Animus captimente von yamimaru ================================================================================ Kapitel 2: ]10. Juni] "Irgendwie geht es mir nicht gut." -------------------------------------------------------- „Und wie sollen wir nun in das Krankenhaus reinkommen, ohne dass uns jemand sieht und hochkant wieder rauswirft?“   Dafür, dass Aoi die ganze Fahrt hierher geschwiegen und starr aus dem Beifahrerfenster gesehen hatte, reihte er nun ziemlich viele Worte aneinander. Obwohl es nicht der richtige Moment war und ihm tausend Dinge durch den Kopf gingen, musste Reita unwillkürlich schmunzeln.   „Du wirst jetzt doch keine kalten Füße bekommen?“ Provokant zog er die rechte Braue hoch, bevor er die kleine Schachtel mit den Büchern und den Stoffbeutel vom Rücksitz seines Wagens hob. „Hilf mir mal mit den Sachen hier, bitte.“ Sein Liebster presste die Lippen aufeinander, nahm ihm jedoch wortlos die Tasche ab. „Blue“, murmelte er beschwörend und streifte mit den Fingern Aois Schulter, bevor der andere sich wegdrehen konnte. „Vertrau mir.“   „Dir macht das Spaß, oder? Mitten in der Nacht durch die Gegend fahren und sich heimlich in ein Krankenhaus schleichen?“   „Ich …“ Reita nickte betreten, senkte den Blick und betrachtete für einen Moment seine Schuhspitzen, bevor er tief einatmete und Aoi erneut ins Gesicht sah. Er hatte etwas sagen wollen, aber das feine Lächeln, das sich auf die vollen Lippen gelegt hatte, hinderte ihn so effektiv daran, als hätte sein Freund ihm den Mund zugehalten.   „Ich hab dich schon seit einer sehr langen Zeit nicht mehr so voller Elan gesehen.“ Etwas umständlich schob Aoi die Henkel des Beutels in seine Ellenbeuge, um die Hände frei zu haben, mit denen er sein Gesicht umfasste und mit den Daumen über seine Wangenknochen streichelte. „Allein das ist diese Aktion hier wert.“   „Ach, du wieder“, seufzte er, bevor ihm die Augen zufielen, als sich warme, etwas spröde Lippen auf die seinen legten und ihn unendlich zärtlich zu küssen begannen. Er hätte sich am liebsten in diesem Gefühl verloren, in der Nähe zu dem Menschen, der ihm neben Uruha am wichtigsten auf der Welt war, aber sie hatten keine Zeit. Die Panik, die in den letzten Augenblicken nachgelassen hatte, flammte so unerwartet stark erneut auf, dass er sich zusammenreißen musste, nicht verängstigt nach Luft zu schnappen. Bemüht ruhig löste er sich, zauberte von irgendwoher ein Lächeln auf seine Züge und drückte Aoi einen letzten Kuss auf. „Lass uns gehen, Uruha wartet sicher schon.“ Er drehte sich weg und sah dadurch den skeptischen Ausdruck nicht, der für einen Sekundenbruchteil über das Gesicht des anderen huschte. „Kommst du?“   „Ja.“   Eilends gingen sie über den Parkplatz und die kleine Anhöhe hinauf. Vereinzelt konnten sie bereits die gelblichen Lichter der Privatklinik erkennen, die hier und da durch das dichte Laub der Bäume blinzelten, welche das Areal umschlossen. Der Großteil des weitläufigen Geländes lag jedoch in Dunkelheit, nur ein seitlicher Gebäudekomplex war hell erleuchtet. Die Notaufnahme, wie Reita mittlerweile wusste, und um die er einen großen Bogen machte. Die Station, auf der Uruha lag, befand sich im Erdgeschoss an der rückwärtigen Seite des Haupttrakts mit Zugang zum großzügigen Innenhof. Wie oft in den letzten Monaten hatte er hier gestanden, geraucht und sich mit den Schwestern und Pflegern unterhalten? Er konnte es schon gar nicht mehr zählen. Die Klinik schien beinahe ein unfreiwilliges, zweites Zuhause für ihn geworden zu sein. Während weit mehr als einer Visite hatte er die Zeit, in der er Uruhas Zimmer verlassen musste, damit verbracht, durch die nähere Umgebung der Klinik zu stromern. Allerdings war es seinem guten Verhältnis zum Pflegepersonal zu verdanken, dass er sie nun durch eine Hintertür führen konnte, um deren Knauf ein Handtuch gebunden war, damit sie nicht ins Schloss fallen konnte.   „Die Pfleger klemmen hier immer was in die Tür ein, damit sie wieder reinkommen, wenn sie mit dem Rauchen fertig sind“, erklärte er leise an Aoi gewandt, der ihm bislang stumm gefolgt war, und hob die rechte Braue. „Hab ich dir nicht gesagt, dass ich uns reinbringen kann?“   „Das ist doch eine Feuerschutztür, oder? Ist das nicht verboten, die nur anzulehnen?“   „Bist du jetzt plötzlich vom Brandschutz?“ Reita rollte mit den Augen und schnaubte amüsiert über das Verhalten seines Liebsten. „Als hätten wir noch nie etwas Verbotenes für eine Kippe getan.“ Für einen Moment schaute Aoi ihn nur ausdruckslos an, bevor sich ein zögerliches Schmunzeln auf seine Lippen legte.   „Ich werd das Gefühl nicht los, dass dir das hier mehr Freude macht, als es sollte.“   „Ich will nur zu Uruha, das ist alles. Und jetzt, pscht, lass uns reingehen, aber leise.“   „Wer’s glaubt“, nuschelte sein Gegenüber halblaut, lächelte ihm jedoch nickend zu, als er seinen Blick erwiderte.   Umsichtig drückte er die schwere Glastür auf, ließ Aoi vor sich hindurchschlüpfen und lehnte sie ebenso vorsichtig wieder an. Der vor ihnen liegende Gang war nur spärlich beleuchtet, was zu so später Stunde nicht ungewöhnlich war. Dennoch richteten sich die feinen Härchen in seinem Nacken auf, als ihm ein Schauer über den Rücken rann. Das ungute Gefühl, das schon die ganze Zeit über in seinem Magen rumorte, erreichte neue Höhen und hätte ihn beinahe kopflos auf Uruhas Zimmertür zueilen lassen. Aoi schien seine steigende Unruhe jedoch bemerkt zu haben und hatte sich halb vor ihn gestellt, während er mit verengten Augen in Richtung des hell erleuchteten Stationszimmers sah.   „Ich glaube, da sitzt gerade niemand drin, oder siehst du jemanden?“   „Nein.“ Auch sein Blick lag auf der Glasscheibe, die den Bereitschaftsraum vom Rest der Station trennte. Es war nicht auszuschließen, dass die diensthabende Pflegekraft im dahinterliegenden Aufenthaltsbereich saß und sie sehen würde, wenn sie vorbeihuschten, aber das war ein Risiko, das sie an dieser Stelle eingehen mussten. “Lass es uns versuchen.“   Aoi nickte und langsam näherten sie sich dem kreisrunden Kegel aus Licht, der im vorherrschenden Halbdunkel rettend und bedrohlich zugleich wirkte. Reita spürte, wie seine Hände feucht wurden und sein Puls an Fahrt aufnahm. Sie durften nicht erwischt werden. Er fürchtete sich nicht vor Konsequenzen, nein, das nicht, er hatte vielmehr Angst davor, hinausgeworfen zu werden. Nicht nur, dass sie dann keine Chance mehr haben würden, Uruha das Buch so schnell wie möglich wiederzubringen, was mit jeder Sekunde wichtiger zu werden schien, sondern es bestand auch die nicht von der Hand zu weisende Gefahr, dass es ihnen zukünftig verwehrt werden würde, ihren Geliebten überhaupt noch zu besuchen. Letzteres würde er nicht überleben.   „Schnell“, zischte er, als sie sich dem Stationszimmer soweit genähert hatten, dass er die Nachtschwester erkennen konnte. Sie saß tatsächlich im angrenzenden Aufenthaltsraum am Tisch, hatte ihnen den Rücken zugekehrt und schien etwas zu essen. Verflucht, Glück musste man haben. Unwillkürlich schlich sich ein grimmig entschlossenes Grinsen auf seine Lippen und ein siegessicheres Lachen kitzelte in seiner Kehle, das er jedoch herunterschluckte. So kurz vor dem Ziel würde er sich keinen Fehler erlauben. Binnen Sekunden waren sie an der Insel aus Licht vorbeigehuscht und in einen weiteren, schummrigen Gang abgebogen. Reita streckte die Hand aus und drückte die Klinke der Tür herunter, hinter der sich das Ziel ihrer nächtlichen Exkursion befand. Vorsichtig spähte er in den Raum und atmete erleichtert aus, als sein Blick auf Uruha fiel, der, nur beleuchtet von einem kleinen Nachtlicht, still in seinem Bett lag.   „Und jetzt?“, wisperte Aoi, der zum Besuchertisch hinübergegangen war und den Stoffbeutel über die Lehne des unbequemen Plastikstuhls hängte, der seitlich daneben stand. Reita schloss leise die Tür und ging auf ihn zu, stellte die Schachtel ab und atmete erst einmal erleichtert aus.   „Ich … bin mir nicht sicher.“ Er fuhr sich durchs Haar, sah seinen Liebsten für einen Augenblick an, bevor er sich wegdrehte und auf Uruhas Bett zuging. „Hey, Ducky, schau mal, wen ich dir doch noch mitgebracht habe. Lieber spät als nie, was?“ Er streichelte über seine Stirn und stutzte. „Eh, was ist mit dir?“ Die Augen des anderen waren geschlossen, aber wo er sonst beinahe friedlich wirkte, lag nun ein unbestimmter Ausdruck der Furcht über seinem Gesicht, das schweißfeucht glänzte.   „Was ist?“ Aoi war an seine Seite getreten und schaute ebenso besorgt wie er auf die blasse Gestalt im Bett herab.   „Ich weiß nicht.“ Er ging zu der schmalen, durch einen Vorhang abgetrennten Nische hinüber, die als eine Art Badezimmer fungierte, zog einen Einmalwaschlappen aus einem der Fächer auf Kopfhöhe und tränkte ihn mit kaltem Wasser. „Ich würde behaupten, er hat einen Albtraum, aber ich weiß nicht, ob das medizinisch überhaupt möglich ist.“ Zurück am Bett wischte er vorsichtig über Uruhas Gesicht und Hals, bevor er ihm den kalten Stoff auf die Stirn legte.   „Wir sollten die Schwester holen“, murmelte Aoi und nagte nachdenklich an seiner Unterlippe.   „Und was sollen wir ihr sagen? Entschuldigung, wir waren zufällig hier und haben bemerkt, dass es unserem Freund nicht gut geht. Könnten Sie mal nach ihm sehen, bitte? Ja, genau, ich glaub, das kommt wirklich gut an.“   „Kein Grund, sarkastisch zu werden, Reita.“ Dunkle Augen funkelten ihn so missbilligend an, dass ihn ein Gefühl durchzog, das er bislang nur in der Gegenwart seiner Mütter verspürt hatte. Beschämt senkte er den Blick und nickte.   „Du hast recht, das war unpassend.“   „Ich mach mir die gleichen Sorgen wie du.“ Aois Stimme war sanft geworden, während er so vorsichtig über Uruhas Haar streichelte, als wäre er das Wertvollste auf der Welt. „Ach, Ruha, was machst du nur?“ Sanft küsste er seine Stirn, die nahezu schwarzen Augen glänzend vor nicht vergossenen Tränen. „Komm zurück zu uns, bitte.“   Der Anblick schmerzte, nicht, weil sich Reita ausgeschlossen fühlte, sondern weil ihm in dieser Sekunde bewusst wurde, dass er nicht der Einzige war, der litt. Aois Art, mit der Situation umzugehen, unterschied sich fundamental von der seinen, dennoch vermisste er Uruha nicht weniger als er. Auch er würde alles für ihren Geliebten tun und sorgte sich ununterbrochen um ihn, wie hatte er das auch nur für einen Augenblick vergessen können? Er fühlte sich wie erstarrt, konnte nichts anderes tun, als seine geliebten Männer zu beobachten. Ob er schuld daran war, dass es Uruha nun nicht gut ging? Er verzog das Gesicht, als sich ein unbestimmtes Gefühl der Schuld schmerzhaft durch seinen Magen fraß, krümmte sich leicht und verschränkte schützend die Arme vor seiner Mitte. Ein unerwarteter Widerstand in seiner Jacke ließ ihn stutzen, nach dem Gegenstand in der Innentasche tasten. Wie gebannt starrte er auf den roten Einband, hörte seine eigene Stimme in seinem Kopf widerhallen. ‚Ich hätte ihm sein Buch nie wegnehmen dürfen.‘ „Das Buch!“, rief er gedämpft und starrte Aoi aus geweiteten Augen an. Seine Finger zitterten, als er es für einen Moment unschlüssig in beiden Händen hielt, bevor er es, einem inneren Impuls folgend, auf Uruhas Brust legte. Der Effekt war augenblicklich. Die Anspannung wich aus Uruhas Körper, seine Gesichtszüge glätteten sich und seine Atemzüge kamen erneut gleichmäßig und so ruhig, dass er Schwierigkeiten hatte, sie überhaupt zu hören.   „Das …“, wisperte Aoi. Reita hob den Blick und richtete ihn auf sein Gegenüber, dessen Augen so groß und dunkel waren, dass sie in seinem blassen Gesicht wie schwarze Löcher wirkten. Er schluckte und trat um das Bett herum, um ihm einen Arm haltgebend um die Schultern zu legen. „Ich glaub das nicht. Was war das gerade?“   „Ich hab keine Ahnung.“ Reita atmete tief durch, bemerkte erst jetzt, wie sehr die Anspannung der letzten Stunden auf sein Herz gedrückt hatte. „Ich hab wirklich keine Ahnung.“   Mit mechanisch wirkenden Bewegungen streichelte Aoi erst über Uruhas Wange, bevor er seine zitternden Finger auf den Einband des Buches legte. Beinahe rechnete Reita damit, dass plötzlich Funken sprühen oder ihr Geliebter, wie an unsichtbaren Schnüren geführt, in die Luft steigen würde. Aber nichts geschah. Uruha lag still da, atmete tief und gleichmäßig und wirkte so, als wäre es nie anders gewesen. Aois Bewegungen waren noch immer zu langsam, zeugten von dem Schock, den er zu verarbeiten hatte, als er das Tuch von Uruhas Stirn nahm und mit steifen Schritten zur Nische hinüberging, um es im Wäschekorb unter dem Waschbecken zu entsorgen.   „Woher hast du gewusst, was zu tun ist?“ Reita drehte sich zu ihm, aber Aoi stand in den Schatten, die bereits eine kurze Strecke vom Nachtlicht am Bett entfernt so tief waren, dass er sein Gesicht nicht sehen konnte.   „Ich …“ Er zuckte mit den Schultern. „Es war so ein Gefühl, beinahe wie Panik, als mir bewusst geworden ist, dass ich in all der Aufregung Uruhas Tagebuch mit nach Hause genommen habe. Irgendwie wusste ich, dass ich es ihm wiederbringen muss, weil er es braucht.“   „Das war nicht das erste Mal.“   „Mh? Wie meinst du das.“   „Na, dass du wusstest, was zu tun ist.“   „Ich versteh nicht, worauf du hinaus willst.“ Reita schüttelte den Kopf und atmete erleichtert aus, als Aoi wieder ins Licht und somit auf ihn zutrat. Die Hand seines Freundes legte sich an seine Wange und warme Lippen drückten ihm einen viel zu kurzen Kuss auf.   „Als wir Uruhas Habseligkeiten einige Tage nach seiner Einlieferung mit nach Hause nehmen wollten, hast du darauf bestanden, dass sein Tagebuch bei ihm bleibt.“   „Ach, das.“ Reita lächelte schief und schlug ein wenig beschämt die Augen nieder. „Das war nur mal wieder eine meiner abergläubischen Anwandlungen. Ich hatte mich daran erinnert, dass du im Scherz einmal meintest, Uruha würde ohne seine Tagebücher nicht überleben können, und na ja. Es erschien mir falsch, es ihm wegzunehmen.   „Nach dem, was ich gerade gesehen habe, bin ich froh, dass du auf deine abergläubische Seite gehört hast.“   Es war ihm unangenehm, für diese Sache beinahe gelobt zu werden, aber es war auch nicht von der Hand zu weisen, dass gerade irgendetwas mit Uruha geschehen war. Er rieb sich über die Schläfen, hinter denen es zu Pochen begonnen hatte, und drehte sich erneut so, dass er die stille Form seines besten Freundes betrachten konnte.   „Aberglaube schön und gut, aber er sagt mir nicht, was wir jetzt tun sollen.“ Zwischen seinen Brauen hatten sich steile Falten gebildet, während sein Blick unverwandt auf dem roten Buch lag. „Es ist mir runtergefallen …“, murmelte er überlegend. Aoi horchte auf und sah ihn mit einem Mal so durchdringend an, dass ihm ein Schauer über den Rücken rann. „Ich meine … Ich habe es vom Nachttisch gestoßen, als ich Uruha die Augentropfen geben wollte und …“ In einer Bewegung, die so schnell gewesen war, dass Reita sie nicht hatte kommen sehen, hatte Aoi das Buch von Uruhas Brust gefegt. Mit einem dumpfen Schlag kam es auf dem Boden auf, überschlug sich und blieb aufgeklappt liegen. „Aoi!“, zischte er. „Hättest du das nicht vorsichtiger machen können?“ Er war beinahe geschockt vom Verhalten seines Partners, auch wenn er seine Anspannung nur zu gut verstand. Dennoch schnaubte er missmutig, als er sich nach dem Buch bückte, das mit dem Einband nach oben dalag. „Jetzt ist eine Ecke eingedrückt“, murrte er in Uruhas Namen, der es sicher nicht sonderlich geschätzt hätte, dass sein kostbares Tagebuch heute ständig zu Boden geworfen wurde.   „Mach es auf“, verlangte Aoi und er stutzte, blickte auf den Einband in seiner Hand herab, auf die Ecke, die er zu glätten versuchte. Er hatte das Buch so aufgehoben, dass sein Zeigefinger zwischen den Seiten klemmte, ihr möglicher Inhalt jedoch verborgen blieb. „Oder soll ich?“   Aoi war an seine Seite getreten und hatte die Rechte auf seine zitternden Hände gelegt. Dankbar nickte er, überreichte ihm so vorsichtig das Buch, als wäre es aus dünnem Glas, und wartete. Er sah die tiefen Atemzüge, die sein Partner nahm, bemerkte das Zittern, das nun auch von ihm Besitz ergriffen hatte. Mit einem Ruck, der unendliche Kraft gekostet haben musste, öffnete Aoi den Einband. Wie gebannt starrten sie auf die weißen Seiten … die leeren weißen Seiten. Aoi atmete zischend aus und ließ die Schultern hängen. Gerade, als er das Buch zurücklegen wollte, schnellte Reitas Hand vor und hielt ihn davon ab.   „Warte …“ Er brauchte zwei Anläufe, um die Seite umzublättern, und als sein Blick schlussendlich auf das fiel, was dort geschrieben stand, wusste er nicht, ob er erleichtert oder zu Tode verängstigt sein sollte.   NICHT ALLEIN!   Im Flur vor dem Krankenzimmer klapperte etwas und ließ sie gleichzeitig zusammenfahren.   „Verdammt, das ist bestimmt die Schwester für die Nachtrunde. Wir müssen hier raus.“ Aoi hatte das Buch zugeklappt und auf den Nachttisch gelegt, während er noch immer wie erstarrt dastand und nichts tun konnte. „Reita, das ist jetzt nicht der richtige Augenblick, um die Nerven zu verlieren. Komm schon.“ Aois Hand war eiskalt, als sie sich um sein Handgelenk schloss.   „Aber … wir können jetzt nicht gehen. Du hast es doch auch gesehen?“   Aoi hörte auf, an ihm zu zerren, stattdessen fühlte er nun die kalten Finger an seiner Wange. „Reita. Wir müssen jetzt gehen“, wiederholte er beschwörend und sah ihm direkt in die Augen. „Ich habe es auch gesehen, ich glaube dir, aber wir müssen jetzt hier raus.“   Er nickte, warf noch einen sehnsüchtigen Blick über die Schulter auf Uruha, bevor er seinem Partner aus dem Zimmer folgte. Die Tür nebenan stand einen kleinen Spalt offen und aus dem Inneren waren leise Geräusche und Schritte zu hören.   „Still jetzt“, raunte ihm Aoi zu, während sie wie die Verbrecher über die Gänge huschten. Erst als sie die aufgestemmte Tür durchquert hatten, die ihnen so freimütig Zugang zur Klinik verschafft hatte, konnte Reita wieder durchatmen.   „Verdammt, das war knapp.“   „Mehr als das. Ich hoffe nur, die Station ist nicht videoüberwacht, sonst kriegen wir im Nachgang noch ziemlichen Ärger.“   „Ganz ehrlich?“, meinte Reita mit hochgezogener Augenbraue, während er neben Aoi her den Weg zu seinem Wagen hinunterlief. „Das sollte gerade das Letzte sein, worüber wir uns Gedanken machen.“   „Vermutlich hast du recht.“   „Blue?“ Der seltsame Unterton in der Stimme des anderen gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber statt ihn darauf anzusprechen, entriegelte er lediglich den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Auch Aoi setzte sich, schnallte sich an und zog die Tür zu.   „Ist das gerade wirklich passiert?“   „Das fragst du mich jetzt nicht allen Ernstes, oder?“   „Ich meine …“ Sein Freund redete weiter, als hätte er ihn nicht gehört und rieb sich übers Gesicht. „Haben wir das wirklich gesehen? Wir könnten uns das gut und gern auch nur eingebildet haben. Wäre nicht verwunderlich, oder? Immerhin wollten wir beide unbedingt etwas in diesem Buch sehen …“   „Hör auf.“   „Was?“   „Hör auf, schon wieder alles infrage zu stellen. Wenn du mir nicht glauben kannst, schön, aber dann glaub wenigstens deinen eigenen Augen.“   Aoi seufzte und vergrub für einen Moment sein Gesicht in beiden Händen. „Es tut mir leid“, nuschelte er und wirkte plötzlich so verloren, dass Reita ihm nicht einmal dann hätte böse sein können, würde sein Leben davon abhängen. Er presste die Lippen aufeinander, startete den Motor und legte seinem Partner für einen Moment sanft die Hand in den Nacken.   „Schon gut. Lass uns nach Hause fahren und versuchen, ein wenig Schlaf zu finden, mh? Morgen können wir immer noch darüber reden.“   „Ja, ich denke, das wird das Beste sein.“   Langsam fuhr er vom Parkplatz der Klinik und versuchte, die Schuldgefühle, die unaufhörlich an ihm nagten, nicht zuzulassen. Was hatte diese Botschaft zu bedeuten? Fühlte Uruha, dass sie bei ihm waren, oder war er womöglich in Gefahr? Und wie um alles in der Welt sollten sie ihm helfen, wenn sie nicht wussten, wie sie ihn erreichen konnten? Für eine Sekunde presste er die Augen fest zusammen, als er an einer Kreuzung warten musste, bis ein Wagen von rechts an ihnen vorbeigefahren war. Diese Hilflosigkeit war kaum auszuhalten.   ~*~   Hellwach lag er im Bett, Aois Hand warm in seiner. Ein Blick zur Seite zeigte ihm, dass der andere in annähernd der gleichen Position dalag und an die Decke starrte.   „Kannst du nicht schlafen?“, murmelte er und begann, mit dem Daumen über Aois Handrücken zu streicheln.   „Nein, ich hab das Gefühl, als würden sich meine Gedanken um sich selbst drehen.“   „Geht mir genauso. Mir wird sogar schwindlig, wenn ich die Augen schließe.“   „Das liegt vermutlich eher an der Flasche Wein, die du ja unbedingt bis auf den letzten Tropfen austrinken musstest.“   „He, nun sei nicht so. Ich hab das gebraucht.“   Aoi seufzte, rollte sich auf die Seite und lehnte sich über ihn. „Solange du das nur ab und zu brauchst, ist es ja in Ordnung. Ich hoffe nur, dein Kater wird sich in Grenzen halten.“   „Ich verspreche hoch und heilig, nicht zu jammern, sollte das nicht der Fall sein.“   „Das ehrt dich.“ Im schummrigen Licht, das durch die geöffneten Fenster hereinkam, blitzten Aois weiße Zähne für einen Moment in einem Grinsen auf, bevor sich warme Lippen auf die seinen legten. Unwillkürlich stöhnte er leise auf, schlang die Arme um die Schultern des anderen und zog ihn auf sich. Ihr Kuss vertiefte sich, Zungen umgarnten einander und die Lust stieg so plötzlich und erbarmungslos in ihm hoch, dass sie ihm den Atem raubte.   „Aoi“, keuchte er, bevor er den anderen Mund gierig wieder in Beschlag nahm und die Finger im weichen Haar seines Freundes vergrub. Aoi zerrte an der Bettdecke, an seiner Kleidung, an allem, was er erreichen konnte und Reita konnte nichts weiter tun, als an dem letzten bisschen Verstand festzuhalten, der ihm noch blieb. Wo kam diese Gier so plötzlich her? Dieses Verlangen, Aoi nah sein zu wollen, näher als sie es in einer so verdammt langen Zeit gewesen waren? War es dieser kleine Funke Hoffnung, der sie nun die Leidenschaft spüren ließ, die sie so lange ignoriert, sich verwehrt hatten? Oder war es vielmehr das verzweifelte Festhalten am Vertrauten, das ihnen selbst Uruhas schmerzliche Abwesenheit nicht gänzlich nehmen konnte. Er stöhnte heiser auf, wölbte sich Aois Händen entgegen, die mit schlafwandlerischer Leichtigkeit jede seiner empfindlichsten Stellen zu finden schienen. Für den Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als alles anzunehmen, was sein Liebster ihm zu geben hatte, viel zu überwältigt war er von den Gefühlen, die immer heißer durch seine Adern rauschten. Sein ganzes Sein schien sich auf einen Punkt zu konzentrieren, um diesen wundervollen Mann zu kreisen, der ihn systematisch um den Verstand brachte. Er öffnete die Beine, hieß Aoi erst auf, dann in sich willkommen und grub die Finger in die schwarzen Strähnen, um ihn noch näher zu ziehen. Wieder trafen sich ihre Lippen, kurze, gehetzte Kontakte, bevor sie sich lösen mussten, um ihrem schneller werdenden Atem Freiraum zu geben.   „Himmel, Reita.“   Küsse regneten auf seine Wangenknochen, seinen Kiefer, den Hals hernieder, waren wie kleine, brennende Male, die seine Lust ins Unermessliche steigerten. Seine Schenkel pressten sich fest gegen Aois Hüfte, hinderten ihn daran, sich weiter in ihm zu bewegen. Das unwillige Murren war wie Wasser auf seine Mühlen, ließ ihn Aois wilden Blick grinsend erwidern, bevor er sie mit Schwung herumdrehte. Triumphierend saß er auf seinem Mann, blickte auf ihn herab, in seine schönen Augen, hinter denen ein unheiliges Feuer zu lodern schien. Oh, ja, er wollte brennen, brennen in ihrer Leidenschaft, die sein ganzes Sein vereinnahmte. Mit sinnlichen Bewegungen ließ er sein Becken kreisen, zeichnete mit den Nägeln rote Muster auf Aois Brust, während seine Bewegungen immer nachdrücklicher wurden. Die Finger seines Partners gruben sich in die Haut über seinen Beckenknochen, würden sicherlich dunkle Male hinterlassen, so fest hielten sie ihn. Er hoffte es beinahe, konnte sich in diesem Augenblick nichts Schöneres vorstellen, als auch morgen noch die Zeichen ihrer Vereinigung auf seinem Körper zu sehen. Uruhas Ehering, der an einer Kette um seinen Hals hing, schien sich zu erhitzen, sich in seine Haut zu brennen, und in vollkommener Ekstase legte er den Kopf stöhnend in den Nacken. Seine Bewegungen wurden immer hektischer, Aoi kam ihm mit kräftigen Rucken seines Beckens entgegen und als er sich sicher war, es keine Sekunde länger ertragen zu können, glaubte er beinahe, eine ihm schmerzlich vertraute Präsenz im Rücken zu spüren. Geisterhafte Küsse liebkosten seine Haut und als er die Augen öffnete, sah er dasselbe Wunder, denselben Unglauben in Aois Augen widergespiegelt.   Er hatte etwas sagen wollen, ihr gemeinsames Erlebnis in Worte fassen, aber brachte keinen Ton heraus, als ihn sein Höhepunkt wie eine Sturmflut mit sich riss. Er hatte den Rücken zum Hohlkreuz durchgedrückt, die Lider so fest aufeinandergepresst, dass bunte Punkte ein Feuerwerk in die Schwärze zeichneten, und fühlte die Wärme, die Aois Erlösung tief in seinem Inneren hinterlassen hatte. Sein Mund stand offen, ließ seinen gehetzten Atem ein und aus, bis es die Hände seines Partners waren, die ihn auf einen herrlich warmen, wenn auch verschwitzten Körper zogen. Aber Reita würde den Teufel tun und sich beschweren, selbst wenn er sich dazu noch in der Lage gefühlt hätte.   „Hey.“ Zärtlich küsste Aoi seine Schläfe, raunte süße Nichtigkeiten in das verschwitzte Chaos seiner Haare, bis er ihn plötzlich fast schmerzhaft fest umarmte. „Sag mir, dass ich mir das nicht eingebildet habe“, flehte er und klang dabei so verzweifelt, dass sich in Reitas Hals ein dicker Kloß bildete.   „Hast du nicht.“ Himmel, es kostete ihn mehr Anstrengung, als gerechtfertigt war, diese wenigen Worte aneinanderzureihen, geschweige denn, klare Gedanken fassen zu können. Er fühlte sich nicht nur körperlich ausgelaugt, sondern so, als hätte ihm ihr Tun gerade sämtliche Energiereserven geraubt. „Ich hab es … ihn auch gespürt…“ Er verzog das Gesicht, als Aoi aus ihm glitt, legte sich im nächsten Moment jedoch bequemer hin und kuschelte sich an. „Er war bei uns, ganz sicher.“   „Wie kann das sein?“ Aoi, immer der Zweifler, immer derjenige, der nach einem logischen Grund für alles suchte. Aber vielleicht gab es Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht zu erklären waren.   „Ich hab keine Ahnung“, wisperte er und hob seinen Kopf, der sich mit einem Mal zentnerschwer anfühlte. „Aber ich weiß, was ich gefühlt habe.“ Er lächelte auf Aoi herab, küsste ihn lang und zärtlich. „Wir holen Uruha zurück.“ Ein stummes Nicken war alles, was er zur Antwort bekam. Als sein Liebster die Lider schloss, sammelte sich eine kleine Träne in seinem Augenwinkel, die Reita hinfort küsste, bevor sie in seinem Haar versickern konnte. Er leckte über seine Lippen, jagte dem salzigen Geschmack hinterher, und bettete seinen Kopf auf Aois Brust, unter der sein Herz ruhig und gleichmäßig schlug. „Wir holen ihn zurück“, wiederholte er und küsste Aois Schläfe.   „Ich will dir glauben … so sehr.“ Sein Liebster drückte sein Gesicht in seine Haare, die Arme noch immer so fest um ihn gelegt, als hätte er Angst, Reita auch noch zu verlieren.   ‚Ach, Blue‘, dachte er noch, bevor der anstrengende Tag endgültig seinen Tribut forderte.   Keiner der beiden Liebenden bemerkte das Flirren in der Luft, das noch für einen kurzen Moment über ihnen schwebend verharrte, bis es aus dem geöffneten Fenster in die Nacht verschwand.   ~*~   Reita saß an ihrem Besprechungstisch im Studio und starrte mit dröhnendem Kopf in das schwarze Nichts seines Kaffees, ab und an rührte er um, obwohl sich in dem heißen Getränk nichts befand, was verteilt werden musste, aber ihm gefiel der Strudel, der sich um den Löffel formte. Wenn er sich anstrengte, fühlte es sich beinahe so an, als könnte er so seine wirbelnden Gedanken in den Tiefen der Flüssigkeit ertränken.   Als er heute Morgen aufgewacht war, war er sich sicher gewesen, neben den Abdrücken von Aois Fingern auf seiner Hüfte auch ein kreisrundes Mal auf seiner Brust zu finden, genau dort, wo nun Uruhas Ring über seinem T-Shirt ruhte. Aber dort war nichts gewesen, die Haut glatt und makellos und ließ ihn daran zweifeln, dass das, was er in der Nacht noch für real gehalten hatte, wirklich geschehen war. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen, weder über ihre Erlebnisse im Krankenhaus noch über diese eigenartige, beinahe fremdgesteuerte Leidenschaft, die von ihnen Besitz ergriffen hatte.   Ob Aoi ebenso wie er selbst Angst davor hatte, dass sich alles nur als Trugbild, als Wunschdenken herausstellen würde, würden sie darüber sprechen?   „Reita?“   „Mh?“ Blinzelnd sah er auf und in das forschende Gesicht Kais. „Ich wollte wissen, ob du zu der Anordnung der Songs auf dem Album noch etwas beizutragen hast.“   „Oh, ehm, nein, passt so, denke ich.“ Er rieb sich über die Nasenwurzel und spürte eine ihm nur allzu bekannte Hitze in seine Wangen steigen. In Momenten wie diesen verfluchte er sein Unvermögen, Uruha und Aoi etwas abzuschlagen, das daran schuld war, dass er mittlerweile nur noch für offizielle Fotos und Auftritte sein Gesicht zum Teil verhüllte. Es hatte schon seinen guten Grund gehabt, weshalb er sein Nasenband früher nur zum Schlafen abgenommen hatte.   „Jungs, ich bitte euch.“ Kai seufzte und blickte in die Runde. Reita tat es ihm gleich und stellte mit einer Mischung aus Genugtuung und schlechtem Gewissen fest, dass er nicht der Einzige war, der in Gedanken oder übermüdet vor sich hinstarrte. Ruki sah aus, als hätte er schon wieder oder immer noch Kopfschmerzen, trug eine übergroße Sonnenbrille und hielt sich mit aller Macht an seinem Energydrink fest, während Aoi, ganz wie er selbst vor wenigen Sekunden, nur körperlich anwesend zu sein schien. „Ich weiß, dass uns allen momentan viel im Kopf herumschwirrt, aber reißt euch zusammen, in Ordnung? Wir machen das hier für Uruha.“   Zustimmendes Gemurmel ging durch die Runde und schien ihren Leader für den Moment zu besänftigen. Als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben, redete er weiter und Reita bemühte sich ehrlich, ihm zu folgen, auch wenn ihm im Lichte der gestrigen Ereignisse Diskussionen um die perfekte Liedreihenfolge oder das Design des Covers so sinnlos erschienen. Für einen Moment wanderte sein Blick zu Aoi, dem es ähnlich schwerzufallen schien, sich zu konzentrieren. Unter dem Tisch tastete er nach seiner Hand, verschränkte ihre Finger miteinander und erwiderte das schiefe Lächeln, das sein Partner ihm schenkte.   „Wie wäre es …“, begann er und unterbrach damit Kais anhaltenden Strom an Informationen und Vorschlägen, als ihm plötzlich eine Idee in den Sinn kam. „Wir könnten doch eine beschriebene Seite als Hintergrund für das Cover nehmen, statt ihn nur schwarz zu lassen? Das würde die ganze Sache interessanter machen und außerdem sieht die CD dann nicht aus, wie der Soundtrack für eine Beerdigung.“ Betretenes Schweigen schlug ihm entgegen und erst dadurch bemerkte er, wie aufbrausend er soeben gesprochen hatte. Verwundert blinzelte er und setzte sich wieder, hatte er sich doch sogar halb von seinem Stuhl erhoben. „Tschuldigung, ich weiß nicht, wo das gerade herkam.“ Aoi drückte seine Finger, bevor er zustimmend nickte und ihn anlächelte.   „Das hört sich nicht schlecht an, finde ich, was meint ihr?“   „Ja …“, murmelte Kai, noch immer etwas überrumpelt wirkend und Ruki nickte.   „Ich glaube, das würde Uruha gefallen. Also, wie genau hast du dir das vorgestellt, Rei?“, fragte er und nahm zum ersten Mal an diesem Tag die Sonnenbrille ab. Seine Augen waren klein und gerötet, als hätte er ebenso wie Reita selbst die ganze Nacht über keinen Schlaf gefunden. „Ich meine, soll man lesen können, was darauf geschrieben steht oder soll es nur wie Schrift aussehen?“   „Gute Frage“, entgegnete er und war selbst erstaunt darüber, dass er gerade tatsächlich so etwas wie ehrliches Interesse aufbringen konnte, wo ihm bis eben noch jeglicher Elan gefehlt hatte. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass sich eine deiner Songideen dafür supergut eignen würde. Wenn man sich deine Entwürfe so ansieht, mit all den durchgestrichenen und neu geschriebenen Worten, den Pfeilen und Anmerkungen, ist das doch interessant genug für den Hintergrund eines Covers, oder nicht?“ Er lachte und auch Aoi und Kai schmunzelten, während von Ruki ein deutlich amüsiertes Schnauben kam.   „Willst du mir gerade Honig ums Maul schmieren?“   „Würde mir im Leben nicht einfallen“, feixte er und stellte verwundert fest, wie gut es tat, sich ungezwungenen Blödeleien mit seinen Kollegen hinzugeben. Wie lang hatte er das schon nicht mehr tun können?   Obwohl sie seinen Vorschlag letzten Endes nur zum Teil umgesetzt hatten und das Cover passend zur Ästhetik des Albums deutlich düsterer geworden war, als er sich gewünscht hätte, hätte ihr Meeting nicht harmonischer und produktiver verlaufen können. Es tat gut, endlich einmal wieder etwas gemeinsam erreicht zu haben und als Kai am späten Nachmittag zum Aufbruch blies, fühlte sich Reita erstaunlich zufrieden.   „Na, fahrt ihr beide gleich wieder zu Uruha?“, fragte Ruki, während er mit gemächlichen Schritten aus dem Gebäude trat, in dem sich ihr Studio befand, und sich zu Aoi und ihm stellte. Für einen Moment rümpfte er die Nase, ihrer brennenden Zigaretten wegen, setzte sich jedoch ohne weiteren Kommentar seine Sonnenbrille auf und blickte in den stahlblauen Himmel.   „Ja, hatten wir vor, willst du mitkommen?“ Aoi zog noch einmal an seiner Kippe und drückte den Stummel im nahestehenden Aschenbecher aus, während sich Reita zusammenreißen musste, nicht missbilligend das Gesicht zu verziehen. Sie hatten noch immer nicht darüber gesprochen, wie sie mit ihren gestrigen Erlebnissen umgehen wollten oder was sie tun sollten, wenn sie wieder bei Uruha waren. Aber er war davon ausgegangen, dass es Aoi ebenso wie er selbst kaum erwarten konnte, irgendetwas zu versuchen. Warum also lud er gerade ihren Sänger ein, sie zu begleiten?   „Nee, ich besuch ihn am Wochenende“, lehnte Ruki glücklicherweise die Einladung ab und lächelte müde. „Ich hab mir für heute fest vorgenommen, Kais Kopf wenigstens für ein paar Stunden weg von der Arbeit zu bekommen.“ Reita glaubte beinahe, den Geist eines anzüglichen Lachens hören zu können, das in solchen Situationen typisch für Uruha gewesen wäre. Auch Ruki legte für eine Sekunde den Kopf schief, als würde er angestrengt lauschen, seufzte jedoch im nächsten Moment und stopfte die Hände in die Hosentaschen. „Und wo wir gerade von meiner schlechteren Hälfte reden – wo bleibt der Kerl schon wieder?“ Reita musste das Augenrollen nicht sehen, um zu wissen, dass es da war. Er grinste seinen Freund an, der neckisch salutierte und im Laufschritt zurück ins Gebäude ging. „Ich fang ihn mal ein, bevor er sich wieder irgendwo festquatscht. Schönen Abend, euch beiden.“   „Euch auch!“, rief Aoi dem Kleinsten ihrer Runde nach und er ergänzte: „Bis morgen!“, bevor sie wieder allein auf dem Parkplatz vor ihrem Studio standen.   „Und jetzt?“, murmelte er und musterte Aoi, der nicht minder unschlüssig den Punkt fixierte, an dem Ruki bis eben gestanden hatte. Plötzlich strafften sich seine Schultern, als er den Kopf hob, um seinen Blick zu erwidern.   „Jetzt fahren wir zu Uruha und finden raus, was es mit diesen Botschaften auf sich hat.“   Auf Reitas Lippen legte sich ein breites Grinsen und er streckte die Hand aus, die Aoi ergriff und ihre Finger miteinander verschränkte.   „Gut, worauf warten wir also noch?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)