Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 28: Gebundene Flügel ---------------------------- Die Route, die Benedikt zum Bahnhof nahm, war eine andere als die, auf der wir zu ihm nach Hause gefahren waren. Ich mochte mich täuschen, aber mir kam der Weg länger vor. Wir saßen im Auto und sahen uns immer wieder an, während draußen irgendwelche Ortschaften auftauchten und wieder im Grün der Landschaft versanken. Dabei grinsten wir wie zwei bekiffte Giraffen, sodass es mich nicht gewundert hätte, wenn wir schlichtweg irgendwo gelandet wären statt am Bahnhof. Als das Gebäude schließlich in Sichtweite kam, hatte ich trotzdem das Gefühl, noch nicht genug Zeit mit ihm verbracht zu haben. Die Aussicht, Abschied nehmen zu müssen, zerrte an meinem Herz.   „Wir sind da“ sagte Benedikt, nachdem wir unter Knirschen und Staubwolken auf den Parkplatz gefahren waren. Ich hatte bereits gesehen, dass mein Rad noch da war. Immerhin etwas. Trotzdem hätte ich mir in diesem Moment gewünscht, dass es gestohlen gewesen wäre. Es hätte mir noch ein wenig Zeit mit Benedikt erkauft. Aber natürlich war das Unsinn.   „Ja, sind wir“, antwortete ich sinnvollerweise und sah zu ihm rüber. Er lächelte und auch ich schob meine Mundwinkel nach oben. Mir war nicht danach, aber es war besser als die Wahrheit. Ich griff nach seiner Hand. „Sehen wir uns Morgen?“ „Wird sich nicht vermeiden lassen.“   Wieder lächelte ich. „Das meine ich nicht. Ich meinte nach der Schule.“   Ich wusste, was ich damit in den Raum stellte, und Benedikt wusste es auch. Ich hörte, wie er tief durchatmete. „Dann bleibt es erst mal geheim?“, fragte er. Es klang nicht vorwurfsvoll. Wieder lächelte ich. Dieses Mal entschuldigend. „Ich … ja. Bitte versteh das nicht falsch, aber …“ „Tue ich nicht.“   Seine Antwort kam so schnell, dass ich mir nicht sicher war, ob er die Wahrheit sagte oder nur, was ich hören wollte. Was ich hören musste. Ich drückte seine Finger ein wenig fester. „Hey. Ich hab dir schon gesagt, dass ich das mit dir will. Aber das Ganze betrifft nicht nur uns beide. Ich denke da auch an Mia.“   Er runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Na denk doch mal nach. Wenn rauskommt, dass wir jetzt ein Paar sind, könnte das Konsequenzen haben. Immerhin war ich bis vor Kurzem noch mit ihr zusammen. Es könnte Gerede geben. Ich will nicht, dass das passiert. Es wird ohnehin für Aufsehen sorgen. Ich … ich will nicht …“   Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Ich wollte einfach nicht, dass jemand kam und beschmutzte, was ich mit Benedikt hatte. Auch um seinetwillen. Die Vorstellung, dass jemand in ihm einen Eindringling in meine Beziehung zu Mia sah, gefiel mir nicht. Denn so war es nicht gewesen. Wenn ich ehrlich gewesen wäre – zu mir selbst und zu ihr – wäre das mit uns schon früher zu Ende gewesen. Ich hatte nur nicht den Mut gefunden, es auszusprechen. Aber das ging niemanden etwas an. Es musste nicht auf dem Schulhof breitgetreten werden. Und weder sollte jemand aus Mia eine Märtyrerin noch etwas anderes machen. Ich wollte auch sie davor schützen, ins Gerede zu kommen. Den Gedanken, dass es dafür vielleicht nötig sein würde, die Beziehung zu Benedikt während der gesamten Schulzeit geheim zu halten, schob ich weit von mir weg. Das wollte ich jetzt nicht hören. Ich wollte daran glauben, dass es funktionieren konnte. Dass ich es schaffen konnte. Dass wir es schaffen konnten. Dass das mit uns groß genug war, um nicht unter die Räder zu kommen. Ich wollte es glauben.   Benedikt hingegen schien mit dem Brocken zufrieden, den ich ihm zugeworfen hatte. Auch er wollte glauben. Dass es für uns eine Zukunft gab. Eine Freiheit, zu sein wie alle anderen. Ein ganz normales Teenagerpaar. Mit gemeinsamen Pausen und Nachmittagen. Mit Abschiedsküssen und Händchenhalten. Mit Eisessen und Kinoabenden mit Freunden. Und mit gemeinsamen Nächten. Ich hoffte so sehr darauf.   Plötzlich begann er zu grinsen. „Aber es gibt jemanden, vor dem wir es nicht werden verbergen können.“ „Und wer wäre das?“ „Anton.“   Ich stieß einen Laut der Verblüffung aus. „Anton? Warum ausgerechnet er?“   Benedikts Grinsen wurde breiter. „Weil Anton Dinge weiß. Manchmal ist es wirklich gruselig, aber glaub mir, man gewöhnt sich daran. Und ich will es ihm nicht erst in einem halben Jahr oder so erzählen, nur um mir dann anhören zu müssen, dass er das sowieso schon längst alles wusste. Außerdem würde er uns bestimmt helfen, wenn wir mal … alleine sein wollen.“   Benedikts Augenbrauen wackelten dabei vielsagend und steckten mich mit seiner Fröhlichkeit an. Ich stimmte lachend zu, bevor ich wieder ernst wurde. „Ich würde es gerne Mia sagen.“   Jetzt war es Benedikt, der mich erstaunt ansah. „Mia? Warum ihr?“   Ich blickte auf meine Hände hinab, die auf meinem Schoß lagen. An einem der Mittelfinger war ein bisschen Dreck unter dem Nagel. „Weil … weil ich ihr alles erzählt habe. Von uns meine ich.“   Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Immerhin hatte ich ihn damit quasi vor Mia geoutet. Das war mir erst in dem Moment klargeworden, als seine Mutter davon gesprochen hatte. Außerdem hatte ich Mia ja auch erzählt, dass ich und Benedikt letztes Jahr …   „Etwa auch, was nach der Party passiert ist?“   Benedikts Stimme war jetzt leicht panisch. Ich nickte schwach.   „Ach du dickes … Und wie hat sie reagiert?“   Ich zuckte die Achseln. „Na ja. Ich fürchte, was ich da von mir gegeben habe, war ein ziemliches Kuddelmuddel. Aber am Ende hat sie was ziemlich Kluges gesagt.“ „Und was?“   Ich blickte auf und ihm somit direkt in die Augen.   „Sie hat gesagt, dass ich ehrlich zu dir sein soll. Dass ich dir sagen soll, was ich für dich empfinde.“ „Das hat sie gesagt?“ „Ja.“   Benedikt stieß geräuschvoll die Luft aus. „Das ist heftig. Zumal, nachdem du gerade mit ihr Schluss gemacht hattest. Ich wäre mir an deiner Stelle echt scheiße vorgekommen.“   „Bin ich mir auch“, erwiderte ich leise. „Aber sie hat gesagt, dass ich das mit dir gefälligst hinkriegen soll, damit sie nicht wegen nichts und wieder nichts abserviert worden ist.“   Ich sah Benedikt noch einmal um Zustimmung heischend an. „Deswegen würde ich es ihr gerne sagen. Sie würde mich vermutlich sowieso danach fragen und ich will sie nicht anlügen.“   Er seufzte, allerdings eher resignierend.   „Ich hab ja eh keine große Wahl. Aber ein bisschen schräg ist das schon, findest du nicht?“   Ich lächelte schief. „Ja, oder? Aber gerade ist doch auch langweilig.“   Er stutzte einen Augenblick, bevor er zu lachen begann.   „Ich liebe es, wenn du so bist.“ „Wie?“ „Witzig.“   Immer noch lachend beugte er sich zu mir herüber und küsste mich. Danach blieb er in dieser Position. Sein Gesicht schwebte dicht vor meinem. „Ich wünschte, wir könnte noch länger bleiben, aber meine Mutter wartet vermutlich schon darauf mich auszuquetschen, und deine Eltern rechnen doch bestimmt auch langsam mit dir, oder nicht? Bei euch gibt es doch bestimmt sonntags Familien-Mittagessen mit alle Mann und so.“   Ich seufzte lautlos. „Ja, gibt es. Bei euch nicht?“ „Na ja, ist nicht viel her damit bei zwei Leuten. Früher, als meine Schwester noch zu Hause war, haben wir das auch gemacht, aber jetzt läuft es sonntags meistens auf Brunch hinaus. Wir essen eher abends warm.“ „Aber nur, wenn auch eingekauft ist.“   Benedikt schnitt eine Grimasse und zog sich wieder auf seinen Sitz zurück. „Ja danke, dass du mich nochmal dran erinnerst. Am besten halte ich auf dem Heimweg an der Tankstelle an und besorge was. Die sind ja inzwischen ausgerüstet. Fragt sich nur, mit was sich meine Mutter eher bestechen lässt, mir nicht den letzten Nerv zu rauben. Würstchen aus dem Glas oder Dosenravioli? Wer die Wahl hat, hat die Qual.“ „Wenn du Glück hast, haben sie vielleicht Pizza.“ „Aber nur mit wirklich sehr viel Glück.“   Er grinste, aber als ich nichts weiter darauf erwiderte, schwiegen wir beide. Natürlich hätte ich das Gespräch noch weiter am Laufen halten können. Ich hätte ihn nach seiner Schwester fragen können oder nach seinem Vater. Doch beides wären nur Ausreden gewesen, weil ich nicht gehen wollte. „Ich muss dann mal“, sagte ich stattdessen. „Ja, musst du wohl.“   Ich lächelte noch einmal und klaute mir einen allerletzten Kuss, bevor ich endlich die Wagentür öffnete und ausstieg. Fast schon gewaltsam löste ich meine Finger anschließend vom Wagendach. Es wurde wirklich Zeit nach Hause zu fahren. Sonst würden meine Eltern doch noch anfangen, Fragen zu stellen. Dabei hatte ich überhaupt keine Idee, wie ich ihnen das Ganze beibringen sollte. Oder wann. Oder wem zuerst.   Alles nicht so einfach.   Es hupte neben mir, während ich über den nahezu leeren Parkplatz zu meinem Rad ging. Ich hob noch einmal die Hand zum Gruß. Kaum war das kleine, rote Auto jedoch um die Ecke verschwunden, überfiel mich ein Gefühl der Kälte. Es war, als habe jemand die Sonne ein paar Grad heruntergedreht.   Du wirst noch bekloppt.   An meinem Rad angekommen löste ich die Kette und schwang mich in den Sattel. Als ich in die Pedale trat und die profilierten Reifen begannen, die Meter zu fressen, spürte ich zum ersten Mal seit langem wieder das Verlangen, eine längere Strecke zurückzulegen. Nicht nur bis nach Hause sondern noch viel weiter. Ohne ständig anhalten zu müssen oder die Straßenseite zu wechseln, weil der Radweg zu Ende war. Einfach nur fahren, fahren, fahren. Die Weite genießen und die Länge. Oder ein paar herausforderndere Strecken im Wald bewältigen. Ich konnte die feuchte, erdgeschwängerte Luft fast schon riechen.   Aber erst mal musst du dich bei deinen Eltern melden. Alles Weitere sehen wir dann.   Also trat ich kräftiger in die Pedale; besonders als ich die Stadt endlich hinter mir gelassen hatte. Abseits der großen Straßen war am Sonntag niemand unterwegs und so konnte ich die Gänge voll ausnutzen. Ich wurde schneller und schneller, bis ich das Gefühl hatte, den Boden fast nicht mehr zu berühren. Es fühlte sich gut an.   Für einen Moment schloss ich die Augen. Genoss den Rausch der Geschwindigkeit. Den Wind auf meinem Gesicht. Die Stille, nur unterbrochen vom klickenden Geräusch des Leerlaufs. Es war, als würde ich fliegen. Frei wie die Schwalben über den Feldern und Wiesen, an denen ich vorbeifuhr. Ein überwältigendes Gefühl.   Aber nicht so sehr wie mit Benedikt zusammenzusein.   Der Gedanke ließ mich lächeln.     Als ich auf den Hof fuhr, trat mein Vater gerade aus dem Stall. In der Hand hatte er einen Eimer und verschiedenes Werkzeug. Sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen. Das Gefühl der Lebendigkeit, das mich gerade noch durchströmt hatte, verflüchtigte sich. Mir war, als würde ich Ketten rasseln hören und das Quietschen einer eisernen Tür. „Ach, sieht man dich auch mal wieder“, sagte er zur Begrüßung. „Hast wohl vergessen, dass wir die Fenster abdichten wollten.“   Ich machte ein zerknirschtes Gesicht. „Das war heute?“ „Ja. Aber ich hab’s jetzt schon allein geschafft.“   Ich horchte, ob da ein Vorwurf in seiner Stimme lag, aber typisch mein Vater, war nichts festzustellen. Er hatte lediglich die Information weitergegeben, dass die Arbeit bereits erledigt war. Nichts weiter. „Ich hab heute Nachmittag Zeit“, bot ich trotzdem an. Er schüttelte den Kopf. „Nee, lass mal. Ist ja Sonntag.“   Damit war die Diskussion zu Ende und wir konnten wieder zur Tagesordnung übergehen. Alles wie immer. Nur ich nicht. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, was wohl passieren würde, wenn ich einfach damit herausplatzte. Wenn ich meinen Vater nachrief, dass ich schwul war. Einfach so, ohne etwas zu beschönigen. Ohne Einleitung. Ohne Mittelteil oder Abschluss. Nur der pure Fakt. Wie würde er reagieren? Und würde er mir überhaupt glauben?   „Kommst du?“, rief mein Vater und ich beeilte mich, ihm in die Küche zu folgen, damit meine Mutter nicht warten musste. Als ich eintrat, nahm er sich gerade Kartoffeln. Statt die Schüssel meiner Mutter zu geben, die ebenfalls bereits am Tisch saß und mich begrüßte, hielt er sie mir hin. Ich griff nach dem Türrahmen. „Ich … hab vergessen, mir die Hände zu waschen.“   Eilig trat ich den Rückzug an und stürmte ins Bad. Ich konnte das nicht. Wenn ich mich jetzt an den Tisch setzte, würde das in einer Katastrophe enden. Ich würde damit herausplatzen und alles ruinieren.   Dann kannst du vermutlich von Glück sagen, wenn er die Schüssel nicht nach dir wirft, verhöhnte ich mein Spiegelbild. Und dann wird er dir sagen, dass er so etwas nicht duldet und dass jetzt Schluss mit dem Unfug ist.   Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Das war doch idiotisch. So würde mein Vater sicher nicht reagieren. Er lebte ja nicht hinterm Mond. Außerdem neigte er nicht zu gewalttätigen Ausbrüchen. Es war also absoluter Unsinn, den ich mir da ausmalte. Und trotzdem hatte ich Angst. Angst davor, dass er mich ablehnen würde. Dass er … einfach aufstehen und gehen würde. Und nicht mehr wiederkommen. Das konnte ich meiner Mutter nicht antun. Denn natürlich würde sie zu mir halten. Bei ihr war ich mir da sicher. Aber mein Vater? Bei dem war alles möglich.   Er wird cool damit sein. Du musst nur einen Weg finden, wie du es ihm schonend beibringen kannst. Dann wird das schon. Ich atmete tief durch, ließ mir ein wenig kaltes Wasser über die Hände laufen und trocknete sie danach leidlich ab. So konnte ich wenigstens behaupten, mir tatsächlich die Hände gewaschen zu haben. Im Esszimmer wartete ein gefüllter Teller auf mich. „Ich hab dir schon mal aufgetan“, sagte meine Mutter und lächelte. „Ich hoffe, die Rouladen sind was geworden. Ich hab mal was Neues ausprobiert. Mit Hähnchen und Salbei.“ „Sieht gut aus“, sagte ich pflichtschuldig und setzte mich auf meinen Platz. Schweigend begann ich zu essen. Ich spürte die Blicke, die mich trafen, aber ich ignorierte sie. Ohne zu schmecken, was ich da eigentlich aß, steckte ich Bissen um Bissen in den Mund. Ich hätte auch Presspappe essen können. Es wäre aufs Gleiche herausgekommen. „War es schön bei Mia?“, fragte meine Mutter, wohl um die Stille, die neben Kaugeräuschen und Besteckklappern das Zimmer beherrschte, zu vertreiben. Ich nickte nur.   „Habt ihr was Schönes unternommen?“   Jetzt schüttelte ich den Kopf. „Waren nur bei ihr zu Hause.“   Natürlich hätte ich jetzt sagen können, wo ich eigentlich gewesen war. Und mit wem. Und wo ich die Nacht verbracht hatte. Ich sah es förmlich vor mir, wie meiner Mutter danach die Fleischplatte aus der Hand rutschte und auf dem Boden zerschellte. Die restlichen Rouladen kullerten durch die Gegend wie ausgeschüttete Murmeln. Eine von ihnen rollte bis zum Tresen und blieb dort in einer Soßenlache liegen, während um sie herum das Chaos ausbrach. Schatten von umherlaufenden, streitenden Menschen huschten über den hell gebräunten Fleischkörper hinweg. Eine Beleidigung hetzte die andere. Eine Tür wurde ins Schloss geworfen. Meine Mutter stand schluchzend in der Küche. Und während sich der Sturm wieder legte und das Schweigen einsetzte, wurde die Roulade langsam kalt. Es war wirklich ein Jammer. „Theodor? Hast du mir zugehört?“   Ich schreckte hoch und sah meine Eltern an, die mich mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken musterten. Schnell setzte ich eine betretene Miene auf. „Ich … nein, sorry. Ich war mit meinen Gedanken woanders.“   Meine Mutter schmunzelte. „Ich hab gesagt, dass wir übernächstes Wochenende Christophers Geburtstag feiern wollen. Wenn du willst, kannst du Mia auch einladen.“ „Ja, kann ich machen.“   Feigling!   „Ich … kann ich aufstehen? Ich bin fertig.“   Die Doppeldeutigkeit meiner Aussage fiel mir erst auf, als meine Mutter mich nachsichtig anlächelte. „Natürlich. Geh nur. Dein Vater kann mir beim Abräumen helfen.“   Ich hörte nur mit halbem Ohr, wie er dagegen protestierte. Er hätte heute schließlich schon genug getan, aber ich konnte nicht mehr bleiben. Ich musste weg aus diesem Bild der perfekten Familie, wenn ich nicht ersticken wollte. So rannte ich förmlich die Treppen hinauf, bis ich in meinem Zimmer ankam und die Tür hinter mir zuwarf. Schwer atmend lehnte ich mich von der Innenseite dagegen und sackte daran herab. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen.   Warum? Warum ist das jetzt so schwer? Gerade war doch alles noch gut und in Ordnung? Warum kannst du dich nicht zusammenreißen? Warum machst du alles kaputt?   Ich dachte daran, dass ich eigentlich mit dem Rad hatte wegfahren wollen. Im Wald war es jetzt sicherlich kühl. Und still. Himmlische Ruhe und beruhigendes Grün. Nur Vogelzwitschern und Blätterrauschen an einem warmen Sommertag. Ich lächelte, während ich mir vorstellte, wie ich mit Benedikt lachend und rufend durch den Wald raste. Im Traum hatte er ein passendes Rad und wir bewältigten Steigung um Steigung. Gemeinsam. Ein gutes Gefühl.   Aber eben nur ein Traum.   In Wirklichkeit saß ich hier und war allein. Ich dachte an das, was meine Mutter gesagt hatte. Dass wir Christophers Geburtstag feiern würden. Wahrscheinlich würden meine Großeltern kommen. Kaffeetafel im Garten. Kuchen essende Leute und Gelächter. Und ich? Ich würde erklären müssen, warum Mia nicht kam. Schließlich konnte ich sie kaum darum bitten, als Alibi zu der Feier zu erscheinen. Das wäre zu viel verlangt gewesen.   Aber es wäre so viel einfacher.   Einfacher als die Wahrheit. Die schöne und schreckliche Wahrheit. Dass ich schwul war. Dass es nie wieder eine Mia geben würde. Und plötzlich vermisste ich sie. Die Sicherheit, die sie mir gebracht hatte. Eine Sicherheit, die nicht nur bis zu Benedikts Gartentür reichte, sondern umfassend war. Für alle Lebensbereiche. Selbst wenn sie nicht anwesend war.   Erbärmlich.   Mein Kopf knallte rückwärts gegen die Tür. Wieder und wieder, bis meine Mutter von unten rief, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ich antwortete schnell, dass ich mit dem Lärm aufhören würde, und stand auf. Müde schleppte ich mich zu meinem Bett und ließ mich darauf fallen. Mittlerweile trug ich meine Klamotten seit über 24 Stunden, wenn man mal von der Nacht und dem Treiben absah, das ich vollkommen nackt absolviert hatte. Ich sollte mich aufraffen und duschen. Etwas Frisches anziehen. Aber ich konnte nicht. Ich schaffte es einfach nicht, mich zu erheben. Stattdessen fielen mir irgendwann die Augen zu und ich schlief ein. Träumte. Wilde Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte, als ich zwei Stunden später mit dröhnendem Schädel aufwachte. Sofort dachte ich an meine Tabletten, doch die Erkenntnis, dass ich keine mehr hatte, versetzte mir einen Dämpfer. „Dann eben Dusche“ murmelte ich und raffte mich endlich auf, mich ins Badezimmer zu begeben. Ich duschte lange und ausgiebig. Wusch alles von mir ab, bis meine Haut vor Hitze prickelte. Nur mit einer Shorts bekleidet ging ich danach wieder zum Bett zurück. Meinem Kopf ging es besser und so griff ich nach meinem Handy. Ich rief Mias Nummer auf, zögerte jedoch, als mein Finger über dem grünen Anrufsymbol schwebte.   Vielleicht schreibe ich ihr lieber eine Nachricht, dachte ich und begann, einen Text zu verfassen, der nicht total bescheuert klang. Es gelang mir nicht. Plötzlich sah ich, dass sie online war. Ich wartete ab und tatsächlich wurde mir angezeigt, dass sie schrieb. Aber es kam keine Nachricht. Vielleicht wusste sie auch nicht, wie sie mich ansprechen sollte? Ohne weiter zu überlegen, wählte ich ihre Nummer. Sie nahm sofort ab. „Theo! Ich wollte dir gerade schreiben und fragen, wie es gelaufen ist.“   Ich schluckte. Kein Wort davon, dass wir bis vor zwei Tagen noch ein Paar waren. Benedikt hatte recht. Das war wirklich nicht normal.   „Gut“, antwortete ich. „Ich hab gemacht, was du gesagt hast.“ „Und?“ „Na ja … es hat geklappt.“   Einerseits kam ich mir schäbig vor, dass ich ihr das jetzt erzählte. Es musste sie verletzen, das zu hören. Dass ich sie ersetzt hatte. Einfach so. Andererseits war es fair, sie vorzuwarnen. Damit sie Bescheid wusste, wenn Morgen die Schule wieder losging. „Das ist toll. Ich freu mich für euch.“   Ich schloss die Augen. „Mia, ich … ich wollte dir nur nochmal sagen, dass es mir leidtut. Ich war ein riesengroßer Idiot. Es ist alles meine Schuld.“   Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie antwortete. „Ja, warst du. Aber ich auch. Ich hab doch auch gemerkt, dass irgendwas nicht stimmt. Aber ich habe auch nichts gesagt. Weil ich zu feige war.“   Ich schluckte. „Mia?“ „Ja?“ „Warum machst du das?“ „Was meinst du?“   Ich atmete tief durch. „Warum bist du so nett? Ich meine, ich hab dich angelogen. Ich hab dich betrogen. Aber du, du stehst trotzdem zu mir. Warum?“   Ich hörte sie am anderen Ende seufzen. „Weil … weil ich wahrscheinlich auch ein bisschen Angst habe, dich endgültig zu verlieren. Mein Kopf versteht, dass wir nicht mehr zusammen sind, aber mein Herz sehnt sich trotzdem nach dir. Nach dem, was wir hatten. Diese Vertrautheit. Ich hab mit dir über Dinge sprechen können, über die ich mit sonst niemandem sprechen kann. Das wird mir fehlen.“   Ich fühlte, wie meine Augen zu brennen begannen. Den Kloß in meinem Hals. „Ich weiß, was du meinst“, sagte ich leise. „Wahrscheinlich wäre es doch gut, wenn wir eine Weile Abstand halten. Damit wir uns beide daran gewöhnen?“ „Ja, vielleicht.“   Ich schluckte.   „Ich … ich werde wohl am besten deine Nummer löschen. Ist das okay für dich?“ „Ja.“ „Gut.“   Ich merkte, dass meine Stimme kurz davor war zu brechen. Ich musste dringend auflegen. „Ich hab es übrigens noch niemandem erzählt. Du?“ „Ich hab mit Anne telefoniert.“ „Das ist gut.“ Anne war ihre Freundin. Sie würde ihr helfen. „Ich hab natürlich nicht gesagt, warum du mit mir Schluss gemacht hast. Das verrate ich keinem.“ „Danke.“ Natürlich hatte ich das irgendwie vorausgesetzt, aber es noch einmal von ihr zu hören, beruhigte mich trotzdem. „Ich hab es noch niemandem erzählt. Ich wollte bis Morgen warten.“   Eigentlich hatte ich mir das nicht wirklich überlegt, aber ich würde bestimmt nicht Jo anrufen, um ihm auf die Nase zu binden, dass ich nicht mehr mit Mia ging. Wenn er fragte, wie es Samstag bei ihr war, würde ich es beiläufig erwähnen und hoffen, dass er keine große Sache daraus machte. Vielleicht hatte ich ja Glück.   „Okay“, erwiderte Mia nur auf meine Ankündigung. Ich hörte genau, dass sie noch mehr sagen wollte, und vor meinem inneren Auge konnte ich sehen, wie sie sich auf die Lippen biss, um es nicht zu tun. Das war etwas, das wir gemeinsam hatten. Anne hatte manchmal darüber gewitzelt, dass wir wohl so etwas wie Seelenverwandte wären. Vielleicht hatte sie recht. Doch jetzt hatte ich meine Seelenverwandte aus meinem Leben geworfen. Wie eine Variable, die nicht in die Gleichung passte. Ich lächelte, als mir auffiel, dass ich bei diesem Vergleich an Benedikt denken musste. Er war gut in Mathe.   „Ich …“ „Wir sollten …“   Wir unterbrachen uns beide, als wir gleichzeitig angefangen hatten zu reden. Ich lächelte. „Sag du“, bat ich sie. Mia seufzte. „Wir sollten das Gespräch vielleicht beenden.“ „Ja, das sollten wir.“ „Es ist schwer ohne dich, weißt du das?“ „Ja, das weiß ich.“ „Aber es ist trotzdem die richtige Entscheidung gewesen.“   In diesem Moment hätte ich Mia gern in den Arm genommen, aber ich wusste, dass das nicht mehr ging. Zumindest im Moment nicht. Vielleicht später, wenn Gras über die Sache gewachsen war. Vielleicht dann.   „Ich leg jetzte auf. Ich … wir sehen uns in der Schule.“ „Bis dann.“ Damit beendeten wir das Gespräch. Nachdem ich Mias Nummer, wie versprochen, gelöscht hatte, ließ ich mein Handy sinken und starrte ins Leere. Es war richtig gewesen, hatte sie gesagt, und ich wusste, dass sie recht hatte. Trotzdem war es seltsam, dass sie jetzt weg war. Dafür hatte ich einen Freund, von dem ich niemandem etwas erzählen konnte. Noch nicht. Aber die Gelegenheit würde kommen und ich würde sie zu nutzen wissen. Ganz bestimmt.   Um mich von weiteren Grübeleien abzulenken, griff ich nach meiner Gitarre. Ich schlug die Saiten an, spielte ein paar einfache Melodien. Bekannte Popsongs. Dann wechselte ich zu „Ich liebe dich nicht mehr“. Ich spielte es ein paar Mal, bevor ich noch einmal „Du und ich“ erklingen ließ. Bei der Erinnerung an Benedikt auf dem Bahnhof, begann ich zu lächeln. Da waren so viele Bilder, so viele Worte, die sich mir aufdrängten. Eine Melodie begann sich zu formen. Ich spielte sie auf der Gitarre nach und probierte eine Weile herum, bis die Griffe saßen. Dann begann ich, am Text zu feilen. Ich griff mir Zettel und Papier, notierte erste Entwürfe, strich wieder durch, sang das Ganze probeweise in meinem Kopf. Ich arbeitete und arbeitete, bis es langsam Abend wurde und der Song endlich fertig war. Glücklich griff ich noch einmal in die Saiten und summte dazu mit, während in meinem Kopf der Text abgespult wurde. Aber irgendwas war immer noch nicht richtig.   Das Instrument ist falsch, ging mir plötzlich auf. Ich brauche das Klavier.   Ich griff mir ein T-Shirt aus dem Schrank und schlich mich anschließend auf leisen Sohlen nach unten ins Wohnzimmer. Bis zum Abendbrot war noch Zeit und meine Eltern irgendwo draußen unterwegs. Daher würde niemand bemerken, wenn ich jetzt spielte. Ich musste nur rechtzeitig damit aufhören.   Entschlossen öffnete ich den Deckel über der Klaviatur. Ich rückte den Hocker zurecht und legte meine Hände auf die schwarzweißen Tasten. Dann hielt ich inne, um den selten gewordenen Augenblick zu würdigen. Wie oft hatte ich hier gesessen und geübt. Manchmal hatte ich es gehasst, manchmal geliebt. Unser Verhältnis war zwiegespalten wie die Farben unter meinen Fingern. Heute jedoch war das Klavier mein Freund. Es würde dem Song die richtige Note geben. Vorsichtig begann ich zu spielen.   Zuerst war mein Spiel noch zögerlich. Ich hatte zu lange nicht mehr geübt. Aber mit der Zeit wurde es sicherer, schneller, die Anschläge sauberer und auf den Punkt. Wie von selbst schloss ich irgendwann die Augen und begann zu singen.   Niemals hätte ich gedacht Dass ich mich mal so fühle Als wenn mein Herz schreit vor lauter Glück Und unter mir schwankt die Erde Mit dir ist es, als wär ich ganz Als wäre ich vollkommen Du hast mich endlich aufgeweckt Und mir die Angst genommen   Du bist der Wind unter meinen Flügeln Du bist die Straße, in der ich wohn Du bist das Licht, das jemand angelassen hat Du bist das Ding, für das es sich lohnt   Mit dir flieg ich höher, mit dir komm ich weiter mit dir heb ich ab, bin schwerelos Und das nur, weil du da bist, weil es endlich wahr ist Ich halte dich fest und lass nie wieder los   Du vertreibst für mich die Dunkelheit Es wird hell, wo wir auch hingeh’n Und die Welt um uns wird endlich bunt Ich kann die Farben wieder sehen Dein Lächeln und dein schöner Mund Ich möcht dich küssen immer wieder Doch stattdessen sitz ich hier Und singe meine Lieder   Du bist der Wind unter meinen Flügeln Du bist die Straße, in der ich wohn Du bist das Licht, das jemand angelassen hat Du bist das Ding, für das es sich lohnt   Mit dir flieg ich höher, mit dir komm ich weiter mit dir heb ich ab, bin schwerelos Und das nur, weil du da bist, weil es endlich wahr ist Ich halte dich fest und lass nie wieder los   Niemals hätte ich gedacht Dass ich mich mal so fühle Als wenn mein Herz schreit vor lauter Glück Und unter mir schwankt die Erde Hosted by Animexx e.V. 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