In perpetuas aeternitates von yamimaru ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Mit weit geöffneten Augen schreckte er hoch. Das Gefühl zu fallen vibrierte noch immer durch seinen Körper, ließ ihn zittern. Bemüht langsam atmete er ein und aus, fuhr sich durchs Haar und erstarrte, als er sich umsah. Wo war er? Das fensterlose Zimmer war klein, nicht mehr als eine Kammer, kahl bis auf das Bett, auf dem er saß. Eine flackernde Kerze bot nur spärliches Licht und der einzige Ausgang schien eine Tür ihm direkt gegenüber zu sein. Unter seinen tastenden Fingerspitzen fühlte sich die Matratze unangenehm rau an, jegliches Bettzeug fehlte, nur das Bettgestell aus schwarzem, verschnörkeltem Metall verlieh dem tristen Raum einen Hauch von Eleganz. Zögerlich schob er die Beine über die Bettkante und runzelte die Stirn, als ihm bewusst wurde, dass er in Straßenkleidung geschlafen hatte. Sogar seine Schuhe hatte er noch an. Seltsam.   „Wie bin ich hierhergekommen?“, wisperte er und hielt sich den Kopf. Ein beständiges Pochen hinter seinen Schläfen machte ihm das Denken schwer. Langsam erhob er sich, musste kaum einen Schritt tun, um die Tür öffnen zu können. Mit angehaltenem Atem trat er nach draußen, Sonnenlicht blendete ihn. Er verzog das Gesicht, schirmte seine Augen ab, die sofort zu tränen begonnen hatten. Nur langsam gewöhnte er sich an die Helligkeit, doch als er seine Umgebung erkennen konnte, entkam ihm ein erstaunter Laut. Anders als in der Kammer spannte sich die Decke weit über ihm, der Boden bestand aus hellen Steinplatten. Ihm gegenüber zog sich eine lange Reihe hoher Fenster, die den Blick auf einen hübsch angelegten Park freigaben, der, so schätzte er, in einen Wald überging. Die Welt vor seinen Augen verschwamm nach einigen Metern und ließ ihn vermuten, dass er eine Brille brauchte, um richtig sehen zu können. Eigenartig. Warum fühlte sich diese Erkenntnis so neu an? Er trat näher an eines der Fenster heran, legte die Hand an die kühle Scheibe und blinzelte verwundert, als ihm die Gitter davor auffielen, die ihn beinahe an das verschnörkelte Bettgestell erinnerten. Sie schienen aus demselben Metall gemacht, auf ähnliche Art und Weise verziert. Sein schneller gewordener Atem ließ das Glas beschlagen, auf dem sich Eiskristalle formten.   „Was?“ Seine Stimme zitterte, als irrationale Furcht in ihm aufstieg, ihm das Atmen schwer machte. Das Glas unter seinen Fingern war plötzlich eiskalt geworden, der Kontakt schmerzte. Mit einem zischenden Laut zog er seine Hand zurück, starrte auf seine Fingerkuppen, die rot und roh aussahen. „Was geht hier vor?“ Ängstlich sah er sich um, als er hören konnte, wie sich der Frost von diesem Fenster aus über die ganze Reihe zu ziehen begann. Der Gang schien zu jeder Seite im Nichts zu enden, zwei Mäuler aus undurchdringlichem Schwarz. Aber das war es nicht, weshalb ihm ein erstickter Schrei entkam, nein, es war das Wort, das sich aus den Eisblumen formte.   GEFANGEN   Er stolperte, tastete hinter sich, den Blick starr auf die Buchstaben gerichtet, bis er die Tür zur Kammer unter seinen Fingern spürte. Er wollte zurück, wusste mit unumstößlicher Sicherheit, dass er in diesem kleinen Raum geschützt sein würde – doch der Knauf drehte sich nicht. Er wirbelte herum, zog und zerrte daran, ohne Erfolg.   „Was? Nein!!“, schrie er, „lass mich rein. Was soll das?“ Obwohl ein Teil in ihm wusste, dass er überreagierte, konnte er gegen die Panik nicht ankämpfen. Er ließ die Tür und den Schutz zurück, den sie ihm in dieser unbekannten Umgebung bot, und begann zu rennen. Dutzende Fenster flogen an ihm vorbei, während sich die weiße Wand zu seiner Rechten nie veränderte. Keine Tür, keine Abzweigung, nichts, nur immer wieder das Wort auf den Scheiben, das ihn verfolgte.   Plötzlich trat er ins Leere, hatte die Treppe übersehen, die nach unten führte. Er schrie, versuchte, sich am Geländer festzuhalten, aber sein Schwung war zu groß. Er stürzte, prallte mit Händen, Knien und Hüfte gegen die harten Stufen und schaffte es nur mit Mühe, seinen Kopf vor dem Gröbsten zu schützen. Als sein Fall endete, blieb er keuchend liegen, spürte den kalten Steinboden unter seinem Rücken. Stöhnend zog er die Beine an, drehte sich zur Seite und stemmte sich zum Sitzen nach oben. Schwindel und Übelkeit überkamen ihn, die er mit bemüht ruhigen Atemzügen zu vertreiben versuchte. Es dauerte ewig, bis er auf die Beine kam und noch einmal so lang, bis sich seine Verwirrung soweit gelegt hatte, dass er seine Lage analysieren konnte. Er wusste nicht, wo er war oder wie er hierhergekommen war. Die Halle, in der er gestrandet war, war riesig, erinnerte ihn an die Empfangshalle eines alten Herrenhauses. Die hölzerne Treppe hatte einen Zwilling auf der anderen Seite des Raums, schwere Bilderrahmen säumten die Wände. Aber das, was seine Aufmerksamkeit fesselte, als er sich umdrehte, war das doppelflügelige Portal am gegenüberliegenden Ende des Saals. Ohne einen Moment zu verschwenden, rannte er darauf zu, umfasste den Griff und zog mit aller Macht. Nichts. Die Tür bewegte sich nicht.   „Nein!“ Diesmal überwog die Wut, als er mit beiden Fäusten gegen das dunkle Holz hämmerte. „Ich will hier raus!“, schrie er, doch nichts tat sich. Am liebsten hätte er sich zusammengekauert und geweint, nur um seinem Frust Luft machen zu können. Stattdessen zwang er sich, tief durchzuatmen, und sah sich um. Irgendwo musste es einen Ausgang geben, und wenn ihm der Offensichtliche verschlossen blieb, würde er einen anderen finden. Zu seiner Linken führte ein schwach beleuchteter Gang von der Halle weg. Ihm war nicht wohl, als er sich in Bewegung setzte, aber dieser Weg war so gut wie jeder andere. Steinplatten wichen dickem Teppich, der seine Schritte verschluckte. In der ihn umgebenden Stille hörten sich seine Atemzüge unheimlich laut an. Er fröstelte, obwohl es nicht kalt war, während der Gang ihn immer tiefer ins Innere des Herrenhauses lotste. Wer bitte baute einen solchen Korridor? Schmucklos, ohne Abzweigungen?   Er erschrak fürchterlich, als sich neben ihm etwas bewegte, doch der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Ein Spiegel hing dort, nichts weiter, aber so unerwartet, dass er einen Moment brauchte, um zu begreifen, was er sah. Langsam näherte er sich, betrachtete den jungen Mann, der ihm aus mandelförmigen Augen entgegensah. Die Angst stand ihm deutlich ins blasse Gesicht geschrieben und das Hellbraun seiner nackenlangen Haare wirkte so unnatürlich, dass es gefärbt sein musste. Ungläubig strich er sich über die Wange, das Spiegelbild tat es ihm gleich. Er kam noch näher, die Spiegelung kritisch musternd. Das Gesicht, das ihm entgegensah, war hübsch, feminin, wenn man so wollte, und ihm vollkommen unbekannt. Mit geweiteten Augen starrte er in den Spiegel, konnte nicht fassen, was ihm soeben bewusst geworden war. Er erkannte den Mann nicht, der seinen Blick erwiderte, wusste nicht, wer er war.   „Wer bin ich?“ Er sah, wie seine Lippen sich bewegten, wie eine Träne über seine Wange rann. Er fühlte die feuchte Spur auf seiner Haut, die der Tropfen dort zurückließ. „Wie ist mein Name?“ In Gedanken sagte er das Alphabet auf, hoffte, die Erinnerung würde kommen, wenn er nur den richtigen Buchstaben fand, doch die Unwissenheit blieb. Im silbernen Rahmen des Spiegels begannen sich Worte abzuzeichnen, die er las, ohne es wirklich zu wollen.   AUF IMMER UND EWIG.   „Oh, Gott, was passiert hier?“ Er verbarg das Gesicht hinter den Händen, drehte sich vom Spiegel weg, weigerte sich, noch einmal hineinzusehen. Langsam ging er den Korridor weiter entlang, versuchte, an nichts zu denken, um seiner Panik nicht noch mehr Zündstoff zu geben.   Als sich vor ihm erneut die Umrisse einer Tür abzeichneten, wusste er nicht, ob er sich freuen oder fürchten sollte. Dennoch zögerte er nicht, die Messingklinke herunterzudrücken, und war beinahe erstaunt, als das Holz ohne Widerstand nachgab. Wärme und der vertraute Geruch von Leder und altem Papier schlugen ihm entgegen. Zum ersten Mal, seit er in diesem Albtraum erwacht war, tat sein Herz einen freudigen Sprung. Staunend betrat er den weitläufigen Raum, wusste nicht, wohin er zuerst sehen sollte. Schwere Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, im Kamin brannte ein Feuer und Bücher reihten sich in Regalen aus Mahagoniholz bis unter die Decke. In der Mitte des Raumes stand ein Sekretär, auf dem neben einer Schreibmaschine einige aufgeschlagene Bände lagen. Am liebsten hätte er vergessen, was ihn hierher geführt hatte und seiner Neugierde freien Lauf gelassen – aber wenn er seit seinem Erwachen eines gelernt hatte, dann, dass er nie grundlos etwas Neues entdeckte. Nicht die Fenster, nicht den Spiegel und vermutlich auch nicht diese Bibliothek. Zögerlich ging er auf den Sekretär zu und sah auf das Papier in der Schreibmaschine hinab. Er rechnete fest damit, auch dort eine kryptische Botschaft vorzufinden, aber das Blatt war unbeschrieben. Er atmete erleichtert aus, doch das Gefühl war nur von kurzer Dauer, als ein Buch aus dem Regal zu seiner Rechten fiel und ihn zu Tode erschreckte.   „Himmel.“ Er presste eine Hand gegen sein wild pochendes Herz, starrte auf den dicken Folianten herab, ehe er sich näherte. Zögerlich ging er in die Knie, zog den schweren Band in seinen Schoß und betrachtete die dicht beschriebenen Seiten. Die Buchstaben waren so klein, dass sie kaum zu entziffern waren, bis ihm auffiel, dass der Text in einer Sprache geschrieben war, die er nicht verstand. Nur drei Worte stachen ihm ins Auge.   IN DEINEN GEDANKEN.   Ruckartig erhob er sich, sodass das Buch auf den Boden rutschte und verharrte einen Moment unschlüssig, bevor er sich abwandte. Was hatte das alles zu bedeuten? Er ging zu den Vorhängen und schob einen beiseite, um hinaussehen zu können. Die Welt hinter der Scheibe lag in vollkommener Dunkelheit. „Wie kann das sein?“ Ohne darüber nachzudenken, tippte er gegen sein linkes Handgelenk und wunderte sich für einen Moment, warum er seine Smartwatch nicht trug, ehe seine Augen sich weiteten. Er erinnerte sich.   Es war dunkel gewesen, der Wind hatte ihm den Regen in die Augen getrieben. Er war mit dem Rad unterwegs, hatte es eilig gehabt. Reifen hatten gequietscht, ein grelles Licht hatte ihn geblendet. Ein dumpfer Schlag hatte ihn durch die Luft gewirbelt, Schmerz war in seinem Körper explodiert, bis undurchdringliche Schwärze ihn eingehüllt hatte.   Er schnappte nach Luft, eine Hand gegen seine Wange gepresst, die zu schmerzen begonnen hatte. Als er seine Finger zurückzog, waren sie rot von Blut. „Oh, Gott, was geschieht mit mir?“   Ein dumpfes Dröhnen ließ die Fenster klirren. Er stolperte zurück, sein gehetzter Blick schoss durch den Raum, aber die Quelle des Lärms blieb ihm verborgen. Plötzlich erwachte die Schreibmaschine mit ratternden Tasten zum Leben. Mit schreckgeweiteten Augen sah er auf das Papier, auf das einzige Wort, das sich wie an einer Perlenschnur aufgereiht darüber zog:   LAUF!   Kopflos rannte er aus der Bibliothek. Das Wort verfolgte ihn, zeichnete sich in blutroten Linien auf der weißen Wand des Korridors ab. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte, die Wände zu seinen Seiten blähten sich auf und zogen sich wieder zusammen, als würde das Haus atmen. Wieder hörte er das Dröhnen, ein rhythmisches Pochen wie ein Herzschlag.   „Lauf! Dreh dich nicht um“, riefen ihm körperlose Stimmen zu.   Vor sich sah er den Spiegel, sah das Gesicht, das er nicht erkannte, daraus hervorbrechen, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Er kniff die Augen zusammen, streckte beide Hände vor sich aus und stolperte blind den Gang entlang, bis der Teppich steinernen Fliesen wich und seine Schritte laut in der Eingangshalle widerhallten. Er ignorierte die Pforte, stürzte stattdessen auf die Treppe zu, die ihn zurück zu seiner Kammer führen würde. Die Holzkugeln, die das Treppengeländer verzierten, bewegten sich, formten sich zu Köpfen, zu Mündern, die ihn anschrien. Hände brachen aus den Wänden hervor, versuchten, nach ihm zu greifen. Er schrie, schlug um sich, verlor das Gleichgewicht, als das ganze Haus wie unter einem Schlag erneut erbebte.   „Dreh dich nicht um. Lauf!“   Er rappelte sich auf, presste beide Hände auf seine Ohren und keuchte, als ein stechender Schmerz durch seine Seite zuckte. Er spürte das Blut, das durch den Stoff seines Oberteils sickerte.   Als er im oberen Stockwerk ankam, brannte seine Lunge, trotzdem lief er weiter. Der Flur lag in fast vollkommener Dunkelheit und so streckte er die linke Hand aus, um die Tür fühlen zu können, bevor er an ihr vorbeilaufen würde. Ein schluchzendes Lachen huschte über seine Lippen, als seine Finger den kühlen Knauf ertasteten, doch so sehr er auch daran rüttelte, er bewegte sich nicht.   „Bitte, geh auf“, wimmerte er, „geh auf.“ Das Türblatt vor ihm wölbte sich nach außen, blähte sich auf, bis er sich einer albtraumhaften Fratze gegenübersah.   „Du entkommst uns nicht.“   Schreiend wich er zurück, spürte den Boden unter seinen Füßen beben, als würden sich schwere Schritte nähern. Erneut rannte er, auch wenn er nicht wusste, wohin. Nur weg. Weg von den Stimmen, weg von dem unbekannten Etwas, das ihn verfolgte.   Vor ihm leuchtete ein kreisrundes Objekt, das immer größer wurde. Die Wände um ihn herum atmeten, der ohrenbetäubend laute Herzschlag vibrierte durch seinen Körper und plötzlich stand er im Auge des Hauses, blickte nach draußen:   Ein Krankenzimmer, zwei Menschen, die ihm schmerzlich vertraut waren.   „Reita? Aoi? Helft mir!“ Er presste seine blutigen Hände gegen das Glas, hämmerte dagegen, aber niemand konnte ihn hören. Eine Wunde auf seiner Stirn öffnete sich, warmes Blut lief ihm in die Augen, ließ seine Sicht hinter einem roten Schleier verschwimmen.   Plötzlich wurde alles still, nur ein warmer Hauch kitzelte über seinen Nacken, als eine raue Stimme wisperte: „Gefangen auf immer und ewig in deinen Gedanken.“   Sein Schrei hallte von den Wänden wieder, als er herumwirbelte und in sein eigenes, zerstörtes Gesicht sah. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)