Ein Opfer bringen von Kerstin-san ================================================================================ Kapitel 1: Ein Opfer bringen ---------------------------- Die Stille, die auf Sherlocks Wutausbruch folgt, hallt viel lauter nach, als es eigentlich möglich sein sollte. Fassungslos wandert Mycrofts Blick über die zerstörten Überreste des Sarges, die im gesamten Raum verstreut sind, und die der stumme Zeuge von Sherlocks Wut und Verzweiflung sind. Wut, weil er von Eurus ausgetrickst wurde und Verzweiflung darüber, was er mit diesem einen Anruf Molly Hooper angetan hat. Es ist schwer das Gefühl richtig einzuordnen, das nun in dem ältesten Sprössling der Familie Holmes aufsteigt, aber er identifiziert es als Bedauern. Mycroft empfindet Bedauern gegenüber Sherlock. Er hat immer gewusst, dass Gefühle keinen Vorteil bringen und auch Eurus hat mit dieser gefährlichen Schwäche gespielt. Emotionaler Kontext, um es mit ihren Worten zu sagen. Nach einem letzten sorgenvollen Blick zurück, schenkt Mycroft dem nächsten Raum seine volle Aufmerksamkeit. Selbst ein neuerlicher, kurzer Einspieler von James Moriarty, vermag Mycrofts Interesse nicht auf sich zu ziehen. Er würde es niemals zugeben, aber ihm graut es davor, zu erfahren, was seine Schwester als nächstes geplant hat. Doch abgesehen von einigen Bildschirmen, die die Wände zieren, und einem weißen Tuch, das in der Mitte des steinernen Fußbodens ausgebreitet ist, befindet sich offenbar nichts in dem Raum. Nun nichts, außer ihm, Sherlock und Doktor Watson, der seinem Bruder, wie so oft, direkt auf dem Fuße folgt. Dennoch bleibt ob des unscheinbaren Raumes ein nagender Zweifel in ihm zurück. Er hat das Gefühl, eigentlich wissen zu müssen, was Eurus als nächstes vorhat. Keiner kennt sie besser als er und auch wenn er in den letzten Jahren sein Möglichstes getan hat, um sich nicht persönlich mit ihr zu beschäftigen, sollte er doch in der Lage sein, ihren Gedankengängen wenigstens ansatzweise folgen zu können.   Sherlock weicht geflissentlich dem Blick seines älteren Bruders aus, als er den Raum durchquert und zielsicher auf den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand zusteuert. „Hey, Sis“, ruft er und bei dieser saloppen Ansprache zuckt Mycroft innerlich zusammen. „Ich will ja nicht meckern“, fährt Sherlock fort, „aber der Raum ist leer. Was ist? Sind dir die Ideen ausgegangen?“, schiebt er provozierend hinterher. Was würde Mycroft jetzt dafür geben, wenn sein kleiner Bruder seine Gedanken lesen könnte. Warum muss er sie jetzt auch noch reizen? Egal, wie wütend Sherlock ist, diese Schwäche sollte er nicht zeigen. Die Bildschirme erwachen flackernd zum Leben und Eurus' Augen scheinen triumphierend aufzuleuchten, während sie sich näher in Richtung der Kamera lehnt. „Er ist nicht leer, Sherlock“, korrigiert sie mit süßlich, sanfter Stimme. „Du hast doch noch die Waffe, nicht wahr?“, fragt sie und Mycroft schwant übles. „Ich sagte ja, du würdest sie brauchen, denn das nächste Spiel ist nur für zwei. Nur zwei von euch kommen ab hier weiter. Du entscheidest.“ Ihre Augen leuchten noch manischer und während Doktor Watson unschlüssig das Gesicht verzieht, ahnt Mycroft nur zu gut, wie das hier enden wird. Er wünschte, es wäre nicht so. „Zeit für Wer die Wahl hat, hat die Qual“, säuselt Eurus. „Wessen Hilfe brauchst du am nötigsten?“, fragt sie lauernd und fixiert Sherlock. „Johns oder Mycrofts? Das nennt man K.O.-Runde. Für den einen entscheidest du dich, den anderen erschießt du. Du musst dich entscheiden. Familie oder Freund. Mycroft oder John Watson.“ Sherlock dreht sich mit versteinertem Gesicht zu seinem besten Freund und seinem Bruder um. Er sieht bereits jetzt wie ein geschlagener Mann aus, während Doktor Watson nur ungläubig und entsetzt zugleich den Kopf schütteln kann. Mycroft hingegen weiß genau, was er nun zu tun hat und als wieder einmal eine Sequenz von Jim Moriarty eingespielt wird und dieser die Geräusche einer tickenden Uhr imitiert, erscheint ihm das nur allzu passend. Der Countdown läuft. Sein Countdown.   Mycroft strafft sich, während sein Herz wild zu pochen beginnt. „Eurus, Schluss jetzt!“, ruft er mahnend, ganz der tadelnde, ältere Bruder, der seine ungezogene, kleine Schwester zurecht weisen will, und wie beabsichtigt wendet sich ihre Aufmerksamkeit ihm zu. „Ich würde sagen... Noch nicht!“, entgegnet sie gut gelaunt und lächelt ihn strahlend an, was Mycroft lediglich einen kalten Schauer über den Rücken laufen lässt. „Aber fast. Denkt daran, da ist ein Flugzeug in der Luft und das wird nicht landen“, schiebt sie genüsslich hinterher. Sherlock runzelt konzentriert die Stirn, aber Mycroft seufzt nur auf und tritt vor, direkt an den Rand des weißen Tuches. Zeit dem Spiel eine neue Wendung zu geben. „Tja“, sagt er und Sherlock blickt ihn irritiert an. „Tja, was?“, will er gereizt wissen. „Da gibt es doch nichts zu diskutieren, oder?“, fragt Mycroft ernst. Er dreht sich halb zu John Watson um, der bisher noch gar nichts gesagt hat und blickt ihm fest in die Augen. „Es tut mir leid, Doktor Watson. Sie sind in vielerlei Hinsicht ein guter Mann.“ Und das ist nicht einmal eine Lüge. John Watson hat mehrfach bewiesen, dass man sich auf ihn verlassen kann und es ist ihm ein kleiner Trost, dass der Arzt in Zukunft ein Auge auf Sherlock haben wird. Wenn möglich, sieht der ehemalige Soldat daraufhin allerdings noch ahnungsloser als zuvor aus. Wohl kalkuliert wendet Mycroft sich wieder von ihm ab und fixiert stattdessen Sherlock. „Sag Lebewohl und dann erschieß ihn“, meint er kühl und wedelt auffordernd in die Richtung des Doktors. Er sieht seinem Bruder direkt in die Augen, bevor er den Befehl eindringlich wiederholt. „Erschieß ihn!“ Das entsetzte und fassungslose „Was?“, das der Mediziner daraufhin ausstößt, ist wie Musik in Mycrofts Ohren. Ihn hat er also schon von seiner Ernsthaftigkeit überzeugt. Doktor Watson tritt aufgebracht näher und unwillkürlich fragt Mycroft sich, ob dieser ihm gleich einen Kinnhaken verpassen wird. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass jemand aus der Familie Holmes Bekanntschaft mit seinen Fäusten machen muss. „Erschieß Doktor Watson“, präzisiert er, auch wenn seine Worte an Sherlock gerichtet sind „Es steht nicht zur Debatte, wer ab hier weiter machen wird. Das sind wir“, erklärt er ruhig und beherrscht. „Du und ich. Was uns auch erwartet, es erfordert geballten Verstand, Sherlock. Keine Gefühle. Lass ihn nicht unnötig leiden. Erschieß ihn.“ Sherlock sieht genauso sprachlos aus wie Eurus, die das Schauspiel gebannt verfolgt, wie Mycroft ein kurzer Blick zu dem hinteren Bildschirm beweist. Exzellent, solange sein kleiner Bruder den Plan, auf den Mycroft eigentlich abzielt, nicht erkennt, ist alles in bester Ordnung. Gegen diese kühle Logik gibt es kein rationales Gegenargument, was Sherlock nur zu gut wissen sollte. „Darf ich auch was dazu sagen?“, mischt sich der Doktor ein und Mycroft schenkt ihm widerwillig seine Aufmerksamkeit. Am besten appelliert er an die Treue und das Pflichtbewusstsein des ehemaligen Soldaten. Eindringlich sieht er dem Mann in die Augen. „Heute sind wir Soldaten“, erklärt er ruhig. „Soldaten sterben für ihr Land. Ich bedauere, Doktor Watson, dieses Privileg ist nun das Ihre.“ Er neigt höflich den Kopf und kann den genauen Moment ausmachen, in dem der Mann vor ihm die volle Wahrheit seiner Worte erkennt. John Watson kann nicht leugnen, dass für das Spiel von Eurus ein kühl kalkulierender Verstand mehr wert ist, als seine medizinischen Fähigkeiten, seine emotionalere Grundeinstellung oder die Tatsache, dass er für gewöhnlich als Sherlocks Moralkompass fungiert. „Scheiße“, rutscht es dem Mediziner daraufhin heraus. „Er hat Recht“, meint er ungläubig, während er Sherlocks Blick sucht. „Er hat in der Tat Recht.“ Er sieht angesichts dieser Feststellung erstaunlich verdutzt aus, obwohl es für ihn eigentlich nichts Neues sein sollte, dass Mycroft für gewöhnlich richtig liegt. „Mach es kurz“, fordert Mycroft seinen Bruder auf, der sich bislang nur dadurch auszeichnet, gar nichts zu sagen. „Zieh sein Leiden nicht in die Länge. Na los, bring es hinter dich, damit wir weiter kommen.“ Sherlock zögert, ehe er die Augen schließt und seine Lippen fest zusammen presst. Mycroft kann nur vermuten, dass er sich für das Unvermeidliche wappnet und wird von plötzlicher Panik durchflutet, dass er seine Rolle nicht überzeugend genug gespielt hat und Sherlock sich gerade wirklich dafür bereit macht, seinen besten Freund zu erschießen. Er schnaubt daher höhnisch auf, ehe er auch noch ein verächtliches Lachen ausstößt. „Oh Gott!“, seufzt er missbilligend und bemüht sich das richtige Maß an Verachtung in seine Stimme zu legen. „Das war ja zu erwarten, klar. Jämmerlich. Du warst immer der Langsame, der Idiot.“ Kurz zuckt Sherlocks Augenbraue nach oben, als wolle er ihm widersprechen und so wie ein Adler auf seine hilflose Beute hinabstößt, stürzt sich Mycroft begierig auf diese emotionale Regung seines jüngeren Bruders. Den kleinen, aber entscheidenden Hinweis, dass er zu Sherlock durchdringt und seine Worte ihn nicht so kalt lassen, wie dieser vorgibt. „Dafür hab ich dich schon immer verachtet“, fährt er blasiert fort. „Du blamierst uns. Du bringst Schande über unseren Namen.“ Das er dabei mehr an sich selbst als an Sherlock denkt, muss dieser ja nicht erfahren. „Tu einmal in deinem Leben das Richtige“, schiebt er dann noch hinterher und setzt zu seinem großen Finale an. „Befrei diesen dummen, kleinen Mann von seiner Qual und erlöse uns. Erschieß ihn!“ „Hör auf“, murmelt Sherlock, der ihm noch immer nicht in die Augen sieht, sondern angelegentlich den Fußboden mustert. „Sieh ihn dir doch mal an“, fordert Mycroft ihn auf. Ein kurzer Blick zu John Watson verrät ihm, dass dieser sich in sein vermeintliches Schicksal gefügt hat und ausdruckslos vor sich hin starrt. „Er ist nur ein Zeitvertreib für dich. Eine schlichte Natur, die du beeindrucken und mit deiner Klugheit einschüchtern kannst. Du findest einen neuen.“ „Bitte, um Himmels willen, jetzt hör auf“, zischt Sherlock, der sich mittlerweile von ihm abgewandt hat, als würde ihm alleine Mycrofts Präsenz körperliche Schmerzen bereiten. „Warum?“, bohrt er nach. „Weil“, setzt Sherlock an, bevor er sich umdreht und dabei immer noch vehement Mycrofts Blick ausweicht, „unterm Strich sogar deine Lady Bracknell überzeugender war.“ Verblüffung durchzuckt Mycroft, ehe er geschlagen seine Augenbrauen hebt und sich eingestehen muss, dass seine Schauspielkünste vielleicht ausreichen, um den immer noch ahnungslosen John Watson zu täuschen, aber nicht seinen kleinen Bruder. Sherlock wendet sich an seinen besten Freund, der noch immer nicht zu verstanden haben scheint, was hier vor sich geht. „Ignorier, was er gesagt hat“, sagt Sherlock. „Er wollte nur nett sein und es mir einfach leichter machen, ihn zu töten.“ Kurz zögert er. „Was es jetzt nur umso schwieriger machen wird“, setzt er dann fast flüsternd hinzu und richtet die Pistole schlussendlich auf Mycroft. „Ich dachte, du mochtest meine Lady Bracknell“, meint dieser indigniert, bevor sein Blick wie magisch von dem Pistolenlauf vor ihm angezogen wird. Sein Herzschlag scheint kurz auszusetzen, ehe sich seine Pulsfrequenz drastisch erhöht. „Sherlock!“, ruft John Watson beschwörend, während er seinen Freund eindringlich fixiert. „Nicht!“ Mycroft dreht sich zu dem Mediziner um. „Es ist nicht Ihre Entscheidung, Doktor Watson“, erklärt er ihm ruhig, bevor er sich wieder seinem Bruder zuwendet. Sie beide sind sich in dieser Sache einig und nichts, was John Watson sagen könnte, wird daran etwas ändern. „Aber nicht ins Gesicht, bitte“, versucht er es mit einem Anflug von Humor. „Ich habe mein Gehirn der Royal Society versprochen.“ So gut es geht, versucht er Eurus' Gesicht auszublenden, die das Schauspiel höchst konzentriert, aber dankenswerterweise ohne verbale Zwischenbemerkungen verfolgt. „Wo würdest du vorschlagen?“, erkundigt Sherlock sich höflich und Mycroft beginnt mit zitternden Fingern an seinem Hemdkragen zu nesteln, der seine Kehle auf einmal einzuschnüren scheint, ehe er sich bemüht das Ganze als Versuch, seine ohnehin schon makellos sitzende Krawatte zu richten, zu kaschieren. „Nun, ich nehme doch an, dass ich irgendwo in mir ein Herz habe“, sagt er dabei betont munter. „Ich denke, es gibt als Ziel nicht besonders viel her, aber wir können es ja mal versuchen.“ Eine Ruhe vorschützend, die er nicht wirklich verspürt, fixiert er Sherlock und bemüht sich, das Beben seiner Finger zu unterdrücken. Mit einem Mal mischt sich Doktor Watson, den Mycroft fast schon komplett ausgeblendet hatte, wieder ein. „Das werde ich nicht zulassen“, verkündet der ehemalige Soldat entschlossen und macht Anstalten, sich zwischen Mycroft und Sherlock zu schieben. Auch wenn er und der Doktor ihre Differenzen haben mögen, scheint dieser wild entschlossen zu sein, einen Brudermord zu verhindern. Nun, das wird ganz sicher nicht passieren, solange Mycroft selbst, etwas in dieser Sache zu sagen hat. Er verdient es nicht anders. „Das ist meine Schuld“, gesteht er daher, während er John Watson eindringlich ansieht. Es ist seine letzte Möglichkeit, Sherlock und dessen bestem Freund klarzumachen, dass all das nur passiert ist, weil er sich eine kapitale Fehleinschätzung erlaubt hat. Und vielleicht wird dieses Wissen es Sherlock leichter machen abzudrücken. „Moriarty“, fügt er erklärend hinzu, was seinen Bruder allerdings nur dazu bringt, ihn völlig verdutzt anzusehen. „Moriarty?“, hakt er verwundert nach und Mycroft wird schmerzlich klar, dass Sherlock bisher wirklich nicht geahnt hat, dass sein großer Bruder eine immense Mitschuld an Moriartys sadistischem Spiel mit ihm trägt. Aber nun ist es an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen - zumindest teilweise. „Ihr Weihnachtsgeschenk“, erklärt er knapp, denn diese Entscheidung ist keine, auf die er auch nur ansatzweise stolz ist. Das ausgerechnet er sich von Emotionen hat beherrschen lassen und Eurus damit die Möglichkeit gegeben hat, ihn zu übertölpeln... Ein fundamentaler Fehler, für den er jetzt bezahlen wird. „Fünf Minuten Gesprächszeit mit Jim Moriarty, vor fünf Jahren.“ Er muss Sherlocks argwöhnischen und ungläubigen Gesichtsausdruck gar nicht erst sehen, um zu wissen, dass sein kleiner Bruder sich gerade fragt, wie er so etwas nur zulassen konnte. „Worum ging es da?“, will Sherlock misstrauisch wissen und spätestens jetzt würde Mycroft es vorziehen, dieses Gespräch nicht führen zu müssen. Aber er schuldet Sherlock zumindest diese Wahrheit. „Fünf Minuten Gesprächszeit - ohne Überwachung.“ Dieser Zusatz scheint wie eine Bombe einzuschlagen. Dankenswerterweise sind sowohl Sherlock als auch Doktor Watson zu überrumpelt, um das verbal zu kommentieren. Nicht, dass sie irgendetwas sagen könnten, dass er sich nicht selbst schon vorgeworfen hat. Allerdings spricht bei beiden ihre Körpersprache für sich. Während John Watson kopfschüttelnd aus der Schusslinie tritt, seufzt Sherlock nur auf, ehe er langsam und widerwillig die Waffe auf Mycroft richtet. „Leb wohl, Bruderherz“, sagt Mycroft aufrichtig. „Keine Blumen, wäre mein Wunsch“, fügt er hinzu. Er erspart es sich, Sherlock das ganze Ausmaß seiner eigenen Unbesonnenheit zu offenbaren. Wie Eurus ihre damalige fünfminütige Gesprächszeit optimal einzusetzen gewusst hat und James Moriarty daraufhin auf einmal über Informationen zu Rotbart verfügte und Mycroft gegenüber ganz beiläufig erwähnt hat, dass er sich da vielleicht verplappern könnte, sollte dieser ihm nicht etwas entgegen kommen. Was unweigerlich darin resultierte, dass er sich genötigt sah auf Moriartys Forderungen einzugehen und nebenbei an einem Plan zu arbeiten, wie er diesen Fauxpas wieder unauffällig korrigieren konnte. Glücklicherweise hat Sherlock ihm damals genug vertraut, um seinem höchst riskanten Vorschlag, wie sie beide Moriartys kriminelles Netzwerk zerstören könnten, zuzustimmen. Es war ein mehr als waghalsiger Plan, bei dem er und sein kleiner Bruder immer wieder improvisieren mussten, der aber am Ende doch von Erfolg gekrönt war, womit er guten Gewissens einen Schlussstrich unter die ganze blamable Angelegenheit ziehen konnte - zumindest dachte er das. Denn als weitere Konsequenz aus seiner immensen Fehleinschätzung von Eurus, hat der Vorfall mit Moriarty dazu geführt, dass Mycroft seitdem jeden persönlichen Kontakt zwischen sich und seiner hochintelligenten Schwester unterbunden und Sherrinford bis heute nie mehr persönlich betreten hat, sondern sich ganz auf telefonische Versicherungen und schriftliche Berichte zu Eurus verlassen hat. Was ein weiterer kapitaler Fehler war, da genau das letztlich dazu geführt hat, dass seine Schwester unbemerkt die Kontrolle über diese streng gesicherte Einrichtung erlangen konnte. Nur weil er wegen eines Fehlers seine eigene Qualifikation, die Sache mit Eurus zu bewerkstelligen, angezweifelt hat - etwas, auf das Eurus gesetzt haben muss. Wie ein Puppenspieler seine Marionette tanzen lässt, hat auch er genauso reagiert, wie sie es berechnet und einkalkuliert haben muss. Er hat sich so durchschaubar verhalten, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. „Jim Moriarty hat sich gedacht, dass du dich so entscheidest. Er fand es sensationell“, haucht Eurus, die von der Wendung der Ereignisse ganz hingerissen zu sein scheint, was in Mycroft einmal mehr ein Gefühl des tiefsten Widerwillens aufsteigen lässt. Erneut blendet sie eine der kleinen Aufzeichnungen von James Moriarty ein, die den Raum in ein rötliches Zwielicht tauchen. „Da wären wir“, ertönt die bekannte Stimme des Iren. „Endstation. Holmes tötet Holmes. Ich muss jetzt hier aussteigen.“ Mit einem Klicken bricht die Videosequenz wieder ab und Sherlock starrt Mycroft verbissen ins Gesicht. „Fünf Minuten“, zischt er wütend. „Sie hat nur fünf Minuten gebraucht, um uns all das anzutun...“ Die unverhohlene Wut, die in seiner Stimme mitschwingt, bringt Mycroft dazu, ihn besorgt anzusehen. Seine Kalkulation sah vor, dass Sherlock wütend auf ihn sein sollte und nicht auf Eurus. Um sie zu schlagen, muss sein kleiner Bruder sich beherrschen und einen kühlen Kopf bewahren, statt sich von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen und sie womöglich noch zu etwas Unüberlegtem zu provozieren. Etwas, das, wie Mycroft gerade erschrocken erkennt, plötzlich durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Sherlock taucht einen Blick mit John Watson, eher er leise ein „Nein, nicht mit mir“, murmelt. Er lässt die Waffe sinken, was nicht nur Mycroft überrascht. Auch Euros scheint mit dieser Wendung nicht gerechnet zu haben. „Was machst du da?“, fragt sie alarmiert. So, als würde Sherlock eine Reaktion zeigen, die sie nicht vorausgesehen hat und auf die sie daher keine adäquate Antwort parat hat. Auch er selbst ist mit einem Mal hochgradig angespannt. Was hat Sherlock nur vor? „Vor kurzem hat ein tapferer Mann darum gebeten, ihn nicht zu vergessen“, beginnt Sherlock in Anspielung an den verstorbenen Gefängnisdirektor. „Im Gedenken an den Direktor“, fügt er hinzu, bevor er die Pistole unter sein eigenes Kinn presst und damit beginnt, von zehn an rückwärts zu zählen. Lähmendes Entsetzten durchfährt Mycroft, der nur hilflos einen winzigen Schritt nach vorne stolpern kann, ehe seine Muskeln sich weigern, ihn näher an Sherlock heran zu bringen. Auch John Watson bringt nicht mehr als einen hilfesuchenden Blick in Richtung seines besten Freundes zu Stande. Zu entsetzt scheint auch er von der plötzlichen Wendung der Ereignisse zu sein. „Nein, nein, Sherlock!“, entfährt es Eurus. „Das darfst du nicht!“, ruft sie aufgebracht und bemüht sich verzweifelt, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. „Du weißt noch nicht, was mit Rotbart geschehen ist“, versucht sie ihn zu ködern, aber Sherlock zählt weiter unbeirrt seinen Countdown hinab. „Sherlock! Sherlock! Hör sofort auf damit!“, kreischt Eurus auf einmal hysterisch, als ihr Bruder bei der Zahl „Sechs“ angekommen ist. Mehrere klackende Geräusche ertönen und Mycroft spürt, wie sich urplötzlich ein spitzer Gegenstand in seinen Hals bohrt. Auch Sherlock und Doktor Watson wurden von einem nadelartigen Geschoss getroffen und während sein Bruder nach dem spitzen Gegenstand in seinem Nacken greift, diesen herauszieht und ihn verdutzt mustert, spürt Mycroft wie das Betäubungsmittel bei ihm bereits seine Wirkung entfaltet. Fahrig tastet er nach dem Geschoss, das in seinen Hals eingedrungen ist, aber als er es endlich entfernt hat, sind Sherlock und Doktor Watson bereits ohnmächtig zu Boden gesunken. Auch Mycrofts Sicht trübt sich zunehmend, bevor seine Beine gegen seinen Willen nachgeben und ihn in sich zusammensinken lassen. Seine hilflos nach Sherlock ausgestreckte Hand sinkt schlaff hinab, so als hätte man eine Marionette ihrer Fäden beraubt, ehe ihn eine gnädige Schwärze umfängt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)