Die Wölfe 3 ~Der Pianist des Paten~ von Enrico (Teil III) ================================================================================ Kapitel 25: ~Enricos Zuflucht~ ------------------------------ Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit mich aus meinen Gedanken zu lösen und meine Umgebung wieder wahr zu nehmen. Als ich mich umschaue, bin ich weder in der Schrottpresse, noch in Vincents Apartment. Es ist mein Zimmer in unserer Fabrik, wo ich mich auf dem Boden sitzend wiederfinde. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt und die Beine eng an den Körper gezogen, starre ich auf meine Knie. Der Stoff meiner Hose ist überall nass, ebenso wie mein Gesicht und meine Arme. Mit dem Handballen wische ich mir die letzten Reste meiner Tränen von den Wangen. Meine Augen brennen entsetzlich und ich fühle mich schlapp und ausgelaugt. Doch trotz der Müdigkeit in meinem Körper, fühle ich eine solche Unruhe in mir, dass ich mich nicht einfach ins Bett legen und schlafen kann. Das Toni nicht hier ist, irritiert mich zusätzlich. Habe ich ihn so vor den Kopf gestoßen, dass er nicht versucht mir über das Vordach nachzukommen? „Seltsam…“, murmle ich und kämpfe mich auf die Beine. Ob er wohl auf dem Dach wartet, bis ich mich wieder beruhigt habe? Ab und an ist das seine Taktik. Ich laufe am Bett vorbei zum Fenster und öffne es. Mit den Armen stütze ich mich auf dem Rahmen ab und schaue über das Dach, doch auch hier ist er nicht. Dafür kann ich seine und Anettes Stimmen hören. Die beiden unterhalten sich? Das ist mehr als ungewöhnlich. Bisher haben sie doch nur miteinander gesprochen, wenn es gar nicht anders ging. Was sie sagen, kann ich nicht verstehen, dafür sind ihre Stimmen zu leise. Irritiert davon steige ich auf das Vordach und schleiche mich zum Fenster des Nachbarzimmers. Als ich durch die Scheibe in den Raum blicke, liegt Toni auf seinem Bett und hat den Oberkörper in Anettes Schoß liegen. Während sie ihm über den Kopf streichelt, laufen ihm Tränen über die Wangen. Er sieht fertig aus, seine Haut ist weiß, nur auf seinen Wangen und in seinen geröteten Augen, ist etwas Farbe. Bei dem Anblick der beiden wird mir schmerzlich bewusst, dass es Toni nicht besser ergangen ist als mir und er schon wieder die ganze Zeit für mich stark sein musste. Seine Schwäche habe ich kaum wahrgenommen, dabei ist er vergiftet und gebissen worden. Doch anstatt für ihn da zu sein, renne ich vor ihm weg. Meine Schultern lasse ich hängen und seufze tief. Ich bin wirklich kein guter Freund und ein noch beschissenerer Partner. Vielleicht ist es ja gut so, dass Anette sich seiner angenommen hat. Ich bin gerade keine Stütze und in Zukunft muss ich ohnehin den Ehemann für Judy spielen, dann ist es sicher gut, wenn er auch eine Freundin hat. Ermattet wende ich mich vom Fenster ab und lehne mich mit dem Rücken gegen das Mauerwerk. Meinen Blick lasse ich über die Mauern unserer Fabrik hinweg über die Skyline der Stadt schweifen. So sehr ich mir die Situation gerade auch schönzureden versuche, so sehr schmerzt sie mich auch. Das ist nicht dass, was ich vom Leben möchte und auch nicht das, wofür ich diesen Tag überlebt habe und je länger ich hier so stehe und ihren leisen Stimmen zuhöre, umso mehr fühle ich mich hier fehl am Platz. Irgendwann wird dieses Gefühl so erdrückend, dass sich meine müden Beine wie von selbst in Bewegung setzen. Ich laufe bis zum Rand des Daches und springe dann an ihm herab. Der Schmerz beim Aufkommen auf die Steinplatten am Boden, die den Weg vor der Fabrik markieren, spüre ich nur beiläufig, ist er doch nichts im Vergleich zu dem, was ich in mir spüre. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zwinge ich mich wieder aufzurichten, dann stopfe ich die Hände in die Taschen meiner Anzugshose. Gedankenverloren beginne ich dem Weg zu folgen, ohne aufzuschauen. Wohin ich dabei gehe, dringt nicht in mein Bewusstsein. Ich nehme nicht mal Alpha und Omega wahr, die mir bis zum Tor folgen. Auch wie ich durch die Stäbe hindurch schlüpfe und das Grundstück verlasse, geht beinah unbemerkt an mir vorbei. Ich setze einfach nur einen Fuß vor den anderen und folge der Spur aus Bodenplatten und Pflastersteinen, die den Fußweg markieren. Irgendwann stehe ich vor der Tür eines Hauses irgendwo in einem Hinterhof. Über ihr leuchtet ein Reklameschild. Ich schaue hinauf und lese die Buchstaben: „Pussycat Deluxe“ Eriks Bordell? Wie bin ich denn hier her gekommen? Als ich den Blick langsam wieder sinken lasse, schaut mich ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen Anzug fragend an. Maik ist also heute als Türsteher und nicht an der Bar eingeteilt? Ist Viktor mal wieder verprügelt worden und deswegen nicht hier? „Du siehst nicht gut aus!“, sagt Maik feststellend. „Hatte einen beschissenen Tag…“, erkläre ich kurz angebunden und trete einen kleinen Stein beiseite. Während ich ihm mit den Augen folge und dabei zusehe, wie er zwischen den Schlitzen eines Gullideckels verschwindet, erwidert Maik: „Nun, genau für solche Tage ist dieser Club eröffnet wurden.“ Der große Mann tritt einen Schritt bei Seite und lächelt mich freundschaftlich an. Ich zwinge mir ein aufgesetztes Lächeln ins Gesicht und komme der stummen Aufforderung nach. Dieser Ort ist genau so gut wie jeder andere auch, warum die Zeit bis zum Sonnenaufgang nicht hier verbringen? Ohne wirklich aufsehen zu müssen, finde ich den Weg vorbei an den runden Ledersofas mit den Tischen in der Mitte, vorbei an den leicht bekleideten Damen und den feinen Herrn in ihren Anzügen. Ab und an kann ich einen Blick auf mir spüren, hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, dass ich doch noch etwas zu jung für diesen Club sei. Ich beschleunige meine Schritte, bis ich die Bar erreiche, nicht das mich noch jemand versucht aufzuhalten. Als ich sie erreiche, lasse ich mich auf einem der Hocker nieder. Erik ist es, der heute dort bedient. Er füllt gerade ein leeres Glas mit einer gelben Flüssigkeit. Sie schäumt weiß auf und bildet Wassertropfen an der Außenseite, so kalt scheint dieses Getränk zu sein. Als die Schaumkrone den Rand des Glases erreicht hat, schiebt er es einem Gast zu. Ein alter Herr in einem grauen Anzug, der mich eben so forschend mustert, wie die Kerle, deren Blick mir bis hier her gefolgt sind. Ich versuche ihn zu ignorieren und bitte Erik: „Kannst du mir auch was machen? Irgendwas Starkes, womit man alles vergisst?“ „Sieh mal einer an, das Wunderkind höchst persönlich. Du warst schon eine ganze Weile nicht mehr hier. Was verschafft mir denn die Ehre?“, will Erik wissen und lässt seinen Blick forschend über mich schweifen. Eine Spur Sorge meine ich in seinem Blick zu lesen, als ihm die blauen Flecken an mir aufzufallen scheinen. Was er mit Wunderkind zu sagen versucht, verstehe ich nicht und es ist mir auch egal. „Vergessen! Sagte ich doch schon!“, murre ich und krame in meiner Hosentasche herum. Doch da ich diese Hose von Robin bekommen habe, werde ich nicht fündig. Verflucht! Ich murre genervt und lege beide Arme auf dem Tresen ab. Nicht mal besaufen kann ich mich. Dabei scheinen Erwachsene das immer zu tun, wenn sie Probleme haben. Das hätte ich gerade auch gern probiert. „Blank?“, fragt Erik mich. „Ja, mal wieder…“, gebe ich kurz angebunden zu. Meine Geldbörse ist ebenso wie meine Klamotten bei Vincent zurückgeblieben und dass Geld das Judy uns dagelassen hat, sollte ich nicht hier verschwenden. „Ich hätte dir auch keinen Alkohol verkauft, du bist zu jung“, lässt Erik mich wissen. Ich murre in mich hinein. „Tue doch nicht immer so gesetztes treu!“, maule ich. Erik schmunzelt in sich hinein. „Na gut, für dich hätte ich vielleicht eine Ausnahme gemacht“, schiebt er nach. Ich betrachte ihn kritisch. In seinen Mundwinkeln liegt etwas verschlagenes. „Für den doppelten Preis, oder?“, frage ich, meine ich den Kerl und seine Methoden doch inzwischen zu kennen. „Dreifach, wir sind ja immerhin Freunde“, antwortet er und lacht. „Du bist mir keine Hilfe!“, erwidere ich und bette mein Kinn auf den übereinander geschlagenen Armen. Erik betrachtet mich einen Moment prüfend, dann geht sein Blick über mich hinweg. Er fixiert etwas, dass sich hinter mir befinden muss, dann wandern seine Augen wieder auf mich herab. „Wenn du Geld brauchst, wie wäre es dann mit einem Job?“, will er wissen. „Ich bin nicht im Dienst und wenn ich es wäre, müsstest du vorher Aaron fragen“, erinnere ich ihn. „Nein, mit so was habe ich nichts am Hut, ich meine was anderes“, erwidert er. Wieder betrachte ich ihn kritisch, doch dieses Mal fehlt der verschlagene Ausdruck in seinen Augen. Er meint es ernst. Erik hat tatsächlich einen Job zu vergeben, der Geld einbringt. Wenn ich darauf eingehe, dann hätte meine Anwesenheit hier wenigstens einen Sinn, also frage ich: „Na schön, was soll ich tun?“ „Ich habe läuten hören, du wärst ein begabter Pianist. Mein halbes Personal liegt heute mit Grippe flach. Selbst einen Großteil der Mädels hat es erwischt. Die Band, die heute auftreten wollte, hat auch abgesagt und mein Barkeeper muss den Türsteher spielen, weil Viktor letzte Nacht aufs Maul bekommen hat. Die Stimmung ist auf einem Tiefpunkt!“ Erik sieht sich in seinem Lokal um und ich tue es ihm gleich. Tatsächlich sind nur wenige Gäste da und die sehen gelangweilt den Nutten in ihrem Schritt bei ihrer Arbeit zu. Der schwarze Flügel vor der Bühne ist stumm. Nicht mal die Stangen sind heute besetzt, an denen die Frauen sonst tanzen und auf der Bühne ist auch nichts los. Logisch, ohne Musik lohnt es sich nicht etwas aufzuführen und auch ein Stangentanz ist so nicht besonders reizvoll. „So lange ich nicht Mozart oder Beethoven spielen muss“, willige ich ein und drehe mich wieder nach Erik um. Der Barbesitzer schaut auf mich herab und lächelt amüsiert. „Glaubst du wirklich die alten Klassiker würden hier her passen?“, will er wissen. Nun muss ich auch schmunzeln. Sicher nicht! „Also darf ich spielen, was immer ich will?“ „Ja, lass hören, was die reichen Schnösel bei Aaron so erstaunt hat!“, fordert Erik. Das lasse ich mir nicht zwei Mal sagen. Musik, die ich spielen darf wie ich will, da sage ich nie nein! Ich rutsche vom Hocker und halte auf den Flügel zu. Sein Holz weist etliche Macken und Schrammen auf. Auf dem Deckel sind kreisrunde Wasserflecken in den Lack eingearbeitet. Der schützende Deckel über den Tasten hat einen Sprung in der Mitte. Na ob dieser Flügel wirklich gut klingen wird? Ich öffne den großen Deckel am Rücken und lege ihn in die Halterung ein, dann schaue ich ins Innere. Die Saiten sind alle gespannt, aber ob er auch gestimmt ist? Ich gehe zur Klaviatur und öffne auch dort den Deckel. Die weißen Tasten sind vergilbt. Kein Wunder, bei dem ständigen Zigarettenqualm hier. Auch sie sind zerkratzt und fleckig. „Du könntest den echt mal sauber machen!“, rufe ich Erik zu und wische die Brotkrümel von dem Hocker, der vor dem Flügel steht. Sein schwarzes Leder ist rissig, ich kann die Füllung herausquellen sehen. Großartiges Arbeitswerkzeug! „Du bist hier nicht im Ritz! Wir sind eine anständige Bar!“, ruft Erik mir zu. Seine Worte lassen mich schmunzeln, fühle ich mich hier doch trotz all der Mängel deutlich wohler, als bei Aaron in seinem fein geputzten Palast. „Ja und das ist auch gut so!“, antworte ich und setze mich auf den Hocker. Ich spiele die Tasten der Reihe nach an und muss schon beim Zweiten und Dritten das Gesicht verziehen, so schief klingen sie. Auch das C in der Mitte der Klaviatur stimmt nicht. „Aber stimmen könntest du ihn mal wieder!“, murre ich nach hinten. „Ach wirklich, das kannst du hören? Ist mir nie aufgefallen“, will Erik wissen und kommt um die Bar herum gelaufen. Langsamen Schrittes hält er auf mich zu. Als er bei mir ankommt und mir seinen Arm auf die Schulter legt, drücke ich eine Taste immer wieder, doch sie erzeugt keinen Ton. Anklagend schaue ich Erik dabei an. „Das die kaputt ist, ist dir nicht aufgefallen?“, frage ich skeptisch. „Ja gut, das sollte ich mal reparieren lassen. Bekommst du trotzdem was auf dem Baby zu stande?“, will er wissen. Ich probiere noch etwas herum. Der Rest funktioniert wie er soll. Ich muss nur bei dem C in der Mitte aufpassen, ist das doch zu einem D geworden. „Ja, aber erwarte keine Konzertqualität“, antworte ich und lege beide Hände auf die Tastatur. „Lass einfach mal hören!“, erwidert er. Ich atme einmal tief durch und schließe die Augen. Dabei versuche ich alles um mich herum auszublenden. Wer hier sitzt und zuhört spielt ohnehin keine Rolle. Hauptsache ich werde all diesen Mist los, der mir auf der Seele liegt. Das hat bei Aarons Klavier auch gut funktioniert, warum sollte das hier nicht ebenfalls klappen? Ich beginne zu spielen. Wie immer fange ich dabei mit dem Lied an, das Toni komponiert hat. Die Melodie ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass meine Finger sie auch aus der Kalten spielen können. Der vertraute Klang gibt mir Sicherheit und lässt meine Hände warm werden. Ich unterlege sie mit neuen Rhythmen und schmücke sie immer weiter aus. Schneller und ausgefallener wird das Musikstück dabei, nur das C das nun ein D ist, ist immer wieder im Weg und lässt mich ab und an das Gesicht verziehen, wenn ich sie fälschlicher Weise treffe. „Hervorragend! Das wird gut werden“, sagt Erik zufrieden. Seine Worte lassen mich wieder aufschauen. Ist das sein Ernst? Das bisschen reicht schon, um ihn zufrieden zu stimmen? Er klopft mir auf die Schulter und wendet sich den Frauen zu, die sich nah der Bühne und am Tresen aufhalten. Einige Male klatscht er in die Hände. „Na los! Bewegung! Bringen wir endlich wieder Leben in diese Bude!“, weißt er sie an. Einige der Frauen gehen zu den Stangen, die sich durch die Bar verteilen, bis nur noch eine frei ist. Zwei andere steigen auf die Bühne und beginnen dort aufreizend im Takt der Musik zu tanzen. Eine der leichtbekleideten Frauen kommt zu mir. Sie ist die einzige, mit der ich mich bisher unterhalten habe und die ich deutlich besser kenne, als mir lieb ist. Darla wuschelt mir durch die Haare und beugt sich dabei zu mir hinab. „Danke“, flüstert sie mir zu, „Die Bar ist seit zwei Tagen fast leer. Jetzt können wir vielleicht wieder etwas verdienen“, sagt sie und geht zur letzten freien Stange. Während sie mir zuzwinkert, beginnt sie sich an ihr zu räkeln. Ihre Worte lassen mich lächeln, empfinde ich mich doch gerade nicht mehr als überflüssige Belastung. Meiner Musik gebe ich etwas Anstößiges, das Rhythmus hat, um die Bewegungen der Frauen damit zu unterstützen. Das nutzen sie auch sofort, um sich noch auffälliger zu präsentieren. Die Männer im Raum erwachen aus ihrem Desinteresse und schauen sich um, lauschen der Musik oder suchen sich eine der Frauen aus. Die Tür der Bar öffnet sich. Ein Mann mittleren Alters steckt den Kopf durch den Rahmen und wird vom Klang der Musik hereingelockt. Es dauert nicht lange, bis ihm weitere folgen. Das Musik so eine Wirkung haben kann, ist mir bisher nicht bewusst gewesen und schon gar nicht, dass ich dazu in der Lage bin, so etwas zu produzieren. Irgendwann stört mich nicht mal mehr die Aufmerksamkeit, die sich immer wieder zu mir verirrt. Selbst das Getuschel und die Fragen, die sich an Erik richten, wer ich denn sei, fangen irgendwann an mir zu gefallen, fühle ich mich doch auf einmal wichtig und besonders. Meinem Klavierspiel verleihe ich noch mehr Tiefe und Lautstärke. Von den Bewegungen der schönen Frauenkörper lasse ich mich inspirieren und sehe ihnen gespannt dabei zu, wie sie sich von meiner Musik führen lassen. Seit langem fühle ich mich bei dem, was ich tue, wirklich wohl und ganz gleich wie müde meine Finger mit der Zeit auch werden, ich kann einfach nicht aufhören zu spielen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)