Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 22: Geständnisse ------------------------ Schon von Weitem konnte ich das große, rotgeklinkerte Gebäude mit dem Logo der Deutschen Bahn erkennen. Es lag in dem Teil der Stadt, der am weitesten von unserem Dorf entfernt war. Ich hatte mich somit schon früh am Samstagmorgen aus dem Bett gequält, um meinen Zug und somit meinen Tag mit Benedikt nicht zu verpassen. Dementsprechend war nach Duschen und Rasieren die Wahl des Outfits auch relativ schnell gefallen. Ich wusste nicht, ob man das, was ich trug, unter „sexy“ verbuchen konnte. Vermutlich fielen Jeans, weißes, ärmelloses T-Shirt und kariertes Hemd eher unter „lässig“, aber ich hatte in meinem Schrank einfach nichts finden können, das sich in die Kategorie „aufreizend“ stecken ließ. Allenfalls die Jeans mit dem Riss am Hintern, die ich immer zum Arbeiten anhatte, aber da die dementsprechend aussah, war auch diese Möglichkeit weggefallen. Ich steuerte den schon fast vollständig belegten Fahrradständer an, der sich gleich vor dem Eingang der Bahnhofshalle befand, und kettete mein Rad an. Das Schloss und der dicke Stahlstrang waren sicherlich stabil genug, um auch den ambitioniertesten Radräuber vor einige Schwierigkeiten zu stellen. Ansonsten hätte ich es wohl lieber mitgenommen, aber wir wollten ja keine Fahrradtour machen. Als ich damit fertig war, sah ich mich um. Auf der T-Kreuzung, an dessen Längsseite der Bahnhof lag, herrschte relativ wenig Verkehr. Gerade hielt ein Bus an der gegenüberliegenden Haltestelle und ich erwartete fast, Benedikt aussteigen zu sehen. Es kamen jedoch nur eine alte Frau und zwei Halbwüchsige mit Skateboards aus dem fast leeren Bus. Ansonsten war auf dem Bürgersteig lediglich ein Mann mit einem Rollkoffer unterwegs, der direkt auf das Bahnhofsgebäude zusteuerte. Vermutlich um sich noch eine Zeitung für die Reise zu kaufen. Ich kam ihm zuvor und besorgte mir am Kiosk der bestimmt noch aus den 60er Jahren stammenden und ganz in gelb gehaltenen Eingangshalle eine kleine Flasche Wasser. Mit der in der Hand trat ich durch eine große Schwingtür auf den Bahnsteig. Es gab nur zwei Schienenstränge. Einer führte von Norden nach Süden, der andere in die entgegengesetzte Richtung. Wie ich nach einem Blick auf die Anzeigentafel feststellen musste, stand ich am falschen. Ich sah nach rechts und links, konnte jedoch keinen Überweg entdecken. Wie kam ich denn jetzt auf die andere Seite? Wild entschlossen, niemanden danach zu fragen, fing ich an, unter der Überdachung den Bahnsteig entlangzuwandern. Der entscheidende Hinweis kam schließlich in Form eines Schildes. „Zu Gleis B“ stand darauf. Ich ging in die ausgewiesenen Richtung und entdeckte zwischen Bahnhofshalle und Parkplatz den Zugang zu einer Unterführung. Gerade alsich mich auf den Weg nach unten machen wollte, fuhr ein kleines, rotes Auto auf den Parkplatz, der gleich neben dem Bahnhof lag. Ich erkannte es sofort wieder. Langsam steuerte ich statt des Fußgängerüberwegs also den Parkplatz an. Mit jedem Schritt wurde das Kribbeln in meinem Magen und auch noch ein wenig tiefer stärker. Als Benedikt endlich aus dem Auto stieg, war ich ein nervliches Wrack. „Hey,“ rief er, kaum dass er die Fahrertür geöffnet hatte. „Sorry, dass ich so spät bin. Ist genetisch bedingt.“ „Ach, kein Problem“, rief ich zurück. „Bin auch gerade erst angekommen.“ Dass ich eine geraume Weile wie ein blindes Huhn über den Bahnsteig geirrt war, musste ich ihm ja nicht unbedingt erzählen. Benedikt kam auf mich zu und ich sah, dass er ähnlich gekleidet war wie ich. Nur dass er statt des Hemds eine Sweatjacke in der Hand hatte und sein T-Shirt dunkelblau war. Ich atmete auf. „Hi“, sagte ich noch einmal, als er bei mir ankam. Mein Herz klopfte immer noch viel zu schnell und es kostete mich einiges an Überwindung, meine Mundwinkel nur ein Stück weit zu heben. Ich wollte nicht, dass er merkte, wie sehr ich mich auf diesen Tag freute. Benedikt atmete einmal tief durch, bevor er meine erneute Begrüßung erwiderte. Er räusperte sich. „Ich, äh … Wir sollten vielleicht zum Bahnsteig gehen. Sonst fährt der Zug noch ohne uns.“ „Ja, dann los.“ Einträchtig trabten wir nebeneinander die Fußgängerunterführung hinab. Im Halbdunkel sah man die Graffitis, die hier und da an die gekachelten Wände gesprüht waren. Keine großen Kunstwerke. Meist nur einfache Schriftzüge. Schmierereien. Nicht mal das hatte unsere Stadt zu bieten. Auf dem Bahnsteig trafen wir die zwei Jungs mit den Skateboards wieder. Sie rollten den Bahnsteig rauf und runter und versuchten sich in einfachen Sprüngen. Ich sah ihnen einige Augenblicke lang zu. „Ob die auch nach Hamburg wollen?“, fragte ich mehr um überhaupt etwas zu sagen. Benedikt sah zu den beiden Jungs rüber. „Mhm, keine Ahnung. Zum CSD wollen die aber bestimmt nicht.“ „Warum nicht?“ „Weiß nicht. Ist so ein Gefühl.“ Ich nickte, obwohl ich nicht so recht wusste, was er damit meinte. Vielleicht sprach da die Erfahrung aus ihm. Ich holte noch einmal tief Luft. „Ich bin am Donnerstag im Club angemacht worden. Von einem Typen.“ Benedikts Lippen umspielte ein Lächeln. „Und? Hast du seine Nummer?“ „Nein, natürlich nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil …“ Ich stockte. Eigentlich wäre das der perfekte Aufhänger gewesen, um ihm zu erzählen, dass ich auf ihn stand. Aber er war vor nicht einmal fünf Minuten angekommen. Da erschien mir das nicht passend. Warum hatte ich überhaupt mit dem Thema angefangen?“ „Ich war mit Jo und den Jungs da“, antwortete ich statt einer richtigen Erklärung. Benedikt nickte trotzdem verstehend. „Hat halt manchmal auch Vorteile, wenn man keine Freunde hat.“ Er grinste, während er das sagte. Trotzdem machte mich das ein wenig betroffen. „Was ist mit Anton“, fragte ich deswegen. Es war ja nicht so, dass er gar keine Freunde hatte. „Den kannst du doch nirgendwo mit hinnehmen. Asthma und so Außerdem ist das Nachtleben nicht so seine Welt. Wir waren aber schon mal im Kino.“ „Ah,“ machte ich und überlegte, wie ich das Gespräch jetzt weiterführen konnte. Die Frage, was sie gesehen hatten, bot sich zwar an, aber eigentlich wollte ich nicht wirklich über Anton sprechen. Also fragte ich Benedikt stattdessen, ob er denn abends immer alleine weggehen würde. Er bewegte den Kopf in einer Mischung aus Nicken und Kopfschütteln hin und her. „Ich gehe nicht so häufig aus. Aber wenn, dann alleine. Ist ja nichts dabei.“ Ich runzelte die Stirn. Ganz allein in den Club oder eine andere Disko zu gehen, konnte ich mir irgendwie nicht vorstellen. In eine Bar oder zum Billard schon gleich gar nicht. Ich sah auf den kaugummiübersäten Bahnsteig hinunter. „Wir könnten ja öfter mal was machen“, schlug ich vor, als am Horizont schon der Zug auftauchte. Der Blick, den ich daraufhin zugeworfen bekam, war eigenartig. Fast so, als würde Benedikt denken, dass ich ihn veralberte. „Mhm, mal sehen“, antwortete er, während er sich erhob. „Vielleicht ergibt sich ja mal was.“ Ich hätte gerne gefragt, warum er die Idee nicht gut fand, aber der einfahrende Zug unterband unsere Konversation. Die Bremsen quietschten und das Gefährt kam zischend zum Stehen. Eine unverständliche Durchsage schallte über den Bahnsteig. Niemand stieg aus. Wir öffneten die Tür des Waggons und suchten uns im Inneren des fast leeren Abteils eine der karierten Sitzbänke aus. Als Benedikt sich neben mich fallen ließ, berührten sich unsere Beine flüchtig. Ich sah zu ihm hoch und er im gleichen Moment zu mir herüber. Für Bruchteile von Sekunden verhakten sich unsere Blicke ineinander, bevor wir beide schnell wieder woanders hinschauten. Ich starrte blind aus dem Fenster und bohrte meine Fingerkuppen in das Sitzpolster. War da jetzt was gewesen, oder nicht? Hatte ich mir diesen Blickwechsel nur eingebildet? War er ebenso nervös wie ich oder projizierte ich nur meine eigene Unsicherheit in sein Verhalten hinein? Du musst ehrlich zu ihm sein, meinte ich wieder Mias Stimme zu hören. Aber wie sollte ich das anstellen? Ich konnte ja wohl kaum mit der Tür ins Haus fallen. Zumal er anscheinend zwar heute gerne mit mir nach Hamburg fahren wollte – so viel hatte er immerhin zugegeben – aber an weiteren Treffen nicht interessiert zu sein schien. Es war wirklich zum gegen den nächsten Baum treten. Ich wusste einfach nicht, woran ich bei ihm war. „Wie … wie läuft das heute eigentlich ab?“, fragte ich, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Häuser, Bäume und Wiesen glitten in zunehmenden Tempo am Fenster vorbei. „Na ja“, meinte Benedikt und zuckte mit den Schultern. „Da ist zum einen die große Demonstration, die durch etliche Straßenzüge der Innenstadt verläuft, bis sie schließlich auf einem großen Festplatz endet. Der Bereich ist weitäumig abgesperrt und zumeist voller Menschen. Es gibt ein Straßenfest, Gastrostände, Live-Musik, eine Showbühne. Du kannst feiern und Party machen, aber es gibt auch viele politische Veranstaltungen. Da werden Reden gehalten, die Parteien, die sich engagieren wollen, geben Infos raus, du bekommst an allen Ecken und Enden kostenlose Kondome …“ Na dem Satz grinste er mich an. Ich merkte, wie meine Ohren warm wurden. Dabei war ich ja nun wirklich nicht verklemmt, aber das war einfach … neu. Und die Vorstellung, die ich mit der Erwähnung der Verhütungsmittel verband, war andere als bisher. Ich schluckte. „Hast du … also … hast du eigentlich schon mal …?“ Vermutlich war das eine total dämliche Frage, aber mein Mund war mal wieder schneller gewesen, als gut für mich war. „Was? Sex auf dem CSD gehabt?“ „Äh, ja. Nein. Also überhaupt.“ Ich schlug mir innerlich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Mein Gestotter klang wie das eines verpickelten 13-järhigen, der eine Frau – oder einen Mann – gerade mal im Traum mit dem kleinen Finger berührt hatte. Benedikt schmunzelte jedoch nur. „Du willst also wissen, ob ich noch Jungfrau bin. Tut mir leid, aber da muss ich dich enttäuschen.“ Ich versuchte, mir meinen inneren Tumult nicht anmerken zu lassen. „Und wie war das so?“ „Schön.“ „Äh … okay.“ Er machte ein amüsiertes Gesicht. „Willst du noch wissen in welcher Stellung und ob ich oben oder unten gelegen habe?“ „Nein! Natürlich nicht“, wehrte ich sofort ab, obwohl mich genau das eigentlich brennend interessiert hätte. „Kannst ja mal raten.“ Ich verdrehte die Augen. „Nein, bestimmt nicht.“ „Warum nicht?“ „Weil das albern ist.“ „Du hast doch mit dem Thema angefangen.“ „Na ja, aber nur weil …“ „Weil was?“ Benedikt musterte mich aufmerksam, sodass ich den Blick abwandte und wieder aus dem Fenster sah. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Natürlich wusste ich theoretisch, was so abging. Ich hatte genug Pornos gesehen, um zu wissen, wie was wo reingesteckt wurde. Aber gleichzeitig wusste ich auch, dass zwischen den Hochglanzbildern und dem echten Erlebnis ein meilenweiter Unterschied bestand. Die Typen auf der Leinwand machten das schließlich professionell. Die hatten nicht im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen voll, wenn sie daran dachten, mit einem Kerl ins Bett zu gehen. Die machten sich keine Gedanken darum, ob sie wohl irgendwas falsch machten. Dafür gab es beim Film ja schließlich Regisseure und vermutlich sogar jemanden, der sich darum kümmerte, wenn etwas nicht so ablief wie geplant. Und wenn doch mal was schiefging, wurde das eben rausgeschnitten. So was gab es im wahren Leben nicht. Da musste alles auf Anhieb klappen. „Hey“, machte Benedikt neben mir und stupste mich mit dem Ellenbogen an. „Das war doof. Tut mir leid. Wenn du was wissen willst, frag ruhig.“ Ich atmete einmal mehr tief durch. „Mir tut’s auch leid. Es … es geht mich ja gar nichts an, mit wem du schon alles im Bett warst.“ „Na, so viele waren es nun auch wieder nicht.“ „Wie viele denn?“ Er machte ein Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Doch noch bevor ich mich für meine erneute Zudringlichkeit entschuldigen konnte, seufzte er. „Drei, wenn du’s genau wissen willst.“ „Mehr nicht?“ „Wer bin ich? Casanova? Ist ja nicht so, als wenn die Schwulen hier auf Bäumen wachsen würden. Und für so Sachen wie Grindr oder so bin ich mir echt zu schade. Die wollen doch alle nur das Eine.“ „Und du nicht?“ Ich wusste, dass ich mich mit meinen Fragen vermutlich immer weiter reinritt, aber wenn wir schon mal beim Thema waren … Benedikt schüttelte den Kopf. „Nee. Hab ich ausprobiert. Ist nicht meins. Mag ja sein, dass einige Typen total auf One-Night-Stands ohne Verpflichtungen stehen, aber mir hat mal einer verraten, dass für ihn gerade mal in einem von zehn Fällen wirklich guter Sex dabei herauskommt. Der Rest ist eher so meh.“ „Im Ernst?“ „Kannst dich ja mal umhören.“ Der Vorschlag klang zunächst eigenartig, aber gleichzeitig … Allein die Vorstellung, dass man sich tatsächlich mit anderen darüber austauschen könnte. Ein paar dumme Fragen stellen, ohne ausgelacht zu werden. Sich wirklich offen und ehrlich mit jemandem darüber zu unterhalten, wie es war, ein „schwules“ Leben zu leben, war irgendwie … Ich fand keine Worte dafür. Plötzlich war ich nicht nur aufgeregt, weil ich diesen Tag mit Benedikt verbringen würde. Ich würden zudem auf einen riesigen Haufen Menschen treffen, für die es okay war, dass ich war wie ich war. Der Gedanke machte mir Angst und gleichzeitig Hoffnung. Ich spürte ein Kribbeln in meiner Nase. Himmel, das war doch jetzt nicht wahr. Deswegen würde ich ganz bestimmt nicht schon wieder heulen. Schnell nahm ich meine Wasserflasche zur Hand und trank einen Schluck. Es war lauwarm und ohne Kohlensäure. Ich hatte mich vergriffen. „Was ist los?“, wollte Benedikt wissen. Er beobachtete mich immer noch viel zu genau. „Das Wasser ist ohne Sprudel.“ „Und deswegen machst du so ein Gesicht?“ „Ja?“ Es war nicht zu überhören, dass ich log, aber … „Okay, ich war gerade einfach ein bisschen überwältigt. Diese ganze Sache schafft mich ziemlich. Ich meine, bis vor ein paar Wochen wusste ich nicht mal, dass ich auf Kerle stehe und jetzt fahre ich mit dir zu dieser Riesenveranstaltung wo mich zigtausend Leute sehen werden. Ich weiß nicht, wie ich das finde. Das ist alles so groß. So viel. So …“ Ich spürte plötzlich eine Hand auf meiner. Benedikts Finger drückten sie ganz vorsichtig. „Hey, bleib locker. Ich … ich meine, wenn es dir nicht gefällt, dann können wir immer noch woanders hingehen. Ich hatte beim ersten Mal auch Schiss. Zumal ich da ganz alleine angereist bin. Aber du wirst sehen, dass dich da wirklich alle mit offenen Armen empfangen. Das Gefühl ist toll.“ Ich sah ihn an. Er lächelte. Da war so viel Wärme in seinem Blick, dass es etwas tief in mir berührte. Ich holte geräuschvoll Luft und erwiderte seinen Händedruck für einen Augenblick, bevor ich ihn wieder losließ. „Danke. Fürs Runterbringen.“ „Ach, kein Ding. Ich will ja nicht, dass die uns womöglich in Pinneberg aus dem Zug schmeißen, nur weil du ne Panikattacke hast.“ „In Pinneberg? Nee, das geht nun wirklich nicht.“ Das Lachen, in das wir beide im nächsten Moment einfielen, war befreiend. Die Anspannung wich Stück für Stück und als der Schaffner kam, um unsere Fahrkarten zu kontrollieren, hatte ich mich schon wieder so weit im Griff, dass meine Hände nicht mehr zitterten. Das kam erst wieder, als die ersten Ausläufer von Hamburg in Sicht kamen. Die Gleise neben uns wurden zahlreicher, die Besiedlung dichter. Wir fuhren unter Brücken und Tunneln hindurch, bis wir schließlich in die riesige Halle des Hauptbahnhofs einfuhren. Dort empfingen uns mit Regenbogenfahnen bewaffnete Menschenmassen, von denen ein guter Teil bereits an früheren Bahnstationen zu uns in den Waggon gestiegen war. Wir hatten uns nicht zu erkennen gegeben, aber als wir jetzt aus dem Zug stiegen, holte auch Benedikt ein buntes Tuch heraus und band es sich um das Handgelenk. Als ich ihn verständnislos ansah, grinste er. „Was? Hast du gedacht, ich geh heute los, ohne Flagge zu zeigen?“ „Nein. Ja. Keine Ahnung. Ich bin wohl wirklich schlecht vorbereitet.“ Ich senkte den Blick, aber er lächelte nur. Da war wieder dieser Ausdruck in seinem Gesicht. Einer, der mich gefangen hielt und nicht mehr losließ. Mein Herz hüpfte in meiner Brust. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. „Ja, das bist du allerdings. Aber das kenn ich ja schon von dir. Deswegen hab ich dir was mitgebracht.“ Er langte in seine Tasche und zog ein zweites Tuch heraus. „Wenn du willst. Du musst aber nicht. Es ist deine Entscheidung.“ Ich sah auf das Tuch, das in allen Regenbogenfarben leuchtete. Um uns herum trubelten hunderte Menschen durch die Bahnhofshalle und es war vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis uns irgendjemand anrempelte, weil wir mitten im Weg herumstanden und den Durchgang versperrten. Langsam hob ich die Hand. „Danke“, sagte ich und nahm das Tuch fast schon andächtig entgegen. Das hier war meine goldene Eintrittskarte, mein Hogwartsbrief, das Fläschchen, auf dem „Trink mich“ stand. Ich würde auch ohne ins Wunderland reisen können, aber mit ihm würden alle Bewohner wissen, dass ich zu ihnen gehörte. Wie in Zeitlupe hob ich es hoch und wand es mir um den Hals. Ich sah Benedikt dabei nicht an, aber als ich fertig war, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich musste wissen, wie er es fand. „Und?“, fragte ich vorsichtig. Ich spürte einen Luftzug auf meinen Armen, denn mein Hemd hatte ich mir mittlerweile um die Hüften geknotet. Eine Gäsehaut kroch über meinen Körper. „Wie seh ich aus?“ Benedikt war noch nie besonders gut darin gewesen, seine Gefühle zu verstecken. Ich mochte das. Aber was ich jetzt gerade sah, raubte mir den Atem. Da war so viel, das in seinem Blick lag. So viel … Liebe, Begehren, irgendwas. Irgendwas, das ich haben und festhalten wollte. „Du siehst toll aus“, würgte er schließlich hervor. „Heiß. Da wirst du bestimmt jemanden finden, mit dem du dich vergnügen kannst.“ Als er das sagte, zogen Wolken über den eben noch so strahlend blauen Himmel. Ich schluckte schwer. „Aber ich will nicht irgendjemanden“, sagte ich leise. „Ich … ich will dich.“ Er sah mich an, als hätte ich so eben erklärt, dass Hamburgs Bürgermeiste eine Dragqueen war. Irgendwann nach schier unendlich langen Minuten, die sich für mich wie Stunden anfühlten, lachte er bitter auf. „Ja, klar.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich … das hatten wir doch schon.“ „Dieses Mal ist es anders.“ Benedikt, der sich schon umgedreht hatte, um zum Ausgang zu gehen, blieb stehen. Er schnaufte, drehte sich wieder zu mir herum und fasste mich scharf ins Auge. „Anders?“, fragte er und klang dabei gereizt wie ein Stier mit einem roten Tuch vor der Nase. „Inwiefern? Weil du jetzt weißt, dass du schwul bist? Ja, okay, herzlichen Glückwunsch nochmal. Ich freue mich für dich, ganz ehrlich. Und ich möchte dir wirklich helfen, dabei die ersten Schritte zu machen. Aber ich kann … ich werde mich nicht noch einmal auf dich einlassen.“ Ich sah ihn nur an und konnte einfach nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte. Es schien, als hätte er den Spiegel zerschlagen, hinter dem mein Wunderland hätte liegen sollen. Lange, hässliche Risse zogen sich durch das Bild und warfen mein Gesicht tausendfach gebrochen wieder zurück. Als hätte jede einzelne meiner Lügen sich gegen mich gewandt. „Aber warum nicht?“, wollte ich wissen. Meine Stimme drohte im Gedränge des Bahnhofs unterzugehen. „Warum nicht?“, schnauzte Benedikt regelrecht. „Ich kann dir sagen, warum nicht. Weil du nicht gut für mich bist. Du weißt nicht, was du willst. Heute gefällt es dir vielleicht, schwul zu sein. Aber das nächste Mal, wenn deine Freunde oder noch besser, deine Freundin, auftauchen, da verkriechst du dich wieder im Schrank und lässt mich allein im Regen stehen. Und ich kann das nicht mehr. Ich will das auch nicht mehr. Ich hab mein Herz schon viel zu lange für dich aufgehoben, Theodor. Es ist vorbei.“ Ich stand da, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen. Es stimmte alles, was er sagte. Aber ich wollte es doch besser machen. Ich wollte. Und ich hatte sogar schon damit angefangen. Zählte das denn gar nicht? „Ich hab mit Mia Schluss gemacht.“ Ich hatte nicht gewusst, wann und wie und ob ich es ihm heute überhaupt sagen sollte. Es klang so einstudiert. Gewollt. Aber jetzt war ohnehin alles egal. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Benedikt sah aus, als hätte er einen Eimer kaltes Wasser abbekommen. In seinem Gesicht kämpften die verschiedensten Emotionen um die Vorherrschaft. „Schluss gemacht? Aber … warum?“ Ich atmete tief durch. Diesen Satz hatte ich mir immerhin schon überlegt. Ich wusste, was ich sagen wollte. Trotzdem zögerte ich. Es konnte immer noch schiefgehen. Er konnte mir nicht glauben. Er konnte es lächerlich finden. Aufgesetzt. Pathetisch. Alles war möglich. Aber ich würde es nur herausfinden, wenn ich es aussprach. Also würde ich es tun. Ich würde ihm sagen, welcher Gedanke mich tief in der Nacht dazu bewegt hatte, diese Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung, die den Rest meines Lebens betreffen würde. Selbst, wenn er sich nicht für mich entschied. „Weil es Zeit ist, endlich der zu werden, der ich wirklich bin.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)