Animus captimente von yamimaru ================================================================================ Kapitel 8: [28. Juni] "Wir schaffen es nur gemeinsam." (Teil 1) --------------------------------------------------------------- Er befand sich erneut in dem Korridor, in dem ihm Uruha als Kind erschienen war. Trotz seines anhaltenden Unbehagens ging er eilig voran, das untrügliche Gefühl im Nacken, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb. Rukis Vorlesen war verstummt und an seiner Stelle war es nun wieder Kai, dessen Stimme er als seichtes Hintergrundrauschen vernehmen konnte. Seine beiden Kollegen mussten im letzten Tagebuch angekommen sein, denn die selbst durch die Entfernung erschöpft klingenden Worte Uruhas beschrieben gerade das Ende ihrer Neujahrstour. Verflucht, wie viele Einträge ihnen wohl noch bleiben mochten? Und wie viel Zeit war in der realen Welt bereits vergangen? Vor ihm an der Wand blitzte etwas auf, ein Spiegel, wie er bei näherer Betrachtung feststellte. Der metallene Rahmen schien verkratzt, als hätte jemand versucht, etwas von der Oberfläche zu tilgen. Doch so interessant er dieses Objekt unter anderen Umständen auch gefunden hätte, für eine nähere Inspektion war nun definitiv nicht genug Zeit.   Vor allem nicht, als sich am Ende des Gangs eine Tür aus dem vorherrschenden Zwielicht schälte. Ohne Zögern ging er darauf zu und drückte die Klinke nach unten. Nach sich ständig verändernden Wegen, einem düsteren Wesen, das das Gesicht seines besten Freundes trug, und einem Labyrinth aus Hecken hätte er gedacht, ihn würde nichts mehr überraschen. Die riesige Bibliothek, in der er sich nun wiederfand, bewies ihm jedoch auf eindrucksvolle Weise das Gegenteil. Zu seiner Rechten füllten Reihen hoher Bücherregale aus rötlichem Holz den ausladenden Raum bis unter die Decke, kein Regalbrett war frei, überall stapelten sich Bücher. Dicke Wälzer neben schmalen Broschüren, alt aussehende, in Leder gebundene Bände neben modernen Taschenbüchern – und das war nur der kleine Teil, den er auf den ersten Blick erkennen konnte. Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln auf seine Züge, während er umsichtig leise die Tür hinter sich ins Schloss drückte. Er fühlte sich, als wäre er nun wirklich mitten in Uruhas Kopf gelandet. Sein bester Freund war schon immer eine Leseratte gewesen. Science-Fiction, historische Romane, wissenschaftliche Abhandlungen oder Liebesgeschichten – es war Uruha egal, was er las, Hauptsache, es weckte auf irgendeine Weise sein Interesse. Wenn das sich stets verändernde Haus die Seele seines Geliebten und das Labyrinth sein Herz verkörperten, dann musste diese Bibliothek die Manifestation seines Geists sein, da war sich Reita sicher.   „Da bist du also, ich hab mich schon gefragt, wann du deinen Weg auch zu mir finden wirst.“ Reita zuckte zusammen und blickte sich hektisch nach der Quelle der Stimme um, die ihn so unsanft aus seinen Gedanken gerissen hatte. Er war so überwältigt von all den Büchern gewesen, dass er den Schreibtisch einige Meter vor ihm gar nicht beachtet hatte. Ebenso wenig wie die Gestalt, die hinter ihm saß, nun jedoch aufstand und auf ihn zukam. Ein schmales, aber höfliches Lächeln lag auf den vertrauten Zügen, als der andere kurz vor ihm innehielt und sich angedeutet verbeugte. „Hallo, Reita.“   „U… Uruha“, wisperte er mit tauben Lippen und fühlte sich gleichzeitig wie erstarrt. Der Mann vor ihm war barfuß, trug lockere Bluejeans und ein ebenso weichfließendes, weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Auf seiner Nase thronte eine Lesebrille mit dünnem, silbernem Gestell und die Haare fielen ihm in einem warmen Blond ungestylt ins Gesicht. Reita blinzelte und widerstand nur knapp dem Drang, sich über die Augen zu reiben. Befand er sich tatsächlich noch in der Gedankenwelt seines Geliebten oder war das alles nur ein schrecklicher Albtraum gewesen, aus dem er soeben aufgewacht war? An wievielen Morgen in den letzten Jahren war er noch schlaftrunken in ihr Wohnzimmer getaumelt, nur um Uruha genau so vorzufinden? Entspannt auf dem Sofa sitzend, ein Buch in der Hand oder wahlweise in eines schreibend? Die Vertrautheit dieser Erscheinung war gleichermaßen so wohltuend und schmerzvoll, dass er gepeinigt für einen Moment die Augen schließen musste. „Auch du bist nicht mein Uruha, nicht wahr?“, fragte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte und sah seinem Gegenüber in die Augen. Sie waren es, die das wohlbekannte Bild zerstörten, denn sie waren auf eine eigenartige Weise kalt. Nicht grausam, nicht bösartig, nur abgeklärt, bar jeder tiefergehenden Emotion.   „Ich bin ein Teil von ihm. Genau wie die anderen, die du bislang getroffen hast.“   „Ja, das dachte ich mir.“ Es war beinahe erschreckend, wie wenig überrascht er sich fühlte, wie logisch ihm alles mittlerweile erschien. „Du erinnerst dich an meinen Namen?“, fragte er, als er sich verspätet daran erinnerte, wie ihn der andere angesprochen hatte. So etwas wie Hoffnung wollte in ihm hochsteigen, die sein Gegenüber jedoch mit einem kurzen Kopfschütteln im Keim erstickte.   „Ich bin nur ein guter Zuhörer.“   „Wie meinst du das?“   „Du hast deinen Namen mehrmals erwähnt, als du mit den anderen gesprochen hast.“   „Ah.“ Das … klang einleuchtend, wobei er sich fragte, wie diese Version von Uruha ihn hatte hören können, wenn er die ganze Zeit über hier in der Bibliothek gewesen war. Hatte er ihn beobachtet? Reita kniff misstrauisch die Augen zusammen, als ihm noch eine ganz andere Frage in den Sinn kam. „Wie viele von euch gibt es in dieser Welt?“   „Du hast uns alle bereits kennengelernt … vorerst.“   „Vorerst? Was meinst du damit?“   „Komm mit, ich will dir etwas zeigen.“ Einladend hob der andere die Hand und wies ihn an, ihm zu folgen. Es hatte eine Zeit in dieser Welt gegeben, in der Reita nun gezögert hätte. Mittlerweile jedoch war der Wunsch in ihm, gemeinsam mit seinen Männern endlich in die Realität zurückzukehren, so dringlich geworden, dass er seine Vorsicht über Bord geworfen zu haben schien. Der abgeklärte Teil Uruhas führte ihn an einem Kamin vorbei, in dem ein munteres Feuer prasselte, das jedoch keine Wärme abgab. Immer tiefer folgte Reita ihm in den Wald aus Bücherregalen, bis sie an einem Gemälde innehielten, das beinahe die komplette Rückwand der Bibliothek vereinnahmte.   „Wow“, entkam es ihm ehrfürchtig, auch wenn er im ersten Moment nicht hätte beschreiben können, was er sah.   „Gefällt es dir?“   Gefallen wäre nun nicht das Wort gewesen, das Reita verwendet hätte, dennoch nickte er. „Es ist … beeindruckend.“ Was auf den ersten Blick wie ein gewittriger Nachthimmel wirkte, in dem sich die Wolken in zahllosen Grauschattierungen türmten, stellte sich als abstrakte Darstellung eines menschlichen Totenkopfes im Profil heraus. Die knöcherne Struktur schien in der Mitte geteilt und der Hirnschädel überdimensioniert groß, um ausreichend Platz für die Segmente zu bieten, die sich in ihm befanden. In der unverkennbar hübschen Handschrift seines besten Freundes waren vier Teilbereiche beschriftet worden. Der Größte, unmittelbar an der Schädelbasis Beginnende nannte sich Beschützer. Direkt über ihm wurde ein fast kreisrundes Teilstück als Intellekt betitelt. Rechts davon, etwas kleiner konnte er den Perfektionisten ausmachen und der kleinste, gleichzeitig hellste Bereich verkörperte das Kind. „Ist das … Uruha?“   „Ja.“ Die Gestalt lächelte, ein Ausdruck der künstlich, fast wie einstudiert auf dem ernsten Gesicht saß. „Das ist das Ich, von dem wir abstammen.“   „Du bist der Intellekt, nehme ich an?“ Sein Gegenüber nickte. Reita legte Daumen und Zeigefinger an sein Kinn, rieb nachdenklich über die Haut dort. Beiläufig bemerkte er, dass er noch immer glatt rasiert war und das, wo mittlerweile sicherlich mehr als nur ein paar Stunden vergangen sein mussten. Diese Welt war schon erstaunlich. „Das hier …“ Er deutete auf den Bereich, der mit Perfektionist betitelt war, „… das ist der Fußball spielende Junge, oder?“ Er wartete auf eine Bestätigung, bevor er fortfuhr: „Das Kind ist selbsterklärend und dieses düstere, einsame Wesen …“   „Ist unser Beschützer. Er war vor mir hier.“   Reita betrachtete den dunkelsten Bereich, der den gesamten oberen Teil des Schädels vereinnahmte, und musste ein Erschaudern unterdrücken. „Ihr seid also alle nach und nach erst entstanden?“   „Ja. Der Perfektionist hat sich geformt, nachdem ich das erste Mal versucht habe, von hier zu verschwinden.“   „Du wolltest fliehen?“   „Ja, ein sowohl dummes wie auch sinnloses Unterfangen.“   „Was? Warum?“   „Weil ich hierher gehöre.“ Er wies auf das Bild des Schädels, auf den nahezu kreisrunden Teil in der Mitte, der ihn repräsentierte. „Ich bin ein Fragment, ein Splitter. Ich würde ebenso wenig in der realen Welt überleben können wie du hier.“ Reita schluckte, für den Moment sprachlos, während er versuchte, den Schwall an Informationen zu verarbeiten. Einiges davon hatte er sich mittlerweile selbst zusammengereimt, anderes war ihm neu. „Es hat gedauert, bis ich begriffen habe, was meine Rolle hier ist, bis ich keine Angst mehr hatte. Immer wieder bin ich aufgewacht, ohne zu wissen, wer ich bin oder wo ich mich befinde. Jedes Mal habe ich meinen Weg in diese Bibliothek gefunden, bis Bruchstücke von Erinnerungen an einen Unfall mich erneut in kopfloser Panik haben fliehen lassen. Ich begriff nicht, was mit mir geschah, warum mich dieses Haus und sein Wächter nicht gehen lassen wollten.“   „Meinst du mit Wächter den Beschützer?“   Der andere nickte. „Ich war so oft schon kurz davor …“ Der Blick des Intellekts schweifte in die Ferne, als würde er sich an etwas erinnern. „Na, nicht so wichtig.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich konnte euch sehen, dich und die Freunde unseres Ichs.“ Reita blinzelte, als das Lächeln des anderen tatsächlich an Wärme gewann, wodurch die Ähnlichkeit zu seinem Uruha beinahe unerträglich wurde. „Ich konnte es kaum glauben, als du zum ersten Mal hier aufgetaucht bist. Ich wollte unbedingt mit dir reden, aber …“   „Du warst es, den ich gesehen habe? Und der andere, der dich weggezerrt hat … war der Beschützer?“   „Ja.“   „Aber warum?“   „Das kann nur er dir beantworten.“   „Warum meintest du eben, dass vorerst nur ihr vier … Fragmente hier seid?“   „Nachdem du hier gewesen bist, ist das Kind zu uns gestoßen. Meine Theorie ist, dass wir immer mehr werden, je länger unser Ich ohne Kontakt zur Realität hier verweilt.“   „Das kann ich nicht zulassen“, murmelte Reita und biss sich auf die Unterlippe. „Weißt du, wie ich zu Uruha komme und wie ich ihn nach Hause holen kann?“   „Ich kann dich zu ihm bringen, aber alles andere entzieht sich meiner Kenntnis.“ Der Intellekt drehte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. „Kannst du dir vorstellen, wie frustrierend es für mich ist, etwas nicht zu wissen?“ Auf dem hübschen Gesicht regte sich kein Muskel, der die Mimik passend zur offenkundigen Empörung geformt hätte. Ganz im Gegenteil, die puppenhafte Ausdruckslosigkeit wirkte fast komisch deplatziert und hätte Reita beinahe auflachen lassen.   „Du hast mein vollstes Verständnis“, entgegnete er angemessen ernst, was wohl die richtige Reaktion gewesen sein musste, denn der andere nickte einmal kurz, als würde er sich bedanken.   „Dann bringe ich dich nun zu ihm.“   „Warte. Aoi, mein Freund, der kurz nach mir in diese Welt gekommen ist … Der Beschützer hat ihn entführt und …“   „Er wird dort sein.“   „Wie?“   „Der Beschützer ist meist bei unserem Ich. Ich schätze, Aoi wird bei ihm sein.“   Wie auch schon während seines Gesprächs mit dem Perfektionisten fiel ihm auf, dass der Intellekt über Aois Namen stolperte. Das Zögern war nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu bemerken gewesen, dennoch schien sein Liebster irgendetwas in Uruhas Geist auszulösen. So zersplittert dieser im Moment auch sein mochte, diese kleinen Reaktionen seiner Fragmente machten Reita Mut.   „Gut, dann lass uns zu ihnen gehen.“   ~*~   Kaum hatten sie die Bibliothek verlassen, lag eine Spannung in der Luft, die die feinen Härchen an Reitas Unterarmen steil emporstehen ließ. War das das Werk des Beschützers, der sein Eintreffen erwartete oder war es Uruha selbst? Wie dem auch sei, er rechnete nicht damit, dass sein Tun unbemerkt bleiben würde. Die Wände des schmalen Korridors begannen zu knarzen, die Böden zu ächzen, als – und er konnte kaum fassen, dass er das wirklich dachte – würde das Haus atmen. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als er sich an seinen Albtraum erinnerte, den er nach seinem ersten Blick in diese Welt durchlebt hatte. Sie kamen an dem Spiegel mit dem verkratzten Rahmen vorbei und für den Bruchteil einer Sekunde bildete Reita sich ein, das herrische Gesicht des Beschützers daraus hervorbrechen zu sehen. Er zuckte zusammen, die Hände wie zur Abwehr gehoben und sein Herz wie wild pochend. Doch der Intellekt vor ihm zeigte sich gänzlich unbeeindruckt und so beschloss er nach einer Sekunde des Durchatmens, dass er sich diese Erscheinung nur eingebildet haben musste. Doch als sie die Eingangshalle durchquerten und ein dumpfes Pochen in der Ferne die Luft zum Vibrieren brachte, konnte er die Veränderungen nicht länger ignorieren.   „Was ist das?“, wisperte er und zu seiner Schande musste er zugeben, dass seine Stimme zitterte.   „Du wirst erwartet“, entgegnete Uruhas Fragment monoton, drehte sich kurz zu ihm um und schenkte ihm ein hölzernes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Reita schluckte und hätte sich gewünscht, lieber keine Antwort bekommen zu haben. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen, das Gesicht seines besten Freundes so mechanisch ausdruckslos zu sehen.   „Ach du Schei…“, entkam es ihm in einem fassungslosen Hauchen, als er ein Detail bemerkte, das ihm bislang noch nicht aufgefallen war. Er erkannte nun, was die Ölgemälde darstellten. Es waren Bildnisse der Fragmente. Links von ihm der Perfektionist und das Kind, rechts der Intellekt und die Darstellung einer Person, deren Gesicht in tiefen Schatten lag. Das Bild, was ihn jedoch am meisten beunruhigte, war das, welches genau vor ihm über der Treppe emporragte. Der Beschützer in all seiner dunklen Pracht. Seine Arme waren zu beiden Seiten ausgestreckt und in den Händen hielt er dunkelrote Fäden, die zu den anderen Gemälden zu führen schienen. „Wie ein Puppenspieler“, flüsterte er. Wieder streifte ihn der Blick des Intellektes, diesmal verzichtete er jedoch auf eine verbale Reaktion. Lediglich ein Schatten verdunkelte für einen Moment das puppenhafte Gesicht. Reita blinzelte, doch der undefinierbare Ausdruck war verschwunden.   „Komm, unser Ziel liegt dort oben.“   „Das hatte ich befürchtet.“   Er konnte den Blick kaum von dem Bildnis des Beschützers lösen und je länger er es betrachtete, desto mehr Ähnlichkeiten zu seinem Uruha fielen ihm auf. Die Augen, die er bei ihrer ersten Begegnung für grausam gehalten hatte, schienen in einem unheiligen Feuer der Leidenschaft und Hingabe zu glühen. Der Mund, zu einer herrischen Linie gepresst, ließ dennoch die Sinnlichkeit erahnen, mit der er Worte zu Waffen machen konnte. Die Haltung, stolz und aufrecht, einen Hauch der Arroganz verströmend, die ihn schon so oft willenlos gemacht hatte. Reita biss sich auf die Unterlippe und verbat sich an all ihre intimen Momente zu denken, in denen er sich seinem Geliebten aus freien Stücken vollkommen ausgeliefert hatte.   „Finde mich.“ Er zuckte zusammen, als ihn ein mehrstimmiges Wispern von allen Seiten aus seinen Gedanken riss. Hektisch sah er sich nach der Quelle der Worte um und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Sein fassungsloser Blick haftete an einer der Holzkugeln, die das Geländer der Treppe schmückte und die sich vor seinen Augen zu einem Gesicht formte. Ein ihm nur allzu vertrautes Gesicht – Uruhas Gesicht. Die kleinen Lippen teilten sich und erneut erklang dieses geisterhafte Wispern, das er nie wieder vergessen würde. „Finde mich.“   „Mh, du scheinst recht damit zu haben, dass euch nicht mehr viel Zeit bleibt.“ Der Intellekt wirkte gänzlich unbeeindruckt von dem Horror, der Reita deutlich anzusehen sein musste. Er rieb sich übers Kinn, zischte wortlos und machte eine scheuchende Handbewegung, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen. Augenblicklich verstummte das Wispern, die Münder schlossen sich und die Gesichter wurden erneut zu regungslosen Holzkugeln.  Nichts rührte sich, selbst das Ächzen und Knarzen, das Pochen in der Ferne waren verstummt. Nur die Spannung schien zugenommen zu haben. Es knisterte hörbar, als Reita den letzten Schritt ins Obergeschoss trat. Beinahe rechnete er damit, die elektrisierte Luft würde sich entladen und ein gewaltiger Blitzschlag ihn treffen. Aber nichts geschah, was seine Anspannung jedoch kein bisschen zu mindern vermochte.   „Warum machst du es mir so schwer? Warum jagst du mir Angst ein?“, murmelte er halblaut und rieb sich übers Gesicht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Intellekt ihn verstehen würde, geschweige denn, dass er eine Antwort erhalten würde, und blinzelte dementsprechend ertappt.   „Warum glaubst du, dass wir Fragmente existieren? Warum bleibt dein Uruha hier, obwohl seine körperlichen Verletzungen längst geheilt sind?“ Reita öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er darauf hätte sagen sollen. „Die Zeit wird knapp, folge mir, wir sind gleich da.“   Noch während sich seine Gedanken immer schneller im Kreis zu drehen begannen und er versuchte, die Worte des Intellekts zu begreifen, hatte er sie an der schwarzen Tür vorbei bis zu einem kreisrunden Fenster geführt. Reita erstarrte und blinzelte ungläubig der Szenerie entgegen, die ihn hinter dem Glas erwartete. Er konnte Ruki sehen, der müde und abgespannt auf einem der Besucherstühle in Uruhas Krankenzimmer saß. Vor dem Bett ging Kai auf und ab, ein Buch in den Händen. Seine Lippen bewegten sich und als er sich konzentrierte, konnte er erneut die Worte ausmachen, die der Leader vorlas. Es war dunkel im Zimmer, nur das Nachtlicht brannte.   „Schön, nicht wahr?“ Er hatte nicht bemerkt, dass der Intellekt neben ihn getreten war und beinahe wehmütig durch die Scheibe schaute. „Ich war schon sehr oft hier und habe euch zugesehen.“ Uruhas Fragment legte den Zeigefinger auf das Glas und folgte Kais Schritten damit.   „Das ist Kai, unser Leader.“   „Und er hier?“ Der Intellekt deutete auf Ruki, der eingeschlafen war.   „Unser Sänger, Ruki.“   „Mh.“ Der andere legte den Kopf schief, betrachtete das Geschehen noch einige Momente lang, bevor er sich abwandte. „Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden.“ Zustimmend nickte Reita, aber noch bevor er etwas dergleichen sagen konnte, hatte der Intellekt eine wischende Handbewegung vollführt. Wo bis eben noch das Fenster in die reale Welt gewesen war, formte sich nun ein Torbogen. „Hier entlang.“   Reitas Mund stand offen und schnell schloss er ihn, bevor er noch einen kompletten Idioten aus sich machen würde. Wann zum Geier würde er endlich begreifen, dass in dieser Welt nichts so war, wie es schien? Und hey, warum auch nicht? Torbögen tauchten doch immer aus dem Nichts auf. Er schüttelte seicht den Kopf und verkniff sich ein erschöpftes Seufzen, als er dem Fragment nach kurzem Zögern folgte.   Der Raum hinter dem Torbogen erinnerte ihn an ein mittelalterliches Burggewölbe. Die Mauern bestanden aus unregelmäßigen, dunkelgrauen Steinquadern, der Boden aus festgetretener Erde. Das alles nahm er jedoch nur am Rande wahr, denn all seine Aufmerksamkeit lag auf der Gestalt, die auf einem Thron aus massivem, schwarzem Marmor saß.   „Du hast uns also hintergangen“, stellte das Wesen beinahe gelangweilt fest und seine Stimme hallte lauter, als es hätte möglich sein dürfen, von den Wänden wider. Reita verzog das Gesicht, als seine Ohren erneut zu schmerzen begannen. Der Intellekt neben ihm jedoch trat ungerührt weitere Schritte vor, bis er direkt vor dem Thron innehielt. „Aber gerade von dir haben wir auch nichts anderes erwartet.“   „Es ist gut, Beschützer, es ist an der Zeit, loszulassen.“   „Sei still!“ In einer herrischen Bewegung riss der Beschützer seinen rechten Arm zur Seite, als würde er etwas Lästiges hinfort wischen. Noch bevor Reita reagieren konnte, flog der Intellekt einige Meter durch die Luft und schlug unsanft auf dem Boden auf.   „Oh, verdammt!“, entkam es Reita, während er mit schnellen Schritten an die Seite des anderen eilte. Der Intellekt stöhnte, als er ihn unter den Schultern fasste und in eine sitzende Position zog. „Geht’s?“, wollte er wissen, doch seine Aufmerksamkeit wurde von dem Edelstein abgelenkt, den er wie die anderen Fragmente auch um den Hals trug, und der schwach zu glühen begonnen hatte.   „Es geht schon.“ Der Intellekt ließ sich von ihm hochhelfen und verzog gepeinigt das Gesicht, als er die Hand gegen seine Rippen presste. „Kümmere dich nicht um mich. Du musst versuchen, zu ihm durchzudringen.“   Reita biss sich auf die Unterlippe, nickte aber. Der Intellekt hatte recht. Er straffte die Schultern und drehte sich langsam um, bis er dem dunklen Wesen gegenüberstand. „Wo sind Uruha und Aoi?“, verlangte er zu wissen und ballte die Fäuste. Er rechnete mit einem Angriff ob seiner Dreistigkeit, als er sich ebenfalls dem Thron näherte. Aber nichts geschah, nur ein erwartungsvolles Lächeln hatte sich auf die vollen Lippen des Beschützers gelegt. „Lass sie frei.“   „Und was dann? Nimmst du sie mit in deine Welt, wo Uruha nur wieder verletzt wird? Wir glauben nicht.“   „Uruha hatte einen Unfall, dafür kann niemand etwas.“   „Ach nein? Und wie erklärst du dir dann das alles hier?“ Das Wesen machte eine ausladende Handbewegung und plötzlich wurde der Bereich hinter dem Thron von schwach bläulichem Licht erhellt.   „Uruha.“ Der Name seines besten Freundes war nicht mehr als ein Wispern, obwohl Reita schreien wollte, als er ihn endlich zu Gesicht bekam. Aber sein Anblick war auf eine grausame Weise so schön, dass ihm die Luft zum Atmen fehlte. Dort stand er, nackt, eingeschlossen in einem Kokon aus schimmerndem Kristall, der direkt aus seiner Brust gewachsen zu sein schien. Selbst während er ihn fassungslos anstarrte, wuchs der Stein weiter und begann zu pulsieren … wie die Anhänger der Fragmente. Seine Augen weiteten sich, als er die gezackten Enden des Kristalls näher betrachtete und die Risse bemerkte, die sich wie Adern durch sie zogen. Krampfend formte sich sein Magen zu einem festen Knoten, als er begriff, dass er Zeuge der Geburt neuer Splitter war, die kurz bevorstehen musste. ‚Himmel, nein, das kann ich nicht zulassen. Uruha!‘   „Siehst du nun, dass wir ihn beschützen müssen?“   „Das, was du tust, hat nichts mit beschützen zu tun“, fauchte Reita und riss sich vom Anblick seines Geliebten los. „Du hältst ihn hier gefangen, du bist schuld, dass er nicht aufwacht.“   „Du dummes, dummes Ding.“ Die Gestalt lachte, ein Geräusch wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzten. „Wir sind ein Teil von Uruha, geboren aus seinen Ängsten und Sehnsüchten.“   „Aber …“ Verzweiflung wusch über Reita hinweg wie eine Sturmflut, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, was er nun tun sollte. Er war nicht gut mit Worten, war ein Mann der Taten, doch das würde ihm hier nun auch nichts helfen. Das Wesen war stärker als er und er bezweifelte, dass er Uruha einen Gefallen tun würde, würde er nun wie ein Berserker auf den Kristall einschlagen, der ihn umgab.   „Sie haben recht, weißt du?“ Reita wirbelte herum, als er die samtene Stimme hinter ihm vernahm. Erst sah er nur den Intellekt, der gegen eine Wand lehnte und sich noch immer die Rippen hielt. Dann jedoch schälte sich ein Mann aus den Schatten, dessen Anblick ihm vor Erleichterung die Tränen in die Augen treiben wollte.   „Aoi?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)