Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 5: Besser ----------------- Das Mittagessen verbrachte ich in Gesellschaft von Sönke, dem Mechatroniker, und Stephan, den alle nur „PH“ nannten, weil er sich grundsätzlich als „Stephan mit ph“ vorstellte. Er studierte Sportwissenschaften, allerdings an einer anderen Universität als mein Bruder, und war mit 29 der älteste der Betreuer. Außerdem spielte er in seiner Freizeit Handball und trainierte in dem Zuge auch einige Jugendmannschaften.   Ich hörte mit halben Ohr zu, wie sich die beiden sich über Autos unterhielten, während ich auf meinem Brot herumkaute. Der Hunger, von dem ich ohnehin nur vorgeschobenermaßen behauptet hatte, dass er mich quälen würde, war quasi inexistent. Wenn ich die Augen geschlossen hätte, hätte ich nicht einmal gewusst, welche Art von Belag ich gerade aß. Es hätte Käse sein können, aber auch Presspappe wäre mir wohl nicht aufgefallen. Dabei hatte Susanne sich wirklich Mühe gegeben, die Brote appetitlich herzurichten. Es gab sogar kleingeschnittene Tomaten- und Gurkenstücke zwischen den verschiedenen Lagen der überquellenden Teller, aber selbst das konnte es für mich nicht rausreißen. Meine Gedanken kreisten ständig um Benedikt und den Konflikt, der zwischen uns geschwelt und durch unser unerwartetes Aufeinandertreffen wieder neue Nahrung bekommen hatte. Ich versuchte mir einzureden, dass es egal war. Dass ich ihn tatsächlich einfach in Ruhe lassen und mich ansonsten zivilisiert benehmen würde. Dann würde schon alles gut werden. All dieses Gerede prallte jedoch nutzlos an dem Stein ab, der in meinem Magen lag, wenn ich an die vor mir liegenden Wochen dachte.   21 Tage. 21 Tage an denen ich hier festsaß, wenn nicht irgendein Wunder geschah. Doch wie sollte das aussehen? Abgesehen von einer Sintflut, die alle Zelte hinfortspülte, sah ich da wenig Möglichkeiten. Das, was Kilian über die Kinder gesagt hatte, kam noch erschwerend dazu. Was, wenn ich nicht mit ihnen zurechtkam? Wenn sie sich als kleine, unbelehrbare Monster herausstellten? Wenn ich komplett versagte? Der Gedanke ließ den Stein in meinem Magen nur noch anschwellen.   „Hey“, hörte ich da eine Stimme. Als ich aufsah, stand wieder Ronya vor mir. Sie lächelte leicht.   „Alles klar?“ „Ja, ich … ich hab nur keinen besonderen Hunger.“ „Oh, ich auch nicht. Ich bin so aufgeregt, wie die Kinder sind. Letztes Jahr gab es den totalen Zickenkrieg bei uns im Zelt. Einige Mädchen hatten sich zusammengerottet und angefangen, eine ihrer Zeltkameradinnen regelrecht zu mobben. Wir haben das dann klären können, als es rauskam, aber das war natürlich sehr unschön.“   Ich musste offenbar ziemlich geschockt ausgesehen haben, denn Ronya beeilte sich mir zu versichern, dass es nicht immer so wäre.   „Meistens ist es ziemlich lustig und die Kids abends eh zu fertig, um noch viel Streit anzufangen.“ „Na, dann werden wir sie wohl am besten ordentlich scheuchen“, sagte ich lachend, obwohl mir schleierhaft war, wie wir das anstellen wollten.   „Spielst du schon lange Gitarre?“, wollte sie als Nächstes wissen und setzte sich neben mich auf die Bank, die draußen vor dem „Service-Gebäude“ stand. Ich zuckte mit den Schultern.   „Ich hab vor etwa drei Jahren angefangen. Also schon vor ner Weile, aber lange ist das trotzdem noch nicht.“ „Oh, ich finde, das ist schon ne ganze Menge. Ich bin leider total unmusikalisch. Bin sogar aus dem Chor geflogen, weil ich immer so schief gesungen habe.“   Sie lachte und strich sich die Haare hinter das Ohr.   „Dafür kannst du bestimmt was anderes gut“, meinte ich leichthin und bemerkte zu spät, dass bereits ein zarter Rotschimmer auf ihren Wagen erschienen war. In Ermangelung einer passenden Bemerkung lächelte ich einfach.   Ronya wollte irgendwann mal Lehrerin werden und hatte in der Vorstellungsrunde gesagt, dass sie es liebte, mit Kindern zu arbeiten. Wahrscheinlich konnte sie mit einer Engelsgeduld die stupidesten Geschichten vorlesen oder sich auch noch über das 351. Strichmännchen freuen, das man ihr mit einem freudestrahlenden „Guck mal!“ unter die Nase hielt. Ich hingegen würde hier vermutlich stumpf Akkorde runterstreichen zu so sinnigen Liedern wie „Das rote Pferd“ und „Nackidei“ oder womöglich noch „Wer hat die Kokosnuss geklaut“. Die Aussicht darauf ließ auch noch den letzten Rest Appetit, den ich so mühsam zusammengekratzt hatte, im Nirwana verschwinden. Mein Lächeln wurde ein wenig schief und ich legte den Rest meines Brotes auf meinen Teller, bevor ich ihn neben mich auf die Bank stellte und mich selbst erhob.   „Ich glaube, ich sehe mir mal die Toiletten an. Du entschuldigst mich?“   Ronya nickte schnell und ich sah zu, dass ich wegkam. Für einen Moment war ich versucht, mich in einer der Kabinen zu verkriechen, aber dann schüttete ich mir doch nur etwas Wasser ins Gesicht und trocknete mich mit dem dort hängenden Handtuch ab. Es war hellgelb und schon ziemlich zerschlissen.   Was machst du nur hier, fragte ich mich und wünschte mir nicht zum ersten Mal an diesem Tag, dass ich die Anfrage meiner Eltern einfach abgelehnt hätte. Es hätte mir jede Menge Kopfzerbrechen erspart.   „Ach hier steckst du.“   Thies stand hinter mir in der Tür. Er war ein kräftiger Typ mit kurzen, braunen Haaren, der irgendwo in Mitteldeutschland Soziologie studierte. In den Semesterferien war er nach Hause gekommen und bereits das dritte Jahr in Folge im Zeltlager mitzuhelfen.   „Wir suchen dich schon. Wolfgang will uns nochmal eben briefen, bevor die Kinder kommen.“   „Bin unterwegs“, sagte ich schnell und warf noch einen Blick in den Spiegel. Ich hatte definitiv schon mal besser ausgesehen. Ringe unter den Augen standen mir nicht besonders. Zwar überdeckte die Bräune, die sich im Sommer schnell bei mir einstellte, das Meiste davon, aber wenn ich den Kopf ein wenig neigte, waren sie recht deutlich sichtbar. Es sah gruselig aus.   Das muss anders werden, schwor ich mir in Gedanken, bevor ich Thies in Richtung Parkplatz folgte. Irgendwie würde ich das alles wieder in den Griff kriegen.     Auf einer kleinen Wiese, die unterhalb des Sportplatzes lag und wohl später der Platz für das Lagerfeuer werden sollte, hatten sich bereits alle versammelt. Ich ignorierte Ronyas fragenden Blick, stellte mich neben Sönke und richtete meine Augen nach vorn. Dass Benedikt auf der anderen Seite der Gruppe stand, fiel mir erst auf, als Wolfgang zu sprechen begann.   „In etwa zehn Minuten werden die ersten Kinder ankommen. Wer jemanden in Empfang nimmt, geleitet ihn zunächst einmal zu seinem Zelt, sodass das Gepäck untergebracht werden kann. Danach könnt ihr euch schon mal mit den Kindern bekannt machen. Nehmt sie ruhig mit ins Boot, wenn ihr merkt, dass sie sich hier auskennen. Bereits hier gewesene Kinder können helfen, die Neulinge einzuweisen. Bereitet euch darauf vor, Fragen der Eltern zu beantworten oder sie an jemanden zu verweisen, der sich besser auskennt. Fragen zur Verpflegung wird beispielsweise Susanne am besten beantworten können. Medizinische Fragen richtet ihr bitte an Annett.“   Wolfgang wies auf die entsprechende Betreuerin, die daraufhin lächelte und winkte.   „Ich will an der Stelle gleich nochmal daran erinnern, dass ihr bitte keine Medikamente in den Zelten aufbewahrt und diese Info auch gleich noch einmal an die Eltern weitergebt. Alles, was an persönlicher, medizinischer Ausrüstung mitgeführt wird, soll bitte im Betreuerheim gelagert werden, damit nicht versehentlich eines der Kinder sich daran bedient. Sollten Sachen kühl gelagert werden müssen, werden wir die in der Küche in einer abschließbaren Kassette im Kühlschrank verwahren. Außerdem müssen alle Verletzungen der Kinder aus versicherungstechnischen Gründen dokumentiert werden. Denkt also daran, bevor ihr einfach irgendwem ein Pflaster aufklebt. Vielen Dank.“   Sie trat wieder zurück und alle Anwesenden nickten nur zustimmend. Niemand reagierte besonders überrascht. Vermutlich wussten alle bereits über diese Regel Bescheid. Ich hatte mir darüber keine Gedanken gemacht. Mein Atem beschleunigte sich etwas. Würde ich meine Tabletten, die ich in den Tiefen meiner Reisetasche gebunkert hatte, tatsächlich abgeben müssen? Es waren zwar nur zwei Schachteln, aber die Menge ging sicherlich über das hinaus, was man gewöhnlich für so einen kurzen Aufenthalt mit sich führte. Und wenn ich sie abgab, würde Annett dann danach schauen, wie oft ich welche nahm? Der Gedanke behagte mir nicht und ich beschloss im Stillen, die Tabletten einfach sehr gut zu verstecken. Es würde schon keines der Kinder auf die Idee kommen, mein Gepäck zu durchwühlen.   „Es wird, wenn alle da sind, noch einmal eine allgemeine Einweisung geben, bevor jeder Betreuer mit seiner Gruppe eine Einführungstour durch das Camp macht. Die Aufteilung dafür haben wir ja schon beim letzten Mal gemacht. In diesem Sinne wünsche ich uns allen ein gutes Gelingen und vor allem natürlich viel Spaß.“   Die Gruppe applaudierte und auch ich beeilte mich, eifrig meine Handflächen aneinanderzuschlagen. Ich hätte gerne gesagt, dass ich dem Ganzen vollkommen gelassen entgegensah, aber das Ziehen in meinem Magen sprach eine andere Sprache. Möglichst unauffällig wischte ich mir die Hände an den Hosen ab und sah mich um, um mich jemandem anzuschließen, der sich hier besser auskannte. Dabei streifte mein Blick Benedikt, der schon wieder von Kilian mit Beschlag belegt wurde. Gerade sagte Kilian etwas und Benedikt lachte. Es war ein entspanntes, befreites Lachen und ich merkte, wie ich unwillkürlich auch lächeln musste. Dann jedoch bemerkte er meinen Blick und seine freudige Miene verschwand auf der Stelle. Schnell wandte ich mich ab und stellte mich mangels einer besseren Alternative neben Reike, die sich auf einem bereits von Wind und Wetter geschliffenen Grenzstein niedergelassen hatte. Ihre braunen Augen musterten mich eingehend.   „Angst?“, fragte sie plötzlich ohne Vorwarnung.   Ich lachte auf. Es klang beinahe natürlich.   „Nein, aber ich bin schon echt gespannt, wie es wird. Ich habe leider so gar keine Erfahrung mit Kindern.“   „Das sind auch nur Menschen, wenn gleich auch ein wenig kleiner als wir. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“   „Ich werd’s mir merken“, konnte ich gerade noch sagen, bevor ein Motorengeräusch mit anschließendem Knirschen der Reifen auf dem überwucherten Kies die Ankunft der ersten Gäste ankündigte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.     Drei Stunden später ließ ich mich erschöpft auf einen Stuhl im Betreuerheim fallen. Wir hatten die Ankunft der Kinder sowie alle Einführungen erfolgreich hinter uns gebracht und die „Kleinen“ hatten jetzt eine Stunde Freispiel, bis es um 18 Uhr Abendessen geben sollte. Ich hingegen hatte das Gefühl, bereits fünf Wochen Zeltlager hinter mir zu haben, und sehnte mich danach, mich in mein eigenes Zimmer zurückzuziehen und die Tür hinter mir zumachen zu können. Stattdessen musste ich mich damit begnügen, auf einem nur leidlich bequemen Holzstuhl zu sitzen und mir von Annett einen Tee aushändigen zu lassen.   „Kaffee wäre besser“, murrte ich, während ich in die heiße Tasse pustete, die sie mir gereicht hatte. Ich trank nicht oft Kaffee, aber ab und an wirkte so eine Tasse wirklich Wunder.   „Dann kannst du heute Abend aber nicht schlafen“, wies Annett mich zurecht und lachte, als ich die Augen verdrehte.   „Ich frage mich, wie die anderen das durchhalten.“ „Der unerschütterliche Glaube an das Gute im Menschen.“ „Den du nicht mehr hast?“ „Na ja, bei manchen muss man da Abstriche machen.“   Sie grinste und prostete mir mit ihrer Tasse Kamille-Früchte-Tee zu. Angeblich schmeckte ihr die Brühe, die ich nicht wirklich genießbar finden konnte. Aber die Tasse war heiß und bot mir die Möglichkeit, meine Hände zu beschäftigen. Ich spürte die Hitze zwischen meinen Fingern und schloss für einen Moment die Augen. Mein Kopf schwirrte noch immer von den vielen Namen und Fragen, die sowohl Kinder wie auch Eltern gestellt hatten. Es war laut und fröhlich und auch ein wenig hektisch gewesen, als eines der Kinder sich mitten zwischen den Zelten übergeben hatte. In Absprache mit den Eltern war der Junge zunächst wieder nach Hause geschickt worden und würde eventuell in zwei Tagen nachkommen, wenn es ihm bis dahin wieder besser ging. Zum Glück hatte ich mich nicht an den Aufräumarbeiten beteiligen müssen. Das hatte Kilian ohne mit der Wimper zu zucken übernommen.   „Man darf nicht zimperlich sein“, hatte er großspurig erklärt und sich ans Abstreuen und Einsammeln gemacht. Ich hatte zugesehen, dass ich wegkam, und mich im nächsten Augenblick einem Elternpaar gegenüber gefunden, die hatten wissen wollen, ob es ihrem Kurt denn erlaubt sei, jeden Tag zu Hause anzurufen.   „Ich glaube nicht“, hatte ich nur gemurmelt und mich dabei gefragt, wer es seinem Kind antat, es „Kurt“ zu nennen. Klein-Kurt, der schätzungsweise sechs oder sieben Jahre alt war, hatte brav dabei gestanden in seinem karierten Hemd und der kurzen Hose mit den bis zu den Knien hochgezogenen Strümpfen. Er hatte ausgesehen wie aus einem 50er-Jahre-Film. Lediglich die Hosenträger hatten gefehlt.   „Äh, Benedikt?“   In meiner Not hatte ich nicht nachgedacht und ihn einfach angesprochen, als er gerade vorbeikam. Er hatte kurz die Stirn gerunzelt, bevor er die Eltern und den Jungen gesehen hatte und zu mir herüber gekommen war.   „Ja?“ „Kannst du mal übernehmen? Ich glaube, der Kleine hier gehört in dein Zelt.“   Mit den Augen hatte ich ihm eine stille Bitte geschickt und zu meiner Überraschung hatte er ziemlich professionell reagiert.   „Klar, geh nur. Ich mach das schon.“   Ich hatte ihm noch einmal stumm gedankt, doch er hatte sich bereits umgedreht und sich voll auf Kurt und seine Eltern konzentriert. Einen Augenblick lang hatte ich ihm noch nachgesehen, bevor ich mich wieder daran gemacht hatte, das nächste Eltern-Kind-Gespann am Parkplatz in Empfang zu nehmen.     Immer noch in die Erinnerung an diese kurze Begegnung versunken hatte ich offenbar nicht bemerkt, dass sich die Tür des Aufenthaltsraums erneut geöffnet hatte. Erst, als eine bekannte Stimme Annett nach einem Pflaster fragte, blickte ich auf.   „Hab ich mir an einer der Paletten geholt. Das blöde Ding ist durchgebrochen, als ein paar der Kids zu dritt darauf herumgesprungen sind“, erklärte Benedikt und hielt seinen blutenden Daumen hoch.   „Warte, ich desinfiziere das eben und mache einen Schnellverband drum. Dann bist du wieder fit.“   Annett ging los, um den Erste-Hilfe-Kasten zu holen, während Benedikt wartend vor der Spüle zurückblieb. Vorsichtig sah ich zu ihm rüber. Er ignorierte mich deutlich und sah sich stattdessen lieber die leicht vergilbten Küchenschränke an. Ich konnte hören, wie er atmete. Bildete ich mir zumindest ein. Ich versuchte, es ihm gleichzutun. Ihn einfach nicht zu beachten. Es klappte nicht.   Wieder huschten meine Augen zu ihm hinüber. Genauer gesagt zu seinem verletzten Daumen. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob es wehtat. Ob er mit Kurts Eltern zurechtgekommen war. Ob er Kilian auch so nervig fand wie ich. Aber das ging nicht und so schwieg ich, während langsam der Tee in meiner Tasse abkühlte und eine Fliege immer wieder geräuschvoll gegen das Fenster brummte.   „So, ich hab alles“, verkündete Annett in diesem Augenblick. „Komm, wir gehen da rüber zum Tisch. Da kannst du den Arm ablegen. „Nein, das geht schon so.“   Ob er nicht hierher kommen wollte, weil ich hier saß? Der Gedanke gefiel mir nicht.   „Ich werde mal den anderen helfen gehen“, entschuldigte ich mich daher schnell und stand auf, um nach draußen zu gehen, als Annett mich wieder zurückrief.   „Du hast vergessen abzuwaschen.“   Mit strengem Blick deutete sie auf die noch fast volle Tasse. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg.   „Oh ja, sorry. Natürlich.“   Eilig kam ich zurück zum Tisch, um das weiße Ding zur Spüle zu tragen. Dabei sah ich es zum ersten Mal von der Vorderseite und bemerkte, dass es einen Aufdruck hatte. „Cutie π“ stand dort in verschnörkelten, schwarzen Buchstaben. Ich schielte zu Benedikt um nachzusehen, ob er die Aufschrift wohl bemerkt hatte. Irgendetwas sagte mir, dass er dieser Art Scherz witzig gefunden hätte. Immerhin war er im Mathe-Leistungskurs. Er jedoch hatte seinen Blick stur auf Annett gerichtet, die jetzt Desinfektionsspray auf seine Wunde auftrug und ihn dann aufforderte, darauf zu pusten, damit es schneller trocknete.   Seltsam enttäuscht wendete ich mich ab und ging, um die Tasse auszuspülen. Ich drehte den Wasserhahn auf und hielt die Tasse darunter, nur um im nächsten Moment aufzuschreien. Das Wasser war kochend heiß. Die Tasse entglitt meiner Hand und polterte unter ohrenbetäubenden Lärm in das stählerne Waschbecken. Zum Glück blieb sie heil, aber der Krach ließ die beiden anderen aufhorchen.   „Alles okay?“, wollte Annett wissen. „Ja, ich … das Wasser war so heiß.“ „Vielleicht ist der Hebel am Durchlauferhitzer wieder verstellt. Ich schau gleich mal nach.“   Sie wand eine blaue Binde um Benedikts Daumen, bevor sie aufstand und zu mir rüberkam. Direkt neben mir ging sie in die Knie und öffnete den Unterschrank der Spüle. Als sie einen Blick hineingeworfen hatte, schnalzte sie mit der Zunge.   „Ist auf höchste Stufe gestellt. Kein Wunder, dass du dich verbrüht hast.“ Sie sah zu mir hoch. „Ist es schlimm?“ „Nein“, antwortete ich sofort. Zwar prickelte meine Haut noch immer, aber wirklich verletzt war ich nicht.   „Pass beim nächsten Mal besser auf. Das Ding ist tückisch.“ „Okay.“   Ich dankte Anett noch einmal, spülte die Tasse dieses Mal mit lauwarmem Wasser und machte dann, dass ich rauskam. Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, Benedikts Blick wie ein Bleigewicht auf mir zu spüren. Es war mir unangenehm, dass ich mich so dämlich angestellt hatte. Das war schließlich nicht der erste Durchlauferhitzer, den ich sah. In den Ferienwohnungen meiner Eltern hingen in den Küchen überall solche Dinger, weil es die Abrechnung erleichterte. Allerdings versuchte von denen auch keines, einen bei lebendigem Leib garzukochen.     Draußen herrschte immer noch derselbe, fröhliche Sommertag, der schon vor meiner Flucht in die trügerische Sicherheit des Betreuerheims die Atmosphäre erfüllt hatte. Von überall hörte man fröhliches Kindergeschrei. Auf dem Sportplatz war ein Fußballspiel im Gange, bei dem sich Kilian als Torwart verdingte. In den Zelten halfen die meisten der weiblichen Betreuer den Kindern, ihre Betten zu beziehen und sich sonst wie häuslich einzurichten. Aus der Küche drang lauter Gesang, den ich nach kurzem Überlegen Susanne zuschrieb. Alle schienen zu tun zu haben, alle hatten eine Aufgabe.   „Nur mich kann keiner brauchen“, murmelte ich leise. Mir war klar, dass ich mich nur irgendwo hätte anschließen müssen. Ich hätte mit zum Fußball gehen können oder sehen, ob Wolfgang und Sönke noch Hilfe beim Lagerfeuer brauchten. Es stand noch nicht fest, ob es heute Abend schon eines geben würde, aber in den nächsten Tagen würde das ein fester Punkt der Abendgestaltung werden. Das und ich mit meiner Gitarre. Das Instrument stand noch drinnen und wartete geduldig auf seinen Einsatz. Vielleicht sollte ich es holen und einfach ein bisschen spielen? Das konnte ich schließlich ganz gut.   Fest entschlossen drehte ich mich um und wollte gerade die Tür öffnen, als sich die Klinke schon bewegte und das graue Metall mir entgegenkam. Im nächsten Moment stand Benedikt direkt vor mir.   „Ich … ich wollte nur meine Gitarre holen.“   Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich zu einer Erklärung verpflichtet, warum ich hier immer noch herumstand. Er zuckte nur mit den Schultern.   „Ist ein freies Land“, sagte er, bevor er an mir vorbeitrat und in Richtung der Zelte davonging.   Na großartig. Ich hatte es geschafft, dass er mich bereits das zweite Mal an einem Tag stehenließ.   An einem halben Tag, korrigierte ich mich in Gedanken und versuchte das Gefühl, das mit der Erkenntnis einherging, so gut wie möglich zu ignorieren. Ich musste mich zusammenreißen und endlich aufhören, wie Falschgeld in der Gegend herumzustehen, nur weil er in meiner Nähe war. Bisher hatte ich das doch auch immer hingekriegt. Warum fiel mir das jetzt so schwer?   „Idiot“, flüsterte ich und war mir nicht sicher, ob ich ihn oder mich damit meinte. Vermutlich eher mich. Aber das half jetzt auch nichts. Ich musste mich zusammenreißen. Aber vielleicht … vielleicht war noch eine kleine Pause drin. Nur noch ein wenig Zeit allein, dann würde es wieder gehen.   Ich nickte Annett zu, die jetzt ebenfalls an mir vorbeiging, und huschte dann unauffällig nach drinnen. Wie ein Verbrecher schlich ich mich kurz darauf mit meiner Gitarre nach draußen. Ich sah mich um, ob mich jemand beobachtete, bevor ich mich um die Ecke zur Rückseite des Gebäudes durchschlug und von dort aus querfeldein Richtung See ging.   Kurz hinter dem Sportplatz fiel das Gelände relativ steil ab, bevor es in einem kleinen Sandstreifen endete. Vermutlich der Badestrand des Camps. Ein schmaler Trampelpfand führte dort hinunter, der von den Regenfällen des Frühjahrs ausgewaschen und steinig war. Vorsichtig kletterte ich nach unten und stand kurz darauf am Strand. Ein umgestürzter Baum, der halb ins Wasser hineinragte, schien mir ein einladender Platz, auf dem ich mich niederließ und die Gitarre aus ihrer Hülle holte.   Das vertraute Gefühl des bauchigen Körpers, der gegen meinen lehnte, und der straff gespannten Saiten unter meinen Fingern ließ mich ruhiger werden. Das hier konnte ich. Darin war ich gut. Dabei konnte ich nicht so dumme Fehler machen, die mich mein Leben lang verfolgten.   Probeweise begann ich zu spielen. Erst ein paar einzelne Töne, dann eine Tonleiter, ein paar Akkorde. Ich zog eine der Seiten nach, die sich offenbar beim Transport ein wenig verstimmt hatte, und dann begann ich zu spielen. Ich schloss die Augen und summte die Melodie mit. Das Lied hatte ich erst kürzlich gelernt. Es war von einem mir bis dahin unbekannten Künstler, der bei seinen Stücken oft auf Klavier und Gitarre zurückgriff. Er hatte es geschafft, hatte einen Plattenvertrag und gab Konzerte, während ich mich damit begnügen musste, seine Kreationen nachzuspielen. Doch noch während ich das dachte, formten sich zu der Melodie in meinen Kopf völlig neue Worte. Worte, die mir ganz allein gehörten.   Eine Straße, die sich oft verzweigt Eine Kraft, die mich vorwärts treibt Ein Schiff, mit dem man untergeht Weil man nicht versteht   Was es heißt, ganz allein zu sein Es zu tun und dann zu bereu’n Was man nicht mehr ändern kann Komm, steh deinen Mann   Manchmal wünsch ich mir die Zeit zurück In der nichts zählte außer unserm Glück Doch die Sekunden gingen schnell vorbei Was bleibt ist Heuchelei   Und die Erinnerung an das was mal war Dabei ist mir klar Dass es anders war Als ich bei dir war   Ich brach ab und legte die Hand auf die Gitarrenseiten um ihren Klang zu ersticken. Der Text war Mist und ich wusste es. Das Versmaß stimmte nicht und außerdem war meine Stimme am Ende immer leiser geworden. Ein Refrain sollte aber eingängig sein. Zum Mitsingen anregen. Das tat dieser hier nun überhaupt nicht und zu allem Überfluss war die Melodie auch noch geklaut. Alles absolut ohne Wert.   Nicht mal das kannst du, hallte es durch meinen Kopf. Ein dröhnendes Echo meines Versagens. Ich hatte so viele enttäuscht und es würden sicherlich noch mehr werden, wenn ich mich nicht mehr anstrengte. Susanne, ihr Mann, die Kinder, die anderen Betreuer; sie alle würden sich fragen, mit was für einem Schaumschläger sie sich hier eigentlich abgeben mussten.   Ich muss es richtig machen, nahm ich mir fest vor, bevor ich die Gitarre wieder in ihre Hülle zurücksteckte und entschlossen den Reißverschluss zuzog. Dieses Mal würde ich nicht scheitern. Dieses Mal würde ich es hinkriegen.   Also riss ich mich zusammen. Ich setzte ein Lächeln auf, legte die Gitarre weg und stürzte mich in die Aufgaben. Ich half beim Zusammentragen des Feuerholzes, bot Susanne an, das Tischdecken fürs Abendessen zu übernehmen, half bei der Essensausgabe und hinterher beim Abwaschen. Dabei lächelte und scherzte ivh, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Ich wusste wie und ich war gut. Niemand merkte den Unterschied. Niemand wusste, dass ich jeden Bissen des Essens herunterwürgte. Niemand wusste, dass mein Lächeln versagte, sobald niemand hinsah. Niemand wusste, wie ich mich wirklich fühlte.   Nur ein einziges Mal fing ich einen Blick von Benedikt auf. Er war finster und ich ahnte, was ihn umtrieb. Er war kein besonders guter Schauspieler. Man sah ihm an, wie es ihm ging. Bei ihm war alles echt.   Doch ich wandte mich ab. Ich hatte in seinem Leben nichts mehr verloren. Und warum sollte ich ihm auch nachtrauern? Ich hatte Mia, die zu Hause auf mich wartete. Ich hatte Ronya, die mir immer wieder bewundernde Blicke zuwarf. Ich hatte die zehnjährigen Mädchen, die jedes Mal, wenn ich etwas sagte oder vorbeiging, in albernes Gekicher ausbrachen und mir nachliefen, als wäre ich irgendein Filmstar. Das war real und nicht etwa die Erinnerung daran, wie seine Küsse schmeckten. Wie sich seine Hände auf meiner Haut anfühlten. Wie ich mich gefühlt hatte, als ich in seinen Armen lag. Ich würde es vergessen und nie wieder ein Wort darüber verlieren. Vielleicht hatten wir so eine Chance, beide endlich mit der Sache abzuschließen. Einer Sache, die so nie hätte passieren dürfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)