Between the Lines - Chapter 2 von Karo_del_Green (It's more than just words) ================================================================================ Kapitel 8: Flamingo-Bingo zum Planters Punch -------------------------------------------- Kapitel 8 Flamingo-Bingo zum Planters Punch Kain spielt die volle Bandbreite seiner natürlichen Charmeurhaftigkeit aus, obwohl ich mir sicher bin, dass es nicht nötig ist. Meine Mutter ist von Beginn an vollumfänglich verständnisvoll, kooperativ und schrecklich ergriffen. Warum auch immer. Es muss die Jahreszeit sein. Irgendwas sagt mir, dass sie mit zu viel Enthusiasmus ein paar Mitbringsel zusammenstellt, die ich Kains Eltern mit ihren besten Wünschen überreichen soll. Als Prävention gegen garantierte Ausfälle meiner dezent akzentuierten sozialen Fähigkeiten. Ihre kleinen Seitenhiebe mir gegenüber sind diskret und in anspruchsvolle Worte gepackt. Kain sehe ich mehrfach schmunzeln. Letztendlich drückt Mama es mit ‚zu sehr Robin‘ aus, was den Schwarzhaarigen lauthals und wissend zum Lachen bringt. Nach diesem verlorenen Wortgefecht fühle ich mich den Socken eines kauzigen Eremiten näher als dem Einsiedlerprädikat selbst. Doch was soll ich tun? Ich bin so. Niemand weiß das besser als meine Familie. Der Ulk ist hausgemacht, daher darf ich mich nicht darüber beschweren, dass die Menschen um mich herum darauf Bezug nehmen und sich ausspinnen. Allerdings trägt es ebenso wenig dazu bei, dass ich gewillt bin, etwas daran zu ändern. Starrsinn ist mein Lebenselixier und setzt damit eine Spirale der selbsterfüllenden Prophezeiungen in Gang. Kain revanchiert sich für die Großzügigkeit und das Verständnis meiner Familie, indem er Hendrik beim Kochen zur Seite steht wie ein perfekter Sous Chef. Keiner von uns anderen war jemals so gefügig wie er, wenn es darum geht, Hendrik beim Kochprozess zu begleiten. Mein Stiefvater scheint es sehr zu genießen und Kain sich nicht daran zu stören, dass er gescheucht wird wie ein Tennisball in Wimbledon. Bisher kann ich Kains Kochfähigkeiten nur in die Form von Fischstäbchen pressen. Nicht, dass das zusammengewürfelte Mahl von damals schlecht gewesen ist. Im Gegenteil. Es war ausgesprochen lecker, wenn man Sina und ihre unliebsame Unterbrechung ausklammert. Ihre unheilsamen Flirtversuche verfolgen mich bis heute und wenn ich ehrlich bin, hinterlässt es stets einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Eigentlich war das Essen damals fast wie ein Date, aber zu dem Zeitpunkt wollte ich nicht mal daran denken. Jetzt allerdings beginnt, während ich darüber nachdenke, etwas in mir zu flattern und ich versuche mich schnellstmöglich auf andere Dinge zu fokussieren. Lena wird nach kurzer Diskussion zum Entremetier und greift sich das Gemüse. Meine Mutter sucht das gute Geschirr und ich fühle mich schlicht und einfach überflüssig. Demnach verschwinde ich nach oben, um ein paar Klamotten zusammenzupacken. Ich sehe auf, als meine Mutter gegen den Rahmen meiner Zimmertür klopft und beschwingt auf mich zukommt. In ihren Händen hält sie eine gefaltete, frischgewaschene Jeans. „Hier. Ich dachte, die könntest du gebrauchen“, erklärt sie neckend. „Oh, danke sehr, das ist wahrhaftig die Einzige, die noch keine Löcher hat...“, witzele ich heiter mit und trage meinen ramponierten Pullover mit Grazie. Ich ernte dafür einen ernsten Gesichtsausdruck. „Das ist nicht mehr lustig, Schatz, brauchst du Geld für etwas Neues?“, fragt sie und haut mir die Jeans sachte gegen den Kopf, ehe ich sie abfange. „Näh, am Geld liegt´s nicht. Nur an dem Fakt, dass Shopping nervig ist und dem Einzelhandel der Funktionalitätsgedanken von Bekleidung dank Statussucht abhandengekommen ist.“ Meine Mutter seufzt fast so perfekt, wie es Jeff macht. Vielleicht sollten sie einen Chor gründen. Jeff und die Mimimis. „Robin, im Ernst, soll ich dir etwas überweisen?“ „Mama, im Ernst. Ich brauche kein Geld, okay? Mir geht’s gut…“ Atme. Esse. Verfall. Und so weiter und so fort. Es auszusprechen spare ich mir. „Nichtdestotrotz musst du dich vernünftig anziehen. Auch bei der Arbeit“, fährt sie mir mit ihrem klassischen Elternratschlag dazwischen. „Ich garantiere dir, dass sich bei der Arbeit niemand für meine Klamotten interessiert“, kommentiere ich amüsiert und stopfe die Jeans in meinen Rucksack. Ich könnte in Unterwäsche oder Badehose an meinem PC sitzen, es tangiert keinen. Wahrscheinlich würde es nicht mal Jeff bemerken, hätte ich nicht dieses auffällige Tattoo auf meinem Rücken, wonach er fragen würde. Als ich mit Verstauen der Hose fertig bin, drehe ich mich erneut zu ihr um und erstarre bei dem Blick, den sie mir entgegenbringt. Entsetzen. Es ist übel und ich begreife nicht, warum. „Erzählst du mir gerade, dass du bei deinem Job nackt bist?“ „Was? Nein!“, gebe ich schnell von mir. Wo kommt das plötzlich her? Es fühlt sich an, als öffnete sich über mir ein Wasserfall mit bergfrischem Quellwasser. „Hör auf mit den Ausflüchten! Sag es geradeheraus. Ziehst du dich für Geld aus?“ Mein abruptes Leugnen entkoppelt ihren Fantasiewaggon. „Denkst du wirklich, ich bin Stripper?“ „Oh Gott, ist es etwa noch schlimmer?“ Kollision. Frontal und ohne Überlebende. Die Augen meiner Mutter sind unerfreulich weit geöffnet und ich taste hilflos nach der Notbremse. „Ein Verlag, okay? Ich arbeite bei einem Verlag! Bücher. Texte. PC. Homeoffice. Jogginghose. Schlafanzug“, zähle ich verteidigend auf und mir ist egal, dass meine sonst gekonnte Syntax auf der Strecke bleibt. Meine Stimme wird mit jedem ausgepressten Wort etwas höher, hastiger und ich sehe in einem Anflug der Erleichterung, wie sich ihre Gesichtszüge entspannen, „Wie kommst du bitte auf sowas?“ Nun lasse ich mein eigenes Entsetzen deutlich in die Frage einfließen und streiche mir mit beiden Händen über das Gesicht. „Du machst immer so ein Geheimnis aus deiner Nebentätigkeit und da hatte ich gerade mütterliche Horrorvorstellung. Ich habe da erst vor kurzem so einen Krimi gelesen und der letzte Tatort. Puh!“, plaudert sie los, „Ein Verlag, also! Was genau machst du da?“ „Nur so Zuarbeit. Korrekturen und sowas.“ Ich brauche eine Herztransplantation und neue Nervenbahnen, denn die sind gerade in einem Anflug an Kurzschlussreaktion verbrutzelt. Um zu verhindern, dass sie meine bebenden Hände bemerkt, greife ich nach dem Rucksack und drücke ihn gegen meine Brust. „Du solltest auf ein anderes Genre umsteigen. Historische sollen gut sein.“ „Kannst du mir etwas empfehlen?“, neckt sie mich, „Verschweig uns nicht jedes Mal so viel, mein Schatz.“ Ihr Mahnen ist offenkundig und ich kann lediglich dümmlich grinsen. „Es gibt nichts, was meine Kinder tun könnten, durch das ich sie weniger liebe, das weißt du?“ „Sicher. Ich bin übrigens anständig.“ Meistens jedenfalls und je nach Auslegung. „Hör ich gern und damit bin ich einverstanden“, sagt sie lächelnd und verschwindet zur Tür. „Du hättest also etwas dagegen, wenn ich mich als Aktmodell betätige?“, rufe ich schnippisch hinterher und bin froh, dass sie nichts mehr in der Hand hat, was sie nach mir werfen kann. Bisher hatten sie und Hendrik stets Vertrauen in meine Entscheidungen, damit sollen sie nicht aufhören. Als sie außer Sichtweite ist, lasse ich den Rucksack los und laufe rückwärts zum Bett. Ich lasse mich fallen und fast sofort benebelt mich der Geruch von warmen Körpern. Kains Duft. Überall. Wie hat er das nach nur einer Nacht geschafft? Ich setze mich wieder auf, schüttele heftig meinen Kopf und kann nicht verhindern, dass meine Gedanken wieder zurückstolpern. Nun weiß meine Mutter, dass ich für einen Verlag arbeite. Verdammt! Vor lauter Schreck ist mir keine anderswertige Ausrede eingefallen, deswegen habe ich nach den naheliegendsten Strohhalm gegriffen. Was mache ich, wenn sie mich nach dem Namen des Verlags fragt? Wieso habe ich nicht einfach gesagt, ich wäre Katzensitter? Oder professioneller Bäumchenmobber. Aber auch das wären eindeutige Ausflüchte gewesen und im Grunde hat meine Mutter recht. Ich bekomme langsam das Gefühl, sie hat mich aufs Glatteis geführt und ich bin bravourös in ihre Falle geschliddert. Ich teste noch mehrere Minuten lang meine Gehirnwindungen auf die übriggebliebene Funktionalität, schiebe die Summe meiner innerlichen Irritationen von der einen Ecke in die nächste und geselle mich mit rauchenden Nerven zu den anderen in die Küche. Sie sind fleißig am Werkeln. Ich beginne stillschweigend damit, das Dessert vorzubereiten, nutze die freien Stellen und Spots, die sich ergeben, während die anderen unentwegt und laut herumwuseln. Nur Lena sitzt an der Theke und lässt sich die zu schälenden Gemüse waschen und reichen wie die Diva, die sie gern wäre, während sie mit Kain über irgendwelche Sportereignisse redet, bei denen ich nicht mal die Sportart heraushöre. Die wenigen Male, in die sich auch Hendrik energisch einbringt, lassen mich erahnen, dass es um American Football gehen muss. Ich zerkleinere die gebackenen Maronen, die wir schon gestern Morgen zubereitet haben und malträtiere sie mit dem Mörser, um sie besonders sämig und fein zu bekommen. Sie wandern in die Mascarponecreme, die ich aus aufgeschlagenem Eigelb, Zucker und aus dem benannten Doppelrahm-Frischkäse zusammengemixt habe. Kain klaut sich beim neugierigen Bespitzeln einen Löffelbiskuit, knuspert mir mitten ins Ohr, während ich diese sorgsam in einer Kaffee-Kakao-Lösung mit einem Hauch Orangenschale und Cointreau tränke. Der klassische italienische Nachtisch war mir zu langweilig. Ich arrangiere alles akkurat in der quadratischen Form. Das Schichten geht schnell und das Dessert wandert in den Kühlschrank. Den letzten Löffelbiskuit zerbreche ich in zwei Hälften. Ich lasse einen Teil in Kains und den anderen in Lenas Mund verschwinden. Danach lege ich mich bis zum Mittagessen auf die Couch und durchstöbere eine weitere von Mamas Frauenzeitschriften. Natürlich nur zur Vermeidung der Langenweile, nicht wegen der durchaus interessanten Artikel. ‚Vertraue deinem weiblichen Instinkt‘. Geht klar. Oder ‚Besser spät als nie‘. Nichts, was ich gewöhnlich gebrauche, aber ich kann etwas damit anfangen. Bei den beliebtesten Weihnachtsgebäcken Europas schlafe ich ein und werde erst mit einem Finger in der Wange wieder wach, der mich rhythmisch piekst. Ich murre, während das nervige Körperglied zwischen Stupsen und Streicheln hin und her wechselt. Ich nehme den feinen Geruch von Ingwer und Zitrone wahr. Doch erst als der foppende Finger meinen Nasenrücken entlang streicht, die Spitze anstupst und auf dem Amorbogen meiner Oberlippen trifft, öffne ich die Lider. Kains Augen schmunzeln und erst danach verzieht sich auch sein Mund zu einer passenden Form. Sein Lächeln ist zu sanft, um wirklich zu necken, zu warm, um es nicht zu genießen. „Gibt gleich Essen“, flüstert er und tippt die Fingerbeere seines Zeigefingers komplett auf meine Lippen. Mit einem Zwinkern berührt er danach schmatzend seinen eigenen Mund und richtet sich auf. Ich folge in eine sitzende Position und schaue über die Rückenlehne hinweg zur Tür, durch die Kain verschwindet. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich fast anderthalb Stunden rumgelegen habe. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Immerhin sind Feiertage dafür da und meine innere Batterie bedankt sich für jede Minuten frei von anderem menschlichem Leben. Hendrik taucht als nächstes im Wohnzimmer auf, schiebt aber lediglich seinen Kopf durch die Tür. Er möchte wissen, ob beim Nachtisch noch irgendwas fehlt. Ich brabbele etwas von Kaki und karamellisieren. Er ruft nach Lena und sie wiederum, im Bruchteil weniger Sekunden, nach mir. Ohne mich bestände die Süßspeisenraffinesse dieser Familie aus einer Tafel Schokolade mit Sahne und Spekulatiuskrümeln. Ich gebe meiner Bettfrisur ein Couchfinish und schlurfe zu den anderen Hausbewohnern in die Küche. Es riecht fantastisch. Reichhaltig. Würzig. Weihnachtlich im angenehmen Sinn. Mir werden sofort die orange Frucht und ein Messer in die Hand gedrückt. Ich suche mir stillschweigend ein Brettchen. Das scharfe Werkzeug lege ich zurück in die Schublade und verwendet stattdessen eine Reibe, bei der ich auch die Dicke der Scheiben einstellen kann. Ich brauche die Kaki superdünn, damit man sie gut mit dem Löffel zerteilen kann. Lena sieht mir dabei zu, wie ich die Scheiben sorgsam auf das fertige Tiramisu verteile. Das Karamellisieren erfolgt erst beim Servieren, - für den klassischen Knack-, also scheuche ich meine Schwester davon und suche unwillkürlich nach Kain, der zusammen mit meiner Mutter die Schüsseln füllt, schwatzt und scherzt. Sie lacht. Er passt gut in das Bild und dennoch fühlt es sich eigenartig an. Nicht schlecht. Nur ungewohnt. Kain ist ganz Kain, auch während des Essens. Er gehört zu der Sorte Mensch, die in jedwedes Szenario gesteckt werden können und niemals nicht dazu gehört. Manchmal beneide ich ihn um seine Sozialkompetenzen. Jedenfalls in solchen Momenten. Meistens sind sie mir bereits beim Zuschauen zu anstrengend. Wir fahren erst am Nachmittag nach dem Essen und einer kleinen Runde Zug um Zug Europa los. Ich habe vor lauter Fresserei das Gefühl zu platzen und bin der Überzeugung, dass ich deswegen vergesse, nach Brest zu fahren, obwohl das zwei meiner Ziele waren. Weihnachtliches Überfressen? Schon am zweiten Tag erledigt. Während der Fahrt hole ich mein Handy hervor und checke die Nachrichten, die trotz meiner gutgeschmierten Ignoranzoffensive eingetrudelt sind. Es sind mehr als im letzten Jahr. Sie reichen von einfachen Grußformeln bis hin zu nervig blinkenden GIFs, die die gesamte Bandbreite an weihnachtlichen Sonderheiten umfassen. Bei einigen der Nervtöter bin ich mir sicher, dass sie es absichtlich übertreiben und die heftigsten brechreizfördernden Bilder verwenden, nur um mich zu mobben. Shari, zum Beispiel, schickt mir ein kunterbuntes Rudolph-das-Rentier-Kompendium und rundet ihre Nachricht mit einem zwinkernden Smiley ab, welcher glücklicherweise einzig aus den entsprechenden Interpunktionszeichen besteht. So, wie ich es mag. Ihr sei verziehen. Wie immer. Der hübschen Inderin kann man sowieso nicht sauer sein und ich frage mich, wie ihr Partner und ihr bester Freund das aushalten. Vielleicht sollte ich mir zusätzlich die Frage stellen, warum gerade sie oder auch Luci die Tastenkombination für meinen inneren Softie kennen. Ihr antworte ich mit einem schlichten `Frohe Weihnachten` und sende das Gleiche der kleinen Eisfee zu, die mir daraufhin prompt das Bild eines Eisbechers mit Zipfelmütze geschickt. Wo findet man so etwas? Danach tippe ich den Chat mit Brigitta an, schließe ihn aber direkt wieder, als wäre er elektrisch geladen. Es ist eine Bombe des Farbenfrohsinns und nur schwer zu ertragen. Selbst für Sekunden. Ich seufze schwer und starte einen neuen Versuch mit nur einem halbgeöffneten Auge. Ich tippe so lange auf das Kotzsmiley, bis das GIF aus dem Display verschwunden ist und atme aus. Meine Lektorin profitiert von einer jahrelang gefütterten Toleranz und der Tatsache, dass sie mich quasi ernährt. Ihre feierliche Märchenposse ist so kunterbunt wie die Lektorin selbst und verdient ein laufwarmes Merry-Christmas am Ende der Emojiconkette und das auch nur wegen des vorher genannten Grundes. Nächstes Jahr mache ich Urlaub in einer Wüste. Irgendwo in einem Funkloch. Die Kalahari soll sehr schön sein und wenn ich Glück habe, ist das Telefonnetz dort inexistent. Wie Kain wohl aussieht, wenn er auf einem Kamel reitet? Ich unterdrücke das tiefe Giggeln nicht, welches meiner Kehle entrinnt bei der Vorstellung, wie der Schwarzhaarige sitzend wegen seiner langen Beine quasi mit dem Paarhufer mitläuft. „Teilst du den Witz mit mir?“, fragt Kain amüsiert und lockt mich zurück in die Welt, in der er meinen Chauffeur spielt. Ich schaue auf und betrachte sein Profil ausgiebig, während ich abwäge, ob es sich lohnt, meine Gedanken mit ihm zu teilen. Immerhin durfte ich mir vorhin einen weiteren Kommentar zu der bestätigten Unfähigkeit meines Beifahrerdaseins abholen. Wer bin ich schon, es nicht auch zu verifizieren. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als auf die befahrende Straße zu schauen, daher kann ich mir Zeit lassen. „Würdest du auf einem Kamel reiten?“, frage ich dann doch. „Einem Kamel?“, wiederholt er verdutzt und schnaubt, „Wäre es keine Tierquälerei, vielleicht. Ich bin nicht gerade der Typ, der reitet.“ „Schade“, kommentiere ich schlicht. „Schade?“, fragt er irritiert zurück und ich beginne unweigerlich in mich hinzulachen, weil das Bild in meinem Kopf einfach köstlich ist „Wo genau kam das jetzt her?“ „Ach, nur so ein Gedanke“, beschwichtige ich und schaue schmunzelnd zur Seite, bis Kain seine warme Hand auf meinem Oberschenkel ablegt und jede Aufmerksamkeit zurück auf ihn lenkt. „Weißt du was, Spatz?“, setzt er flötend und lächelnd an und wirkt etwas zu schwärmerisch. Der allzeit genutzte Spottname setzt eine Kettereaktion in Gang, die sich in den kleinsten Regungen meines Körpers zeigt. Mein Herz vibriert. In meinem Bauch entfesselt sich ein Ameisenhaufen. Das alles wegen eines dummen Spitznamens. Es schüttelt mich, während ich ungewollt lächele und das beginnende Kribbeln auf meiner Haut sinkt tiefer in mich hinein, bis es sich sanft und warm in meinem Magen bündelt. Mal für Mal mehr. Jeweils ein kleines bisschen stärker. Ich bin verloren. Als nächstes habe ich einen Kosenamen für ihn. Hoffentlich fällt mir etwas Besseres ein als Sweety oder Honey. „Ich hatte viel Spaß heute und das Essen war große Klasse, das musst du Hendrik unbedingt noch mal sagen.“ „Das hast du bereits.“ Dreimal genaugenommen. Während des Essens. Nach dem Essen und noch mal beim Losfahren. Keiner aus der Familie wird die überschwänglichen Anspielungen Hendriks überleben, die wir uns jetzt ein Jahr lang anhören dürfen. Kain lacht leise vor sich hin wie ein überdimensionaler Goblin. „Oh, kommst du an den Beutel hinter mir? Da müsste eine Flasche Wasser drin sein.“ Ich schaue zur Rückbank, entdecke den roten Stoffbeutel und strecke meine Hand danach aus. Ich ziehe alles auf meinen Schoß, krame die Flasche Wasser hervor und reiche sie Kain geöffnet. „Ach und dein Weihnachtsgeschenk ist auch drin.“ Er trinkt und ich ertrinken in dem Strudel einbrechender Emotionen. Sie sind nicht unbedingt Willkommen heißend und schwer zu schlucken. „Hatten wir das nicht besprochen?“ „Jup, und du wirst nicht tot umfallen, wenn du es ohne Worte annimmst und mir damit eine Freude machst“, kommentiert er, als er mit dem Trinken fertig ist und mir die Flasche zurück in die Hand drückt. „Es ist nur etwas Kleines.“ Ich spare mir die Erwiderung, dass ich nun nichts für ihn habe und dass es, gegen aller Erwartungen, kein gutes Gefühl ist. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Es hält sich nie jemand an diese Art der Absprachen. Nie. Auch Lena und ich haben vor Jahren beschlossen, uns nichts zu schenken, mit dem Resultat, dass sie etwas für mich hatte und dann weinte. „Machst du es nicht auf?“ „Können wir es wie Schrödingers Katze handhaben?“ „Du meinst, solange du es nicht öffnest, ist es nicht real?“ „In der Art.“ Kain sieht kurz zu mir, legt danach seine Hand auf meinem Knie ab und tätschelt es. Irgendwie auch ein Statement. Doch er lässt es ruhen und genau jetzt ist es das, was ich brauche. Als wir endlich ankommen, ist es längst dunkel. Doch auch die mäßige Straßenbeleuchtung mindert nichts von dem Eindruck, den das Haus hinterlässt, vor dem wir halten. Das Stadthaus ist unumwunden imponierend und ich habe in keiner Weise damit gerechnet. Durch die Tatsache, dass Kain vor seinem Bachelor-Arrangement keinen Studentenjob wahrnehmen musste, war mir bewusst, dass seine Eltern sich ohne weiteres einen Vollzeitstudierenden leisten können aber das… Wow. „Hier bist du aufgewachsen?“, frage ich, als ich ihm zum Kofferraum folge. Kain angelt nach meinem Rucksack und den Tüten mit den Mitbringseln, die meine Mutter zusammengestellt hat. „Bin ich jetzt eine bessere Partie für dich?“, blödelt er, wirft sich alles über die Schulter. „Nicht wirklich“, erwidere ich unaufgeregt. Nichts davon hätte irgendeine Bedeutung für mich. Eher gegenteilig. „Schon daran gedacht, dass ich nur der Sohn des Butlers bin, der im Gartenschuppen wohnt?“; kommentiert er neckend, grinst verschmitzt und in meinem Magen rumort es, aber nicht nur wegen des stetig wachsenden Hungergefühls. Der Telenovela-Plot wird immer greifbarer. Ich fühle mich jetzt schon wie der schlechte Sidekick. „Wäre mir lieber...“, erwidere ich leise. „Aber ich verstehe jetzt, wieso Miss Miststück dich nicht aufgeben will.“ „Nicht schon wieder das und nenn sie nicht so…Sag einfach ihren Namen“, murrt er seufzend. Ich würde es tun, wenn ich mich daran erinnern könnte. Ihr Name ist in meinem Kopf quasi geschwärzt, ausradiert und als nichtig erklärt. Wäre er in einer ägyptischen Stele vermerkt, hätte man ihn rausgemeißelt. Ich weiß nur, dass er mit M beginnt, was allerding auf eine Mehrheit an Namen zutrifft. Seit Jahren zeigt sich das auch in den Namensstatistiken bei den Vornamen von Neugeborenen. M und L sind allgegenwärtig. Für den nächsten Roman habe ich mir vorgenommen, keinen einzigen Namen mit M zu verwenden. Ich empfinde meine Beschreibungen für das rothaarige Biest viel aussagekräftiger. Drache. Scheusal. Hexe. Der Campus ist mein Märchenwald und ich bin der Held in Strumpfhosen. Außerdem weiß jede für mich relevante Person, wen ich damit meine. Glück für mich, dass Kain selten mitbekommt, wie ich sie sonst noch nenne. Meine Fantasie kennt keine Grenzen, ganz nach Albert Einstein. „Merena war nie hier gewesen“, erklärt er fast beiläufig und das so leise, dass ich es beinahe überhöre. Es überrascht mich abermals. „Tatsächlich?“ „Was, glaubst du mir nicht?“, ertönt es pikiert, als er mein bohrendes Starren des Unglaubens bemerkt. Er studiert eindringlich meinen Gesichtsausdruck und ich nehme ihm den Rucksack ab, solange ich nicht weiß, was ich ihm antworten will. „Doch, ich frage mich nur, ob das für oder gegen mich spricht.“ „Für oder gegen?“, erkundigt sich Kain verdutzt, scheint sich aber schnell zu fangen, „Für dich. Ganz klar.“ „Bist du dir sicher? Immerhin hast du keine gute Beziehung zu deinen Eltern. Warum also soll das hier positiv für mich sein?“ Ich treffe den Nagel direkt auf den Kopf und sehe es deutlich an seinem Gesichtsausdruck. Wie so oft wäre es heilsamer für mich gewesen, wenn ich es vorher durchdacht hätte. „Spatz, das ist…“, setzt der Schwarzhaarige mit einem eigenartigen Ton an, leckt sich die Lippen und druckst ungewöhnlich rum, „Familie gehört nun mal dazu und ich will mein Leid mit dir teilen… macht man das nicht so?“ Kain knirscht weiter und schiebt mich im selben Moment sachte zur Seite, damit er die Kofferraumklappe schließen kann. „Macht man das so?“, echoe ich mit Skepsis, ohne meinen Blick von ihm zu lösen. Kain erwidert ihn nicht, also folge ich ihm, bis er im Vorgarten stehen bleibt und ich fast gegen ihn stoße. „Übrigens wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt für die versprochene Sintflut“, muckt er und sieht sich abwartend um. Nichts geschieht. Beruhigend für mich. Für ihn katastrophal. Kain seufzt und strafft seine Schultern, bevor er zur Eingangstür geht. Beim Öffnen der Tür ist er leiser, als ich es ihm jemals zugetraut hätte. Nur ein feines Klicken ist zu hören und dann öffnet er sie erst einen Spalt breit, schielt hinein und wägt erneut ab, ob die Chance besteht, dass er ungesehen aus der Sache herauskommt. Wie gern hätte ich jetzt eines dieser Schilder, auf dem ein dummer Spruch steht, wenn er sich umdreht und mir ein Hotel schmackhaft machen will, so, wie er es schon während der Fahrt versucht hat. „Kain!“ Bereits im Eingangsbereich vor dem Schuhe Ausziehen hören wir die weibliche, helle Stimme durch die hohen Räume schallen und ich spüre fast, wie sich der Körper des größeren Kerls neben mir weiter anspannt. Unglaublich, dass das möglich ist. „…Wie erfreulich, dass du hierher zurückgefunden hast. Du hättest Bescheid sagen sollen, wann du ankommst… Oh, und du bringst einen unangekündigten Gast mit.“ Eine schlanke Frau, etwas älter als meine eigene Mutter, erreicht mit wehender schwarz-roter Tunika das Ende der Treppe. Sie klingt weder bei der einen noch bei der anderen Äußerung ehrlich erfreut. Nur belustigt. „Immer wieder eine Freude, hier zu sein…“, spottet Kain murmelnd in meine Richtung, „Mutter, das ist Robin. Er ist…“ „Ah, ich nehme an, das ist der Kommilitone, zu dem du schmollend geflüchtet bist. Nun gut, je mehr, desto besser, nicht wahr?“, flötet sie, ohne ihren Sohn ausreden zu lassen. Kain atmet tief ein, während sie mir einen Blick zu wirft, der höchst amüsiert ist und das aus nichts geringerem als Affektiertheit. „Dein Cousin trifft morgen ebenfalls ein. Wie erwartet ohne diese Freundin vom letzten Mal." „So ein Familienessen wird das also… toooll, dann kann ich mit Nöli wetteifern, wer das fruchtlosere Leben führt“, kommentiert Kain überspitzt. Sein Blick flattert kurz zu mir, doch ich weiß partout nicht, was ich sagen soll. Meiner kurzen Analyse nach ist es besser; wenn ich in dieser Atmosphäre so wenig zusätzliche Spannung herbeiführe, wie möglich. Die beiden fahren auch ohne mein Zutun unbeirrt mit ihren Spitzen fort. „Du weißt, dass er es hasst, wenn du ihn so nennst.“ „Dann hätte man ihn nicht Noel nennen dürfen. Warum ist er nicht bei sich zu Hause?“, erfragt Kain, nimmt mir die Jacke aus der Hand, hängt sie auf einen Bügel. Er bugsiert das Ganze in eine Art Garderobenraum und greift danach nach unseren Taschen. „Seine Mutter…“ „Deine Schwester…“, berichtigt Kain. „…seine Mutter verbringt die Feiertage in Spanien und er… nun ja, er sitzt vermutlich auf dem Trockenen“, berichtet sie unbeirrt weiter, „Apropos, was darf ich euch anbieten? Einen Drink? Braucht ihr Dinner?“ „Nicht wirklich“, erwidert Kain schnell, erinnert sich dann aber doch noch an mich, „Du?“ Den Drink würde ich fast nehmen. Die angestrengte Energie zwischen den beiden ist fast greifbar, auch wenn der Hauptteil von Kain ausgeht. Es wirkt, als würde er ununterbrochen die Luft anhalten und dabei schmerzhaft stark den Kiefer zusammenpressen. Ich habe ihn noch nie so angespannt gesehen. „Vielleicht später“, lehne ich ab, weil ich befürchte, dass Kain jeden Moment vor Sauerstoffmangel umkippt oder sein Kopf explodiert. „Wie ihr wollt. Dann lasse ich gleich noch ein Gästezimmer vorbereiten…“ „Nicht nötig“, verneint Kain salopp und subtil zweideutig. Er nutzt seinen freien Arm, um mich zur Treppe zu navigieren. Erst als wir oben ankommen, löse ich mich aus dem Griff und stoppe ihn mit warnendem Blick. Kain gibt ein undefiniertes Geräusch von sich, eine Mischung aus Grunzen und Brummen. Er gestikuliert die Richtung, in die ich gehen soll und ich gebe unter Anstrengung nach. In seinem Zimmer angekommen lässt Kain die Taschen fallen und stampft wortlos an mir vorbei ins Badezimmer, während ich irritiert stehen bleibe. „Ich nehme doch das Gästezimmer“, sage ich, ohne dass Kain es hört und sehe mich um. Das Zimmer ist unerwartet gradlinig, sauber und wesentlich kleiner als erwartet. Die Fenster gehen zur Straße hinaus. Die Farben sind dezent. Weiß und Beigetöne. Helles Holz. Keine rumliegenden Klamotten, Bücher oder Müll. Kein Vergleich zu dem Wohnheimzimmer, in dem er mit Abel haust wie studierende Messis. Ich vermeide es stets, einen tieferen Blick zu riskieren. Mit einem kleinen Handtuch um den Hals kehrt Kain zurück und fällt aufs Bett. Er gibt ein wehleidiges Knirschen von sich und Kain jammert irgendwelche undeutlichen Worte ins Kissen, die mich davon überzeugen sollen, dass er ein armer Drops ist. Ich betrachte die Szenerie mit einem simmernden Kitzeln im Bauch und frage mich nicht zum ersten Mal, wie ein einsneunzig großer Kerl in nur wenigen Sekunden ein metaphorisches Taschenformat annehmen kann. Physikalisch kaum möglich und doch bekommt Kain es hin. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, knipse ein Bild, weil jeder Erpressungsmaterial benötigt und schreibe meiner Mutter, dass wir gut angekommen sind. Der andere Man greint wie ein Minimammut. „Wie ätzend. Ich bin fertig. Diese Fahrerei schlaucht und ich habe Hunger“, grummelt Kain laut, dreht sich auf den Rücken und setzt sich gequält langsam auf. Ich verdrehe in Anbetracht dieser Aussage meine Augen. Das Bett gibt ein leicht knackendes Geräusch von sich und ich frage mich, ob es älter ist als es aussieht oder massive Gebrauchsspuren vorweist. Kain stützt sich leger auf beiden Armen ab und mustert mich. „Warum haben wir das Angebot deiner Mutter nicht angenommen?“, erfrage ich, obwohl ich mir die Antwort denken kann. Kain entgegnet nichts, sondern zieht einzig einen beeindruckenden Flunsch, der derartig viel Unwillen ausstrahlt, dass er damit ein Kernkraftwerk ersetzen könnte. Ich erwidere es mit einem schiefen Grinsen und möchte weder seine Aversionen füttern, noch unterstützen. Ich klaube meinen Rucksack vom Boden auf, damit ich ihn auf dem Schreibtisch abstellen kann. Ich krame das zusammengerollte Ladekabel hervor, bastele mein Handy dran und sehe mich nach einer Steckdose um. Kain deutet zum Bücherregal. „Deine Mutter ist wirklich ...“, beginne ich nach kurzer Stille. „Blasiert? Affektiert? Ja, in Reinform und mit Leib und Seele. Überrascht dich das?“ Eigentlich nicht. Nur hätte ich es als speziell bezeichnet. Ein derartiges oder ähnliches Verhalten war aus den sporadisch fallenden Kommentaren Kains durchaus zu erahnen. Trotzdem ist es noch mal etwas anderes, wenn man die Atmosphäre persönlich zu spüren bekommt. „Du hättest übrigens gern mehr sagen können.“ „Und den vollen Umfang eines Kain Anders in campusferner Wildbahn verpassen? Niemals. Das war besser als Kino. Ich wusste gar nicht, dass du die Contenance verlieren kannst.“ „Haha“, erwidert er und streicht sich die dunklen Haare zurück. Ich visiere die Steckdose an, lege mein Telefon ab und kehre zum Schreibtisch zurück. „Außerdem wollte ich ungern die Nacht im Auto verbringen müssen, weil sie mich nach zehn Minuten rauswirft. Ich habe zwar ein kompakteres Format, aber eine Rückbank ist trotzdem unbequem.“ „Das hätte ich nicht zugelassen“, kommentiert Kain schlicht, „Und wieso musstest du in einem Auto schlafen?“ „Ach, nur eine Gezeitenkollision vor etlichen Jahren zwischen mir, Jeff und seinen chaotischen Schulliebschaften.“ „Klingt nach Drama“, kommentiert er lächelnd. „Jeff, in Reinform und mit Leib und Seele“, recycle ich die vorher von Kain genutzte Umschreibung und verwende sie für meinen Jugendfreund. „Ich wundere mich selbst ständig, wieso ich noch keine dieser Lappalien in meine Bücher aufgenommen habe. Jeff wäre darüber sicher ‚not amused‘.“ Ich versuche es britisch und scheitere kläglich. Wenn es nach mir geht, wird Jeff nie erfahren, dass ich Bücher schreibe. Daher werde ich mich schwer hüten, da er es bei meinem Glück über fünf Ecken doch erfährt. „Lass uns etwas zu Essen suchen, okay?“, erkundige ich mich ausweichend, doch eigentlich will ich keine Bestätigung von ihm, sondern nur der Spannung entgehen, die sich langsam aber sicher zwischen uns aufbaut. Ich lasse den Rest meines Zeugs im Rucksack und wende mich ab. „Hey, hey…nein, hiergeblieben…“, ordert Kain mich zurück, richtet sich auf und greift nach mir. Er kriegt eine meiner Gürtelschlaufen zu fassen und zieht mich Richtung Bett. Auch die andere Hand findet etwas Stoff vom Pullover. Er hält mich fest und schaut mich mit wachen Augen an, nachdem er sich wieder auf die Decke fallen lässt. „Danke“, sagt er, bettet sein Kinn gegen meinen Bauch. Er schließt die Augen und seine Gesichtszüge werden weich. „Wofür?“ „Dafür, dass du mich begleitetet hast und dich freiwillig neuem Drama aussetzt.“ „Schon gut, ich werde das einfach im nächsten Buch verarbeiten“, kündige ich an, ohne es wirklich ernst zu meinen. „Mein Go hast du. In dieser Familie stecken so viel Spott, bittere Satire und Absurdität, dass du damit eine Trilogie füllen kannst“, ächzt er mit überspitztem Ungemach. Diese Beschreibung könnte auch mich meinen und ich frage mich, ob Kain das bewusst ist. So sehr er versucht, dem Bekannten zu entkommen, sucht er scheinbar unbewusst nach identischen Mustern. Das würde zu mindestens erklären, warum er bei mir hängen bleibt. Ich versuche mich aus Kains Griff zu lösen. Doch er lässt mich nicht, drückt stattdessen sein Gesicht fester gegen meinen Bauch. Ich verstehe diese Geste als Wunsch, sich an etwas festzuhalten und erliege selbst dem Begehren, meine Hände in seinem dunklen Haarschopf zu schieben. Er hat sie heute nicht gestylt, deswegen fühlen sie sich zart und kitzelig an, als ich durch sie hindurchgleite. Der Kontrast zwischen dem satten Schwarz und meinen winterhellen Fingern ist besonders deutlich. Er zieht mich mit einem sanften Ruck runter und ich stoppe mit den Knien auf der Matratze, hocke direkt über ihm. Wir sind uns deutlich näher als Sekunden zuvor. Sein Mund ist leicht geöffnet als er aufblickt und mich seine braunen Dackelaugen erfassen. Sie fesseln mich mit ihrer Hingabe, pinnen mich fest mit ihrem Verlangen und lassen mich schweben mit ihrem Flehen. So intensiv sind sie. Klar, wie frisch gedrucktes Wort auf Papier. Sein Körper ist warm und solide. Er erdet meinen eigenen flatternden Leib. Ich habe es ihm nie gesagt, aber ich stehe drauf, dass er so viel größer ist als ich, dass er mich überragt und manchmal völlig umgibt. Es ist heilend, tröstend. Kains Hände wandern vom Saum meiner Hose nach hinten und ich schiebe automatisch mein Becken vor, als sie sich meinem Rücken hocharbeiten. Erst über den Stoff des Pullovers, danach tauchen sie tiefer und streicheln sich über blanke Haut. Einzig die Temperatur seiner Finger reicht aus, um meinen inneren Ofen zu entfachen. Es fühlt sich gut an und ersehnt. Ohne es auszusprechen, spricht mein Körper vom Vermissen. Kain tastet sich höher, bis er in meinem Nacken gelangt, streichelt mit den Fingerspitzen über die kurzen Härchen in meinem Nacken und lässt die Haut auf meinen Armen tanzen. Ich gebe nach, ohne, dass er mich darum bitten muss, ohne, dass er es anzudeuten braucht. Ich küsse ihn zuerst, giere nach der Berührung seiner Lippen wie der heuchlerische Narr, der ich bin. Kain schmilzt mir entgegen wie ein eruptives Bündel an Leidenschaft und mit dem angedeuteten Lächeln eines wissenden Schelms. Der Kuss ist unkontrolliert, heiß und voller lechzendem Brennen. Er presst mich in seinen Schoss und ich lasse meine suchenden Finger tiefer in seine Haare gleiten, während ich mehr und mehr seines Mundes in Beschlag nehme. Ich locke seine Zunge, sauge sie zwischen meine Lippen und empfange sie mit gleichgesinnter Euphorie. Die feinen Schauer, die mich durchfahren, sind Segen und Wahn. Sie rufen nach dem Verlangen in mir, sodass mein gesamter Körper zu einem verräterischen Widerhall wird. Kains Nähe macht mich gierig und ich fürchte mich davor, mich vollends in diesem süchtig machenden Kosmos zu verlieren. Doch die Gedanken werden schnell zum leisen Echo und verstummen, während der lustvolle Nebel meine Synapsen lahmlegt. Ich drücke mich tiefer in Kains Schoss, spüre die deutliche Härte des anderen Mannes und genieße den Rausch der Gewissheit, dass ich es ausgelöst habe. Ich möchte mehr von ihm spüren, küsse genüsslich seine Unterlippe, ehe ich meine Zunge neckend gegen die obere stupse. Seine mittlerweile geschlossenen Augen öffnen sich. Er schnappt nach einem weiteren Kuss, doch ich weiche aus. Mit einem rauen Murren packt er mit beiden Händen meinen Hintern und grinst spitzbübisch, als er das feste Fleisch spürbar knetet. „Quicki?“, fragt er, wackelt mit der Hüfte und küsst mich mit spürbarem Hochgefühl. Feucht und mit halboffenem Mund. Es schmatzt laut. Er trifft dabei nur die Hälfte meiner Mundpartie und macht das gleiche summend mit der anderen Hälfte, als er es bemerkt. Es ist kindisch, aber es lässt mich schmunzeln. „Dafür hast du plötzlich Energie, ja?“, spotte ich. Kain packt mich am Kragen, zieht mich runter. Durch den plötzlichen Zug verliere ich prompt das Gleichgewicht. Er fängt mich ab und wir sind uns kussnahe. Lippen an Lippen. Würde ich sie spitzen, dann könnte ich ihn schmecken. Doch ich halte mich zurück. Ich suche die kleine, helle Narbe unterhalb seiner Augenbraue, deren Geschichte ich noch nicht kenne. Den winzigen kleinen Leberfleck genau an seinem linken Mundwinkel, der meistens kaum zu sehen ist, weil er viel lächelt. In meinem Gehirn schwimmt die Lust kleine Salti, genährt durch die wärmende Nähe des anderen Mannes. Ich will mehr von ihm entdecken. Jede Narbe, jede Geschichte. „Dafür immer…“, flüstert er, haucht seine Lippen gegen meine, mehrfach, eher er sich an meiner Hose zu schaffen macht und wir den Kuss intensivieren. „Warte kurz. Lass uns vorher duschen.“, stoppe ich ihn und löse mich nur mit äußerstem Ungemach von ihm. Ich entlocke Kain ein paar sanft klagende Geräusche, als ich dabei meine Lippen zu lange von seinen entferne. Die Haut meiner Lippen ist etwas wund, aber das einhergehende Kribbeln ist süchtig machend. „Aber dann ist es kein Quicki“, schmollt er, öffnet frech den Knopf meiner Jeans und schiebt seine flinken Finger probehalber in die geöffnete Hitze. Er festigt seinen Griff an meinem Pullover und zieht mich zurück in seinen Orbit. „Und wenn ich keinen will?“, gestehe ich. „Ist das so?“ Ich antworte nicht. Stattdessen positioniere ich mich um, drücke mit den Beinen seine Knie weiter auseinander und stelle mich dazwischen. „Was wird das?“ Der Protest verebbt in dem Moment, in dem ich vor ihm auf die Knie gehe, sich meine Hände an seinen Hosenknopf zu schaffen machen und die Konsequenz in seinem sexnebelverhangenen Hirn vordringt. Kain atmet erregt aus, lässt sich leicht zurückfallen und schaut dabei zu, wie ich langsam seinen Gürtel löse, den Zipper seiner Jeans runterziehe und die Verschlusshälften zur Seite klappe. Die Aufregung durchfließt mich dabei, als würde ich langsam ein Geschenk öffnen. Ich beuge mich vor und küsse seinen Unterbauch kurz unterhalb des Nabels. Das getrimmte Haar seines Glückspfads piekt mich sachte in die Oberlippe und der Schauer der Erregung nistet tief in meinen eigenen Lenden. „Killt es die Stimmung, wenn ich dir sage, wie sehr mich das anmacht?“ Kain spielt lächelnd mit meinem Ohr, streichelt über die knorpelige Helix. Ich hebe die Augenbraue in Skepsis. „Auch das, sehr sexy“, flirtet er locker und beißt sich neckisch auf die Unterlippe. Jedes Mal, wenn er etwas derartiges sagt, regt sich die Ungläubigkeit in mir. Eine sachte Berührung streichelt über meine Wange, vor zu den Lippen. Er fährt die Form des äußeren Lippenrands ab, fixiert jeden Kontakt mit seinem Blick, als würde er sie damit wahrhaftiger machen. Als würde er spüren, dass ich ihm nicht glaube. Sein Daumen tippt abschließend auf mein Philtrum und ich ziehe das Kinn hoch. „Ich bin schon auf den Knien, du brauchst mich nicht verführen…“, murre ich, küsse seinen Unterbauch kurz oberhalb seiner Shorts. Kain schnaubt. „Du bist ja so romantisch.“ Seine Hand gleitet zurück an meinen Kopf, sobald ich meine Bemühung abwärts bringe und meine Finger in das Gummiband seiner Shorts hake. Ich brauche nicht bitten, denn als ich einen leichten Zug andeute, hebt sich Kains Hüfte von ganz allein. Seine Jeans fällt bis zu seinen Knöcheln und bleibt letztlich an einem Fuß hängen. Mit den Shorts lasse ich mir Zeit, küsse jeden Zentimeter warmer, entblößter Haut. Kain öffnet unwillkürlich seine Schenkel mehr. Ich nutze die verlockende Gelegenheit, mich auch seinen Innenschenkel zu widmen. Küsse. Beiße und nippe, bis ein paar kleine rote Male zurückbleiben. Ich genieße es so lange, bis ich sein ungeduldiges Keuchen vernehme. Hektisch und tief. Es dringt wie Wonne in mich ein. Ich folge seiner unausgesprochenen Aufforderung, schließe die Lippen um die Eichel, bilde einen lockeren Ring und tänzele mit der Zunge über das zarte Fleisch. Es fühlt sich gut an. Weich und warm. Der Geschmack leicht bitter, als ich die Zungenspitze den schmalen Schlitz entlangführe. Mein Gehirn rotiert, während ich genüsslich raune. Doch nichts setzt so viele fleißige Endorphine in Gang, wie Kains Finger in meinem Haaren, die sich mit jedem Necken rhythmisch bewegen und das feine Keuchen, das wie pures Lob im Raum widerhallt. Der sachte Griff soll führen und leiten, doch er gibt mir ebenso erdenden Halt. Er japst ekstatisch, als ich sanft an ihm sauge und meine Lippen reibend bewege. Das heiße Gefühl auf meiner Zunge ist elektrisierend. Ich lecke einmal über die gesamte Länge, kitzele Venen und Haut. Erst als ich bei der Spitze angelange, öffne ich meine Augen und blicke auf. Kains Blick ist ungebrochen und der lustverhangene Nebel im warmen Braun seiner Iriden lässt mich die Relevanz ferner Planeten nur noch erahnen. Das Zentrum des Universums, hier und jetzt, bin ich und die heiße, feuchte Hitze meines versprechenden Mundes. Es fühlt sich berauschend an, diesen Blick zu spüren. Es erregt mich mit steigenden Wellen, die meinen Körper überschwemmen, mich mit Verlangen fluten. Ich lege meine Lippen um die feuchtschimmernde Spitze seiner Härte und bewege meinen Kopf auf und ab. Erst langsam. Stück für Stück, bis ich mich selbst an das ungewohnte Gefühl und die Fülle in meinem Mund gewöhne. Trotz der vielen Male, die wir nun das Bett miteinander teilten, ist Oralverkehr noch etwas Seltenes für uns. Vielleicht auch besonderes. Kains Griff in meinen Haaren festigt und lockert sich bei jeder Änderung des Tempos. Sein Keuchen ist tief und der feine Schmerzimpuls lässt mich selbst immer wieder erregt schnaufen. Meine freie Hand gleitet über seinen Unterbauch, hinauf zu den spürbaren, festen Erhebungen seines trainierten Bauches. Ich schiebe dabei sein Oberteil höher und entblöße ihn weiter. Rhythmisch spannt er die Muskeln an und ich genieße den Anblick aus halbgeöffneten Lidern. Kain murmelt meinen Namen und versetzt mich in blanken Rausch. Das R rollt sanft und langgezogen über seine Lippen wie pure Verheißung. Seine Hüfte zuckt leicht nach oben und trifft den gleichen Takt meiner Bewegungen. Es ist fantastisch, sinnlich und zugleich derb und direkt. Es gefällt mir. Jedes Mal mehr, denn es ist ein beglückendes Gefühl, ihn so zu erleben. Ich bewege meinen Kopf schneller, ändere den Druck, den ich mit meinen Lippen ausübe und lausche, wie Kains Atmung stottert und flattert. Langgezogenes Stöhnen paart sich mit murmelndem Flehen. Er will mehr. Ich auch, also gebe ich es ihm. Ich erhöhe das Tempo, nehme ihn tiefer auf. Dabei werden auch meine Bewegungen etwas rauer. Doch da ist auch dieses erregte Schlucken, wenn es ihn heiß durchfährt. Es animiert mich und ich nehme ihn so weit auf, wie ich kann. „Hey Vorsicht, vergiss nicht zu atmen“, flüstert er besorgt mit lustverhangenem Blick. Er keucht vollmundig, als ich als Antwort sanft seinen Hoden stimuliere. Abermals spannt sich seine Bauchdecke an, wechselt von rhythmisch locker und fest hin und her. Er ist kurz davor. Ich möchte die erregenden Zuckungen spüren, drücke meine Hand flach auf die beste Stelle. Die andere Hand nehme ich hinzu, erhöhe die Stimulation seiner Erregung zusätzlich, um ihn zum Orgasmus zu bringen. Als Kain kommt, liegt seine Hand in meinem Nacken. Noch während die Spannung nachlässt, fällt sein Oberkörper zurück aufs Bett. Er japst etwas Unverständliches, brabbelt herzerwärmende Floskeln und ich wische mir mit der Handfläche über die untere Gesichtshälfte und Mundwinkel. Der Geschmack von Kain auf meiner Zunge hinterlässt ein befriedigtes Prickeln und der Druck in meinen eigenen Lenden wird mir immer fühlbarer. Allerdings verspüre ich kein Bedürfnis, etwas dagegen zu unternehmen, sondern schwimme weiter in der mentalen Befriedigung, den anderen Mann derartig glückselig zu sehen. Ich lecke mir über die benetzten Lippen, während mich Kain mit halbgeschlossenen Augen dabei beobachtet. Die Erregung ist schwächer, aber nicht verschwunden. Sie simmert in dem warmen Braun. Er lächelt träumerisch, setzt sich fahrig auf und streicht mir mit dem Daumen über das Kinn. Danach führt er mich für einen Kuss in eine aufrechte Position, also knie ich mich hin. Seine Finger finden ihren Weg unter meinen Pullover und die feurige Hitze seines Körpers durchströmt mich mit wohligem Schauer. Trotzdem löse ich mich von ihm und stehe vollständig auf. Ohne Widerrede lässt er mich gehen und ich verbringe ein paar Minute im Badezimmer. Kain sitzt mit offenem Gürtel auf seinem Bett und wackelt mit den Knien, als ich zurückkomme. Er grinst neckisch und zufrieden. „Wieso konnten wir das nicht schon bei dir machen?“ Ich werfe ihm das Handtuch ins Gesicht. Es landet in seinem Schoss und das Schmunzeln wird breiter. „Weil dort meine Familie ist“, sage ich schlicht und ziehe mir den Pullover über den Kopf. Mir ist immer noch warm. „Hier ist meine, stört dich das nicht?“ „Stört es dich?“ Kain schüttelt ad hoc den Kopf. Das habe ich vermutet. Mit einem schnellen Handgriff schließt er seine Hose, doch ich sehe, dass der Knopf nur halb im Loch landet. Kain hievt sich hoch, streicht sich die Haare zurück, so, dass sie noch mehr abstehen. Er sieht wüst aus und es lässt mich lächeln. Ich stelle mich ihm in den Weg, greife seine Hand, die sich unwillkürlich nach mir ausstreckt. Anschließend widme ich mich dem Hosenknopf, schließe ihn richtig und konzentriere mich kurz auf seine Haare. „Du weißt, dass ich das ernst meine“, sagt er ruhig, tippt mir gegen das Schlüsselbein, ans Kinn und zuletzt auf die Nasenspitze. „Was?“, frage ich abgelenkt, kämpfe mit einem exponierten Strang seiner Haare und streiche diesen zurück, sodass wenigstens eine Seite halbwegs normal aussieht. „Was ich vorhin sagte. Dass ich dich sexy finde.“ Ich stoppe und lasse meine Hand sinken. „Ich weiß, dass du es nicht magst, aber ich höre nicht auf damit, es zu sagen.“ „Ja, sicher“, wiegele ich ab, „Und ich habe nie gesagt, dass ich es nicht mag. Gehen wir jetzt etwas essen?“ „Ja, wenn wir Glück haben, ist meine Mutter schon in ihrem Zimmer verschwunden und wir haben unsere Ruhe. Ich bin nicht unbedingt scharf auf Cocktailanekdoten und nächtliche Besserwissereien.“ „Sie hat ihr eigenes Zimmer?“ „Meine Eltern haben seit ich denken kann getrennte Schlafzimmer und glaub mir, ich bin sehr dankbar dafür. Ich hatte zum Glück keinen dieser spektakulären Ich-ertappe-meine-Eltern-beim-Sex-Momente.“ Ich auch nicht. Erst mit Jeff bin ich diesen Horrorsequenzen ausgesetzt und ich würde alles dafür tun, die Bilder von ihm und Abel aus meinem Kopf zu bekommen. Wir kommen an einem der von seiner Mutter erwähnten Gästezimmer vorbei und ich stoppe für eine Millisekunde, nur um zu schauen. Danach folge ich Kain die Treppe runter in die Küche. Kains Plan geht nicht auf. Als wir die Küche betreten, sitzt Mutter Anders mit einem Glas Wein am Küchentisch und durchblättert ein Interieurmagazin. Es wirkt fast als hätte sie auf uns gewartet. Auch ihr eigenartiges Lächeln spricht dafür, sowie die Geste, die sie in Richtung der gegenüberliegenden Plätze am Tisch macht, nachdem sie uns abwechselnd mit einem musternden Blick bedenkt. Ich schiele unauffällig zu Kain und seiner verwüsteten Haarpracht, die ihn selbst nicht zu stören scheint. Ich allerdings verspüre das dringende Bedürfnis, zu prüfen, ob meine Haare halbwegs sitzen, lasse es aber bleiben, um nicht weiter aufzufallen. Stattdessen sehe ich mich unauffällig in der modernen Küche um. Edelstahl ohne Ende. Dunkles Holz und auffällig gemusterte Fliesen. Es ist extravagant. „Wieso bist du noch auf?“, fragt Kain geradeheraus und ohne den ablehnenden Unterton zu verstecken. Seine Mutter streicht sich eine Strähne ihres langen, braunen Haares zurück, legt dabei einen üppigen silbernen Ohrring frei, der einen passenden rotfarbenen Schmuckstein trägt. Sie ist für mich das Klischee einer Vorzeigefrau. Übertrieben, gekünstelt und glatt. Man wurde sie dennoch eine schöne Frau nennen. Es fällt mir wahrlich schwer, die beiden genetisch miteinander in Verbindung zu bringen. Ihre Gesichtszüge sind eher oval, fast rundlich und somit so gar nicht mit Kains zu vergleichen. Aber mit Saharas. Ich erinnere mich gut an das gemeinsame Bild mit ihr, das Kain als Lesezeichen benutzt. „Ich bin neugierig und noch nicht im Rentenalter, wie du dich vielleicht erinnerst“, entgegnet seine Mutter mit ruhigem Sopran. „Ich dachte, du bestehst auf deinen Schönheitsschlaf“, kontert Kain, öffnet den Kühlschrank und beugt sich vor, um den Inhalt besser begutachten zu können. Ich beobachte, wie sie bei der offenkundigen Spitze keine Miene verzieht und nur ihre Hand nach dem Glas Wein ausstreckt. Sie schwenkt es, nimmt einen kleinen Schluck und hinterlässt einen roséroten Lippenstiftabdruck, den sie direkt mit dem Daumen wegwischt. „Zu den Feiertagen darf ausgeschlafen werden. Will einer von euch beiden einen Drink? Cocktails? Ich mixe einen mustergültigen Planters Punch.“ Damit wäre sie der Kracher auf jeder Studentenparty. Kain schlägt die Kühlschranktür zu. „Nein, danke. Niemand hier will Cocktails“, pfeffert er in den Raum. Der Bruch der Stimmung kommt trotz hängender Spannung unerwartet und ich straffe unwillkürlich die Schultern, weil ich den deutlichen Ärger aus Kains Stimme heraushören kann. Die Cocktailparty vom Vorabend ist ihm verständlicherweise ein Dorn im Auge. Auch seine Mutter reagiert auf den Umschwung. Doch lediglich mit einem rhythmischen Klackern der Fingernägel auf der steinernen Tischplatte. Es wirkt, als zählte sie bis zehn runter, atmet tief ein und blättert eine Seite ihrer Zeitschrift um, um zu zeigen, dass sie sich nicht aus der Fassung bringen lässt. Ich lasse meinen Blick durch die moderne Küche schweifen, während Kain hinter mir unbeirrt an unserem Abendbrot wirtschaftet. „Was studierst du? Robin, richtig?“, erfragt sie mit interesseerahnender Stimme und lächelt. Die eigentlich positive Geste erreicht nicht die Augenpartie. Ich würde meinen, sie hebt nicht mal die Wangen. Botulinumtoxin. Mein einziger Gedanke. „Biochemie.“ Beinahe hätte ich Botox laut ausgesprochen, also beiße ich mir unauffällig auf die Unterlippe und bin froh, dass meine Filter heute ungewöhnlich gut funktionieren. Hoffentlich morgen auch noch. Kain raschelt hinter mir und klackert mit Geschirr. „Das klingt... aufregend.“, presst seine Mutter hervor. Der verzögerte Ausdruck der Begeisterung macht ihre Aussage nur noch unglaubwürdiger. „Ist das ähnlich zu dem, was Kain studiert?“ „Es hat gemeinsame Schnittmengen“, erläutere ich kurzangebunden. Weitere Erklärungen wären vermutlich ein unnötiger Sauerstoffverbrauch, daher belasse ich es dabei. Kain fragt hinter mir nach meinem Wunschbelag für die Brote, murmelt noch andere Sachen, die ich glücklicherweise nicht verstehe. Mir reicht eins mit Käse. „Wohnst du auch in diesem unmöglichen Wohnheimkomplex?“, fragt Kains Mutter gelassen weiter, blättert nebenher ein paar Seiten ihres Magazins um, „Man sollte doch meinen, dass man für dieses Geld ein eigenes Badezimmer zur Verfügung hat oder wenigstens ein Zimmer für sich allein.“ „Fang nicht schon wieder an. Mich stört das nicht. Außerdem ist man den Großteil des Tages in der Vorlesung oder Bibliothek.“ Wenn man Kain heißt oder Jeff. Ich sitze nachweislich öfter im Wohnheimzimmer als die anderen Kommilitonen, die ich sonst noch kenne. Kain reicht mir ein Stück Gurke, indem er es mir über die rechte Schulter hält, öffnet und schließt danach den Kühlschrank. Ich bemerke, dass auch er bereits kaut. „Wenn man sich die steigenden Wohnraumpreise urbaner Räume ansieht, können wir froh darüber sein, ein eigenes Bett zu haben“, äußere ich und esse brav mein Gemüse. „Das ist wahr. Gerade in Städten mit akademischen Bildungsmöglichkeiten ist es ein zunehmendes Problem. Ein Platz im Wohnheim zu haben ist ein Glücksfall“, bestätigt Kain, „Ich hätte kein Problem damit, mir eins mit dir zu teilen.“ Das raunt er mir ungeniert ins Ohr. Wenig dezent, sodass es durchaus zu hören ist. Sein warmer Atem kitzelt neckend über die Haut unterhalb meines Ohres und ich merke, wie sich meine Schultern unwillkürlich nach oben ziehen. Das Grinsen in seinem Gesicht macht es nicht besser. Ich lasse ihm einen warnenden Blick zukommen. Doch dieser prallt an ihm ab wie Wassertropfen am Lotosblatt. „Ach, du bist sein Mitbewohner?“, erkundigt sich seine Mutter mit einem hüpfenden Laut der Erheiterung und schließt die Zeitschrift endgültig. Sie hat es eindeutig gehört. „Hell no, ganz sicher nicht. Mein Mitbewohner ist unerträglich“, flucht Kain mürrisch und wehrt diese implizierte Fehlinterpretation ab, während ich und seine Mutter die Stirn runzeln. Dass er sich gerade selbst widersprach, stört ihn scheinbar nicht. „Senf?“. Ich nicke. Mutter Anders nimmt einen Schluck Wein, während sich ihr Blick an ihren Sohn haftet. Ihre Augen sind suchend und dabei unglaublich forsch. „Und in welchem Semester befindest du dich? Schreibst du bereits an der Bachelorarbeit, so wie Kain?“, fragt sie mich. „Fünfte und nein.“ Das schneidende Geräusch hinter mir wird langsamer und hört letztendlich sogar auf. Ohne mich umdrehen zu müssen, weiß ich, dass Kain aufmerksam zu seiner Mutter schaut, deren Blicke von mir zu ihm wandert und zu mir zurück. Kain drückt mir eine weitere Scheibe Gurke in die Hand, die beim Belegen der Brote übriggeblieben ist. „Kannst du dieses lästige Verhör lassen?“ Als Hendrik das gleiche mit ihm getan hat, hat es ihn nicht gestört. Kain drückt mir den Teller samt Serviette mit dem belegten Brot in die Hand. Sein eigener Abendsnack ist bis auf eine halbe Stulle und ein paar Gurkenscheiben vertilgt. Ich nehme das Käsebrot, lecke Senf vom Rand und beiße hinein. „Interesse, mein Lieber und nein, das ist mein mütterliches Privileg. Immerhin hast du ihn uneingeladen hierher mitgebracht.“ „Ja, weil ihr mich zwingt, hier zu sein und ich wenigstens ein bisschen Freude an Weihnachten haben will.“ Ich schaue kauend zu Kain, der mit eisiger Miene eine Packung Reiswaffel aus dem Regal nimmt. Er pfriemelt sich eine der runden Scheiben heraus, kommt hinter der Kücheninsel hervor und krümelt grimmig los. „Das schon wieder. Du benimmst dich kindisch. Als wäre es eine Ungehörigkeit, sich zu wünschen, dass der Sohn die Weihnachtsfeiertage bei seiner Familie verbringt“, kommentiert sie ruhig, während Kain neben mir knistert, „Robin, du bist nicht sehr gesprächig, wie mir scheint", richtet sich seine Mutter nun wieder an mich und ich schaue kauend vom Brot auf. „Ich bin mir sicher, dass Sie meine Meinung und Ansichten nicht hören wollen", begründe ich und schlucke den angefangenen Happen beschwerlich runter. Sie schlägt ihre langen, schlanken Beine übereinander und positioniert sich mehr zu uns hin. „Ich kann sehr wohl damit umgehen, dass du auf seiner Seite stehst. Ich empfinde es nur als übertrieben, wegen einer ohnehin geplanten Feier einen derartigen Aufstand zu zelebrieren. Er nimmst es zu persönlich.“ Als der Ball zurück in Kains Feld kullert, widme ich mich wieder meinem Essen. „Ach bitte, mir ist doch scheiß egal, ob ihr eure dämlichen Feiern veranstaltet. Aber dass ihr mir nicht erzählt, dass Sahara dieses Jahr keinen Besuch bekommen darf und ihr mich trotzdem zwingt, hier zu sein, nehme ich sehr persönlich.“ „Und ich erklärte dir bereits, dass wir davon ausgegangen sind, dass dir die Einrichtung ebenfalls Bescheid gibt.“ „Sicher, wo ihr doch beim letzten Mal ausdrücklich daraufhin gewiesen habt, dass nicht ich ihr Vormund bin“, erwiderte Kain sarkastisch und zerkrümelt die halbe Getreidewaffel in seiner Hand. Die mürben Flocken rieseln zu Boden und auch ich stoppe langsam das erneute Kauen. Der Senf brennt auf meiner Zunge und die Stimmung auf meiner Haut. Kains Mutter seufzt effektvoll und unumwunden. „Es ist nicht unser Verschulden, dass deine Schwester ihre Besuchsprivilegien wegen einer Dummheit verspielt hat. Vergiss das bitte nicht. Die Situation lässt sich nicht ändern und wir machen das Beste daraus.“ „Ja, das Beste für alle anderen, nur nicht für Sahara und mich. Wie immer.“ „Kain…“, setzt sie an, doch er stoppt sie mit einer ruhigen Handbewegung. Sein Blick wandert zu mir und ich sehe die Bitte darin, ohne, dass er sie in Worte fassen muss. Ich nehme Serviette und Brot vom Teller, stelle diesen einfach an der Spüle ab und verlasse mit Kain die Küche. „Wo ist eigentlich dein Vater?“, erkundige ich mich beiläufig bei Kain, während ich ihm die Treppe rauffolge und das dringende Bedürfnis habe, irgendwas zu plappern. Es passiert selten und ist diesmal zusätzlich durch eine kuriose Vorstellung gespeist. Da er, bis auf die Augen, seiner Mutter kaum ähnlichsieht, muss er wohl nach seinem Vater kommen und das macht mich neugierig. „Arbeiten, vermutlich.“, antwortet er unaufgeregt und undeutlich, weil er an der Reispappe kaut. „Während der Feiertage?“, hake ich verwundert nach und stecke mir den übriggebliebenen knusprigen Rand meines Brotes zwischen die Lippen. Es war wirklich lecker und Kain hat die richtige Menge an Senf auf dem Käse verteilt. Es ist keine leichte Aufgabe, mich dahingehend zufriedenzustellen. Die Serviette knülle ich in einen handlichen Ball und inspiziere währenddessen aufmerksam das Haus. Diesmal achte ich auf die Kunst an den Wänden und die vielen verrückten Lampen. Am anderen Ende des Flurs steht ein alter Apothekerschrank, dessen Schubladen alle einen anderen Knauf haben. „Anwälte arbeiten immer. Er wird wahrscheinlich erst morgenfrüh zurückkommen und alle wissen lassen, wie unverzichtbar er ist.“ „Klingt nach Spaß. Wer weiß, vielleicht sprühen die Konversationen morgen vor Einigkeit und Frohsinn.“ Manchmal ist Gegenteiltag und zu Weihnachten gibt es immer wieder Wunder. Nicht wahr? „Ja, klar.“ Kain lacht. Es ist tief, aber unecht. „Ist nur ein Essen. Wird schon nicht eskalieren.“ Ich weiß nicht, wen von uns beiden ich eigentlich beruhigen will. Auch mein Verstand schreit danach, dem Ganzen Lebwohl zu sagen und frühzeitig abzudanken. „Ich hoffe doch…“, ächzt er und knuspert an dem letzten Rest dieser geschmacklosen Reissnacks rum. Es ist dieses winzige Momentum, dass mich stocken lässt. Eine subtile Pause und diese kleine Änderung der Betonung, die seine Äußerung einen gegenteiligen Kontext gibt. Es dauert einen Augenblick, bis ich es begreife. Doch dann ist es klar. „Ich verstehe… also doch“, gebe ich mit halbherziger Verwunderung von mir. Ich halte den Schwarzhaarigen davon ab weiterzugehen, indem ich ihm gekränkt meine zerknüddelte Serviette an den Kopf werfe. Kain zuckt überrascht, folgt der Papierkugel mit den Augen, wie sie zu Boden geht und zurück in meine Richtung rollt. „Was verstehst du?“, fragt er, hebt es auf und wedelt damit vor meiner Nase rum. „Wieso ich hier bin“, erläutere ich und tippe dem Schwarzhaarigen mit dem Zeigefinger, mehrmals gegen den harten rechten Brustmuskel. Im Grunde wusste ich es schon vorher und wollte es nur nicht wahrhaben. Kain schaut auf den Finger, runzelt die Stirn und mixt zu seinem furiosen Lächeln noch ein verwirrtes Zwinkern. „Du bist hier, weil ich dich mit meiner stichhaltigen und glaubwürdigen Argumentation überzeugt habe“, vermutet er dümmlich und macht ein Peace-Zeichen mit der Hand, mit der auch die Serviette hält. „Natürlich“, sage ich voller Sarkasmus und lasse ihn in die Falle laufen, „Weißt du, für mich wirkt es eher, als wäre ich hier, um deinen Eltern eins auszuwischen." Noch deutlicher kann er es nicht machen, dass ich die Sorte Kerl bin, die man mit nach Hause bringt, um zu zeigen, dass man rebelliert. Obwohl ich es nicht möchte, spüre ich, wie sich bei dem Gedanken mein Magen verkrampft und sich ein unangenehmes Kratzen unter der Haut ausbreitet. „Ughn…“, entflieht es ihm. Dass Kain es nicht schafft, direkt etwas Verneinendes zu erwidern, sondern überrascht mit den Worten hadert, macht es nicht besser. „Das ist wirklich deine Intention!“, entblöße ich die bare Münze, „Vielen Dank auch.“ „Ist es nicht. Warte bitte“, sagt er eilig und greift nach meiner Hand. „Ach ja?“ „Es ist alles wahr und so gemeint, womit ich im Vorfeld argumentiert habe. Ich möchte dich bei mir haben, als Verbündeten, weil ich es leid bin, als einziger mit ihnen auf Kriegsfuß zustehen, aber …“, erklärt er sich hastig und stoppt. Er atmet tief ein und wieder aus. „Womöglich bin ich meinen Eltern doch ähnlicher als mir lieb ist. Tut mir leid, Spatz. Ich wollte nicht diesen Eindruck vermitteln…" Zu meiner Überraschung klingt er ehrlich bedrückt, fast schon entsetzt und es nimmt mir den Wind aus den Segeln. Was mich fast ein wenig mehr ärgert, als mir lieb ist. Mit einem grummeligen Brummen entreiße ich Kain die Serviette und stakse an ihm vorbei ins Zimmer. „Spatz, Spatz, Spatz, entschuldige, ich bin manchmal wirklich ein elendiger Holzkopf.“ Kain folgt mir. „Was du nicht sagst. Lass das mit dem Spatz“, warne ich ohne viel Nachdruck. Er hievt seinen Oberkörper auf meine Schultern, mit den Armen links und rechts an meinem Kopf vorbei und hält mich vom Weitergehen ab. Ich schaffe dennoch ein paar Schritte und weiß, dass er schmollt, was ich an dem melodischen Gesumme und Brumme direkt am Ohr merke. Er flüstert Motzspatz, was durch die plötzlichen Vibrationen meines Handys fast übertönt wird. Das vibrierende Rattern ist laut, dennoch brauche ich einen Moment, bis ich es an der richtigen Stelle verorte und gehe darauf zu. Kain folgt mir wie ein summender Dackel und belässt nur die Hände auf meinen Schultern. Das Display zeigt mir einen eingehenden Anruf meines Mitbewohners, was auch Kain sieht. Er formt mit den Lippen Jeffs Namen. Ich nicke, gehe ran und ignoriere Kains mimische Aufforderung, es nicht zu tun. „Bitte sag mir, dass ihr Plätzchen oder Stollen oder Pfefferkuchen habt", platzt es aus Jeff hervor, ehe ich auch nur ein Ton von mir geben kann. Sicher, wir sind eigentlich die böse Hexe aus Hänsel und Gretel. „Dir auch ein schönes Weihnachtsfest." „Spar dir die Freundlichkeiten. Habt ihr Kekse?", würgt er mich prompt ab. „Ich will Kekse. Bitte gebt mir Plätzchen.“ Nun klingt Jeff fast weinerlich und quengelt. Ich stelle mir prompt vor, wie er mit den Füßen auf den Boden rumtippelt. „Wow, sachte, Krümelmonster. Es ist viel zu spät für Plätzchen. Und die Frage ist eher, wieso hast du keine?" Normalerweise könnte er mit den Backwaren, die seine Mutter zur Weihnachtszeit kreiert, einen eigenen Laden eröffnen. „Mama ist auf Diät und foltert mich", erklärt mein Jugendfreund den Bettelanruf, „Ist das rechtmäßig? Das darf sie doch bestimmt gar nicht, oder? Ich kann doch bestimmt Rechtsmittel einlegen? Klagen?“ „Auf dein Recht auf Diabetes? Du erinnerst dich schon daran, dass du ein erwachsener Mensch bist? Wieso ist sie schon wieder auf Diät?", frage ich wohlwissend, dass ich damit eine Tretmine auslöse. Es ist nicht das erste Mal, dass seine Mutter solche Anwandlungen hat und sie hat schon alles probiert. Ananas-Diät. Mittelmeer-Diät. Dabei ist es nicht mal nötig. Sie ist zwar keine Gazelle, aber das ändert nichts daran, dass Jeffs Mutter toll aussieht und ihre Umarmungen großartig sind. Ich schiele zu Kain, der seinen Kopf mittlerweile auf meiner Schulter abgelegt hat und lauscht. „Irgendwelche Tantchen im Ort haben wohl dumme Kommentare gemacht. Es ist totaler Nonsens, aber wenn ich ihr das sage, zählt es nicht. Ich bin ja nur der Sohn. Und nun leide ich… es ist schrecklich.“ Das dachte ich mir bereits bei der Verwendung des Wortes Foltern nach der fehlenden Begrüßung. „Diesmal hat sie den Kohlenhydraten abgeschworen. Aber wenn du denkst, mit Low Carb wäre es getan, nein, es ist noch schlimmer! Sie isst gar keine Kohlenhydrate mehr. Alles Käse, sag ich dir." Im wahrsten Sinne der Bedeutung. Ohne Kohlenhydrate bleibt nicht viel übrig. „Ich schreibe Lena, sie soll dir ein Notfallpaket fertigmachen“, schlage ich vor, drehe mich aus Kains Griff und gehe auf das Bett zu. „Ooh Bingo. Danke. Danke. Danke. Halt, wieso machst du es nicht selbst? Wo bist du?“ „Wo ich… oh, der Empfang wird schlechter…Jeff? Kannst… du…uh…“ Ich drücke den Anruf weg und Kain macht im selben Moment ein langgezogenes Piep-Geräusch. „War das wirklich notwendig?“, fragt er daraufhin vorwurfsvoll, „Du hättest ihm einfach sagen können, dass du bei mir bist. Lena sagt es ihm sowieso.“ Er nimmt mir das Handy aus der Hand und wirft es aufs Bett. „Hätte ich, muss ich aber nicht.“ Aber auch ich bin mir sicher, dass er es durch Lena erfahren wird. Die beiden Tratschenten sind schlimmer als alle Tantchen im Ort zusammen, wenn man mich fragt. „Du hast ihm aber schon mitgeteilt, dass wir zusammen sind, oder?“ „Ich muss ihm das nicht extra sagen, du bist so offensichtlich, dass es dir quasi auf der Stirn steht“, murre ich. Noch dazu wusste es Jeff im Grunde vor mir, was nicht ansatzweise so unerwartet war, wie es sein müsste. Immerhin hat er auch von allein mitbekommen, das Kain und ich miteinander ficken. „Hast du ein Problem damit?“, erkundigt sich Kain und klingt leicht angepisst. „Nein“, setze ich an, „Ich habe kein Problem damit, dass es Jeff weiß oder der halbe Campus. Es ist auch längst zu spät. Aber ich würde mich freuen, wenn du bei solchen Gelegenheiten…“ Ich deute einmal in alle möglichen Richtungen. „…vorher fragst, ob ich will, dass andere es mitbekommen.“ „Ja, sicher, machst du mir noch eine Liste, bei wem es dir recht und bei wem nicht?“, spottet er. „Als ob ich damit hausieren gehe. Ich bitte dich.“ „Das sage ich gar nicht. Ich meine ja nur, wir hätten vorher darüber reden können“, verteidige ich meinen Standpunkt. Bevor er seiner Mutter mitteilt, dass wir in einem Bett schlafen. „Reden? Das sagst gerade du? Damit du es weißt, ich bin mir an manchen Tagen nicht sicher, ob ich mir unseren Beziehungsstatus nicht einbilde.“ „Wirklich diese Schiene? Ich bin doch hier, oder?“ „Du hast unsere Beziehung als Dings bezeichnet, als es beim letzten Mal zur Sprache kam.“ Ich erinnere mich. Einmal. Möglicherweise zweimal. Es waren Versehen. „Nicht unwahr… aber unfair. Du hast mich überrumpelt.“ „Jedes Mal, wenn ich es anspreche? Ich warte darauf, dass du mich irgendwann als Dingster vorstellst. Mit dem Wort Dings kann man einfach alles erklären, ohne es wahrhaftig aussprechen zu müssen“, scherzt er bitter und tropft vor Ironie. Auch das ist nicht vollkommen unwahr. Kain, mein Dingster, hat doch was. „Du bist nicht hilfreich und ich habe dir längst bestätigt, dass das Beziehungsparadigma Gültigkeit hat, aber gut, du willst ein Label? Fick dich, Dingster“, pfeffere ich ihm harsch entgegen. „Paradigma? Nicht dein Ernst.“ Oh, doch. Ich schnappe mir demonstrativ meinen Rucksack und verlasse das Zimmer. Erst jetzt scheint er zu begreifen. „Ahh, nicht doch. Fuck! Robin, lauf nicht weg“, ruft Kain furchtvoll aus und folgt mir strauchelnd. „Lass uns jetzt darüber reden.“ Er holt mich vor dem Gästezimmer ein und ich drehe mich ruckartig zu ihm um. Er zuckt tatsächlich zusammen und presst die Lippen aufeinander, nachdem er mit einem Quietschen vor mir zum Stehen kommt. Mein bissiger Hundeblick wirkt. „Nein!“, sage ich strikt. Ich betrete das Zimmer und lasse Kain einfach stehen, als ich ihm die Tür vor der Nase zuschlage. Um dem Ganzen noch etwas Nachdruck zu verleihen, drehe ich den Schlüssel im Schloss, der zu meiner Freude existiert und höre, wie direkt darauf etwas Schweres gegen das Holz ploppt. Vermutlich Kains Kopf. Dass er das Schloss gehört hat, befriedigt mich ungemein. „Lässt du mich bitte rein? Oder komm einfach wieder raus. Lass uns reden.“ Seine Stimme ist durch die Tür hindurch gedämpft und klingt deshalb verzweifelter. Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass es meinen Prolaktinspiegel nicht singen lässt. Schmore in deinen eigenen Saft, du furchtloser Quatschkopf. „Robin!“, bettelt Kain. Zum Glück sieht er nicht, wie ich die Augen verdrehe, wegen mir selbst und ihm. „Nacht, Dingster!“, entgegne ich laut, spottend und abschließend. Das absonderliche Hochgefühl, welches mit dem kleinen absurden Sieg einherging, währt nicht lang und wird schnell durch eine schwere Bitternis ersetzt. Ich schleudere meinen Rucksack aufs Bett, ignoriere Kains reuevolle Klopfer und spaziere direkt ins angrenzende Bad. Es ist nicht groß, hat aber ein schmales Seitenfenster Richtung Garten. Ich öffne es und schaue seufzend in die Nacht. Nach einer Katzenwäsche und aggressivem Zähneputzen krame ich meine Schlafklamotten hervor und stoße frustriert die Luft aus, als mir eine mehr als unerwünschte Farbe in die Hände fällt. „Ach shit.“ Ich habe nur das von Jeff rosa verfärbte Langshirt dabei. Eigentlich wollte ich meine Mutter bitten, es zu entfärben, aber das habe ich vergessen. Ich muss Lena wegen dem Notfallpaket schreiben. Im nächsten Moment taste ich nach meinem Handy und stelle fest, dass es nicht da ist. Auch nicht im Rucksack. Es dauert etwas, bis mir einfällt, dass ich es bei Kain im Zimmer liegen gelassen habe. Feiertage sind ohnehin nervtötend und mit diesen Voraussetzungen sind sie unerträglich. Ich betrachte erneut den Flamingostoff mit all der Abscheu, die ich empfinde und streife mir das Shirt letztendlich über. Ein Flamingo bei Nacht ist grau, nicht wahr? Oder wie war das mit diesen verfluchten Katzen? Immerhin ist niemand da, der mich sehen kann, weil der Blödmann Kain ein Blödmann ist. Verdammt, wieso ärgert es mich eigentlich? Dann weiß es seine Familie eben! Dann hat er mich als Provokation benutzt. Na und! Ich würde es an seiner Stelle auch tun. Es ist mir völlig egal. Sowas von gleich und schnuppe. Okay, es ist mir nicht egal und ich weiß auch, dass ich selbst daran schuld bin. Ich weiß, es ist von Bedeutung, was man sagt, oder versäumt zu sagen. Ich habe es nicht aktiv angesprochen und gehofft, es so lange wie möglich nicht aussprechen zu müssen. Nicht weil ich mich für diese Beziehung schäme, sondern viel mehr, weil ich befürchte, dass ich es zu schnell verbocke und alle enttäusche. Einschließlich und vor allem Kain und mich selbst. Meine Familie mag Kain. Jeff mag Kain. Sogar Luci kann ihn gut leiden, wobei ihr Männergeschmack zu wünschen übriglässt. Alle mögen Kain. Vielleicht ist genau das mein Problem. Denn diese Gewissheit macht mich manchmal rasend. In diesen strudelnden Gedanken gefangen zerre ich mir die lange Schlafhose über die Beine, falle wenig elegant in die Laken, nachdem ich prompt das Gleichgewicht verliere. Ich bleibe zweimal im Stoff hängen, ehe ich sie über die Hüfte kriege. Danach starre ich an die Decke, die mit verschnörkeltem Stuck versehen ist. Aufwendige Zierleisten und eine pompöse Deckenrosette runden das dekadente Bild ab. Ich vermisse plötzlich die schmuddeligen Deckenplatten des Wohnheims. Es ist einfach fremd. Ich setze mich wieder auf und schaue mich zum ersten Mal aufmerksam im Zimmer um. Für ein Gästezimmer ist es mehr als geräumig und wirkt quasi wie ein Hotelzimmer. Auch, wenn die typischen Annehmlichkeiten wie ein Fernseher und eine Minibar fehlen. Es ist, ebenso wie Kains Zimmer, eher minimalistisch dekoriert und unpersönlich. Kein Schnickschnack. Kaum Familienfotos. Auch nicht im Flur oder in der Küche. Anscheinend ist das der Anders-Stil oder einfach der Tatsache geschuldet, dass sie wenig familiär sind. Kain, mit seinem klaren Bedürfnis nach Nähe, passt da kaum ins Bild oder vielleicht genau deswegen. Ich bin mir nicht sicher, wie ich Kains Verhalten einordnen kann. Kain. Mein Freund. Es rollt unausgesprochen über meine Zunge und klingt dennoch seltsam. Dingster finde ich besser. Mit einem kurzen Blick zur Tür lege ich mich erneut senkrecht und vergrabe die Beine unter der Decke. Draußen ist es still, demnach hat Kain die Versuche, mich zu bequatschen, aufgegeben. Ich schaffe es nicht, die Augen für mehr als zehn Sekunden zu schließen, bevor sie wieder aufspringen und ich wacher bin als vorher. Leider ist mir trotz der voranschreitenden Zeit nicht gelungen, zu identifizieren, warum oder was es ist, was mich wachhält. Vielleicht doch dieser Geruch? Ich drehe meinen Kopf zur Seite, sodass sich die Hälfte meines Gesichts ins Kissen drückt. Er ist blumig, so wie der Rest des Zimmers, aber das ist es nicht. Vielleicht die Konsistenz der Matratze? Vermutlich bin ich durch die brettartigen Betten unseres Wohnheims derartig entwöhnt, dass mein Hintern mit guten Matratzen nicht mehr umgehen kann. Ich wackele ein paar Mal mit der unteren Körperhälfte im Laken umher und gestehe mir ein, dass es daran nicht liegt. Es ist okay. Womöglich ist es zu ruhig? Normalerweise raschelt, brummt, atmet oder schnarcht irgendwas in den Zimmern, in denen ich nächtige. Doch wenn ich in meinem Elternhaus bin, stört mich Kains Fehlen auch nicht. „Verdammt“, fluche ich in den stillen Raum hinein. Ich vermeide es, auf die Uhr zuschauen, als ich die Beine aus dem Bett schwinge und aufstehe. Kurz überlege ich hin und her, fühle mich wie eine der mittleren Kugeln in einem Newtonpendel. Ich ziehe sogar die Packung Zigaretten hervor, die ich in einer der Innentaschen meines Rucksacks bunkere für Notfälle. Es fühlt sich an wie eine eindeutige Zwangslage, auch wenn ich es besser weiß. Doch statt mich auf den Balkon zu stellen, werfe ich die Packung zurück, greife mir die Bettdecke, werfe sie mir um und husche behutsam über den Flur. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)