair, schoss es Robin wieder durch den Kopf, ließ ein kaltes Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen. Nichts in diesem gottverdammten Leben war irgendwie fair. Wieder standen sie sich schweigend gegenüber, und niemand schien zu wissen, was er noch sagen sollte. In Marcs Mine war die Angst zurückgekehrt, sein Wille, zu argumentieren und sich zu rechtfertigen schien nur von kurzer Dauer gewesen zu sein. So feige. Das passte zu ihm. Ein pöbelndes, nazistisches Arschloch, das es nicht hatte ertragen können, dass seine Familie seiner gewalttätigen Kontrolle entkommen war, der in Anbetracht seines eigenen Todes jedoch kuschte wie ein verstörter Hund. Und es wirkte wirklich, als habe er nicht damit gerechnet, dass er Robin auf diese Weise gegenüberstehen würde. Ihm war gar nicht wirklich klar, was er mir damit angetan hat, ging es Robin durch den Kopf, während sein Finger sich leicht um den Abzug der Pistole krümmte. Er wollte mir wehtun, aber er hat gar nicht kapiert, was das wirklich mit mir macht... Was für ein Hohn. Als wäre das für Marc bloß ein Spiel gewesen, ein großer Spaß. Ein Spiel, das Jonny das Leben gekostet hatte. “Leg dich hin”, befahl Robin, ein weiteres Mal überrascht von dem festen Klang seiner Stimme. In Marcs Augen blitzte die Furcht, und einen Augenblick lang sah es aus, als wollte er widersprechen. Dann jedoch senkte er bloß stumm den Blick. Kniete sich auf den Boden und ließ sich dann auf die Seite sinken. “Tu das nicht”, murmelte er. Worte ohne Nachdruck, und ohne Bedeutung. Robin kümmerte es nicht, was er sagte. Er hatte Marc endlich dort wo er ihn haben wollte, wo er ihn so oft in seinen Träumen gesehen hatte, ob im Schlaf oder im wachen Zustand. Er hatte die Kontrolle, er hatte die Macht, das alles zu beenden. Rache. Vergeltung. Den Preis für das einzufordern, was Jonny widerfahren war. Und doch...so sehr diese Szenerie auch dem glich, was er sich so sehr gewünscht hatte, die erhoffte, nein, erwartete Genugtuung dieses Anblicks blieb aus. Da war keine Freude. Keine Erleichterung. Auch keine Reue, aber das war wohl nicht überraschend. Da war einfach... nichts. Zitternd hielt er die Waffe in seiner Hand. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Der Mann, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte, lag vor ihm. Hilflos war er ihm ausgeliefert und er sollte für all seine Taten zahlen. Wie oft hatte er sich ausgemalt, dem Kerl auf alle möglichen Arten das Leben zu nehmen? Immer war er ohne Zweifel auf ihn zu geschritten und hatte ihn skrupellos umgebracht. Ohne auch nur einmal zu zögern. Und jetzt stand er hier mit einer geladenen Waffe in der Hand, und er zögerte. Dabei hatte dieser Kerl es allemal verdient. Er hatte ihm so viel in seinem Leben genommen, was er liebte. Doch sollte er einen Mord mit einem Mord vergelten? Ein weiteres Mal das Vibrieren in seiner Tasche, das ihn den ganzen Abend über begleitet hatte. Bisher hatte er es ignoriert, wenn nicht sogar als störend wahrgenommen. Jetzt jedoch, in dieser Situation, die sich so ganz anders anfühlte als erwartet, wirkte der Signalton wie etwas anderes. Ein Rettungsanker. Eine ausgestreckte Hand, die er ergreifen konnte. Die ihn herausziehen konnte aus diesem verwirrenden Strudel, in den er sich hatte hinabreißen lassen. “Nein”, murmelte Robin, mehr zu sich selbst als zu Marc. “Ich bin nicht wie du. Und das werde ich auch niemals sein.” Womöglich würde er diese Entscheidung später bereuen. Würde sich wünschen er hätte seinen Plan einfach durchgezogen, ignoriert, dass ihn die Vorstellung in diesem Moment nicht wie erhofft glücklich machte. Doch hier und jetzt wusste er, dass das, was er nun tat, das Richtige war. Er ließ die Waffe sinken. Griff erneut nach seinem Handy, und nahm nun, schließlich und endlich, den Anruf an. Seine Stimme klang schwach, brüchig, und dennoch klar verständlich: „Hallo, Lola. Tu mir bitte den Gefallen und ruf die 911.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)