Glasnost von lady_j (Juni 2020) ================================================================================ Prolog: Der Winter vor dem ersten Sommer ---------------------------------------- „Minus 40 Grad Celsius ist genauso kalt wie minus 40 Grad Fahrenheit”, sagte Kai mit klappernden Zähnen, als sie vor dem Kino standen. Yuriy sah ihn verwirrt an und fragte sich kurz, ob der Frost dem anderen wohl ins Hirn gekrochen war. „Aha”, sagte er dann. „Du bist echt weich geworden, Hiwatari.” „Fick dich, Ivanov.” Es war ihr erstes richtiges Treffen nach dem Untergang von Borg. Der Prozess lag schon eine ganze Weile hinter ihnen und Marija Golubeva hatte sich der Borg Jungen erbarmt. Yuriy und die anderen lebten in ihrem Heim und lernten langsam, sehr langsam, was es hieß, ein halbwegs normales Leben zu führen. Dabei standen sie unter quasi ständiger Beobachtung von Kirill Pawlowitsch, ihrem Therapeuten, und hier kam auch Kai ins Spiel. Der war nämlich ebenfalls dessen Patient. Niemand hatte es für nötig gehalten, Yuriy davon zu erzählen, bis sie sich eines Tages im Wartezimmer von Kirill Pawlowitschs Praxis gegenüber standen. Boris war auch da gewesen und es erschien Yuriy bis heute wie ein Wunder, dass er Kai nicht sofort das Rückgrat gebrochen hatte. Irgendwie hatten er und der Typ am Empfang Boris davon abhalten können, aber natürlich war Kai viel zu stolz, um sich jemals dafür zu bedanken. Es hatte Monate gedauert, bis sie überhaupt ein bedeutungsvolleres Wort miteinander gewechselt hatten, und es war allein Kirill Pawlowitschs Schuld, dass Yuriy Kais Handynummer bekommen hatte und umgekehrt. Allerdings, und dieser Fakt ließ sich leider nicht kleinreden, wusste Kai weitaus besser als Boris, Sergeij und Ivan, wie man sich im „normalen” Leben bewegte ohne für komplett durchgedreht gehalten zu werden oder selbst komplett durchzudrehen. Ihre bedeutungsvollere Konversation hatte mit purer Verzweiflung Yuriys begonnen, der es leid war, dass ihn alle anderen Kinder für die Klamotten aufzogen, die er trug. Während seine ehemaligen Teamkollegen keine Lösung gewusst hatten, hatte Kai ihm während eines sehr unfreundlichen Telefonats erklärt, dass Orange nun einmal nicht seine Farbe sei. Überhaupt nicht. Seitdem hielt Yuriy sich an gedecktere Töne. Tja, und so hatte es angefangen. Sie schrieben sich sporadisch E-Mails, vor allem während der Schulzeit, denn dann war Kai im Internat in Moskau und sie in derselben Zeitzone. Der Inhalt ihrer Nachrichten drehte sich mehr oder minder um ihre Therapie. Yuriy wusste auch gar nicht, worüber er ansonsten mit Kai reden konnte - es sei denn, er hatte eine allgemeine Frage zur menschlichen Spezies und ihren Eigenarten. Außerdem hatte er gemerkt, dass Kai die seltsame Angewohnheit besaß, in den unmöglichsten Momenten kleine Alltagsweisheiten von sich zu geben. Er fragte sich des öfteren, was im Kopf des anderen wohl vor sich gehen mochte, war aber irgendwann zu dem Schluss gekommen, es könne nicht viel sein. Alles in allem war Kais Gesellschaft angenehm genug, um Yuriy davon zu überzeugen, ihn absichtlich persönlich zu treffen. Ihm war langweilig und manchmal hatte sogar er genug davon, seine ehemaligen Teamkollegen ständig um sich herum zu haben. Das war etwa ein Jahr nach dem Prozess gegen Volkov und Soichiro Hiwatari. Seit sie sich in der Praxis getroffen hatten, waren Monate vergangen. Es war tiefster Winter und sie wussten nichts Besseres mit sich anzufangen als ins Kino zu gehen. Yuriy hatte das mit dem Kino schon mit Boris ausprobiert und war die ersten Male einfach nur überfordert gewesen. Der Bildwechsel war zu schnell (und überhaupt war das Bild zu groß), die Geräusche ließen ihn ein ums andere Mal zusammenzucken - und der Sinn von Popcorn erschloss sich ihm nicht ganz, obwohl er den Geschmack als durchaus angenehm empfand. Boris hingegen war begeistert von amerikanischen Ballerfilmen und vermittelte ihm zumindest genug Sicherheit, um den Drang zu unterdrücken, einfach aufzustehen und den Saal zu verlassen. In dem Film, den er mit Kai sah, ging es um Autos, was tendenziell besser war als Balleraction. Er war trotzdem ziemlich lächerlich, und das ließ er Kai, der die Auswahl getroffen hatte, auch wissen - war dann aber recht verwirrt, als sein Begleiter sich mehr über seine Anmerkungen zu amüsieren als zu ärgern schien. Die einzige Szene, bei der sie wirklich still waren, war die, in der der Hauptprotagonist seine Geliebte auf einer Motorhaube nagelte - „nageln” war ein Wort, das Yuriy von Boris aufgeschnappt hatte, zusammen mit vielen anderen Metaphern für ein und dieselbe Sache. Er musste sich stark zusammenreißen, um nicht den Kopf schief zu legen, denn wenn er ehrlich war, so war ihm absolut schleierhaft, wie das so funktionieren sollte. Handlungsrelevant war die Szene auch nicht. Was in Kais Kopf vor sich ging, konnte er wie immer höchstens ahnen, dieses Mal kam er aber nicht einmal so weit. Abgesehen davon, dass er nichts mehr sagte, hatte sich nichts an seinem Pokerface geändert. Und so waren sie hier gelandet, bei noch nicht einmal minus zwanzig Grad (Celsius!) vor dem Kino. Yuriy betrachtete seinen frierenden Begleiter spöttisch und war versucht, ihm auch mal einen Modetipp zu geben - lieber den gefütterten Mantel anziehen anstatt gut aussehen zu wollen. Dazu kam es leider nicht, denn in diesem Moment setzte Kai sich in Bewegung, um zur Metro zu gehen, nicht darauf achtend, ob Yuriy ihm folgte. Der richtete den Blick auf seine irgendwie schmal gewordenen Schultern, während er ihm hinterherlief, und konnte sich das spöttische Grinsen nun doch nicht verkneifen. Kurz fragte er sich, ob sie sich wohl bald wiedersehen würden. Er bezweifelte es - Kai zu treffen war eine Abwechslung, ja, aber er hatte bemerkt, dass er die Gesellschaft von Boris und den anderen dann doch vorzog. Zu diesem Zeitpunkt ahnte Yuriy nicht, dass er es sein würde, der Kai knapp zwei Jahre später in sein neu gegründetes Team brachte. Oder welche Folgen diese Entscheidung haben würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)