Dämon von Cocos ================================================================================ Prolog: -------- Das Innere der Holzkiste stank nach seinem Angstschweiß, seiner Panik, seinen Tränen. Es stank nach seinen Versuchen, sich aus ihr herauszukratzen, die Kiste aufzustemmen und wegzulaufen. Das Holz stank nach Versagen und Erfolglosigkeit, nach seinem Blut, das sich ebenso wie Splitter unter seinen Fingernägeln sammelte. Er verbrachte Stunden hier drin, Tage. Gefesselt, ungefesselt, geknebelt, ungeknebelt. Solange, bis das japanische Arschloch ihn wieder befreite und Dankbarkeit dafür erwartete. ~~//~~ Er kannte jeden Treppenabsatz, jede Kante dieser Katakomben in- und auswendig. Die kalten, schwarz bemalten Betonwände waren sein Gefängnis, die schweigenden Mauern Zeugen seiner Tortur. Er hatte nichts außer ihrem Anblick, seinem Training, seiner Folter, seinen Dozenten, die wegsahen, wenn er blutend zu den Vorlesungen erschien. Er kannte jedes Geräusch dieser Flure, als wäre es sein eigener Herzschlag. Geräusch bedeutete Gefahr, Gefahr bedeutete Schmerz. So auch jetzt. Schritte kamen näher. Seine Stimme lauerte wie ein Monster hinter ihm. Der Schmerz folgte kurz darauf, als er die steinernen Treppen hinuntergestoßen wurde. War etwas gebrochen? Er wusste es genauso wenig wie er sich einen Moment lang an seinen Namen erinnerte, der ihm erst später siedend heiß und voller Verzweiflung wieder einfiel. Nummer drei. Unfähiger, dummer Sklave. Jean. ~~//~~ Das Geräusch seines brechenden Fingerknochens brannte sich in seine Erinnerungen, viel schlimmer, als es der Schmerz jemals gekonnt hätte. Das trockene Knirschen und Knacken echote wie ein Donnerschlag in seinen Gedanken und er übergab sich vor Ekel und Schmerz. Das japanische Arschloch lachte und ohrfeigte ihn, als er sich wieder aufrichtete. „Du tumbes Stück unnützer Scheiße, wozu bist du eigentlich gut?“ Nicht gut genug um zu entkommen. Das hatte er versucht, so auch ein paar Stunden zuvor. „Wenn du nicht willst, dass ich weitermache, mache es selbst.“ Er brauchte etwas um zu begreifen, was der Andere von ihm wollte, dessen Namen er sich weigerte zu denken. Als es ihm gelang, schüttelte er den Kopf. Es brauchte zwei weitere Finger, damit er gehorchte. ~~//~~ Das Metall um seine Handgelenke brauchte immer etwas, bis es sich erwärmte und nicht mehr unangenehm kühl war, während es sich in seine Haut schnitt. Er hätte es gerne vermieden, doch das Messer unter seiner Haut, das sie Schicht um Schicht abschälte und dunkelrotes Blut hervorbrachte, ließ ihn die Kontrolle über seine körperlichen Reaktionen verlieren. Er zog und zerrte, er schrie und bettelte. Natürlich hörte das Arschloch nicht auf. Es hatte jahrelang nicht aufgehört. Sein ganzer Körper blutete, aufgeschnitten wie eine reife Frucht. Die Wunden würden sich entzünden, wie die zuvor und sie würden ihn im Training behindern. In der alltäglichen Folter eines Sports, den er hasste. Einer Mannschaft, die er hasste. Menschen, die er hasste. Alle, bis auf einen. Der Grünäugige. Er war anders, der Star unter allen, besser als das Arschloch. Sie waren Freunde, wenn er nicht durch das eifersüchtige Arschloch geschlagen wurde. „Riko, bitte hör auf, du bringst ihn noch um“, sagte der Grünäugige und er wusste, dass es nur Ansporn sein würde. Er sollte Recht behalten. ~~//~~ Er sollte um Essen betteln. Auf seinen Knien, wie ein Hund, den Napf vor sich. Wie der tollwütige Hund, der er auf dem Spielfeld für das Arschloch war. Gewalt gegen andere, sonst erfuhr er mehr Gewalt als vorher. Er kroch und wurde von dem Stachelhalsband um seinen Hals brutal zurückgezogen. Würgend und hustend krümmte er sich auf dem Boden und ertrug die Peitschenhiebe, die auf ihn niederregneten, weil er nicht gewillt gewesen war, den Spieler der gegnerischen Mannschaft ins Koma zu treten. Den Kapitän der gegnerischen Mannschaft. Ein blonder Junge, den der Grünäugige so gerne mochte. Ein Junge, der selbst ihn anlächelte. ~~//~~ Der Grünäugige hielt ihn auf dem Bett, während einer der Spieler seiner verhassten Mannschaft seine nackten Schenkel auseinanderdrückte. „Bitte nicht“, flehte er mit einer Stimme, die zu rau war, um sie als menschlich zu bezeichnen. Er wusste, was das Arschloch befohlen hatte, schließlich hatte der Grünäugige ihm davon erzählt. So, wie es richtig sein sollte. So, wie es falsch war. „Bitte nicht“, wiederholte er, als der Spieler seine Hand unter seinen Hintern schob und mit einem Finger in ihn eindrang. „Bitte nicht“, flehte er, als aus einem zwei wurden und das Arschloch schlug ihn. Währenddessen tropften die Tränen des Grünäugigen auf sein Gesicht und er hielt sich an dieser Trauer fest, als sein Körper ihm auf eine solch intime Art und Weise genommen wurde. Danach tröstete der Grünäugige ihn so gut er konnte und er rettete sich in die Flucht eines Namens. Kevin. ~~//~~ Kevin schrie und schrie und schrie. Er hörte nicht mehr auf damit, bis er ihm den Mund zuhielt und ihn an sich presste. Wenn er weiterschrie, würde das Arschloch wiederkommen und vermutlich mit der anderen Hand weitermachen. Die bisher gebrochene stand in allen möglichen und unmöglichen Winkeln ab und blutete. Sie wurde bereits blau und rot. „Hilf mir“, wisperte Kevin und seine Worte bildeten kitzelnde Bewegungen auf seinem vernarbten Fleisch. „Bitte hilf mir. Bitte, Jean, hilf mir.“ Bei Kevin hatte er einen Namen, obwohl er nicht mehr wusste, ob es jemals sein eigener gewesen war. „Ja.“ Er half Kevin, indem er ihm das Leben schenkte. Das Arschloch war berechenbar, also nutzte er sein Wissen. Es benötigte nicht viel, um Kevin das Leben und die Freiheit zu ermöglichen, weg von den dunklen Mauern ihres Gefängnisses. Minuten, wenn er richtig lag, vielleicht auch eine Stunde. Wenigstens einer von ihnen würde leben. Es dauerte keinen Tag, bis das Arschloch erkannte, was geschehen war. ~~//~~ Dieses Mal gab es keine Tränen, die sein Gesicht benetzten, während er durch ein schweres Gewicht auf den Billardtisch des Gemeinschaftsraumes gedrückt wurde. Der Wievielte war es nun? Er zählte nicht mehr mit. Weder die Stunden noch die Spieler. Selbst seine Nacktheit hatte ihren Ekel und ihre Scham verloren. Er klammerte sich an den letzten Rest seiner Menschlichkeit, doch auch diese glitt ihm ebenso durch die Finger wie sicherlich bald sein Bewusstsein. Seine Hände und Füßen waren taub, die Fesseln waren zu eng und er ahnte, dass sie den Blutfluss bereits unterbrochen und seine Gliedmaßen damit irreparable beschädigt hatten. Würden sie vor ihm sterben? Er glaubte es nicht. Das Arschloch hatte ihn geschlagen und seinen Körper aufgeschlitzt. Sein gebrochenes, linkes Knie schrie vor Schmerz und sein rechtes Auge war sicherlich nicht mehr zu retten. Er schloss das andere Auge und dachte an Kevin. Hoffentlich war er mittlerweile in Sicherheit. Hoffnung. Als hätte er noch so etwas. Sein Kopf wurde an den Haaren hochgezogen und ein verschwommener Junge hielt mit einem breiten Grinsen einen Queue hoch. Die Strafe dafür, dass er Kevin geholfen hatte. Nein, er selbst würde nicht überleben. Vielleicht war es an der Zeit dafür. Nein, ganz sicher sogar. ~~//~~ Es fiel ihm schwer, zwischen den Welten der Lebenden und der Toten zu unterscheiden, zwischen all dem Leid, dem Blut und der Gewalt. Er war zum Sterben geboren und nun würde es soweit sein, das wusste er. Er wollte, dass es endlich soweit war. Sicher? Er lauschte auf die fremde Stimme. Sie gehörte niemandem, den er kannte. Wer war das? Noch kennst du mich nicht. War die Stimme männlich oder weiblich? Er konnte es nicht genau hören. Lächerliche Kategorien. Nur Menschen brauchen so etwas Langweiliges. Hast du keine anderen Fragen? Er war sich nicht sicher. Vielleicht träumte er auch nur. Wieso sprach jemand mit ihm, jetzt, da er nur noch Gemeinschaftsgut war, nicht mehr als ein Loch, um Befriedigung zu erzeugen? Weil ich deine tiefe Verzweiflung und Todessehnsucht selbst gespürt habe und ganz verzückt davon bin. Er erzitterte. Also noch jemand, der ihn verletzen wollte. Machte es einen Unterschied? Nein, sicherlich nicht. Ich bin nicht hier, um dich zu verletzen. Ich mache dir ein Angebot. Wieso sollte er ein Angebot bekommen? Er war ein Sklave, kein Mensch, er hatte keinen Namen. Ihm gehörte nichts, er hatte kein Anrecht auf etwas. Er öffnete das verbliebene Auge und sah den Tisch, an den er noch immer gefesselt war. Sein Körper bewegte sich ohne eigenen Antrieb und erst jetzt merkte er, dass es wieder ein Spieler war, der seine Lust an ihm befriedigte. Instinktiv wusste er, dass der Junge auf ihm nicht die Stimme in ihm war. Vermutlich verlor er den Verstand. Dein Verstand funktioniert und ist brilliant. Mein Angebot ist simpel. Ich befreie dich von allem, was dich unterdrückt. Ich befreie dich von den Fesseln, die dich an diese Mauern binden. Ich befreie dich von der Gewalt, dem Schmerz und dem Leid, das dich durchdringt. Dafür erhalte ich deinen Körper und deine Seele. Für alle Ewigkeit. Seine Wange schabte an dem rauen, grünen Stoff des Tisches. Eine der Billardkugeln lag noch hier direkt neben ihm. Es war die Schwarze. Was hatte er denn auch zu verlieren? Sein Körper gehörte ihm schon lange nicht mehr und eine Seele hatte er zusammen mit seinem Namen eingebüßt. Also stimmst du zu? „Ja“, wisperte er, doch es kam nur ein Krächzen heraus. Doch anscheinend war das genug für seine eingebildete Stimme, die zufrieden zustimmte. Ich bin keine Einbildung. Aber du hast keinen Namen, dachte er. Oh doch, den habe ich. Genau wie du, Jean. Wie ist er? Nicht für deine Ohren bestimmt. Du kannst mir einen Neuen geben. Das war seltsam, doch erfrischend anders als die letzten Jahre. Die Stimme kannte seinen Namen, sie nannte ihn bei seinem Namen. Nur einer hatte ihn bei seinem Namen genannt. „Kevin“, murmelte er. „Kevin.“ So sei es. Gleißendes Feuer erfüllte ihn und er schrie. Doch nicht nur er. Der Junge in ihm ebenfalls und das Gleißen wurde umso heller, je lauter sie schrien. Jean glaubte, dass der Druck in seinem Kopf ihn umbringen würde, er glaubte, dass er von innen heraus zerrissen werden würde. Doch dann, auf dem Höhepunkt seiner Angst, wurde es still. Alles Licht erlosch und er fragte sich, woher er wusste, dass in jedem Raum dieses Gemäuers, in jedem Raum dieses Colleges und dieser Stadt alles erlosch. Und in der Abwesenheit allen Lichtes leuchtete er umso heller. „Dein Name ist Jean“, sagte seine Stimme ohne sein Zutun und er schauderte. Sein Körper bewegte sich ohne sein Zutun und erhob sich von dem Tisch. Wo waren die Fesseln hin? Wieso hatte er keine Schmerzen mehr? „Weil ich mich von jetzt an für immer um dich kümmern werde. Ich sorge für dich und ich sorge dafür, dass dein Körper meinen Vorstellungen entsprechend unversehrt ist. Aber zunächst üben wir deinen Namen. Sag ihn.“ Das konnte er nicht. „Doch, das kannst du. So wie du viele andere Dinge können wirst, wenn du begreifst, was für ein Geschenk du erhalten hast.“ Jeans Lippen zogen sich zu einem sadistischen Lächeln auseinander, das von einem Versprechen auf Gewalt nur so triefte. Es war nicht seins und er war geradezu erschrocken über die Reaktionen seines Körpers. ~~//~~ Er lag auf dem Bett, die Augen weit geöffnet und starrte in die nur durch sein Nachtlicht beschienene Dunkelheit. Sein Herz raste und seine Atmung ging flach, als er sich der langsamen Schritte bewusst wurde, die den stillen Gang entlang hallten. Der Jäger war unterwegs, das Monster zog seine Kreise und kratzte mit seinen Klauen die Wände entlang. Er musste nicht hinsehen um zu wissen, dass es auch das Licht mit sich nahm auf seinem Weg zu seinem heutigen Opfer. Monatelang ging das nun schon so. Monatelang terrorisierte das Monster ihre Gänge, ihre Zimmer, ihre Körper. Er selbst war das beste Beispiel dafür mit seinen tiefen Wunden, die diese unmenschliche Kreatur ihm zugefügt hatte. Niemand von ihnen hatte diesem Wesen entgegenzusetzen, egal, was sie versucht hatten. Nichts, was sie versucht hatten, war wirkungsvoll gewesen. Alles, was sie getan hatten, hatte Konsequenzen nach sich gezogen. Ein kratzendes Quietschen an seiner Tür ließ ihn hochfahren und ängstlich wimmerte er, als sie sich öffnete. Zentimeter um Zentimeter gab sie das Monster frei, das im Türrahmen stand und mit einem dunklen Lächeln auf ihn hinunterstarrte. „Ene…mene…muh…“, sagte der Körper seines Sklaven in einem teuflischen Singsang und das französische Unterpfand für die Treue der Moreaus kam näher. Er streunte, ein Jäger im Angesicht seiner hilflosen, sicheren Beute und Riko kauerte sich ängstlich zusammen. Er schrie, auch wenn er wusste, dass ihm niemand zur Hilfe kommen würde. Er schrie, als seine Haare gepackt wurden und er mit nach draußen geschleift wurde. „Schrei lauter. Ich höre dich nicht“, grinste der Dämon an seiner Seite und zog ihn durch den Schlund, der sich Evermore nannte, gierig nach Schmerz und Leid. „Bitte nicht. Bitte, Jean, bitte nicht!“, flehte er, wie er wusste, ohne Erfolg. ~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Kapitel 1: Die Einladung ------------------------ Kevins Hand, mit der er sein Handy hielt, zitterte. Ein Todesurteil, in Form einer knappen Ankündigung – pressewirksam öffentlich –, dass Evermore zum ersten Mal seit Jahren seine Tore für exzellente Spieler anderer Mannschaften öffnete und sie zum Sommercamp holte. Vier Wochen Training in den dunklen Mauern der Edgar Allan. Vier Wochen in den Klauen von Sadisten.   Kevin starrte auf seine Hand, die grässlich entstellte, stets zitternde und steife Hand. Zerschmettert durch den Kapitän der Ravens, dessen lächelndes Foto die Mitteilung zierte. Er konnte nicht atmen vor Angst, seine Kehle wie zugeschnürt, sein Brustkorb ein steifes Ding ohne Muskeln und Bewegung, das ihn erstickte.   Die Hand in seinem Nacken, die an der Grenze zur Brutalität zupackte, erschreckte ihn nicht mehr so wie vorher. Zu oft hatte sie sich exakt auf diese Stelle Haut gelegt und sich eingebrannt in ihrer Dominanz und Sicherheit.   „Atme.“   Besser wäre es, wenn er es nicht tat. Wirklich besser.   „Atme.“   Einen Monat in dem dunklen Gefängnis, dem er entkommen war, mit nichts zwischen seinem ehemaligen Kapitän und ihm.   „Atme.“   Wer wusste denn schon, ob sie ihn nicht einfach dabehielten? Er war schließlich ein Gegenstand, ein Besitz, temporär ausgeliehen an die Foxes.   „Atme.“   Seine Bewusstlosigkeit kam schneller als seine Bereitschaft, Andrews Worten zu folgen.     ~~//~~     „Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh. Mein. Gott!“   Sara rollte mit den Augen und starrte aus dem Fenster in die langweilige Landschaft der Hinterwäldler, die sich endlos an ihnen vorbeizog und durch die sie schon endlos lange gefahren waren.   Wuhu, die beste Mannschaft ihres Distriktes, nein, ihrer Liga, hatte zum Sommercamp ins dunkle Schloss eingeladen. Nur die besten Spieler anderer Mannschaften. Was fühlte Sara sich doch geehrt, ihre hochheiligen Ferien in den dunklen Kellern der arroganten Arschlöcher verbringen zu dürfen.   Sie rollte mit den Augen. Auch über ihren Kapitän.   Jer war schon hibbelig gewesen, als sie einem Tag zuvor ihre sonnige Heimat verlassen hatten. Die Kombination aus Schlafmangel, zu viel Hitze und zu viel Landschaft tat ihm nicht gut. Endlich konnte er die Ravens sehen und den Ex-Raven-Striker, zu dem er so aufsah. Den Backliner, auf den er schon seit seinem ersten Semester am College scharf war.   Wie gut, dass Jer das Wort Franzose kein einziges Mal in den Mund genommen hatte, während sie mit ihm zusammen hier in dem alten, klapprigen Bus ihres College-Exy-Fuhrparks eingesperrt war.   Gut für Jer, denn Sara hatte keinen Vertrag damit, ihrem Kapitän einen Kinnhaken zu verpassen.   „So hübsch ist das hier!“, schwärmte besagter, lebensmüder Junge und Sara schloss die Augen. Ja, total hübsch, diese Bäume, diese unendlichen Bäume bis zum Horizont und die verfallenen Tankstellen am Rand, die noch nie bessere Zeiten gesehen hatten und vermutlich schon seit ihrer Errichtung Bruchbuden gewesen waren.   Ein Zeugnis der Armut ihres Landes, das pervertierte Überbleibsel des amerikanischen Traumes.     ~~//~~     Langsam zog der, den er Kevin nannte, sich sein Shirt über den Kopf und präsentierte sich der stillen, aber geschäftigen Umkleide der Ravens. Jean konnte das nicht selbst, nicht vor ihnen. Selbst jetzt nicht, nach Monaten der Rache. Er hätte keine Kraft gehabt, sich vor ihnen zu entblößen und so übernahm das Wesen in ihm diese alltägliche Handlung.   Er sah sich um und seine Lippen öffneten sich zu einem Lächeln, als sich alle Blicke von ihm abwendeten. Hochgezogene Schultern und angstvolles Zittern, wo er hinsah. Er pfiff leise, eine Undenkbarkeit noch vor Monaten. Irgendein Lied, das er im Internet gehört hatte. Schiefe Töne, denn Kevin konnte nicht pfeifen.   Er zog seine Hose aus und stieg in sein Trikot. Schwarz und rot, wie die Wände in dieser Gruft seines Daseins. Uniformität. Dominanz.   Pfeifend schlenderte er zur Nummer 1 dieser Todgeweihten.   Angstumkehr.   „Augen hoch, Kapitän“, lockte er und der vormals sadistische Blick zuckte verzweifelt zu ihm, die Schrecken der letzten Nacht noch auf dem Gesicht. Er tätschelte die schwitzige Haut und lächelte, während Jean vor Ekel schauderte.   Tu das nicht. Er kann dir nichts tun. Sieh nur, er hat Angst vor unseren Fingern. Ich will ihn nicht ansehen und ihn nicht berühren.   „Dreh dich weg“, befahl er und das Arschloch gehorchte augenblicklich. Es wusste es besser, als das nicht zu tun.   Siehst du, ich kümmere mich. Er starrt dich nicht mehr mit seinen kleinen Glubschern an. Ich kann sie ihm auch herausreißen, was hältst du davon? Jean schüttelte den Kopf und zog sich in seine Sicherheitsecke zurück, die Kevin für ihn eingerichtet hatte. Tief in seinem Innersten – wenn es zuviel wurde, was er tat. Was sie taten. Hier war er in Sicherheit. Noch mehr als sonst. Hier waren noch die Erinnerungen an den richtigen Kevin, an den Grünäugigen, der es weggeschafft hatte. Oder an den Blauäugigen, der soviel lächelte und strahlte.   Dieser gefiel dem Wesen in ihm und auch Jean war nicht abgeneigt, ihn anzusehen.   Apropos…   „Schön brav sein, wenn die Gäste kommen“, richtete er an niemand Bestimmten im Raum. Alle hörten ihm zu. Keiner bewegte sich. „Keine gebrochenen Hände, keine Peitschen oder Ruten, keine blutenden Ärsche und schon gar keine Queues.“ Leise lachte er und dämpfte Jeans Erinnerungen an die Vergangenheit, wie er es immer tat, wenn es zuviel wurde. Ein Junge fing an zu weinen, leise und gedämpft.   Er war keiner derjenigen gewesen, an denen er sich gerächt hatte.   Oh nein.   „Heißen wir unsere geschätzten Gäste willkommen.“   Jean spürte Freude in sich, ein zaghaftes Gewächs in all der Dunkelheit.     ~~//~~     Ehrfürchtig sah Jeremy an den alten, ehrwürdigen Mauern Evermores hoch, die sich dunkel vor dem hellen Sonnenschein des Sommers abzeichneten. Beinahe kam es ihm vor wie eine Zaubererakademie oder eine Schule für magische Wesen… oder Oxford. So stellte er sich Oxford vor, ohne jemals dagewesen zu sein.   „Bitte folgen Sie mir“, sagte einer der Co-Trainer der Ravens, sonor und ausdruckslos, gleichzeitig aber auch herablassend und arrogant.   Sie wurden hineingeleitet in die kühlen Mauern und Jeremy schauderte. Als die Türen sich hinter ihnen schlossen, erlosch auch das Tageslicht. Neonröhren, kalt und hart ersetzten die heiße Sommerhitze, die Jeremy so sehr liebte. Trotzdem er sie jetzt schon vermisste, war Jeremy aufgeregt, was sie erwarten würde.   Je tiefer sein Team und er in den Schlund gezogen wurden, desto stiller wurde es. Ein Kribbeln prickelte auf Jeremys Haut und er hatte das Gefühl, dass die dicken Steinwände immer näherkamen. Stirnrunzelnd blieb er stehen, als er ein zischendes Wispern hörte.   Er sah sich um, doch da war nichts außer dem starken Gefühl, von etwas Dunklem beobachtet zu werden.   Jeremy schauderte, als sich Gänsehaut auf seinen Armen ausbreitete und er instinktiv zu seinem Kreuz griff, das um seinen Hals hing. Das Gefühl zog sich zurück, doch es verschwand nicht, so als würde es darauf lauern, zurück zu kehren, wenn er nicht aufpasste.   „Alles klar, Jer?“, fragte Sara und kam besorgt zu ihm. Er zuckte mit den Schultern. „Ja. Irgendwie schon…“, erwiderte er zögerlich, sich seiner eigenen Sache aber nicht ganz sicher.     ~~//~~     Da kamen sie, die Unschuldigen, Naiven. Die Hellen, Sonnigen, Externen. Die, die seiner Einladung so bereitwillig und unfreiwillig gefolgt waren.   In ihren Trikots standen sie hier und entweihten die hochheiligen Farben von Rot und Schwarz. Bunt waren sie, ängstlich, nervös, aufgeregt. Jean sah den Grünäugigen, der bleich war, als hätte das Arschloch ihm gerade die Hand gebrochen. Er wurde geschützt durch den mordlustigen kleinen Blonden, dessen Gewaltbereitschaft wie süßer Nektar auf seiner Zunge lag. Er sah ebenso den blonden Kapitän, den er damals nicht ins Krankenhaus getreten hatte. Dieser roch nach etwas Anderem. Aufregung, Begeisterung, Bewunderung   Jeans Nacken prickelte von dessem Blick, der immer dann auf ihm ruhte, wenn er nicht hinsah.   Er mag dich. Mochte er auch ihn? Jean wusste es nicht. Aber er war fasziniert. Vier Wochen. Ja, solange hatte er Zeit, bis die Bunten abreisten und er wieder alleine war. So traurig? Du hast mich. Jean vermisste den Grünäugigen. Er ist hier. Ich habe ihn für dich eingeladen. Genieß die Zeit.   Jean hörte den pseudohöflichen Worten des Arschlochs bewegungslos zu, mit denen er die Anderen begrüßte und ihnen erklärte, was die kommenden vier Wochen ihr Ziel war. Er sah das Lächeln, das falscher nicht sein konnte und konzentrierte sich auf Kevin, dessen großer Körper unter jedem Wort und jeder Bewegung zusammenzuckte wie unter Peitschenhieben.   Der Kapitän der Ravens beendete seine Ansprache und Jean wurde erneut in den Hintergrund gedrängt.   Was machst du?, fragte er erschrocken und Kevin lachte. Wart’s ab.   Langsam kam er zu Riko, der dem Grünäugigen hasserfüllt entgegenstarrte. Er legte ihm schwer eine Hand auf die Schulter und sah mit Genugtuung, wie das Arschloch zusammenzuckte. Jean hatte seine Augen fest auf den Flüchtling mit der gebrochenen Hand gerichtet, während er sich zu seinem Kapitän hinunterbeugte.   „Es reicht“, flüsterte er schmunzelnd und den Körper vor sich durchlief ein Schaudern. Gehorsam senkte der Junge die Augen zu Boden und nickte. „Geh“, wisperte Jean und das Arschloch drehte sich kommentarlos und gehorsam um.   Jean erlangte die Kontrolle über seinen Körper zurück und fühlte sich hilflos im Angesicht des überrumpelten und erschrockenen Starren des Grünäugigen. Hilflos, aber doch zufrieden, denn das Arschloch konnte niemandem mehr Schaden zufügen.   Langsam setzte Jean sich in Bewegung und kam unter dem unerfreuten Blick des blonden Wachhundes zu Kevin. Schweigend musterten sie sich, ein Novum in dieser Halle. Noch nie hatten sie sich ohne Angst so offen gemustert. „Jean“, sagte der andere Junge nicht ohne Hoffnung und Zuneigung in seiner Stimme und Jean spürte eben solche in sich selbst. „Kevin“, erwiderte er und Sorge kolorierte das markante Gesicht. „Es tut mir leid, Jean. Es tut mir so leid, dass du noch hier bist und in seiner Nähe bleiben musst. Es tut mir leid, dass ich dich zurückgelassen habe. Es tut mir so leid.“   Er warf einen Blick zurück auf den Kapitän der Ravens.   „Er hat gelernt, wo sein Platz ist“, entgegnete Jean ruhig, als hätte Kevin nichts gesagt, und lächelte so, wie das Wesen in ihm lächeln würde. Unglauben schlug ihm entgegen. „Wie meinst du das?“, flüsterte Kevin, als wären sie wieder alleine in ihrem Zimmer im unterirdischen Kerker und müssten leise sein, damit das Monstrum sie nicht hörte.   Vieles hätte er darauf antworten können. Er hätte verschwenderisch mit der Wahrheit umgehen können. Er hätte das Arschloch vor Kevin den Boden küssen lassen können.   „Du bist in Sicherheit. Wir sind es“, war alles, was er sagte, bevor er sich herumdrehte und zu der gesichtslosen, schwarz-roten Masse zurückkehrte.     ~~~~~~   Wird fortgesetzt.     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)