Between the Lines - Chapter 2 von Karo_del_Green (It's more than just words) ================================================================================ Kapitel 6: Kein Sex unter dieser Nummer --------------------------------------- Kapitel 6 Kein Sex unter dieser Nummer Natürlich komme ich nicht dazu, mit Kain zu reden, und habe bei den wenigen Momenten, die wir miteinander verbringen können, kaum Ambitionen, diese durch Schwermut zu verwässern. In der Konsequenz lasse ich es schwelen und ertappe mich hin und wieder dabei, dass es mich nachts durch die Laken wälze, obwohl der Schwarzhaarige nicht involviert ist. Die letzten Herbstwochen fliegen vorbei und der Unikrake verschlingt mich mit all seinen Tentakeln. Hausaufgaben. Referate. Ich sitze eine Woche ohne Unterbrechung in der Bibliothek, weil ich befürchte, dass sich das benötigte Buch in Luft auflöst, wenn ich es aus den Augen lasse. 10 Exemplare auf 25 Studenten pro Seminar nenne ich schlechte Planung. Irgendwann gibt es keine Möglichkeit, dem Weihnachtswahnsinn zu entkommen. Selbst einer meiner Dozenten fügt bei jeder seiner Mails einen pseudoweihnachtlichen Spruch ein und begrüßt die Studentenschaft mit HoHoHo. Was läuft nur falsch in dieser Welt? Und was spricht gegen ein schlichtes Hallo und ´Hey du´ das gesamte Jahr über? Als ob Pfefferkuchen und Stolle im September nicht schon bedauerlich genug wären, blinken in fast jedem Fenster bunte Lichter in die Nacht hinein. Einige davon mit psychodelischen Epilepsieeffekten. Der Tag- und Nachtrhythmus der Menschen und Tiere wird vollkommen durcheinandergebracht und wir wundern uns, wenn die Gesellschaft immer fahrlässiger wird. Doch dieses Jahr zergehe ich nur halb so arg ins Zetern, als in den vorigen. Warum? Kain. Er ist Ablenkung schlechthin. Nicht nur im sexuellen Sinne. Seit unserem absurden Zahnpasta-Tête-à-Tête ist, abgesehen von zunehmenden Nachrichten, kleineren Telefonaten am Abend und Kains Versuchen, der Rothaarigen bewusst aus dem Weg zu gehen, wenn ich dabei bin, alles wie vorher. Die Betonung liegt darauf, dass Kain es versucht, das Biest hingegen nicht. Ihre Blicke werden mir gegenüber bei jedem Aufeinandertreffen giftiger und mein Wunsch, sie zu diffamieren, steigt exponentiell an. Eine Spirale, die zwangsweise irgendwann zur Explosion führt und dann nehmen wir die gesamte, verrückte Welt mit. Würde ich mich nicht draußen auf einem öffentlichen Ort befinden, würde ich laut und hämisch lachen. Leider haben wir in diesem Semester eine Vorlesung, mit dem nachfolgenden Seminar zusammen und wir schaffen es nicht, genug Plätze zwischen uns bringen, um nicht aneinanderzugeraten. Doch die doofe Kuh ist mein geringstes Problem. Kain und das, was wir da miteinander haben, ist das Größere. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Da wir uns kaum sehen, kann es nicht anders sein und im Grunde kommt mir der Status quo sehr entgegen. Noch dazu hat die Gewissheit, dass ich mich nicht in eine kitschige Romanfigur verwandeln muss, durchaus etwas Beruhigendes. Ich streiche mir die verschwitzten Haare aus dem Gesicht, greife ein letztes Mal den Basketball und lasse ihn geschickt im Korb verschwinden. Seit einiger Zeit bin ich wieder regelmäßig auf dem Basketballplatz und versuche meinen irrläufigen Gedanken in Linie zu bringen. Sport hilft. Mal ist es zufriedenstellend, dann hat es den umgekehrten Effekt. Deshalb liege ich meistens mit meinem Kissen raufend auf dem Bett und seufze vor mich hin, bis Jeff einschlägt wie die ablenkende Chaosbombe, die er ist. Ich sammele den Ball ein und mache mich auf den Rückweg zum Wohnheim. Kain hat sich nicht gemeldet. Trotzdem hole ich mein Handy hervor und starre auf den Chatverlauf, der heute Morgen mit ein paar lapidaren Phrasen aufhörte. Es macht mich wahnsinnig. Einerseits will nicht unter dem ständigen Druck stehen, mich melden zu müssen, und ich will ebenfalls nicht, dass Kain mir ununterbrochen schreibt. Aber andererseits kann ich den Gedanken an ihn nicht fallen lassen, wenn er es nicht tut. Es ist verrückt und ich kann es nicht leiden. Es ist schon der vierte Nachmittag hintereinander, an dem mein Basketball und ich beste Freunde mimen und uns trotz des schlechter werdenden Wetters bis zum Vergessen ertüchtigen. Der Name meiner Schwester erscheint auf dem Handydisplay, während ich mich wegen Unkonzentriertheit schon zwei Mal beim Eintippen des Pins vertan habe. „Nervenheilanstalt Freud’scher Wahnsinn. Wir heilen mit Weilen“, begrüße ich. Lena mit übertrieben freundlichen und ruhigen Tonfall. „Hast du zufällig das Rezept für die tollen Schokokekse zur Hand? Ich meine die, die wie Himmelswolken schmecken und auf der Zunge schmelzen?“, schmettert sie wie ein Blasorchester drauflos, ohne auf meine durchaus gelungene Begrüßungsfloskel zu reagieren. Ich möchte schmollen, bin nur nicht der Typ dafür. Interessanterweise wird der Klang ihrer Stimme bei jedem ihrer Worte verträumter und sie rundet den Satz mit einem deutlichen Schmatzen ab, sodass ich vergesse, mich zu grämen. Wie lautmalerisch. „Ich hätte spontan eine Isolierzelle für dich. Mit genügend Fantasie sehr wolkig.“ „Oh, du bist wahrlich der Scherzkeks unter den Plunderstücken“, erwidert sie staubtrocken, „Und nun wieder zu den ernsten Dingen. Hast du das Rezept oder nicht? Ich möchte sie für den Weihnachtsbasar morgen in der Schule backen und kann es nicht finden.“ Hat sie mich gerade als gerollten Hefeteig bezeichnet? „Steht es nicht in Mamas Backbuch?“, frage ich, nachdem ich meine aufkommende Echauffiertheit abschmettere. „Steht es nicht“, verneint sie so theatralisch, als hätte sie ein halbes Jahrhundert damit verbracht, es darin zu suchen. Ich werde es sicher beim nächsten Mal direkt finden. Lena ist ein Blindfisch. „Sag es mir einfach.“ Mit Nörgeln habe ich noch weniger Lust, ihr zu helfen. „Sehe ich aus wie ein wandelndes Rezeptbuch?“, motze ich zurück. „Du könntest gerade aussehen wie ein laufender Spekulatius, es wäre mir egal. Ich brauche unbedingt dieses Rezept.“ „Du gehst mir auf den Keks.“ „Ist ja gut, kekse dich einfach aus und nenn mir die Zutaten“, weist mich meine forsche Schwester mit tiefer Stimme an und ich höre, wie sie ungeduldig mit einem Kuli auf einem Tisch rumtippt. Allein das Geräusch nervt mich umso mehr. Vor allem, da ich weiß, dass sie es absichtlich macht. Ich schenke ihr ein nörgelndes Knurren, beginne die offensichtlichen Zutaten für das Gebäck aufzulisten, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, weil Kekse nun mal Mehl enthalten und tippe nebenbei den Türcode für unser Wohnheimzimmer ein. Für die konkreten Mengenangaben brauche ich selbst einen Blick ins Rezept. Ich bin nicht in Eile, also lege ich den Ball zur Seite, ziehe gemächlich die Schuhe aus, stelle sie geordnet auf die Ablage und schrecke zusammen, als erst ein gigantischer Schatten und dann Kain neben mir auftaucht. „Huch! Was zum...“, entflieht es mir kurzatmig, hinterher wild fluchend. Der Schwarzhaarige beginnt sofort schelmisch zu grinsen. Das Telefon in meiner Hand ist vollkommen vergessen und damit auch meine kleine Schwester am anderen Ende der Leitung. „Immer wieder ein Spaß, wie süß du das sagst.“ „Fick dich, Kain, das ist nicht witzig. Ich hätte einen Herzinfarkt kriegen können und glaub mir, dann hätte ich dich umgehauen“, lege ich Nonsens nach. Das Grinsen in Kains Gesicht wird etwas breiter, so als hätte ich meine Drohung mit gezuckerten Rosenblättern gewürzt. „Eher dein Stil, Spatz!“ „Verrecke!“ Kain lacht erneut, diesmal ekstatisch. „Ach komm! Bitte Entschuldige, ich dachte, du hast mich gehört oder zu mindestens meine Schuhe gesehen“, erklärt er lachend und deutet zum Eingangsbereich, wo unübersehbar seine Turnschuhe abgestellt sind, die mir nicht aufgefallen sind, obwohl sie zwei Nummern größer sind als Jeffs und meine. Ich habe sie vor lauter Mürbeteiggeplänkel vollkommen übersehen oder vielleicht habe ich mich auch schon daran gewöhnt, dass sie dort stehen. Eher unwahrscheinlich, aber hin und wieder zweifele auch ich an der Funktionalität meiner Gehirnwindungen. Vor allem in der letzten Zeit. Mit flatternden Gefühlen in der Brust folge ihm ins Zimmer hinein und erst jetzt fällt mir ein, dass ich Lena noch am Telefon habe. „Noch dran?“, melde ich mich bei ihr zurück, ergebe mich Lenas übertriebenem Gezeter und schreite an Kain vorbei zum Schreibtisch. „Ja. Ja. Bist du endlich fertig und hörst zu?“ Aus der Schublade krame ich ein kleines Notizbuch hervor. Doch ehe ich es finde, leere ich den halben Inhalt daraus. Alte Notizen. Eine Postkarte mit Nachtmotiv. Eine mit klassischen Touristeneinheitsbrei. Ich entdecke eine weitere Time-Out-Karte und ein paar von Kains Ingwerbonbons. Ich habe keine Ahnung, wieso sie da drin sind. Im nächsten Moment ist das Süßmaul hinter mir und schnappt sich eines der Zuckerknubbel. Er murmelt etwas davon, dass ich sie ihm geklaut habe und er deshalb keine mehr hat. Verschwörung. Zeter und Mordio. Ich dachte immer, Jeff wäre die ultimative Dramaqueen. Ich habe mich getäuscht. Kain ist dabei so laut und eifrig, dass auch Lena alles mitbekommt und prompt freudig kommentiert. Ich stelle das Handy auf Lautsprecher, werfe es zu Kain aufs Bett und suche akribisch nach dem Rezept der Kekse. Als ich es endlich finde, hat Lena einen Lachanfall und Kain hat sich verschluckt. So viel zum Freud´schen Wahnsinn. Beide brauchen eine Weile, um in ihren Normalzustand zurückzukehren. Ich fühle mich derweil mufflig und ausgelaugt, sehne mich von Minute zu Minute mehr nach einer Dusche. An den Schreibtisch gelehnt sehe ich Kain dabei zu, wie er heiter mit meiner Schwester schäkert, höre aber nicht, worüber sie sprechen. Es ist auch egal. Kain sieht begeistert aus. Locker und ungezwungen. So, wie fast immer. Heißt das, er ist zufrieden? Glücklich? Er würde mir sagen, wenn ihm etwas fehlt. Sicher bin ich mir nicht. Mein Name fällt. Kain sieht mich an und ich erwidere seinen Blick. „Seid ihr fertig mit eurem Was-auch-immer? Ich hätte jetzt schon eine Ladung Keks gebacken“, bemerke ich und lasse mich neben ihn aufs Bett fallen. „Gut, wo sind sie?“, kommentiert Kain und reicht mir das Telefon. Ich schenke ihm einen vielsagenden Blick und beginne Lena die Mengenangaben durchzusagen. Nach einer weiteren kurzen Instruktion, wie sie den Ofen einstellt, beende ich das Telefonat. „Ich brauche eine Dusche“, erkläre ich laut seufzend und stehe auf. „Oh warte, bevor du gehst, wollte ich dich noch etwas fragen“, setze er an und hält mich zurück, indem er mich an der Hüfte zurückzieht. Ich schaffe es, nicht auf seinen Schoss zu fallen. „Ich plane nicht in der Dusche zu übernachten. Das ist dir klar?“ „Gut, zu wissen, aber wann planen du und Jeff Weihnachten nach Hause zu fahren?“ Weihnachten. Plätzchen. Familie. Das bedeutet, dass das Verdrängen nun endgültig vorbei ist. „Ich weiß nicht genau. Ich glaube, wir fahren am 22. Dezember. Jeff will den Abend vorher noch zur Weihnachtsparty seiner Fachschaft. Wenn ich so darüber nachdenke, wird Jeff gar nicht in der Lage sein zu fahren. Sie lassen es rocken, wie er so schön sagt“, berichte ich den O-Ton meines Mitbewohners und wackele sogar mit den Augenbrauen. Geologen haben einen unterirdischen Humor. „Meinst du, ich könnte mitkommen?“ „Zu der Steinchensammler-HoHoHo-Party? Machst du jetzt auf Schaufelbagger?“, kommentiere ich verschmitzt. Kain verströmt nun deutlich den Duft nach Ingwer und Zitrone und es beginnt unter meiner Zunge zu kitzeln. Mein ganz eigener pawlowscher Reflex. Der Kitzel ist erst sanft, dann umso heftiger, als er sich mehr aufrichtet und mir näherkommt. „Du findest dich urkomisch, oder?“, flüstert er mir zu und richtet seinen Blick direkt auf meine Lippen. „Ich habe meine Momente“, gestehe ich mit einem spitzbübischen Grinsen und verdränge gekonnt, dass mein Humor im Grunde genauso bekloppt ist, wie Jeffs. „Aber im Ernst, wenn Jeff dich mitbringt, wird er zum König der Steinbeißer.“ „Danke vielmals aber nein, ich meinte eigentlich die Autofahrt.“ „Es ist Jeffs Auto“, sage ich platt und höre den Schwarzhaarigen unzufrieden raunen. Das war wohl das Falsche. „Aber ich denke, wenn du ihm anbietest, zu fahren, dann sagt er nicht Nein.“ Der Ausdruck in Kains Gesicht ändert sich schlagartig und er greift lächelnd mit beiden Zeigefingern nach den Schlaufen meiner Jeans. Es wirkt zufrieden und das Ding in meiner Brust purzelt, wie ein kichernder Fellball. Keine Gnade. Nicht mal in der Vorweihnachtszeit. „Lena backt also für Weihnachten?“ „Für die Schule.“ „Heißt das etwa, es gibt keine hübsch verzierten Weihnachtsplätzchen im Hause Quinn?“ „Doch natürlich, aber wenn es nach Lena geht, sind sie nicht hübsch, sondern mit Gummibärchentopping.“ „Nicht gerade weihnachtlich, oder? Dass klingt mehr nach kindlicher Wunschvorstellung.“ Meine kleine Schwester hat so viel Sinn für ästhetische Verzierungen, wie ich Appetit auf Wurzelgemüse. „Wenn du 17 Jahre kindlich findest... Aber ja.“ Letztes Jahr waren es ausschließlich weiße und rote Bärchen. Passend zum Weihnachtsthema. Für die Grünen wollte sie sich nicht erwärmen. Die habe ich dann gegessen. „Und singt ihr Heiligabend auch Lieder für den Weihnachtsmann?“ Das Spiel setzt sich fort. Ich lasse ihn aber nicht gewinnen. „Keine Lieder.“ „Aber Gedichte? Lieber guter Weihnachtsmann...“, beginnt er einen der Klassiker. „Auch keine Gedichte...“ Ich gebe ihm keinen weiteren Anreiz, um mich zu necken. Seine Lippen formen einen minimalen Flunsch. „Aber wir spielen Spiele, um die Weihnachtsgeschenke zu verteilen und trinken Glühwein. Viel Glühwein“, beschreibe ich den christnächtlichen Wahnsinn, der bei uns abgeht, und habe Kains volle Aufmerksamkeit zurück. „Weihnachten bei den Quinns klingt nach einem spaßigen Vergnügen.“ Spaßig, aber anstrengend. Derartig viel Familie auf einmal ist für mich schwere Arbeit. Aber mit Plätzchen und Glühwein ertrage ich es. „Wenn man es gewöhnt ist, seine kleine Schwester gewinnen zu lassen, verliert man irgendwann jegliche Ambitionen. Ich schwimme mit dem Strom und hab selten eine Wahl“, berichte ich mit gespielter Bitternis. „Armer Spatz“, erwidert er neckend und kein klitzekleines bisschen bedauernd. Ich glaube ihm kein Wort. „Ich finde das schön.“ „Softie.“ Kain lässt sich nicht irritieren, sondern schenkt mir ein weiteres warmes Lächeln und schiebt seine rauen Fingerspitzen langsam unter meinen Pullover. Die berührte Haut sendet eine deutliche Nachricht an mein Gehirn. Mehr. Weiter. Der leichte Geruch von Ingwer stimuliert zusätzlich und es fällt mir schwer, konzentriert zu bleiben. „Und du kannst an allen Weihnachtsfeiertagen zu deiner Schwester?“ „Ja, aber nur für ein paar Stunden. Letztes Jahr hatten sie sogar einen eigenen kleinen Baum und haben am Heiligabend sowas wie Schrottwichteln veranstaltet“, beschreibt er lächelnd und malt mit seinen Fingern Bilder, die nur in seinen Erinnerungen Sinn ergeben. Ich schmunzele dennoch. Sein naiver Enthusiasmus ist hin und wieder sehr erfrischend. „Den Rest der Zeit allerdings werde ich versuchen, meinen Eltern aus dem Weg zu gehen. In der Hoffnung, dieses Mal der alljährlichen Inquisition zu entkommen.“ Und Zack ist das gute Gefühl dahin, selbst für einen emotionsblanken Stein wie mich. Kains Worte sind voller Bitternis und sein Lächeln verschwindet, genauso wie das sanfte Glitzern in seinen Augen, welches sonst erscheint, wenn er von seiner Schwester spricht. Ich weiß, dass er ein schwieriges Verhältnis zu seinen Eltern hat, aber bisher hat er mir nur unzureichend erklärt, wieso. Es geht mich auch nichts an. „Ihr habt also keine lächerlichen Weihnachtstraditionen?“, hake ich nach. Kain schüttelt nur den Kopf, lässt seine Stirn gegen meinen Bauch kippen und reibt sie daran weiter. Den tiefen Seufzer überhöre ich fast. „Nur die Traditionellen, wie Streit und Missgunst. Der wahre Sinn von Weihnachten, so wie bei allen anderen Familien auch, oder?“, erwidert er mit ruhiger Stimme, sodass ich davon augenblicklich Gänsehaut bekomme. Als Kain sie auf meinem Arm bemerkt, blickt er auf und belässt nur sein Kinn an Ort und Stelle. „Und die Leute nennen mich Grinch“, kommentiere ich, lasse es absichtlich unscharf und bin nicht sicher, was ich sagen kann. Ich bin nicht gut darin und weiß nicht, was Kain von mir erwartet. Will er Trost? Solch ich mit schimpfen? Aber wie sollte ich? Ich kenne seine Familie nicht. „Du pflegst nun mal das perfekte Image dafür“, erwidert er unaufgeregt und schaut mich weiterhin an. „Aber ich fand den Grinch immer ganz süß. So schön motzig…und flauschig. Vielleicht ist das einfach mein Typ.“ Nun formt sich ein keckes Grinsen auf seinen Lippen, welches kleine, weiche Falten um seinen Mund herum entstehen lässt. Ich mache einen Schritt nach hinten, doch Kain zieht mich direkt wieder zurück und sich dabei hoch, sodass ich im nächsten Moment zu ihm aufsehen muss. Er gibt mir keinen Spielraum für Widerworte, keine Chance auf Unmut, denn der Kuss, der folgt, leert meinen Kopf komplett. Von jetzt auf gleich. So, als hätte man inmitten eines Films den Ausschalter des Fernsehers betätigt. Es ist nicht das erste Mal, dass das geschieht und mich gleichzeitig von innen heraus ein Sturm erfasst. Keiner, dem eine klare Definition zu Teil wird, denn er ist immer ein wenig anders. Manchmal leicht und warm, wie eine Brise. Aber hin und wieder genau wie in diesem Moment ist es ein Taifun voller wirbelnder Emotion und ich gebe mich ihm hin. Auch die übriggebliebenen Wochen des Jahres vergehen wie im Flug. Jeff kommt nach der Weihnachtsfeier gar nicht ins Wohnheim zurück, sondern steht irgendwann am Morgen wie ein Geist in der Tür. Oder eher wie ein Twilight-Vampir, denn er glitzert. Auf meine Frage, wie der Abend war, brabbelt er undeutliches Zeug, während er die letzten Dinge in seine Tasche räumt und den Eindruck erweckt, als würde er das Ganze mit geschlossenen Augen versuchen. Ich bin mir sicher, dass er die Hälfte vergisst und ebenso gewiss, dass er uns deswegen bei der Fahrt volljammert. Kain ist wie immer die Ruhe selbst, schlürft einen mittlerweile lauwarmen Mokka und sucht per Handy nach der geeigneten Route in unser Heimatkaff. Er macht nicht den Eindruck, als würde er jemals losfahren wollen. Auch sein rustikales Äußeres mit Bartstoppeln und Bettschopf zeigt eher die Tendenz zum Boykott. Irgendwann hat Jeff seine Klamotten beisammen und wir verlassen das Wohnheim. „Robin sitzt hinten“, brüllt Jeff drauflos, eilt auf das Auto zu und blockiert die Beifahrertür mit seinem gesamten Körper. Wenn es nach mir ginge, hätte er seinen lethargischen Alkoholnachrausch etwas hinauszögern können. „Bin dafür“, bestätigt Kain. Das so schnell, dass ich in der Zeit einzig schaffe, Luft zu holen. Ich sehe ihn beim Ausatmen beleidigt an. „Guck nicht so. Du bist der Welt schlechteste Beifahrer.“ Kurz und knackig. Wieso beschönigen. Kain muss nicht erklären, worauf er anspielt und Jeff hütet sich davor, irgendwelche Fragen zu stellen. Er sollte es auch nicht, denn er weiß besser als jeder andere, wie ich mich als Mitfahrer schlage. Ehe weitere Kommentare eintrudeln, hebe ich abwehrend die Hände in die Luft und gleite mit einer geschmeidigen Bewegung auf dem Rücksitz. Betonend, dass ich keineswegs beleidigt bin. Die beiden Affen können mich mal kreuzweise. Die zweite Reihe bietet ohnehin mehr Platz und ich werde es genießen, nicht mit ihnen reden zu müssen. Mit diesem Plan krame ich meine Kopfhörer hervor, aktiviere die Shuffle-Funktion und ignoriere die beiden anderen professionell bei Nico Santos `Rooftop`. Ohne Aufsehen packen sie die restlichen Sachen zusammen und folgen mir nacheinander ins Auto. Ich reagiere erst wieder, als sich Kains Stimme dumpf in den neu beginnenden Song mischt. Er formt mit den Lippen einen deutliches `Ready?` und ich nicke. Ich bin schon lange fertig. Vor allem mit den Nerven. „Oh, wartet. Ich habe was vergessen. Moment noch!“, ruft Jeff laut und eins fix zwei ist der Blonde aus dem Auto gesprungen. Kains Hand schwebt über dem Schalthebel und nachdem er den ersten Schreck überwunden hat, tätschelt er sachte den runden Knüppel, als würde er sich bei ihm entschuldigen. Ich pausiere versehentlich die Musikfunktion meines Handys und es wird still. Es öffnet sich der Kofferraum und ich höre durch die ausgeschalteten Kopfhörer hindurch, wie Jeff in seinem Reisegepäck rumkramt. Kain reißt sich von der Gangschaltung los und blickt ebenfalls zurück. Erst zum Kofferraum, dann zu mir. „Ist es wirklich okay für dich, hinten zu sitzen? Du musst doch bestimmt noch irgendwas fertig schreiben, oder?“, höre ich ihn mutmaßen und schaue dabei zu, wie er plötzlich seine Hand nach hinten ausstreckt, sodass er nach kurzem Ertasten mein Knie berührt. Ich bin für einen Moment versucht auszuweichen, doch mein Bein hat seinen eigenen Kopf und rührt sich nicht. Seine Hand ist warm. So warm, dass ich es durch meine Jeans hindurch spüre. Es fühlt sich gut an, derartig angenehm, dass ich fast vergesse zu antworten und unwillkürlich den Playbutton auf dem Handy betätige. Ich nicke schlicht und ertappe mich dabei, wie ich das Knie ein wenig mehr in die Berührung lehne, während aus meinem Kopfhörer ´Until you´ von Shayne Ward dringt. `'Cause I never thought I'd feel all the things you made me feel. Wasn't looking for someone, oh, until you.` Manchmal frage ich mich, wer diese Skripte schreibt. Wenn ich das in meinen Geschichten tun würde, hätten mich die Charaktere längst verhauen. Mehrfach und blutig. Dieser Song. In diesem Moment. Ohne Worte. Ich klicke die Ballade weg und aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich, wie Jeff wieder vor mir Platz nimmt. Kain legt seine Hände zurück ans Lenkrad, während Jeff sich anschnallt und direkt das Radio lauter stellt. Er liebt diesen Song. Ich weiß nicht mal, wer das Lied singt und will es gar nicht wissen. Während der ersten Etappe labert uns mein Mitbewohner einen Knopf an die Backe, da wir unbedingt eine größere Pause einlegen sollen. Sein alkoholnachwirkender Zustand ließe nicht zu, dass er länger als zwei Stunden stillhält. Den Einwurf, dass er das in keiner Konstitution hinbekommt, ignoriert er geflissentlich. Den Gedanken, dass wir auch sonst einen längeren Stopp machen, weil Jeff stets das urplötzliche Verlange antreibt, etwas Ungesundes und Fettiges zu essen, äußere ich gar nicht erst. Immerhin spare ich mir so ein kleines bisschen Konversationskontingent auf, das ich ohnehin für meine Familie brauche. Natürlich frönen wir auch diesmal dem Stoffwechsel der Jugend, so lange wir ihn noch haben. Allerdings spickt Kain die lauschige Sünde mit niederschmetternden Fitnesshinweisen und gesundheitsfördernden Mahnungen. Mich hat noch nie interessiert, wie viele Kalorien das Salatblatt auf meinem Hamburger hat. Die Tatsache, dass der Schwarzhaarige durch seine stressige Multicityspringerei kaum mehr zum Trainieren kommt, spielt wesentlich mit ein, denn er jammert hauptsächlich für sich selbst. Als Jeff bestätigt, dass Kains Muskeln an Form verlieren, trifft mein Fuß ungesehen sein Schienbein. Mein Jugendfreund ist der Letzte, der sich beschweren darf, denn ich bin mir nicht mal sicher, ob er Muskeln hat. Wahrscheinlich ist es nur Gelatine. Oder Pudding. Auch nach dem Einsteigen und beim Weiterfahren läuft ihre Diskussion weiter, wechselt zwischen Extremsport und dem Für und Wider bestimmter Ernährungsformen hin und her. Was ist Paleo? Jeffs Argumente stammen mit Sicherheit von einem anderen gutgebauten und trainierten Kerl in seinem aktuellen Leben, denn ich habe ihn in der gesamten Zeit unserer Freundschaft niemals Frühsport machen oder joggen gehen sehen. Da ich keinen nennenswerten Beitrag zu dem ganzen Themenkomplex habe, halte ich mich zurück, gebe nur Laute von mir, wenn es einer der beiden wagt, mich in einen ihrer Sätze zu integrieren oder mich anzureden. Meine Interpretation eines brünstigen Flusspferds verdient einen Oscar. Keiner der zwei wird es wagen, je wieder meinen Eiskonsum anzusprechen. Schließlich döse ich weg und lasse mich von der vertrauten Stimmenkulisse und dem gleichmäßigen Rauschen der vorbeiziehenden Autos einlullen. Es ist selten, dass ich beim Autofahren die Augen zu machen kann, aber Kain ist bisher kein einziges Mal schneller gefahren, als er dürfte. Er lässt den Wagen einfach schweben und das, obwohl nichts an der alten Mühle vermuten ließe, dass er dazu in der Lage wäre. Als nächstes merke ich, wie erneut jemand mein Knie pikst. Diesmal Jeff. Ich öffne ein Auge und linse zum Beifahrersitz. Er drückt sein Gesicht ungelenk um die Ecke der Kopfstütze und ist selbst nur zur Hälfte zu erkennen. „Der blanke Horror“, murre ich und beschreibe damit das Bild, welches mein halbschlafendes Gehirn projiziert und Jeffs Fratze beschreibt. „Wat is Horror?“, fragt er dümmlich. „Du!“, belle ich energielos zurück und sehe, wie mir mein Jugendfreund zur Hälfte die Zunge rausstreckt, „Was ist denn?“ „Ezra hat uns gerade zu der Silvesterfeier eingeladen, die sie in der Bar veranstalten.“ „Und?“ Da er keine Frage formuliert, weiß ich nicht, was er von mir erwartet. Er sollte mich lange genug kennen, um zu wissen, dass ich nicht in girliehaften Jubel ausbreche und einen feuchtfröhlichen Abend auswuhe. Sein Gesicht sagt mir jedoch, dass er genau das erwartet. „Und?“, wiederhole ich und schaffe es sogar, weniger Erregung hineinzustecken als zuvor. Es ist ein Meisterstück und ich bin der Mozart unter den Phlegmatiker. „Gehen wir hin oder nicht?“ „Darf ich das dann entscheiden?“, bekunde ich. Es hängt schließlich von meinem tagesaktuellen Nervtoleranzlevel ab und der Sättigung, mit der ich nervtötende Betrunkene ertragen kann. Ein zu beachtendes und maßgebliches K.o.-Kriterium bei derartig wahnwitzigen Ideen wie mich zu Partys schleifen zu wollen. „Ezra will sicher vorher wissen, ob er mit uns rechnen kann und ich auch. Du weißt gar nicht, was ich alles dafür planen muss.“ Ich kann es mir vorstellen. Vielleicht will er sich ein passendes Outfit zum Interior der Bar zusammenstellen. „Wer ist Ezra?“, fragt Kain, schaut kurz zur Seite und dann wieder auf die Straße. Mein Blick wandert automatisch zu ihm, haftet sich an seine mit sichtbaren Bartstoppeln behaftete Wange und verspüre das Verlangen, meinen Handrücken darüber streichen zu lassen, um zu testen, wie weich es ist. „Ein alter Schulfreund von uns. Er hat vor einer Weile mit einem weiteren Freund eine Bar in unserer Heimatstadt eröffnet und das müssen wir natürlich unterstützen, wenn wir schon da sind“, erklärt Jeff grinsend und ich reiße mich wieder zusammen. „Oh ja, frühzeitige Leberzirrhose, wir kommen“, erwidere ich trocken. „Bist du eigentlich jemals in deinem Leben aufgeschlossen und nett gewesen?“, motzt Jeff mich spielerisch an. „2007. Das anstrengendste Jahr meines Lebens.“ „Ja, die dritte Klasse war die Hölle“, scherzt mein Jugendfreund weiter. Meine Rede! Ich nicke zustimmend und schiele zu Kain, der leise vor sich hinlacht. „Also, ja oder ja. Dich zu sehen würde ihn sicher total freuen.“ Unwahrscheinlich. „Oder“, sage ich plump und wenig unerwartet. Er hat es herausgefordert. Ich hätte nichts gegen ein Silvester ohne Tamtam, ohne Menschen und mit ausreichend Schlaf. Vielleicht sollte ich mich doch eines Tages dafür entscheiden, wie so manches Getier in den Winterschlaf zu verfallen, dann blieben mir diese ganzen Endjahresfestivitäten erspart. Außerdem kann Jeff tun und lassen, was er will und ist weder an mich, noch an meine Entscheidungen gebunden. Ich wende weitere Diskussionen damit ab, dass ich Jakes Namen fallen lasse und mein Jugendfreund quasi in panische Schockstarre verfällt. Das Opossum lässt grüßen. Das auch ich Kain nicht in meine Planung mit einbeziehe und nicht einmal weiß, wo genau er am Jahresende sein wird, lasse ich bewusst unausgesprochen. Erstaunlicherweise kommt er mir entgegen, indem er es selbst nicht anspricht. Wir machen zwei weitere kleine Pausen, in einer ich mir demonstrativ ein übertrieben großes Eis mit Sahne und Streusel gönne und jeden Kommentar meiner Begleiter wegschlecke. Gegen Nachmittag kommen wir endlich in unserer Heimatstadt an. Wir setzen als erstes Jeff ab, der mich ein letztes Mal wegen Silvester anmahnt und fahren weiter zu mir. „Sieht aus als wäre keiner zu Hause“, äußert Kain, nachdem wir ausgestiegen sind und nach einem Blick zum ruhig wirkenden Haus. Sein T-Shirt ist am Rücken komplett zerknittert und ich brauche einen Augenblick, um mich davon losreißen zu können. Ich meine mich daran zu erinnern, dass der Rest meiner Familie heute zur Hendriks Mutter fahren wollte und vermutlich sind sie noch dort. „Sie sind bei Lenas Großmutter. Willst du noch mit reinkommen?“, frage ich, schultere meinen Rucksack und greife nach der Tasche, die Kain mir hinhält. Doch er lässt sie nicht los, sondern zieht mich im gleichen Atemzug dichter an sich heran. Ich stolpere ihm entgegen und schaffe es mit Mühe und Not, den verräterischen Laut zu unterdrücken, der mir sonst immer entflieht. Meinen genervten Blick kriegt er mit voller Wucht ab. „Würde ich sehr gern, aber ich habe meinen Eltern zugesagt, dass ich zum Abendessen da bin und ich stehe aktuell mit Fuß und Gaspedel noch in Verhandlungen, da sie entscheiden, wie schnell ich vorankomme. Ich glaube, sie planen zu streiken.“ Sein Unwillen ist mehr als spürbar, trotz oder wegen der Witzeleien und ich bin kurz davor, zu wiederholen, dass er bei Jeff bleiben soll, so wie dieser es ihm angeboten hat. Weihnachten bei den Koch´s ist definitiv etwas, was Kain niemals vergessen wird. Sie hätten sogar einen Socken am Kamin für ihn. Ich kriege auch jedes Jahr einen. Genauso wie eine dieser verrückten Weihnachtskarten, die sie immer im Sommer zusammen shooten. Jeff will mir nie vorher verraten, was sie diesmal probieren, aber sie hatten schon Rentierkostüme, Ugly-Pullover und jeden sonstigen ausgefallen Kram für die Bilder an. Lena hat mittlerweile aus den Karten ein Sammelalbum gemacht. „Du könntest dir immer noch Plum-Pudding bei Jeff reinziehen“, merke ich nun doch an und versuche, mich daran zu erinnern, was letztes Jahr auf der Weihnachtskarte gewesen war, aber es will mir nicht einfallen. „Ich habe noch nie Plum-Pudding gegessen. Ist der gut?“ „Ich kenne nur den von den Kochs und naja... es ist britisches Essen“, erkläre ich. Ich bin mich nicht sicher, ob Kain weiß, was ich damit meine, aber jeder, der schon Baked Beans zum Frühstück essen musste, ohne einen Kater zu haben, versteht, was ich denke. „Ich mochte Fish and Chips und Beef Wellington.“ „Das kommt auch nicht aus der Dose.“ „Plum Pudding kommt aus der Dose?“, hakt Kain irritiert nach. Er ahnt nicht, dass ich an Baked Beans gedacht habe. „Was? Oh, nein, nicht der Pudding. Der besteht aus Backpflaumen, Orangeat und so anderes zweifelhaftes Zeug. Wie Nelken und Muskatnuss“ Ich schüttele mich bei dem Gedanken an die erwähnten Gewürze. Nelke war noch nie mein Fall und ich verfluche jeden, der sie in den Glühwein macht. „Klingt immerhin weihnachtlich“, kommentiert Kain und lächelt mich an. Verdammt, dieses Lächeln. Ich merke förmlich, wie sich bei der Betrachtung mein Motzmotivfilter leert und sich eine angenehme Wärme in mir ausbreitet. Dafür hätte ich gern eine Firewall, um zu verhindern, dass er das mit mir macht. Kain lässt meine Tasche nun endlich los und beugt sich aber wiederum nach unten, sodass sein Gesicht kurz vor meinem stoppt. „Das wird mir fehlen.“ „Es ist nur eine Woche“, entgegne ich zweifelnd und merke, wie die Anspannung in mir wächst. „Achteinhalb Tage.“ „Du bist furchtbar kitschig.“ „Ich nenne das romantisch.“ Er klingt nicht enttäuscht, als er es sagt, sondern nur neckend. Ich wüsste gern, was er wirklich denkt, denn obwohl ich scheinbar leicht für ihn zu lesen bin, ist er es für mich überhaupt nicht. „Ich sollte fahren, sonst wird es zu spät. Und wer weiß, was sich das Gaspedal noch einfallen lässt. Oder mein Fuß.“ Die abrupte Umkehr in die Albernheit lässt mich ungesehen aufatmen. Das ist besser. Ist es besser? Mein Herz schlägt mir ein Nein entgegen, aber ich begreife nicht, was es mir damit sagen will. „Der Streik, natürlich. Wie wäre es mit einer Gewerkschaft?“, steige ich mit ein, um dem lästigen Zwiegespräch in meinem Kopf zu entgehen. „Die Herausforderung fürs kommende Jahr.“ „Klar doch. Los jetzt“, sage ich und rücke dennoch keinen Millimeter von ihm weg, sehe ihn einfach nur an. Wir verharren in diesem Moment, bis Kain ihn bricht. „Wenn ich so kitschig wäre, wie du behauptest, würde ich dich jetzt küssen“, erklärt er spitzbübisch. "Ach, also doch nicht romantisch?", gebe ich retour, klinge enttäuscht und weiß nicht warum. „Naja, gut, dass du es nicht bist, denn sonst müsstest du erklären, wieso du mit einem Veilchen nach Hause kommst. Fahr jetzt!“ Ich sage es mehr, um der anschwellenden Situation zu entkommen. „Okay, okay.“ Statt mich zu küssen, streichelt er mir über die Wange. Nur flüchtig. Sanft und doch laut schreiend. Er schiebt mich sachte zur Seite und schließt den Kofferraum. „Grüß Lena, ja?“ „Mach ich.“ Als er losfährt, bin ich bereits an der Tür und suche nach den Schlüsseln. Ich zwinge mich praktisch dazu, ihm nicht nachzusehen. Das macht mir noch frühzeitig graue Haare. Seufzend ziehe ich die Schuhe aus. Es ist keiner da, also gehe ich direkt nach oben, lasse die Tasche fallen und verschwinde in die Dusche. Dampfend und ein klein wenig entspannt kehre ich in mein Zimmer zurück. Als ich weiterhin niemand anderen im Haus hören kann, schalte ich meinen Computer ein und zerstreue meine Gedanken, indem ich sie ins Spielenirvana schicke. „ROBIN!“, ruft Lena von unten, sodass ich es sogar durch meine Kopfhörer hindurch hören kann, als würde sie hinter mir stehen. Home sweet Home. Ich lege ein Ohr frei und blicke zur Tür in der Annahme, dass sie jeden Moment aufspringt. Doch nichts passiert. Noch könnte ich so tun, als wäre ich nicht da. Ich könnte über dem Balkon in den Garten flüchten. Der Busch, den meine Mutter letztes Jahr direkt unten den Balkon pflanzte, sollte mittlerweile eine abfedernde Funktion übernehmen können, da ich bezweifle, dass mich die Regenrinne aushält. Ich stoße ein lautes Raunen aus, pausiere mein Computerspiel und suche meine Familienmitglieder. Lena kommt mir auf der Treppe entgegen, murmelt heiter mehrere Male `Da issa ja` und mutiert zu einem menschlichen Schraubstock, als sie ihre Arme um mich schlingt. Ich ächze. Sie kichert. Ich röchele. Sie lacht. Noch während Lena meine Gedärme komprimiert, taucht meine Mutter aus der Küche auf und schenkt mir ein warmes Lächeln, welches mich gleich in eine heimelige Woge versenkt. Egal, wie sehr ich es ablehne oder mir einrede, dass es etwas ist, was ich nicht brauche, insgeheim genieße ich es. Nicht unbedingt die manuelle Folter dieser ständigen Umarmungen, aber auf jeden Fall, dass sich die beiden Frauen trotz meiner stoischen Art freuen, mich zu sehen. Da Lena nicht lockerlässt, schaffe ich es geradeso, meinen Unterarm zu heben und meiner Mutter halbherzig zu zuwinken. „Wie schön, dass du schon da bist“, erwidert sie lächelnd. „Hey, Mama“, presse ich hervor, „Womit füttert ihr sie? Hulkfrüchte?“ Kichernd erklimmt meine Mutter die wenigen Stufen, die sie von Lena und mir trennen und umarmt uns beide. „Einfach nur gesunde Hausmannskost.“ Das wage ich zu bezweifeln. „Apropos, hast du gegessen, mein Schatz?“ Ich berichte ihr von unserer effektiven Selbstkonservierung mit Fastfood. Mama duftet nach Jasmin und Quitte, welche sich mit dem süßlichen Parfüm meiner Schwester mischt und ich habe das Gefühl, in einem Obstsalat zu schweben, während ich von fettigen Essen spreche. Zu allem Überfluss drückt mich Lena noch etwas fester, was mich mehr oder weniger zum Bananenbrei macht. Mir entflieht ein pfeifendes Quietschen der Sauerstoffnot und endlich lassen mich beide Frauen frei. Mama tadelt unser Pausenmahl und erwähnt im gleichen Satz, dass sie Lust auf ein Softeis mit Smarties hat. Ich werde es nie verstehen. „Ich habe übrigens ein Zoospiel auf deinem Computer installiert“, berichtet mir Lena fröhlich, nachdem wir uns ins Wohnzimmer begeben und die grundlegenden Wie-Wo-Was-und Wer-Fragen der letzten Wochen unseres Nichtsehens geklärt haben. „Wieso auf meinem und nicht auf deinem? Was machst du in meinem Zimmer?“ Die zweite Frage ist lediglich Makulatur und das Belangloseste, was ich an Bruderstänkerei aufbringen kann. Lena verdreht meisterlich die Augen und lässt sich in den Sessel plumpsen wie ein nasser, vollgefressener Sack. Meine Schwester ist wahrhaftig nicht die Graziöseste und manchmal so wenig damenhaft, dass ich sie glatt Bruder nennen könnte. „Es geht nur noch der alte Laptop von Papa und der ist sooo langsam. Ein neuer wäre ja schön“, stichelt sie gekonnt gegen den Elternpart im Zimmer. „Du kennst die Vereinbarung. Wenn deine Schulnoten in den geisteswissenschaftlichen Fächern besser werden, dann kriegst du einen Neuen“, offenbart unsere Mutter und stellt einen Teller mit Keksen vor mir ab. Es sind die Schokoladenwolkenkekse, die Lena gebacken hat. „Geschichte ist langweilig und Politik ist einfach *piep*“, jammert meine Schwester und vertont effektvoll ihren Standpunkt. Ich setze mich unbeteiligt auf die Couch und beobachte ihren nachfolgenden Schlagabtausch, der in dieser Form oder einer abgewandelten sicher schon häufiger stattgefunden hat. Nach dem zweiten Keks habe ich ein Déjà-vu. Zwar habe ich vergessen, wie meine Note in Geschichte ausgesehen hat, aber der Dialog kommt mir bekannt vor. Ich habe alles nach dem Römischen Reich verdrängt, das sagt mir der spärliche Rückblick in meine Schulzeit. Einzig das Mittelalter ist noch in Bruchstücken vorhanden und diese Teile zeichnen, passend zu meiner schwarzen Seele, ein eher düsteres Bild der Menschheit. „Lena, wir haben dir gesagt, was zu tun ist. Setz dich hin, lerne und das Problem ist erledigt.“ „Hach, die klassische Erpressung. Die Erziehungsdoktrin schlechthin“, witzele ich ungeniert. „Die bei dir nie funktioniert hat. Herzlich Willkommen, hast du schon etwas gegessen?“, erkundet sich Hendrik und ist kurz zuvor in der Tür aufgetaucht. Er trägt noch immer seine Jacke und ein paar Arbeitshandschuhe, die mich mutmaßen lassen, dass Hendriks Mutter eine weitere Hortensie ihrem Untergang geweiht hat. Hortensien und unser Garten sind so verträglich wie die Kalahari und Olaf von Frozen, dennoch bekommt meine Mutter jedes Jahr eine Neue. Einmal, vor längst vergangener Zeit, hatte es eine dieser grässlichen Blauen über die 1-Jahres-Grenze geschafft, was meine Mutter dazu veranlasste, selbst den blumigen Soulreaper zu mimen, indem sie das Gießen vergaß. In Anführungszeichen, natürlich. Geholfen hatte es nicht, pünktlich zu Weihnachten gab es eine andere. „Hey“, begrüße ich Hendrik, „Welche Farbe ist es diesmal?“ Er zuckte mit den Schultern und zieht sich die Handschuhe aus, ehe er zurück in den Flur geht. „Monika war sich nicht sicher“, antwortet meine Mutter und ihr entflieht ein seltenes, aber dennoch deutliches Seufzen. An sich ist das Verhältnis gut, zwischen ihr und ihrer Schwiegermutter, aber das alljährliche Hortensiendesaster ist ein absoluter Bartwickler, der mittlerweile im gesamten Familienkreis eine Steilvorlage für Spott bietet. „Würdest du sie wie ich es vorgeschlagen habe einfach jedes Mal in den anrainenden Park aussetzen, hätten wir da bereits einen Hortensienhain.“ Es gibt erstaunlich viele Menschen, die diese Pflanzen ausgesprochen mögen. Warum auch immer. Ich weiß nur, dass die blauen Hortensien einzig unter bestimmten chemischen Bedingungen blau werden und damit im Grunde nicht von vornherein blau sind. „Scherzbold, das ist erstens nicht erlaubt und zweitens, wie soll ich das Monika erklären?“ „Meinst du, da kommt die Blümchenpolizei mit Mistgabeln? Außerdem kriegt sie es doch gar nicht mit.“ „Ja. Ja. red du nur weiter. Ich erinnere dich daran, wenn du dann irgendwann Schwiegereltern hast.“ Darüber kann ich nur lachen. Ich bin in etwa so schwiegerelterntauglich wie die Hortensie. Wobei ich nicht weiß, ob ich in diesem Szenario eher Wüste oder Schneemann bin. „Du weißt, dass meine Mutter dich sehr liebt“, mischt sich nun auch Hendrik ein, trocknet sich die restfeuchten Finger an seinem Pullover ab und setzt sich zu mir auf die Couch. „Oh ja, so sehr, dass sie mir jedes Jahr eine Blume schenkt, die ich nicht mag“, erwidert Mama sarkastisch und Hendrik schüttelt lediglich den Kopf, während Lena und ich heiter lachen. Hendrik tätschelt mir zur weiteren Begrüßung das Knie. „Wie bist du eigentlich hergekommen? Ich konnte vorhin beim Vorbeifahren Jeffs Auto gar nicht vor dem Haus stehen sehen. Seid ihr nicht zusammengefahren?“, erkundigt er sich und lässt dabei seine dicken Augenbrauen effektiv kräuseln. „Oh, doch doch. Kain hat uns abgesetzt und ist mit dem Wagen weiter zu seiner Familie gefahren“, kläre ich nickend auf und bin erleichtert, dass die plötzliche Aufregung, die ich empfinde, nicht in meiner Stimme zu hören ist. „Der große dunkelhaarige…“ „… gutaussehende Traum von einem Mann“, ergänzt Lena schwärmerisch und lässt dabei ihre Beine schwingen, die sie auf der Sessellehne abgelegt hat. Mir entgeht der Blick nicht, den sie mir für den Bruchteil einer Sekunde zu wirft, bevor sie über beide Ohren grinst. „Lena!“ Unison. Ich bin mir sicher, dass sie es heimlich üben. „Was? Ist doch wahr! Oh, da fällt mir ein, Robin bekommt noch Geschenke.“ Da war noch was. Ehe ich es negieren oder abwenden kann, ist Lena schon aufgesprungen. Ebenso wie meine Mutter. Meine Schwester läuft nach oben, während Mama lediglich eine Schublade im Esszimmer öffnen muss. Sie kommt mit einer feinsäuberlich verpackten Schachtel zurück und ich bedanke mich brav, als ich ein Sammelsurium an nützlichen Utensilien und dringend gewünschten Gutscheinen auspacke. Als meine Schwester zurückkommt, hält sie beide Hände hinter dem Rücken versteckt. Sofort schrillen die Alarmglocken. Gepaart mit diesem angsteinflößenden Lächeln in ihrem Gesicht verheißt es absolut nichts Gutes. „Tada!“, sagt Lena und streckt ihre linke Hand aus. Sie grinst verräterisch, in einem 360 Grad Ausmaß. Trotz ihrer Ohren. Nach einem Blick auf die Beschriftung meines Geschenks weiß ich auch, wieso. Gummibärchen. Unerwartet, jedoch harmlos. Geschmacksrichtung Ingwer-Zitrone. Leicht scharf. Erschütternd. Meine Geschmacksknospen beben, zittern und schreien. Mein Gesicht bleibt bemüht regungslos. Aber es fegt ein Sturm in meinem Inneren, der meine Gedanken ad hoc lahmlegt. „Deine neue Lieblingssorte, oder?“, neckt sie mich. Es fehlt nur noch ein Zwinkern oder ein Plakat mit der Aufschrift `Ich weiß mehr, als dir lieb ist`. „Ingwer, ach ja? Du sagst doch immer der Ingwer beim Sushi schmeckt wie Fenstereiniger", hakt meine Mutter amüsiert nach. „Ist auch so, Lena erlaubt sich einen Spaß!" „Ja, einen riesigen Spaß", kommentiert sie. Mit eingespieltem Gelächter befänden wir uns in einer 90er-Jahre-Sitcom. „Ah, okay, Moment. Du möchtest also, dass ich hoch gehe und dein Zoospiel deinstalliere. Sofort? Gut, kein Problem“, gebe ich Retour und mache Anstalten, aufzustehen. „Hey! Finger weg von meinen Pinguinen, du Barbar!“, stichelt sie zurück und lässt den Rest von dem, was sie mit runtergebracht hat, einfach in meinen Schoss fallen. „Schatz, du hast es ja nicht mal eingepackt“, merkt Mama an und schüttelt tadelnd ihren Kopf. „Wieso auch, Robin ist, was das angeht, so wertschätzend wie Klopapier.“ Wir schauen beide zu dem zuvor sehr hübsch verpackten Päckchen meiner Mutter, welches meiner Wertschätzung entsprechend aufgerissen wurde, wie von einem tollwütigen Schuljungen. Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen. Genaugenommen passt es problemlos auf einen Quadratmillimeter und reserviert sich für die armen Bäume, die für das Geschenkpapier draufgegangen sind. „Was ist das?", frage ich skeptisch und nach einem ersten Blick auf den Inhalt des zylindrischen Plastikdingels. „Badezusatz“, erwidert sie mit tiefsitzender Geschmeidigkeit, so, als wäre es nur in meinem Kopf vollkommen absurd. Der Blick in die Gesichter der anderen Anwesenden erlaubt mir keine Bestätigung. Weder für mich, noch für Lena. Unsere Mutter verkneift sich eher ein Lachen und Hendrik stellt fest, dass seine Digitaluhr aufgezogen werden muss. „Das sind rosa Herzchen", fahre ich fort. Ich bin die Ruhe selbst. „Jup. Romantisch, nicht wahr? Sie riechen ganz toll und machen deine Haut so weich wie einen Pfirsich." Ihre Erklärung schließt sie mit einem selbstbewussten Nicken ab. Nun kann unsere Mutter ihr Lachen nicht mehr halten und selbst Hendrik gluckst amüsiert auf. Sie haben sich gegen mich verschworen. Alle samt. Ich lasse meinen Blick schweifen und muss mir eingestehen, dass ich keine Chance habe. „Im Ernst?", erwidere ich und beziehe mich dabei keineswegs auf den Pfirsichkommentar. „Jup, im Ernst. Ich frage dich jedes Jahr, was du dir zum Geburtstag wünschst und ich kriege niemals eine nützliche Antwort, also bekommst du fortan unnützes Zeug. Tada." Da ist es wieder. Ihrer sonst verqueren Logik zum Trotz ergibt es sogar Sinn. Auch, wenn sie mich mit solchen Aktionen jedes Mal ein kleinen wenig zur Weißglut bringt, zeigt sie mir immer ihre Zuneigung damit. Oft haben die Dinge, die sie mir schenkt oder mit denen sie mich ärgern will, Herzchenformen oder tragen Sprüche, die in beide Richtungen interpretiert werden können. Sie haben jedes Mal eine tiefere Bedeutung. Auch wenn es mir manchmal schwerfällt, sie zu begreifen. Meine Schwester hat ein großes Herz und schafft es problemlos, dass ich letztlich gurre, wie ein braver Pinguin. „Gutscheine sind auch okay, das weißt du?" „Gut, dann gibt es nächstes Jahr einen Gutschein für diesen tollen Seifenladen. Die haben so viele schöne Sachen. Das wird dir Gefallen“, kommentiert sie mit unbeeindruckter Miene. In solchen Momenten bereue ich es, sie nicht unter Spielzeug begraben zu haben, als ich es noch konnte. Wir starren uns einen Augenblick lang an und ich sehe dabei zu, wie ihre Mundwinkel langsam nach oben zucken, bis sie breit grinst. Ja, sie weiß, wie sie mich kitzelt. Nach dem Abendessen lasse ich mich dazu breitschlagen, gemeinsam mit der Familie eine Quizshow zu gucken, deren Prinzip ich nicht verstehe. Danach eine Serie, von der ich weder gehört habe, noch den Drang verspüre, zu begreifen, wieso sich der Mörder alle paar Szenen ändert, wo doch von vornherein ersichtlich war, dass es der Typ mit dem Flanellhemd ist. Flanell ist ein eindeutiges Indiz. Ohne Frage. Die ruhige Landschaftsszene der Serie wird durch ein bekanntes Lied aus meiner Hosentasche unterbrochen, welches mich erst irritiert und im nächsten Augenblick auch schon beschämt aufsehen lässt. Ich ziehe unter den Blicken meiner Familie das Telefon hervor, beiße mir auf die Lippe, als ich Kains Namen auf dem Display lesen und Christina Aguileras `Dirrty´ beende. Ich werde ihn erwürgen. „Entschuldigt mich“, brabbele ich und springe von der Couch auf. Noch auf dem Weg zur Küche drücke ich die Wahlwiederholung. „Du bist ein toter Mann“, sage ich und ernte erheitertes Lachen am anderen Ende. Kain weiß sofort, worauf ich es beziehe. „Ach komm, das passt doch zu uns...“, erwidert er lachend und ich kann quasi sehen, wie er sich den flachen Bauch hält vor aberwitziger Erheiterung. „Ich saß gerade mit Lena und Mama zusammen“, entgegne ich mit zusammengebissenen Zähnen, „Außerdem kannst du nicht einfach mein Klingelton ändern.“ „Du hast mir dein Handy heute Vormittag freiwillig ausgehändigt, erinnerst du dich?“ Ich erinnere mich. Ich weiß auch noch, dass ich mich nicht darüber gewundert habe, dass er es länger in seinen Griffeln hatte, als nötig. Vielleicht hätte ich es sollen. Aber da ich nur wenig mit meinem Handy mache, ist die Gefahr gering, darin etwas Kompromittierendes zu finden, deswegen vergesse ich es leicht. Dass er sich an meinen Klingeltönen vergreifen würde, ist das Letzte, worauf ich gekommen wäre. „Ist das etwa deine Entschuldigung? Ich hasse dieses Lied. Noch dazu, was würdest du sagen, wenn ich einfach etwas an deinem Handy mache?“ „Du hast Recht. Nicht auszudenken, was passieren wurde, wenn du sehen könntest, wie viele verschiedene Emoji man verwenden kann. Das würde wahrscheinlich deine Schaltkreise komplett verschmoren. Doppelpunkt. Groß O.“, gibt er schockiert von sich. Okay, er stirbt zweimal. „Ich habe nichts vor dir zu verbergen, aber gut... es tut mir leid. Es war nur ein Spaß. Sei nicht sauer, bitte.“ Ich stoße nur geräuschvoll die Luft aus. „Warst du bis jetzt unterwegs?“, frage ich ausweichend, schlucke meinen Ärger entgegen meiner Gewohnheit runter und lasse mich auf das Bett fallen, als ich in meinem Zimmer ankomme. Es ist frischbezogen und sofort ummantelt mich der leicht blumige Duft von Lavendel. Auch bei Kain höre ich Stoff rascheln und nach zwei kräftigen Schnüfflern ist alles entspannt. „Nein, ich bin vor einer Stunde rein, habe in unangenehmer Atmosphäre mit meiner Mutter zu Abend gegessen, denn mein Vater ist wegen der Arbeit verhindert. Wie immer, übrigens! Aber vor 10 Minuten konnte ich mich endlich in mein Zimmer verabschieden. Jetzt bin ich geduscht und liege vollkommen nackt auf meinem Bett.“ Zu viel Information. Mein Gehirn nimmt es leider als Anlass, sich genau das vorzustellen. Verräter. „Und du erzählst mir das, weil?“ „Weil mir auf dem Weg von der Dusche zum Bett eingefallen ist, dass ich noch nie ordentlichen Telefonsex hatte. Also, was hast du an?“ „Wow, ist das dein Ernst?“ „Ja, wieso nicht? Ich probiere gern neues.“ „Du sagtest `Nicht ordentlich`, heißt das nicht, du hattest schon mal Telefonsex?“, hake ich nach. „Daran hängst du dich jetzt auf? „Ich wollte dich nur auf den Widerspruch hinweisen.“ „Weißt du, ich bin noch ganz warm und leicht feucht von der Dusche, willst du wirklich mit mir diskutieren?“, fragt er hinterher und ich schlucke. In meinem Kopf schreiben sich gerade komplette Romane allein darüber, wie ein Wassertropfen zärtliche Liebe mit seinen Bauchmuskeln betreibt. „Ich diskutiere schon aus Prinzip, weil du scheinbar glaubst, dass ich so simpel gestrickt bin.“ „Ach komm, du als gescheiter Wortakrobat kannst keinen Dirty Talk durchs Telefon? Echt schwach!“, stichelt er. Ich schweige, nun doch etwas mürrisch. Er will mich reizen und schafft es. So wie immer, denn er weiß genau, welche Knöpfe er drücken muss und wie jedes Mal bereitet es mir die Leichtigkeit, mit der es macht, auch Bauchschmerzen. „Dirty Talk? Das ist kein richtiger Dirty Talk und es liegt nicht am Nichtkönnen“, wehre ich mich. „Bitte Spatz. Ich möchte nur ein bisschen deine Stimme hören, wie sie mir sexy Zeug zu säuselt“, setzt er sanfter fort. Sein Kosewort für mich macht mich fertig. Ich weiß nicht wieso, aber es lässt mehr und mehr in mir schmelzen. Vor allem dann, wenn er ihn so zärtlich ausspricht. „Ich trage nichts weiter als den Zipfel eines Handtuchs, weißt du!“ Ich kann quasi vor mir sehen, wie er im gleichen Moment sein Becken hin und her wackeln lässt, was unweigerlich auch andere Körperteile bewegt. Als ob das Bild in meinem Kopf nicht bereits HD genug wäre. Ich kann hören, wie er den Stoff raschelnd zur Seite streicht und wie das Bettes leise unter seinem muskelbepackten Körper arbeitet. Meine halbherzige Widerrede spornt ihn nur noch mehr an. „Lass dich treiben…“, wispert er. Leichter gesagt, als getan. Ich schließe die Augen, während mich seine tiefe Stimme immer weiter in den Sog des Verlangens zieht. Jedes Wort dringt tief in mich ein. Jedes Flüstern, gepaart mit einem feinen Keuchen bebt durch meinen Leib, wie Herbstgewitter. Die Vene an meinem Hals pulsiert so stark, dass ich hörbar ein und ausatme. Jedes Pochen fließt tiefer in meine Lenden und breitet sich überall hin aus. Kain macht immer wieder kleine Pausen, lässt seine Worte wirken und wartet darauf, dass ich etwas erwidere. Ich kann nicht. Dabei will ich es. So sehr. Mein Verstand rotiert und in Sekundenschnelle ploppen die möglichen Sätze auf, die ich entgegnen könnte. Die er hören möchte. Doch keinen einzigen spreche ich laut aus. „Robin?" Lena Stimme aus dem Durchgangsraum zu mir. Ich beende den Anruf mit Kain abrupt und katapultiere das Telefon blitzschnell ans Bettende. Es bleibt knapp an der Kante liegen und fängt in meiner Fantasie an zu wanken, wie ein über die Klippen stürzenden Flugzeug. Ich richte mich bemüht langsam auf, als Lena in der Tür auftaucht, und wie sollte es sein, kippt das Handy im selben Moment geräuschvoll über die Kante. Wir starren beide auf die Stelle, doch nur Lena kann das Telefon auch sehen. Ich habe keine Ahnung, was in dieser Situation eine passende Erklärung wäre. Lena blinzelt. „Mama will wissen...", setzt sie an und wird erneut durch Christina Aguilera unterbrochen. Ich wünschte, ich könnte hier und jetzt in einen brennenden Vulkan stürzen. Ihr braucht ein Opfer! Bitteschön, hier bin ich. Ich wäre sogar bereit, mich in einen Kokosnussbikini zu zwingen, nur lass mich verschwinden. „Gehst du nicht ran?“, fragt sie scheinheilig, schürzt die Lippen und starrt auf den singenden Taschencomputer. In ihrem Blick sehe ich das innere Gelächter. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Kains Name auf dem Display erkennen kann oder nicht. Ich hoffe nicht. „Was will Mama wissen?", erwidere ich gequält lässig. „Ob du… Heiligabend… mit zur Messe kommst.“ Sie rückt nur stockend mit ihrem Anliegen heraus und scannt dabei auffällig aufmerksam mein Gesicht. „Mama telefoniert morgenfrüh mit dem Pfarrer.“ Ich schaffe es, den Ausdruck darin konstant als Noh-Maske zuhalten, merke aber, wie das Rasen meines Herzens zunimmt, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen kann. Es fühlt sich an, als würde jemand in meinem Inneren Mario Kart spielen und man hätte mir einen Booster verpasst. Es ist nicht nur der Schreck, der es auf Touren bringt, sondern die feine Erregung, die sich in Körper hält und mich Ungehorsam strafft. Wenn ich Kain das nächste Mal sehe, mache ich ihn einen Kopf kürzer. Garantiert. „Kriege ich eine Antwort oder muss ich dir eine Mail schicken?“ „Schriftlicher Antrag in dreifacher Ausführung.“ „Oldschool.“ „DM mich auf Twitter.“ „Du bist auf Twitter?“ „Haha! Ich denke nicht, dass ich mitkomme“, erkläre ich. Eigentlich zu erwarten. Seit ich es selbst entscheiden darf, bin ich nur ein einziges Mal bei der Christmesse gewesen. In dem Jahr, in dem sich Renés zehnter Todestag jährte. Trotzdem fragt mich Mama jedes Jahr erneut. Mit einer scheuchenden Handbewegung deute ich meiner Schwester an, dass sie gehen soll. Lena schubst keck ihre Haare zurück, bleibt aber noch einmal an der Tür stehen und dreht sich um. „Morgen backen?“ „Nur, wenn du die Gummibärchen in der Tüte lässt.“ „Pff, bin doch kein Kleinkind.“ „Das war noch letztes Jahr, das ist dir klar, du Seifenblase“, pfeffere ich zurück und ernte einen mosernden Gesichtsausdruck, den sie beibehält, bis sie in ihrem eigenen Zimmer angekommen ist. Ich höre erst meine und danach ihre Tür. Mein Blick huscht sofort zur Bettkante, Richtung Handy. Ich hüpfe auf, krabbele zum Rand des Bettes. Das Telefon liegt wie erwartet mit dem Display nach oben am Boden. Ich tippe zögerlich die Oberfläche an und es zeigt mir einen Anruf in Abwesenheit. Ich lasse es, wo es ist und schmeiße mich bäuchlings auf die Matratze, sodass mein Kopf über die Kante schwebt. So bleibe ich liegen, lausche meinem Herzschlag, den ich sogar im Bauch spüre. Ruf ich ihn zurück? Mein Magen entlässt ein intensives Kitzeln in meinen Körper, welches sich blitzschnell ausbreitet und durch die Gedärme echot wie ein Strike beim Bowling. Ich stoße angestrengt die Luft aus und drehe mich auf den Rücken. Was ist nur los mit mir? Ich habe vorhin kein Wort herausgebracht. Das passt überhaupt nicht zu mir. Sex war nie etwas, bei dem ich Ausdrucksschwierigkeiten hatte. Weder beim Schreiben, noch bei der Tätigkeit selbst. Wieso also bereitet mir der Schwarzhaarige mit seinen Anforderungen an mich solche Schwierigkeiten? Sollte es mit der Statusänderungen nicht einfacher werden? Mit einem Ausruf der stillschweigenden Frustration, indem ich Arme und Beine nach oben strecke und sie strampelnd der Decke entgegen punche, mache ich mir Luft. Ich drehe mich zurück auf den Bauch, angele nach dem Telefon und öffne den gemeinsamen Chat mit Kain. -Sry-, tippe ich. Meine Kommunikationsfähigkeit lässt zu wünschen übrig und ein seltsames Déjà-vu durchschleicht mich. Entschuldige, aber kein Sex unter dieser Nummer. Ich greife eine Seite der Bettdecke und rolle mich ein wie ein sündenschwerer Crêpe. Gute Nacht. Der Morgen kommt schnell. Nach dem Frühstück und einer kurzen, aber obligatorischen Diskussionen entscheiden wir uns beim Backen für klassischen Mürbeteig mit etwas Zitronenabrieb und Schokolade, während unsere Mutter Makronen und russische Kolachki zubereitet. Zusätzlich und ganz ohne meine Zustimmung entscheidet sich Lena dafür, ihren ominösen Ideenirrsinn in Form der verwendeten Plätzchenausstecher auszudrucken. Ganz und gar weihnachtlich natürlich. Sie kramt Fische, Monde und etwas hervor, was aussieht, wie ein Bauarbeiter, aber nach Lenas Erklärung eine Fee sein muss. Eine Katze und ein Waschbär runden das Kuriositätenkabinett ab. Woher wir diese Dinger haben, bleibt mir bis zum Schluss ein mehliges Geheimnis. Ich möchte die Gummibärchen zurück. Und Pudding. Ich schmuggle in einer chaotischen Minute noch ein paar simple Sterne dazu, während meine Schwester aus den Teigresten marmorierte Herzen knetet. Ich beschwere mich für meine Verhältnisse auffällig kleinlaut. Aber ganz ohne geht es nicht. Mama äußert ihre Begeisterung und Hendrik verdrückt den ofenfrischen Keks, ohne sich mit solchen Belanglosigkeiten zu beschäftigen. Ich bin froh, dass ich mich nach dem Backwahnsinn für eine gewisse Zeit verkrümeln kann. Auch der restliche verläuft Tag erstaunlich ruhig und ich traue mich abends ganz allein zurück ins Familiengeschehen. Am Tag des Heiligenabends bauen Mama und Lena am Morgen den Weihnachtsbaum auf und fügen der sowieso schon reichlich vorhandenen Dekoration des Hauses zusätzliche Akzente hinzu. Ich warte sehnsüchtig auf den Glühwein. Am Abend gibt es Würstchen und Kartoffelsalat, nachdem das Mittagessen aus Milchreis bestand und nach mehreren Runden Zug und Zug sind alle Geschenke verteilt. Ich fröne dem letzten Platz mit Würde und sehe gar nicht ein, mich deswegen zu beschweren. Wenn ich jetzt noch Ehrgeiz entwickle, muss ich häufiger spielen und das ist nicht in meinem Interesse. Ich lasse mich auf die Couch fallen, höre meine Familienmitglieder durch das Haus wuseln und ziehe mir eines der Frauenmagazine heran, die Mama hortet. Diesmal gibt es keine verwertbaren Sextipps und ich bin kurz davor, es wieder beiseitezulegen. Doch dann finde ich einen Artikel zum Thema Selbstoptimierung. Ich bin hoffnungslos. Die Quintessenz, die ich daraus ziehen kann und auch meine Mutter bestätigen könnte, die ich aber keineswegs danach frage. Immer wieder vernehme ich Rascheln und Klirren. Schließlich setzt sich Mama zu mir in die Stube, schaltet den Weihnachtsbaum an und summt, während sie in einem ihrer Geschenke blättert. Es ist ein Bildband über Secret Places der Natur, den ich im Buchladen gefunden habe. Ich höre ihr einen Moment lang zu, weil ich herausbekommen will, was sie da summ. Ich gebe auf und widme mich wieder der Zeitschrift. Auch mein Jahreshoroskop offenbart mir keinen rosigen Ausblick. Was solls. Das Klingeln an der Tür ignoriere ich. „Robin!“, ertönt es laut. Lena, der Brüllaffe. „Ja?“, erwidere ich energielos. „Kommst du mal bitte!“, krakelt sie hinterher und übertönt dabei noch den letzten Rest der stillen Nacht. Ich lasse meine Zeitschrift sinken und lege den Kopf nach hinten, sodass ich zur Wohnzimmertür, aber keineswegs in den Flur schauen kann. „Wieso?“, rufe ich im höchsten Maße unwillig. Es ist warm, bequem und wohlig. Das Aufstehen erscheint mir als eine unnötige und vor allem unnütze Prozedur. Außerdem habe ich Jeff schon öfter im Wichtelkostüm erlebt und das ist etwas, was ich nicht erneut haben will. Grüne Leggings! Muss ich noch mehr sagen? „Verdammt, komm einfach her“, nölt sie. „Nee!“, motze ich. Nun stupst mich Mama von der Seite an und schenkt mir diesen Mama-Blick. Allein der ist ein psychisches Folterinstrument, trotzdem kann ich ihm widerstehen. Ich drücke das Kissen fester an die Brust und widme mich erneut dem Käseblatt. „Gut!“ Überraschungen mag ich sowieso. Diesmal ist der Mutti-Stups wesentlich fester. „Ist ja gut.“ Seufzend richte ich mich auf, hebe die schweren, müden Knochen. Ich trabe in den Flur, zu dem energetischen Quälgeist, der sich meine Schwester schimpft und nach drei Gläsern Glühwein noch erstaunlich bei der Sache ist. Noch in der Tür höre ich sie kichern und dann vernehme ein vertrautes Raunen. Neben Lena taucht eine große, schwarzhaarige Gestalt im Flur auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)