Adventskalender 2020 von tobiiieee (All I Want For Christmas ...) ================================================================================ Kapitel 12: Türchen 12: Blue Christmas (Ramon) ---------------------------------------------- ~ And when those blue snowflakes start fallin' That's when those blue memories start callin' ~ „Nein, Mama, ich hab wirklich keinen Hunger mehr.“ Eine plötzliche Stille legte sich über die gesamte Weihnachtstafel. Mehrere Köpfe drehten sich in seine Richtung; Antónia schaute ihn an, als wäre er besorgniserregend krank. Nach wenigen Sekunden, als er die geballte Familienaufmerksamkeit nicht mehr ertragen konnte, gab er nach und ließ sich von seiner Mutter mehr Stockfisch und Reis geben; die allgemeinen Gespräche setzten wieder ein. Alle waren da: Die Eltern seiner Mutter, die Mutter seines Vaters, die Schwestern seines Vaters, der Bruder seiner Mutter, seine Cousinen, deren kleine Kinder, seine über alles geliebte Schwester Antónia, seine eigenen hochverehrten Eltern ... Doch ihm fehlte jemand. Er schaute hinab auf seinen Fisch, in dem er nunmehr herumstocherte; die Teller hatten die Farbe von tiefer Mitternacht und einen Rand aus Goldverzierungen. Seine Mutter hatte sie ganz stolz präsentiert, nachdem sie sie extra für dieses Fest gekauft hatte. Für gewöhnlich gehörte das Weihnachtsfestessen zu seinen Lieblingsmahlzeiten im ganzen Jahr, doch so richtig hatte ihm an diesem Abend nichts geschmeckt. Er wusste, er hätte lieber allein in einer Ecke gesessen, wo er nicht gezwungen war, Konversation zu machen, wo er Trübsal blasen oder lesen konnte, wo Zeit vergehen und er sich einfach ungestört seiner Niedergeschlagenheit hingeben konnte ... Seufzend schaute er sich im Zimmer um; sie hatten einen langen Tisch im unteren Bereich des Wohnzimmers aufgebaut, von wo es nur wenige Schritte zur anschließenden offenen Küche waren. Oben, neben dem cremefarbenen Sofa, stand ein prächtiger, tief waldgrüner Weihnachtsbaum, geschmückt mit dunkelroten Kugeln, der mit seiner Spitze fast bis an die Decke reichte. Normalerweise hängten sie die Kugeln zu viert auf, wenn Antónia und er für die Feiertage angekommen waren, doch dieses Jahr hatte er sich gedrückt. Vielleicht war das der Grund, warum er sich nicht über den Baum freuen konnte. Er löste nichts in ihm aus. In Wahrheit fragte er sich sogar, warum man so etwas Unsinniges tat. Auch der Rest des Raums war festlich dekoriert: Engelsfiguren, mehr Kugeln, Tannengrün, Gold- und Silberketten, kleine Krippen, Weihnachtsmänner, Dinge dieser Art. Außerdem war alles beleuchtet, sodass sie das eigentliche Deckenlicht gar nicht bemühen mussten. Irgendwo tief in seinem Verstand wusste Ramon natürlich, dass die Szene wunderschön war, doch er war unfähig, es auch zu spüren. Als die Kerzen auf dem Tisch heruntergebrannt und die Teller geleert waren, entschuldigte er sich unter dem Vorwand, noch arbeiten zu müssen, und verschwand aus dem Familienkreis nach oben in sein altes Zimmer. Die Geräusche von unten erstarben endlich, als er die Tür hinter sich schloss und sich mit dem Rücken dagegen lehnte. Oh, er hatte schon im Sommer davon geträumt, sich von der Weihnachtstafel davonzustehlen und stattdessen nach oben zu schleichen – aber nicht allein ... Seufzend ging sein Blick aus dem Fenster gegenüber der Tür: Es hatte angefangen zu regnen. Regen an Weihnachten war nichts Ungewöhnliches, doch es ließ ihn an einen Tag einige Monate zuvor denken: Er hatte Pastéis und Kaffee zum Tejo gebracht und dort Genesis getroffen; während sie sich daran gütlich taten, begann der Wind aufzufrischen und der graue wolkenverhangene Himmel sah stark nach Regen aus. „Ich hab gestern eine Karte von meinen Eltern bekommen“, erzählte Genesis wie aus dem Nichts. „Die hat mehrere Wochen hierher gebraucht und hat mich quasi nur darüber informiert, dass es zu Hause recht spät im Jahr noch mal geschneit hat. Das war für mich gestern natürlich eine extrem wertvolle und relevante Information.“ „Deine Eltern denken an dich, ist doch schön“, meinte Ramon. Genesis zog es vor, an seinem Kaffee zu schlürfen, statt zu antworten. „Wie ist das, da zu wohnen, wo es schneit?“ Genesis zuckte mit den Schultern. „Na ja, Schnee ist normal.“ Ramon seufzte neidisch. „Wir müssen erst irgendwohin verreisen, wo es Schnee gibt, weit in den Norden oder in die Berge“, erklärte er Genesis. „Weihnachten ist in den schönen Filmen und auf Werbebildern immer mit einer dicken Schicht Schnee verbunden, uns wird irgendwie suggeriert, dass das zusammengehört, aber hier gibt es das gar nicht ...“ „Oh ja, im Dezember haben wir auf jeden Fall Schnee“, sagte Genesis etwas abwesend, indem er Ramons Kritik ignorierte. „Als ich klein war, wenn ich mich da richtig erinnere, hat es oft schon im November geschneit, im Dezember sowieso, an meinem Geburtstag lag eigentlich immer Schnee ... im Februar ist er meist langsam geschmolzen ... und manchmal hat es sogar noch mal an Ostern geschneit. Aber das ist eigentlich schon seit Ewigkeiten nicht mehr passiert.“ Ramon schmollte. „Regelmäßig weiße Weihnacht ... das wär was ...“ Genesis hatte ihm dann zwar erklärt, dass in seiner Heimat Weihnachten nicht so gefeiert wurde wie in den USA oder auch nur wie in Europa, mit Baum und Geschenken und dergleichen mehr, aber für Ramon zählte das alles nichts, ihm ging es nur um den Schnee zur Weihnachtszeit, egal, ob ein Weihnachtsmann kam oder nicht. Und während der Regen gegen sein Zimmerfenster klatschte, fragte er sich auf dem Bett sitzend, sicher, dass Genesis bei seiner Familie im warmen eingeschneiten Haus saß, wie das wohl war, weiße statt regenblauer Weihnachten zu haben ... ~ You'll be doin' alright With your Christmas of white But I'll have a blue Blue, blue, blue Christmas. ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)