Fünfmal Weihnachten von FreeWolf (Ein Adventskalender mit Mut zur Lücke) ================================================================================ Kapitel 1: Einmal Vorweihnachtszeit ----------------------------------- Hiromi kaute nervös auf ihrer Unterlippe, während sie darauf wartete, dass der Videochat sich verband. „Привет, товарищ!“, tönte ein zynisches, russisches Hallo, Genosse aus dem Lautsprecher ihres Smartphones, und auf dem Bildschirm war ein roter Haarschopf zu sehen. Hiromi verdrehte die Augen. „今日は, ジューリさん“, gab sie trocken zurück. Guten Tag, Yuriy-san. Sie maßen sich einen Moment lang mit Blicken, ehe Hiromi auf Englisch wechselte und ihre Konversation fortsetzte, als wäre nichts gewesen. „Wie geht es dir?“ „Gut.“ Die blauen Augen ihres Gegenübers blitzten auf eine Art, die Hiromi wohl für immer Rätsel aufgeben würde. Hiromi fiel nicht ein, was sie weiter sagen sollte. Yuriy war ein schwieriger Gesprächspartner. Die Japanerin schielte auf ihre Armbanduhr. „Boris sollte in jeder Minute da sein“, erklärte sie. „Gut.“ Yuriy nickte. Er hatte sich auf einer Couch zurückgelehnt, eine Tasse in der Hand, aus der er ab und an nippte. Er sah grimmig aus; Hiromi erkannte diese Haltung als dieselbe, die ihr Freund einnahm, wenn er nervös war und es sich nicht anmerken wollte. Ein Lächeln kroch in ihre Mundwinkel. Vielleicht war der Rothaarige doch nicht so undurchschaubar, wie sie immer gedacht hatte. „Ich hoffe, er freut sich“, meinte sie an niemand Bestimmtes gewandt und erntete ein Brummen vonseiten des Rotschopfes. Boris ließ es sich kaum anmerken, dass er Heimweh hatte; Hiromi hatte es herausfinden, Puzzleteil um Puzzleteil zusammensetzen müssen. Es hatte damit begonnen, dass ihnen der russische Schwarztee ausgegangen war, den Boris aus Moskau mitgebracht hatte. Er war schweigend dazu übergegangen, Hiromis Sencha zu trinken, doch merkte man ihm an, dass etwas fehlte. Dann war seine Lieblingstasse zu Bruch gegangen – ein Erbstück aus dem Waisenhaus, hatte er gesagt und dann abgewunken. Zuletzt hatte er seufzend die dicke Jacke wieder in den Schrank geräumt, etwas davon gemurmelt, dass er sie nicht brauchte, wenn es so warm blieb. Sie schwiegen einander noch ein, zwei Minuten an, ehe hinter Yuriy eine Tür schwer ins Schloss fiel. Eine tiefe Stimme rief den Namen des Rotschopfes. Es folgte ein schneller Wortwechsel auf Russisch – Hiromis Russisch reichte noch nicht aus, einem Gespräch in dieser Geschwindigkeit zu folgen. Dann kippte plötzlich der Bildschirm zur Seite, und eine blasse Hand mit langen Fingern schob sich ins Bild. Die Flüche, die der Rotschopf murmelte, waren Hiromi von Boris bekannt. Sie verbiss sich ein Kichern. Als die Hand sich wieder entfernte, hatte sich das Bild angepasst, und die Brünette erkannte Sergej an Yuriys Seite, der freundlich in die Kamera winkte. „Hallo, Hiromi, ich hoffe ich bin noch nicht zu spät!“ Hiromi schüttelte den Kopf und beobachtete grinsend, wie Sergej sich mit einigen Verrenkungen aus seinem Mantel schälte und diesen über die Lehne der Couch warf. „Kalt?“, fragte sie. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Vor allem nass!“ Die Brünette nickte und hielt ihr Handy so, dass ihre beiden Gesprächspartner eine Reihe von verschiedenen Gewürzen, Butter, Mehl und Ingwer auf seinem Display sehen konnten. „Euer Paket ist heute Morgen angekommen“, informierte sie die beiden Russen auf ihrem Display und erntete ein zufriedenes Brummen. Sie lächelte warm. „Danke euch dafür! Das wäre nicht nötig gewesen“ „Spinnst du?“, schaltete sich eine dritte Stimme ein, deren Akzent es Hiromi manchmal schwer machte, sie zu verstehen. Ivan schob sich ins Bild, drängte Yuriy näher an Sergej, um sich Platz zu machen. „Alles für Borya!“ Hiromi verbiss sich ein hingerissenes Geräusch und fuhr herum als sie den Schlüssel im Schloss hörte, den sie Boris in die Hand gedrückt hatte, damit er etwas mehr Bewegungsfreiheit hatte. „Er kommt!“, mahnte sie die drei am anderen Ende der Leitung und rauschte in Richtung Tür, um ihren Freund mit einem schallenden „Okaeri“ und einem Kuss zu begrüßen. Der Russe lachte, während er seine Jacke abstreifte. Dann schlang er seine Arme um ihre Hüften und zog sie mit einem Ruck näher an sich, um Hiromi zu küssen. „Womit habe ich das verdient?“ „Mit gar nichts“ Hiromi fasste nach seiner Hand und zog ihn mit sich in Richtung der Küche. „Ich habe eine Überraschung für dich“ Boris folgte ihr gehorsam und blieb überrascht stehen, als ihm ein „Привет, товарищ!“ aus der Richtung von Hiromis Smartphone entgegenschallte. Er blinzelte ungläublig. „Was macht ihr denn?“, fragte er vollkommen entgeistert. „Solltet ihr nicht alle in der Arbeit und der Schule sein?“ Yuriy zuckte lässig mit den Schultern. „Deine Freundin meinte, du brauchst mal wieder eine Dosis Russland“ Hiromi grinste, als Boris sie kopfschüttelnd ansah. „Die drei haben mir die Zutaten für Pryaniki geschickt, weil sie mir nicht geglaubt haben, dass wir in Japan Dinge wie Mehl und Butter und Ingwer haben“, erklärte sie und wies auf die bereitgestellte Reihe an Gewürzen und Zutaten. Der Angesprochene grinste schief. „Die Vorurteile sind eben real“, erwiderte er schulterzuckend. Dann inspizierte er die Zutaten, ehe er sich an die drei im Smartphone wandte. “Respekt”, triezte er. “Ihr habt alle Zutaten richtig hinbekommen. Und ihr? Schaut ihr uns zu oder bewegt ihr euch jetzt auch in die Küche?”   Kapitel 2: Zweimal Vorweihnachtszeit ------------------------------------ „Tadaima!“ Die Tür des Haupthauses schloss sich mit einem resoluten, dumpfen Geräusch hinter ihm. Stille begrüßte Takao, der seufzend die Mütze vom Kopf zog und die letzten Schneeflocken abschüttelte, die daran festhingen. Dann stellte er seinen Rucksack ab, entledigte sich seiner Jacke und der durchweichten Turnschuhe. Seine Hausschuhe waren verschwunden. Takao seufzte und zog sich die klammen Socken von den Füßen, um auf den Holzboden des Eingangsbereichs zu steigen. Eine fremde Jacke hing an seinem üblichen Haken. Ein Paar Wanderschuhe stand im Regal an seinem üblichen Platz, daneben hatte ein Paar schwarzer Schuhe den Platz von Hitoshis Hausschuhen eingenommen. Beides war nichts Unübliches; manchmal gab sein Großvater Privatstunden, und seine und Hitoshis Hausschuhe waren praktische Gästepantoffeln. Takao brummelte vor sich hin, während er nach seinem Rucksack fasste und mit kalten Füßen ihn in Richtung des Küchenbereichs schleppte. Vielleicht sollte er endlich in richtige Gästepantoffeln investieren.   Auch wenn sein Großvater vermutlich im Dojo war, war es seltsam dunkel und still im Haupthaus. Als Takao in Richtung seines Zimmers ging, fiel ihm auf, dass das Gästezimmer, das früher Hitoshi gehört hatte, offenstand. Er blieb verwundert stehen und beäugte den geöffneten Koffer misstrauisch. Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, ertönte ein bedenkliches Krachen aus Richtung des Hauptraumes. Takao schrak zusammen. Er stolperte fast über seine eigenen Füße, während er in die Gänge kam und in Richtung des Hauptraumes hastete. Vor seinem inneren Auge manifestierten sich Horrorszenarien aller Art; Großvater war gestürzt und hatte sich etwas gebrochen. Großvater hatte das altmodische Kohlebecken, auf das er bestand, umgeworfen. Großvater- „Ojii-chan?!“, alarmiert riss Takao die Schiebetür zur Seite und kam stolpernd zum Stehen.   Vor ihm waren Geister aufgetaucht, anders konnte er sich die Anwesenheit seines Vaters und seines Bruders nicht erklären. Tatsuya saß im Schneidersitz Ojii-chan gegenüber und drehte sich in seine Richtung, breites Grinsen und Vollbart, ganz wie Takao ihn in Erinnerung hatte. Hitoshi hingegen hantierte mit einer Lichterkette von bemerkenswerter Länge, die er wohl irgendwo anbringen sollte. Er machte ein skeptisches Gesicht und hatte wohl gerade den Koffer am Boden umgeworfen, nach dem er sich bückte. Irgendjemand hatte dein mobilen Heizkörper mitten in den Raum gestellt, der in der Ecke leise brummte. Sein Vater erhob sich langsam, schwerfälliger als Takao ihn in Erinnerung hatte, und breitete die Arme aus, ein breites Grinsen im Gesicht. „Takao!“ Der Angesprochene schloss den Mund, als er merkte, dass er offenhing, und blinzelte nochmals ungläubig. Konnte er sich trauen, sich die Augen zu reiben, oder würden die beiden Erscheinungen dann wieder verschwinden? „Was macht ihr denn hier?“, brach dann rau aus ihm hervor. Takao schluckte und überwand die letzten Schritte, um sich seinem Vater in die Arme zu werfen. „Papa!“ Wenn er seinen Großvater aus den Augenwinkeln zufrieden nicken sah, übersah Takao dies geflissentlich. Stattdessen versank er in der Umarmung. Dann fühlte er eine Hand durch sein Haar wuscheln. „Hey!“, protestierte er. „Wo hast du denn dein Glücks-Cap?“, fragte Hitoshi, während er den Arm freundschaftlich um Takaos Schulter schlang. Der lachte peinlich berührt. „In meinem Zimmer. Es ist grad zu kalt dafür, deswegen haben Kai und Hiromi mir eine Wintermütze geschenkt“, erklärte er leichthin. Hitoshi hob die Augenbrauen in die Höhe. „Kai?“, hakte er kopfschüttelnd nach. „Der Kai, den ich auch kenne? Das klingt nicht nach derselben Person“ Takao verdrehte die Augen. „Komm‘ schon, Hiro“, brummte er und stieß seinem Bruder den Ellbogen leicht in die Seite. „Er ist kein Ekel. Ihr könnt halt einfach nicht miteinander. Oder, Ojii-chan?“ Der alte Mann nickte und nippte an seinem Tee. „Es hilft, dass Hiromi-chan euch beiden die Hammelbeine lang zieht“, trietzte er gutmütig. Takao verdrehte nur die Augen, doch sein Vater wurde hellhörig. „Was höre ich da? Ein Mädchen?“ Der Dunkelhaarige wurde von seinem Großvater gerettet, der sich laut räusperte. „Jetzt macht doch mal wie Tür zur Engawa zu! Es zieht!“ Takao tat wie ihm geheißen und blickte sich suchend um, um vom Thema abzulenken. Die Lichterkette fiel ihm ins Auge. „Was habt ihr mit dem Ding vor?“ Tatsuya und Hitoshi grinsten einander auf eine Weise an, die einen eifersüchtigen Stich in Takaos Brust auslöste. „Weihnachtsbeleuchtung!“, verkündeten sie dann synchron, was Takao nur eine unverständige Grimasse ziehen ließ. „Was?“ Hitoshi nahm die Lichterkette wieder zur Hand. „Hilf mir mal!“ Sie begannen gemeinsam, die bunten Lichter an den Deckenbalken des Hauptraums anzubringen. Bald hatten sie eine Art Lichterketten-Himmel über sich. Während sein Großvater das Hauptlicht ausmachte, fasste Hitoshi nach dem Stecker der Lichterkette. Im Dunkeln, sein Vater neben sich, regte sich etwas in Takaos Hinterkopf; eine vage Erinnerung an seine Mutter, verbunden mit dem bunten Schein der Lichter und dem Gefühl von Armen, die ihn fest auf einer weichen Unterlage hielten, unter der ein dumpfes Pochen ihn einlullte. Er blinzelte angestrengt, versuchte das unscharfe Bild zu fokussieren, doch es verschwamm, zerrann in der wohligen Dunkelheit rundum. Ein Fluchen holte ihn zurück in die Realität, und einen Moment lang waren sie umgeben von bunten Lichtern, ehe eine Lampe in der Nähe von Hitoshi platzte. Das Licht, das die Engawa erleuchtet hatte, ging mit einem Mal aus.   Es war einen Moment lang komplett still. Dann ertönte ein leises Glucksen, das zu einem Lachen anwuchs. Hitoshi gab ein frustriertes Geräusch von sich. „Jedes Mal das gleiche!“, murmelte er eingeschnappt. „Ich bin der Herr der Stürme, verdammt, nicht der Herr der Lichterketten!“ Tatsuya grinste im Schein von Takaos Handy, der sich aufrappelte, um nach Kerzen zu suchen. Seine Augen funkelten schelmisch. „Der Strom ist aus, wir sind eingeschneit-“ Takao verdrehte die Augen. „Wir sind nicht eingeschneit, Papa! Es hat Plusgrade draußen!“ Sein Vater winkte ab. „Verwende doch deine Fantasie, Junge! Bringen sie dir an der Uni gar nichts bei?“ Der Jüngere der Kinomiya-Brüder schüttelte den Kopf und verbiss sich den Kommentar, dass er nicht an eine Uni ging, sondern bei der BBA arbeitete. Tatsuya überging dies geflissentlich. „Wie hält man sich in einer solchen Situation am besten warm?“, er grinste hoffnungsvoll in die Runde. Hitoshi verdrehte amüsiert die Augen. „Na komm schon, erzähl die Geschichte, wie du und Mama euch kennengelernt habt“ Kapitel 3: Dreimal Vorweihnachtszeit ------------------------------------ Kai war kein Morgenmensch; außer seiner Mutter wusste das kaum ein Mensch. Er blinzelte angestrengt auf seinen Wecker, der ihn zum wiederholten Male daran erinnerte, dass er aufstehen und sich für sein Praktikum bereitmachen musste. Der Silberhaarige gab ein unwilliges Geräusch von sich, während er seinHandy vom Nachttisch nahm und mit einem Wischen über den Bildschirm zum Schweigen brachte. Er blinzelte, schon etwas wacher, auf das Display; das Icon seines Messengers kündigte eine Nachricht von Yuriy an.   03:52 Yuriy: (Selfie aus dem Bett: Yuriy ist bis zur Nase zugedeckt, die Augen hängen auf Halbmast) Yuriy: Ich will nur noch schlafen.   06:42 Kai: (Selfie aus dem Bett: Von Kai sind nur ein wuscheliger Haarschopf und seine Augen zu sehen) Kai: Ich will nicht aufstehen   Das vorsichtige Klopfen seiner Mutter riss ihn wenig später doch aus dem Bett; es dauerte nicht lange und Kai ließ sich noch in seinen Schlafshorts und T-Shirt auf seinen üblichen Platz am Esstisch sinken, seiner Mutter gegenüber. Sie tranken schweigend Tee, bis Soichiro aus seinem Zimmer gerollt kam. Er navigierte seinen Rollstuhl ans Kopfende des Tisches, wo Misaki ihm bereits Tee einschenkte. Kais Handy vibrierte in seinem Schoß. Er ignorierte den strengen Blick seiner Mutter, während er die auf die neue Nachricht tippte, um sie zu lesen.   07:00 Yuriy: Wenigstens leiden wir gemeinsam. :*   07:03 Kai: Solltest du nicht noch schlafen?   Ein missbilligendes Räuspern vonseiten seines Großvaters brachte Kai in die Realität zurück. Sie maßen einander für einen langen Moment mit Blicken, ehe Kai aufstand und wortlos an ihm vorbeiging. Er hörte Soichiro etwas Abfälliges über „die Jugend von heute“ und „kein Respekt“ murmeln und verdrehte die Augen.   07:05 Yuriy: Was ist Schlaf?   07:12 Kai: Laut Urban Dictionary solltest du schlafen gehen, wenn du „sleep“ nachschlägst.   07:13 Yuriy: LOL Yuriy: (Foto eines verschlafenen Yuriy, Haare im kurzen Pferdeschwanz, in einem blauen Hemd, der konzentriert in seine Tee-Tasse starrt) Yuriy: Borya sagt ich kann bald die Zukunft aus meinem Tee lesen wenn ich sie weiter anstarre.   Kai trottete nach einem kurzen Zwischenstopp im Badezimmer lustlos zu seinem Schrank und suchte nach geeigneter Kleidung für die Arbeit in der Firma seiner Familie. Er machte das Praktikum nicht gerne, aber es brachte Geld und Berufserfahrung ein. Er zog sich seufzend den Anzug an, knöpfte das Hemd mit einer Hand zu, während er mit der anderen eine Antwort an seinen Freund tippte.   07:18 Kai: Siehst du darin, wann ich dich besuchen komme?   07:22 Yuriy: Hoffentlich bald, sagt der Tee. Er ist auch noch nicht so ganz wach.   Kai überlegte kurz, ehe er sich nach einem Blick auf die Uhr – er hatte noch genug Zeit, bevor seine Mutter und sein Großvater bereit waren, in die Firma zu fahren – einmal durchs Haar fuhr und sich vor den Spiegel stellte. Er versuchte lässig zu wirken, atmete tief ein und aus und schoss gefühlt fünfzig Bilder von sich im Anzug, bis er eines hatte, auf dem er nicht seltsam beleuchtet war oder eine dumme Grimasse schnitt.   07:34 Kai: (Selfie von sich im dunklen Anzug, eine Hand lässig in die Hosentasche gesteckt, das weiße Jackett lässig offen gelassen. Er grinst sein Spiegelbild schelmisch an)   Sein Handy vibrierte in dem Moment, als Misaki nach ihm rief, und Kai kam erst gefühlt eine Ewigkeit später dazu, überhaupt die Antwort zu lesen, die der Rotschopf ihm geschickt hatte. Seine Mutter bestand darauf, dass er in jeder ihrer Abteilungen einige Zeit arbeitete, um ihre Abläufe kennenzulernen. Hinter ihm lag also eine Einführung in seine neuen Aufgaben, er hatte seinen neuen Arbeitsplatz in der Buchhaltung bezogen und mehrere Kartons an Unterlagen, die er während der nächsten Tage sortieren sollte, vor sich. Er schielte kurz in Richtung seines momentanen Vorgesetzten – der Chefbuchhalter war scheinbar ein schwarzer Magier mit Zahlen –, ehe er unauffällig sein Handy aus der Tasche zog.   07:35 Yuriy: Das hat meinen Tag definitiv besser gemacht. Danke.   10:32 Kai: Ich kann ihn noch besser machen.   10:35 Yuriy: Wie? Stehst du gleich vor der Schule und nimmst mich mit?   10:36 Kai: Leider nicht. Würde es dich trösten zu wissen, dass ich keine Unterwäsche trage?   Kapitel 4: Viermal Vorweihnachtszeit ------------------------------------ Mao lungerte gemeinsam mit Lai am Rand der Tanzfläche vor der kleinen Bühne im Loop, einer Bar, in der regelmäßig Live-Musik spielte und die seine Schwester seit kurzem besuchte, weil dort ein gewisser Bassist, für den sie schwärmte, Stammgast war. „Die Band ist so gut!“, plapperte sie aufgeregt, während sie darauf warteten, dass besagte Band – Lai wusste nichts über sie, abgesehen von Maos Schwärmereien über das Aussehen des besagten Bassisten – endlich auftauchte und das Konzert losgehen konnte. Der Schwarzhaarige zuckte unbeteiligt mit den Schultern, ließ seine Schwester reden. Ihn interessierte die Musik nicht wirklich; eigentlich interessierte ihn momentan gar nichts, bis auf – Lai unterbrach seinen Gedankengang, indem er heftig den Kopf schüttelte. Seine kleine Schwester sandte ihm einen Blick, der alles heißen mochte, von du armer, liebeskranker Trottel (Er war liebeskrank, aber kein Trottel. Sein Schwarm würde ihn niemals wollen) zu fang‘ dich endlich du Dramaqueen. (Er war weder eine Queen noch Drama, aber damit kam er bei Mao nicht durch.) Bevor er den Mund öffnen und etwas erwidern konnte, trat die Band auf die kleine Bühne und Mao hängte sich an seinen Arm, während die Menge schwerfällig in Bewegung geriet. „Wir müssen näher ran!“, beschloss sie in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ. Noch bevor er reagieren konnte, zerrte sie ihn mit sich in die Menge. Er stolperte ihr hinterher wie auf den unsicheren Brettern eines Floßes in der stürmischen See, ohne innere Balance oder Balance in seinen Gliedern. Er wurde von allen Seiten her angerempelt, während seine kleine Schwester sich scheinbar mühelos durch die Menge hindurch bewegte, bis sie einen Platz gefunden hatte, der ihr zu gefallen schien, ganz vorne an der Bühne. Lai suchte nach einem Griff, fand jedoch keinen, brandete an der Bühne auf und wurde durch die stürmischen Wogen der Tanzenden weggerissen. Der pinke Haarschopf seiner Schwester verschwand. Lais Atem wurde kurz – ob das an der Menge lag oder an der aufsteigenden Desorientierung zwischen blitzenden Lichtern und lauter Musik wusste er nicht. Jemand Unbekanntes schubste ihn nach hinten und seine Füße verloren den Boden unter sich.   Lai machte sich schon darauf gefasst, mit dem klebrigen Boden und den trampelnden, springenden Fußen der Tanzenden rundum Bekanntschaft zu machen.   Anstelle des Bodens rammte der Chinese einen Unbekannten hinter sich, der einen erstickten Laut von sich gab. Beinah automatisch schlossen sich sehnige Arme um ihn, hielten seinen Fall auf. Unter dem festen Griff fiel es Lai plötzlich leichter, zu atmen. Er fing sich, gewann ein wenig Balance in sich und in den Füßen zurück. Als er sich umdrehte, um sich zu entschuldigen und zu bedanken, stockte er. Der rote Haarschopf kam ihm seltsam bekannt vor: Der Chinese blinzelte überrascht als er Raul Fernandez erkannte, der verlegen grinste. „Raul, du-“, Lai schluckte trocken, während seine Füße, die soeben noch im Meer aus Menschen den Boden verloren hatten, feste Wurzeln schlugen. „Ich-“ „Lai“ Rauls grüne Augen blitzten einen Moment lang im Scheinwerferlicht auf, ernst, dann weich. Verdammt. Lai hatte nicht damit gerechnet, ausgerechnet im Loop auf den anderen zu treffen. „Warum bist du hier?“, platzte es aus ihm hervor. Der Spanier blinzelte überrascht, ehe er in Richtung der kleinen Bühne zeigte. Er sagte etwas, doch das ging im Schlagzeuggewitter unter und Lai traute sich nicht, nochmal nachzufragen. Er folgte Rauls Geste in Richtung Bühne, auf der eine Frau mit Gitarre neben den Sänger getreten war. Lai erkannte zwischen den grellen Lichtern der rotierenden Scheinwerfer Julia Fernandez, herrisch und selbstbewusst auf eine einschüchternde Art, selbst aus der Distanz, mit einer Gitarre in der Hand.   Raul – für dessen grüne Augen Lai schwärmte seit er ihn zum ersten Mal gesehen hatte – hatte ihn noch nicht losgelassen. Seine Hände umfassten Lais Unterarme warm und fest, erdeten ihn gegen die Musik. Der Spanier lächelte und beugte sich vor, an Lais Ohr. „Das nächste Stück ist unglaublich gut!“, rief er. „Tanzen wir?“ Lai schluckte, ehe er nickte, das Herz in der Kehle. Sie warteten, bis das nächste Lied begann, das voller weicher Klänge war. Raul begann sich zu wiegen, langsam und im Takt mit dem Schlagzeug, das nach den ersten Akkorden einsetzte. Bald fühlte er, wie sie im Klang verschwammen, sich sanft in den Wellen der Menge treiben ließen. Diesmal ließ Lai es zu, sträubte sich nicht dagegen, sondern überließ die Führung Raul, dessen Hände ihn niemals verließen. Der Chinese fühlte sich seltsam körperlos und zugleich war die Berührung wie ein elektrischer Schlag, der ihm bis ins Herz fuhr. Er lauschte dem dumpfen Pochen des Herzschlags in seinen Ohren, das im Rhythmus zum Bass schlug.   Inmitten der Menge sah er auf und zu Giulia. Ihr Blick schweifte über die Menge, blieb in seiner Nähe hängen – und plötzlich zwinkerte sie Lai zu. Oder war das nur Einbildung? Lai schluckte, trat einen halben Schritt zurück, um seine Hände von Raul zurückzuziehen. Dieser sah ihn einen Moment lang verwirrt, sehnsüchtig an, ehe Lai in den leiser werdenden Klängen des Stückes sein Gesicht in die Hände nahm und ihn küsste, im Rhythmus des Schlagzeugs, seines wilden Herzschlags im Meer aus Farbflecken und Klängen. Kapitel 5: Fünfmal Vorweihnachtszeit ------------------------------------ „Max, bist du dir sicher, dass das funtioniert?“ Judy beäugte das improvisierte Stativ vor dem Herd, das Max‘ Handy halten sollte, während sie Taro beibrachte, wie man Judy Tates patentierte heiße Schokolade zubereitete. Der Blonde verdrehte die Augen; seine Mutter war ihm während der letzten zwei Tage, als sie die kleine Weihnachtsüberraschung für Charlotte geplant hatten, unglaublich auf die Nerven gefallen. Vielleicht war es auch der erneute Lockdown, der sie dazu zwang, in Boston zu bleiben, während Charlotte und Taro in Bakuten waren. Seine Mutter blickte auf die Uhr. Es war 18:00 Uhr – acht Uhr früh führ Charlotte und Taro in Tokyo. „Dein Vater müsste jeden Moment anrufen. Hast du alles getestet? Bist du dir sicher, dass die Kopfhörer funktionieren? Und das Mikrofon?“, drängelte sie, zum gefühlt zehnten Mal in den letzten zehn Minuten. „Mom“, Max seufzte langgezogen und zog sein Handy aus der Hosentasche. „Du machst dir unnötig Sorgen. Das klappt, ich hab‘ alles hundertmal getestet! Du bist neben mir gestanden!“ „Aber was, wenn-“, wollte Judy gerade widersprechen, da wurden sie schon von Max‘ Klingelton unterbrochen. Der Blonde zwang ein aufmunterndes Lächeln auf seine Lippen, ehe er den Videoanruf entgegennahm. „Hey, Dad!“, begrüßte er seinen Vater, der ihm entgegenstrahlte. „Hallo mein Junge! Wie geht es euch drübern in den Staaten?“, fragte Taro mit einem breiten Grinsen. Er trug die Schürze, die er normalerweise trug, wenn er an Beyblades für Kunden arbeitete. Im Hintergrund hörte man einen fröhlichen Ruf. „Charlotte ist auch schon bereit fürs Frühstück“, stellte Max amüsiert fest. „Darf ich kurz mit ihr reden?“ Taro drehte mit den Worten „Aber klar doch“ sein Handy, sodass es vor der Dreijährigen platziert war, die freudig in die Kamera winkte als sie das Videofeed ihres Bruders erkannte. „Max!“, rief sie freudig aus. „Hallo Schwesterherz! Bist du brav?“, fragte der Blonde leichthin, während ihm das Herz schwer wurde. Charlotte begann in einer für Außenstehende lustigen Mischung aus Japanisch und Englisch zu brabbeln. Max verstand nicht alles, konnte jedoch aus dem Kontext schließen, dass seine kleine Schwester ihm die Gutenachtgeschichte vom letzten Abend erzählte. Nach einer Weile tauchte sein Vater wieder im Bild auf. „Willst du mit Mama reden?“, fragte Max auch wie aufs Stichwort. Taro nickte mit einem verlegenen Grinsen – irgendwie war es schon süß, dachte Max, während er sein Handy ins improvisierte Stativ spannte und sich dann aus der Küche entfernte, um das Puzzle von Van Goghs Sonnenblumen, das er vor zwei Tagen aus der hintersten Ecke der Abstellkammer herausgezogen hatte, weiterzupuzzlen. Er hörte seine Mutter dumpf durch die geschlossene Tür von den Zahlen der neu infizierten Covid-Fälle in ihrem Bezirk sprechen, von den geplanten Teststraßen, von der Online-Lehre, zu der sie momentan gezwungen war. Es war inzwischen ein altes Lied, und er war müde davon. Max griff nach den Kopfhörern um seinen Hals, um mit einer Playlist ein wenig die Welt zu vergessen.   Er wusste nicht, wie lange er Musik hörte und an Van Goghs Sonnenblumen scheiterte; einige Zeit später riss ihn seine Mutter mit einer Tasse heißer Schokolade und seinem Handy aus seiner Versenkung. Auf dem Handy lief noch der Videochat. „Ich hab‘ heiße Schokolade mit Marshmallows gemacht!“, verkündete sein Vater stolz. „Ich hab‘ sie auch nur zweimal angebrannt!“ Max lachte, während Judy in einer Mischung aus Schicksalsergebenheit und Zuneigung seufzte. „Ich werde nie verstehen, wie du selektiv gut kochen kannst, Liebling. Lasst sie euch schmecken!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)