Die Wölfe 3 ~Der Pianist des Paten~ von Enrico (Teil III) ================================================================================ Kapitel 5: ~Das Konzert~ ------------------------ Majestätisch erhebt sich das Anwesen vor Judy. Zwei Stockwerke hoch, mit einem großen Balkon in der Mitte, rechts und links zwei Türme mit spitzem Dach. Judy atmet tief durch, sie greift nach der Maske. Obwohl sie nicht verrutscht ist, fühlt sie sich nicht sicher hinter ihr. Die Hunde im Zwinger haben sie längst erkannt. Aufgeregt laufen sie hinter den Gitterstäben auf und ab und wimmern kläglich. Die erste Stufe der Steintreppe hat Judy betreten, zu mehr fühlt sie sich nicht in der Lage. Der Vater wird sie ganz sicher erkennen. Als wenn er glauben wird, dass sie nur eine Freundin von Robin ist. Es ist ein Fehler gewesen hier her zu kommen. Die Schwester steht hinter ihr, ihre Hand liegt auf Judys Schulter. „Nur keine Sorge. Ich habe ihm gesagt, dass du nicht kommen wirst“, flüstert sie. Judy runzelt die Stirn. „Wer‘s glaubt …“ Wenn der Ehrengast des Abends nicht erscheint, was hätten die Gäste dann für einen Grund so zahlreich zu erscheinen? Wieder halten Kutschen und Fahrzeuge hinter ihnen. Ein Strom an Gästen kommt den weißen Kiesweg hinauf. Sie alle sind festlich gekleidet und wirken ausgelassen. Mit Masken im Gesicht, kann Judy nur die wenigsten von ihnen identifizieren. Sicher alles Geschäftsfreunde ihres Vaters, mit denen hat sie schon als Kind nichts anfangen können. Die Tür des Anwesens steht weit offen. Der Butler empfängt jeden Gast mit einem Kopfnicken und nimmt ihnen die Mäntel und Jacken ab. Immer wieder schaut er Judy an. Seine braunen Augen scheinen ihre Maskerade zu durchschauen, ein wissendes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Dem Mann hat sie noch nie etwas vormachen können. Er weiß es, ganz sicher. Robins Hand wandert in Judys Rücken, mit sachtem Druck schiebt sie sie die Treppe hinauf. „Wehe du kneifst jetzt“, flüstert sie, „Wir haben Stunden für dein Make-up und die Haare gebraucht – das soll nicht umsonst gewesen sein.“ Judy gibt dem Drängen nur wiederwillig nach. Als die Treppe hinter ihnen liegt bleibt sie stocksteif stehen. Jester hält die Hand auf. „Junge Lady…?“, sagt er betont langgezogen. So hat er sie früher schon immer genannt. Keinen der anderen Gäste hat er so begrüßt. Judy macht auf dem Absatz kehrt, sie will gehen doch die Schwester steht ihr im Weg. Robin schaut sie eindringlich an. „Ich kann das nicht!“, sagt Judy. Robin legt ihr beide Hände auf die Schultern. „Doch, du kannst! Außerdem, schau mal da hinten!“ Sie hebt den rechten Arm, mit ausgestrecktem Zeigefinger deutet sie ins Innere des Anwesens hinein. Judy schaut über die Schulter zurück, vorbei an all den Gästen, durch den Flur hindurch bis zur Treppe die in den ersten Stock führt. Unter all den Menschen ist nur einer nicht maskiert. Ein junger Mann in einem schwarzen Smoking. Das Jackett trägt er offen, über dem weißen Hemd fehlt die Krawatte. Seine kurzen blonden Haare sind heute frisiert und nicht so wüst wie sonst. Ein Lächeln liegt in seinem schönen Gesicht, beinah glaubt Judy trotz der Entfernung die eisblauen Augen leuchten zu sehen. Ihr Herzschlag erhöht sich, was sie tun und sagen wollte ist ihr entfallen. Als Robin sie weiter schiebt, betritt sie das Anwesen. Während sie ihren Blick nicht von dem jungen Mann abwenden kann, nimmt Robin ihr das Seidentuch von den Schultern und reicht es Jester. Der Butler und sie tauschen vielsagende Blicke. Judy achtet nicht auf sie. Im Geiste sucht sie die richtigen Worte, mit denen sie Enrico ansprechen und was sie ihn fragen könnte. Ihre Füße laufen von allein den bekannten Weg durch den Flur, vorbei an den Gästen und der Anrichte mit den goldenen Aufschlägen, vorbei auch an dem Schemel mit der großen Vase, in der ein prächtiger Strauß Blumen blüht. Sie hat ihren Schwarm fast erreicht, als ein breitschultriger Mann die Treppe herab kommt. Seine Schritte sind fest und seine Haltung angespannt. „Vater …“, haucht Judy und bleibt abrupt stehen. Ein Stich fährt ihr durchs Herz, sie fasst sich an die Brust und tritt hinter die Vase. Eine der Blumen biegt sie herab, um an dem Blätterwerk vorbeisehen zu können. Die Haare des Vaters sind am Ansatz ergraut, seine Stirn ist in Falten gelegt, die buschigen Augenbrauen hat er tief ins Gesicht gezogen. In der Hand hält er eine Krawatte mit der er vor Enrico stehen bleibt. Ärgerliche Worte richtet er an ihn und deutet auf das weiße Hemd des jungen Mannes. Unablässig schimpft er, während er die Krawatte schwenkt. Der junge Mann wirkt neben ihm wie ein Kind. Enrico rollt mit den Augen, die Wut Aarons ändert nichts an seiner aufrechten Haltung. Wiederwillig knöpft er die obersten beiden Knöpfe des Hemdes zu und reißt dem Paten die Krawatte aus der Hand. Das ruft Erinnerungen in Judy wach. Auch ihr hat der Vater immer wieder vorschreiben wollen, wie sie sich angemessen zu kleiden hat. Ein flüchtiges Schmunzeln huscht ihr über das Gesicht. Es tut gut, den Vater wohlauf zu sehen. Judy prüft seine Haltung und jede Bewegung. Alles ist flüssig, nichts deutet auf eine Verletzung hin. Auch im Gesicht des Vaters findet sie keine Anzeichen für Schlafmangel oder Sorgen. Obwohl er noch immer mit Enrico schimpft und dem Jungen dann hilft die Krawatte zu binden, erscheint er ihr viel zufriedener, als bei ihrer letzten Begegnung. Irgendetwas muss ihn verändert haben. Robin schiebt sich in ihr Sichtfeld, sie greift Judys Hand. „Na komm, wir gehen in den Salon. Wenn er dich hier wie ein scheues Reh hinter den Blumen sieht, erkennt er dich doch sofort.“ [align type="center"]…~*~…[/align] Wie ich das Tragen von Krawatten hasse! Auch das Hemd bis zum Kragen zu schließen ist eine unerträgliche Qual. Als Aaron endlich zufrieden ist, fahre ich mit dem Zeigefinger unter den Krawattenknoten und versuche ihn zu lockern. Der Pate schlägt mir auf die Hand. „Lass das gefälligst! Heute lasse ich dir deine Unsittlichkeiten nicht durchgehen.“ Ich rolle mit den Augen. Als wenn der feine Anzug darüber hinwegtäuschen könnte, dass ich nur ein Straßenkind bin. Unablässig betreten neue Gäste das Anwesen. Es sind so viele, dass ich längst den Überblick verloren habe. Keines der Augenpaare, die durch die Masken schauen, ist mir bekannt. Auch die übertrieben festliche Kleidung der Anwesenden lässt mehr an einen Ball am Königshofe als auf eine einfache Geburtstagsfeier schließen. Wieder kommt mir der Gedanke, dass diese Menschen nur das Beste vom Besten gewöhnt sind. Hier werden die teuersten Spirituosen und die edelsten Zigarren angeboten. Kaviar und auserlesene Früchte werden vom Dienstpersonal verteilt. Viele der angerichteten Speisen habe ich noch nie gesehen. Mir ist als wenn nicht nur die Krawatte und das Hemd mir die Kehle zuschnürt, sondern auch dieser verdammte Abend. „Hast du den Mittelteil noch mal geübt?“, fragt Aaron mich mit mahnendem Blick. Den ganzen Tag habe ich nichts anderes gemacht, aber wirklich besser bin ich nicht geworden. Meine Hände sind kalt und feucht. Ich öffne und schließe sie, sie fühlen sich taub an und krampfen. Wie soll ich so die richtigen Noten treffen? „Enrico! Ich habe dich etwas gefragt“, sagt Aaron ungehalten. Ich zwinge mich zu antworten: „Ja ich habe geübt, mir tun immer noch die Pfoten von dem verdammten Stück weh. Kann ich nicht was anderes spielen?“ Aarons Hand packt mich fest, seine Finger krallen sich in meine Schulter, tief sieht er mir in die Augen. Während er sich zu mir herabbeugt und mir ganz nah kommt, sagt er: „Du wirst heute einen umwerfenden Auftritt hinlegen und von deinem selbstkomponierten Geklimper will ich nichts hören. Haben wir uns verstanden?“ Sein Griff wird zunehmend fester. Schmerz flutet meine Schulter. Ich beiße die Zähne festaufeinander und sage: „Ja, schon gut. Reg dich wieder ab!“ Seine Hand versuche ich von mir zu lösen, doch er gibt mich nicht frei. Er dreht mich Richtung Salon. „Gut, dann Abmarsch!“ Mit der flachen Hand schlägt er mir hart in den Rücken. Ich stolpere einen Schritt nach vorn. [align type="center"]…~*~…[/align] Robin hat sich im Salon auf das Sofa gesetzt, sie klopft auf den leeren Platz neben sich. Judy schaut noch immer zur Treppe und ist sich nicht sicher, ob sie bleiben oder flüchten soll. Sie hat den Vater gesehen, es geht ihm gut, muss sie noch mehr wissen? Ihre Aufmerksamkeit wird von einem großen schwarzen Flügel eingefangen. Für gewöhnlich stand der immer in der Bibliothek. Die Bedienstet müssen ihn wohl hier runter geschleppt haben. Judy geht dicht an ihm vorbei. Sie streicht über das lackierte Holz. Als sie noch ganz klein war, hat sie auf dem Schoß des Vaters gesessen und ihm beim Spielen zugesehen. Seine Finger tanzten über die Tasten und erzeugten wunderbare Melodien. Für einen Moment sieht sie sich bei ihm sitzen, von seinen starken Armen gehalten. Es ist lange her, dass sie sich so sicher und geborgen gefühlt hat. Auch wenn sie es nicht gern zugibt, dass Leben außerhalb der schützenden Villa hat auch ihre Schattenseiten. Als Tochter des Paten hat sie schon mehr als einen Entführungsversuch hinter sich. Ohne die Bodyguards, die ihr der Vater hinterher schickt, wäre sie längst einen der unzähligen Feinde der Locos in die Hände gefallen. „Judy, komm setzt dich zu mir!“, sagt Robin. Judy ist wie aus einem Traum gerissen. In jedem Winkel dieses Anwesens wartet eine verdrängte Erinnerung auf sie. Es hatte schon seine Gründe, warum sie nicht hier her kommen wollte. Seufzend lässt die vom Flügel ab und geht zu ihrer Schwester. Neben sie setzt sie sich und schlägt die Beine übereinander. Die Arme verschränkt sie vor der Brust und wippt mit dem Fuß. „Ich bleibe nur um mir das Konzert anzuhören.“ Robin beugt sich zu ihr, ein verschlagenes Lächeln liegt in ihrem Blick. „Sicher? Und wenn er dich zum Tanz auffordert?“ „Sehr witzig. Wie soll er das denn als Pianist machen?“ „Wart’s ab!“ Robin rückt in eine gerade Haltung zurück, sie nimmt einem der Bediensteten ein Glas Sekt vom Tablett und nippt daran. Judy wird das Gefühl nicht los, dass Schwester und Vater noch deutlich mehr geplant haben. Besser sie verschwindet sobald sich eine Gelegenheit bietet. [align type="center"]…~*~…[/align] Direkt am Klavier zu sitzen macht mein Unwohlsein auch nicht besser. Mir ist so kalt, nicht mal das Feuer im Kamin zu meiner rechten kann daran etwas ändern. Ein imaginärer Kloss im Hals lässt mich immer wieder schlucken. Mit Blick auf die schwarz-weißen Tasten wird mir ganz flau im Magen. Ich hätte doch etwas essen sollen. Das leere Gefühl sticht unerträglich, mir ist schon ganz schlecht davon. Die aufmerksamen Blicke der Gäste machen es nicht besser. Überall diese Masken, wie in einem Horrortheaterstück. Was Aaron ihnen wohl über mich erzählt hat? Die denken doch sicher ich bin irgendein Wunderkind, das ihnen jetzt die große Show abliefert. So wie meine Hände zittern, werde ich ihnen nicht mal eine kleine liefern können. Ich lächle bitter. Unter all den Menschen hier erkenne ich nur Robin. Sie sitzt direkt vor dem Flügel auf dem Sofa. Als sich unsere Blicke treffen deutet sie mit einem Schwenk ihres Kopfs auf die junge Frau neben sich. Wir haben ein stummes Zeichen vereinbart, mit dem sie mir meine zukünftige Frau zeigen soll. Das junge Ding mit der verschlossenen Haltung ist also Judy? Mit der Maske und der neuen Frisur hätte ich sie nicht erkannt. Ich präge mir ihr Kleid mit der Blumenspitze und die weiße Maske mit den Sternen auf der linken Wange ein, um sie später unter den Gästen wiederfinden zu können. Aaron tritt in die Mitte des Raumes. Er hat ein Glas und einen Löffel in der Hand, die er klangvoll gegeneinander schlägt. Die Gespräche verstummen, alle Augen richten sich auf ihn. „Wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte!“, sagt er laut, „Es freut mich, dass Sie alle so zahlreich erschienen sind. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass unser Ehrengast sich heute hat entschuldigen lassen. Meine Jüngste liegt mit einer schweren Grippe im Bett.“ Aarons Blick schweift umher, er bleibt an Judy hängen. Ein wissendes Lächeln legt sich in seine Mundwinkel. Als sie sich seines Blickes bewusst wird, greift sie den Arm Robins und versteckt sich hinter ihrer Schulter. „Nichtsdestotrotz …“, fährt Aaron fort, „… lassen wir uns diesen Abend nicht verderben.“ Seinen rechten Arm breitet Aaron weit aus und lässt ihn in meine Richtung schwingen. „Wie versprochen beginnen wir diese Tanzveranstaltung mit einem Konzert meines neuen Schützlings.“ Er dreht sich ganz zu mir um. Ich halte die Luft an. „Enrico River – ein Naturtalent am Klavier mit einem absoluten Gehör!“ Mein Körper fordert sein Recht, ich atme hektisch, stoßweise. Das wird niemals gutgehen! „Es ist sein erster Auftritt vor Publikum, also seien Sie etwas nachsichtig mit ihm, wenn er nicht jede Note trifft!“ Fröhliches Gelächter bricht aus den Reihen der Gäste hervor. Ich werfe Aaron einen feindseligen Blick zu. Die Anspielungen auf meine Probleme mit dem Mittelteil hätte er sich sparen können. Jetzt fühle ich mich noch unsicherer. Hilfesuchend sehe ich mich nach Toni um. Er steht mit einigen anderen Bediensteten weit abseits der Gäste, vor der großen Verandatür. Die Arme hat er hinter dem Rücken verschränkt, er nickt mir vertrauensvoll zu. „Nun dann ohne weitere Umschweife, genießen wir eine der schönsten Symphonien von Beethoven.“ Der Pate tritt beiseite und gewährt den Gästen einen ungehinderten Blick auf das Klavier, während er sich in seinen Lieblingssessel setzt. Ich lege die Hände auf die Tasten und schließe die Augen. Tief atme ich durch. Seit Wochen habe ich diesen Mist geübt, dass bekomme ich schon hin, rede ich mir ein. Die Noten kenn ich längst auswendig, ich kann sie blind spielen, doch um auf Nummer sicher zu gehen, öffne ich die Augen und sehe ins Buch. Langsam beginne ich zu spielen. Es klingt abgehackt und unsauber. Ich brauche eine ganze Notenzeile um in das Stück hineinzufinden. Aarons Stirn legt sich bereits in Falten. Ich bemühe mich flüssiger zu spielen. Die Musik erfüllt den Raum, doch nicht mein Herz. Alles in mir sträubt sich gegen diese Melodie. Das hier passt genau so wenig zu mir, wie der Anzug und alles andere auch. Ich treffe jeden Ton, das Stück klingt genauso, wie Aaron es mir vorgespielt hat. Die Gesichtszüge des Paten entspannen sich, er schließt die Augen und lauscht zufrieden. Die Gäste hören zu, doch nicht für lange. Die ersten leisen Unterhaltungen beginnen. Getränke und Speisen werden konsumiert, die Blicke wenden sich von mir ab. Nur wenige scheinen sich noch für die Musik zu interessieren. Ob das an mir liegt? Aaron scheint zufrieden zu sein und bisher habe ich jede Note getroffen und trotzdem scheint mir die Stimmung im Raum zu entgleiten. Ob die Anwesenden das Stück wohl ebenfalls langweilig finden? Sicher haben sie es selbst schon einmal zu oft gehört. Was mache ich denn jetzt? Ratsuchend blicke ich zu Toni. Er schaut mich durchdringend an und schüttelt sacht mit dem Kopf. Er hat mir geraten meine eigene Musik zu spielen, aber Aaron hat mir genau das verboten. Ich lasse meinen Blick über die Gäste schweifen. Die Unterhaltungen sind lauter geworden, die Menschen die noch zuhören weniger. Das ist sicher nicht der Auftritt den Aaron erwartet hat und wenn ich hier keinen Eindruck schinde, wer weiß was er dann mit mir und meinen Leuten anstellt. Wir leben doch alle nur, weil ich in seiner Gunst stehe. Meine Hände lasse ich auf den Tasten ruhen, die Musik verklingt. Die Gespräche verstummen, alle Blicke richten sich fragend auf das Klavier. Auch Aaron schaut mich an, er durchbohrt mich mahnend mit seinem Blick. Ich meide es ihn oder die Gäste zu betrachten. Ein letztes Mal hole ich Tonis Rat. Er nickt mir zu, wohlwissend was ich vorhabe. Ich atme aus und schließe die Augen. Toni hat gesagt ich soll alles vergessen und mir vorstellen nur für ihn zu spielen. Bei dem Gedanken an die vergangene Nacht muss ich lächeln. Ganz von alleine beginnen meine Finger ein neues Lied. Jede neue Note untermalt seine Gestalt in meinem Kopf. Seine schönen Augen und den starken Körper, seinen Mut und seine Leidenschaft. Mir ist als wenn ich die vergangenen zwei Jahre mit ihm noch einmal erlebe. Während meine Finger über die Tasten tanzen, glaube ich ihn damals vor meiner Schule stehen zu sehen, verschwitzt mit den klammen Haaren im Gesicht. Wie wir uns am Tag darauf auf dem Basketballplatz trafen und ich haushoch gegen ihn verlor, weil er beim Zielen einfach alles trifft auch einen Korb von der Dreipunktelinie aus. Unser Tag am See, als wir uns eine Zwille bauten und auf Schilfrohre schossen. Unser erster Kuss, als er bei mir übernachtete. Eine fröhliche Melodie erklingt im Raum, sie lässt mein Herz höher schlagen und erfüllt mich ganz. Die Zeit war so wunderbar friedlich. Ich gäbe was dafür noch einmal so unbeschwert zu sein. Doch unser Leben ist nicht mehr so wie damals. Mir kommt der Tag in den Sinn, als ich Toni dabei beobachtet habe, wie er einen Menschen umbrachte. Nach Unheil klingende, dunkle Töne mischen sich in meine Musik. Ich konnte es nicht glauben, ich wollte es nicht wahrhaben, aber ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Doch viel schlimmer als das, war der Abend, der darauf folgte, als er kam, um mich zu töten, weil ich als Zeuge nicht leben durfte. Er hat die Waffe auf meinen Schreibtisch geknallt und bitterlich geheult, weil er es nicht über sich bringen konnte. Aber dafür sollten wir nun beide sterben. Ein finsterer Mann kam mit ihm und schlug ihn fast tot. Der Moment als ich Tonis Waffe nahm und den Angreifer damit erschoss. Alles flammt in mir gleichzeitig auf und lässt den Raum in eine düstere Melodie versinken. Unsere Flucht vor den Kerlen, die ihren getöteten Chef rächen wollten, treibt meine Musik an. Seit diesem Moment sind wir vogelfrei und leben auf der Straße, immer verfolgt von den Männern zu denen Toni einst gehört hat. Unweigerlich drängen sich mir die Bilder in den Sinn, als ich mich in ihrer Gewalt befand und sie mir mit einer Säge fast mein Bein abgetrennt haben, nur um zu erfahren, wo Toni sich aufhält. Ich verziehe das Gesicht, glaube ich doch den Schmerz erneut spüren zu können. Was für ein beschissenes Jahr liegt da eigentlich hinter uns? Auch Toni befand sich schon in ihrer Gewalt und hat schrecklich leiden müssen. Sein Blut an meinen Händen, das kann ich einfach nicht vergessen. Hätte ich ihn an diesem Tag verloren, ich wäre sicher nicht mehr hier. Ohne ihn wüsste ich gar nicht, wieso ich noch jeden Tag aufstehen sollte. Aber mit ihm… Meine düstere Stimmung hellt sich auf, beschwingte und heitere Töne fließen in die Melodie. All die Nächte mit ihm spuken mir durch den Kopf. In seinen Armen liegend, mit seinem holzig wilden Duft in der Nase und seinem harten Glied in meinem Hintern. Ich beiß mir auf die Unterlippe, Hitze steigt mir in den Kopf. Ob sich meine Musik wohl so anzüglich anhört, wie es in meinem Kopf aussieht? Ich sehe mich um. Die Augen meiner Zuhörer sind gläsern. Einige der Frauen wischen sich mit Taschentüchern die Tränen von den Wangen. Während alle Blicke auf mir ruhen, spricht niemand mehr. Einige der Gäste haben die Augen geschlossen und lauschen mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, andere ringen mit ihren feuchten Taschentüchern. Zögerlich wandert meine Aufmerksamkeit zum Sessel Aarons. Der Mund des Paten steht weit offen, er betrachtet mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Wut. Mir kommen seine Worte in den Sinn - ich sollte meine Musik nicht spielen. Augenblicklich nehme ich die Hände von den Tasten und setzte ein verlegenes Lächeln auf. Ich kratze mich am Hinterkopf und schaue entschuldigend. „Sorry“, presse ich tonlos hervor. Aarons Finger krallen sich in den Sessel, er drückt sich hinauf. Die Gäste scheinen sich zu fangen, ein zaghaftes Klatschen ertönt, dann ein zweites. Die Frauen legen die Taschentücher beiseite und stimmen mit ein. Schließlich beginnt der ganze Salon unter lautem Beifall zu erbeben. …~*~… Beethoven? Wirklich? Das ihr Vater immer auf diese alten Schinken bestehen muss. Dabei gibt es so viel schönere Musik. Rock‘ n Roll zum Beispiel. Judy seufzt ergeben. Jeder hier erwartet bei einem Klavierkonzert diese alten Meister zu hören und egal wie gut der Pianist auch ist, für Judy hört es sich immer gleich an. Als die bekannten Töne erklingen gähnt sie herzhaft und wendet sich ihrer Schwester zu. „Und für diesen langweiligen Mist hast du mich her gebracht?“ Robin legt den Kopf schief, sie betrachtet Enrico. Leise sagt sie: „Ach Vater, wirklich? Du weißt doch dass das nicht seine Stärke ist.“ „Bitte was?“, fragt Judy, die nicht versteht was Robin damit zu sagen versucht, doch ihre Schwester ist ganz auf den Pianisten konzentriert. „Jetzt mach schon, wiedersetze dich, wie sonst auch immer“, murmelt sie. Judy schaut zurück zum Klavier. Verbissen versucht Enrico die Töne zu spielen, die ihm das Notenbuch vorgibt. Er scheint fast ein bisschen überfordert damit. Das könnte ja selbst sie leidenschaftlicher spielen. Die ersten Gäste wenden sich bereits ab, leise Gespräche beginnen, die Bar im Globus und das kalte Büffet auf der Anrichte werden geplündert. Judy betrachtet die Bemühungen Enricos noch einen Moment lang, dann ist auch ihr nach Alkohol und etwas zu Essen. „Wollen wir uns was vom Buffet holen?“, fragt sie an Robin gewandt. „Ich hatte schon lange nichts mehr, was aus Jesters Küche stammt.“ Robin reagiert nicht, angespannt schaut sie zwischen Aaron und dem Pianisten hin und her. Judy stemmt sich aus dem Sofa, wenn Robins nichts will, dann holt sie sich eben allein was. Alles ist besser als zuhören. Als sie den ersten Schritt machen will, hält Robin sie am Arm fest. „Warte!“, sagt sie. Das Musikstück verklingt, die Hände Enricos ruhen auf den Tasten. Schon vorbei? Die Symphonie hat Judy deutlich länger in Erinnerung. Ob Enrico schon nicht mehr kann? Die Gespräche der Gäste verstummen, alle betrachten den jungen Mann am Flügel. Enrico schließt die Augen, er atmet tief durch, dann beginnt eine neue Melodie. Judy versucht sie einzuordnen. Das ist auf keinen Fall von Beethoven, sicher auch nicht von Bach oder Schubert. Sie setzt sich. Das hört sich gar nicht schlecht an, viel fröhlicher als das andere Stück. Es stimmt sie heiter, ihre Beine beginnen zu wippen. Dazu kann man bestimmt gut tanzen. Bewegung kommt in die Gäste, die ersten beginnen bereits im Takt der Musik die Hüften zu schwingen, als die Stimmung der Melodie von einem auf den anderen Moment kippt. Düstere Töne erheben sich in den Raum. Wie vom Donner gerührt erstarren alle Anwesenden. Das Gesicht Enricos wird leidend, seine Haltung verspannt sich. Von einem Moment auf den anderen fühlt sich Judy in ihren Alptraum zurückversetzt. Sie sieht den toten Mann im Büro des Vaters und die sterbende Mutter in den Armen Aarons. Tränen steigen ihr in die Augen. Die Musik klingt nach Leid, Verlust und Qual und untermalt alle Gefühle, die sie so gut verdrängt glaubte. Judy greift sich an ihr schmerzendes Herz. Die Mutter, die so grausam aus ihrem Leben gerissen wurde, scheint ihr auf einmal ganz nah zu sein. Je länger die Musik spielt umso deutlicher kann sie sie in jedem Winkel des Salons entdecken. Am Globus aus dem sie eine Whiskyflasche zieht und dem Vater einen Drink einschenkt. Am Kamin als sie sich die Hände wärmte, auf dem weichen Teppich sitzend mit einem Buch in der Hand, aus der sie Judy vorgelesen hat. Traurigkeit und das Glück vergangener Tage wechseln sich in Judy ab. Wie auf ein geheimes Stichwort ändert sich auch die Musik Enricos. Eine sanfte Melodie erfüllt den Salon, für Judy fühlt sie sich fast wie eine Umarmung der Mutter an. Noch mehr Tränen lassen ihren Blick verschwimmen. Die Musik endet abrupt, die Umarmung der Mutter verschwindet, als wenn es sie nie gegeben hätte. Ein zaghaftes Klatschen erklingt, ein zweites folgt, schließlich erheben sich die Gäste die noch sitzen und fallen mit lautem Beifall ein. Die Schwester schwenkt ein Taschentuch vor Judy, mit einem breiten Lächeln sagt sie: „Er ist gut, oder?“ Judy nimmt sich das Taschentuch. Sie kämpft noch immer mit den Tränen und fühlt sich nicht zu einer Antwort fähig. Sie hebt die Maske leicht an, um ihre Wangen zu trocknen. Was ist das nur für eine Musik gewesen? Bisher hat sie noch kein Klavierstück so tief in ihre Vergangenheit gezogen. Irgendwie unheimlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)