Gegensatz und Vorurteil von Ana1993 (- Ehemals Schubladenmagnet -) ================================================================================ Kapitel 4: ----------- Hallo zusammen! Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, ich hab gerade so unglaublich viel im Kopf und das Kapitel hat sich richtig schwer getan.     ~ 4 ~   Joshuas POV   Mit Hollys Vorschlag im Hinterkopf, beobachte ich das Objekt meiner Begierden in den nächsten Schultagen so aufmerksam wie möglich, ohne zu auffällig zu werden. Studiere seine Gewohnheiten und die üblichen Aufenthaltsorte. Zugegeben, das ist nicht viel. Eigentlich hängt er die meiste Zeit mit seinen Freunden an einer bestimmten Sitzgelegenheit rum, am Rande der als Pausenhalle für die Oberstufe umfunktionierten Freifläche inmitten des Schulgebäudes, völlig egal welches Wetter ist. Ab und an holt er sich mal was am Kiosk oder geht aufs Klo, aber dazu sind Pausen schließlich auch da. Verbieten tun uns die Lehrer zwar nicht mehr im Unterricht körperlichen Rufen zu folgen, aber gerne gesehen wird es nicht, könnte man doch die Zeit für andere Dinge nutzen. In meinen Augen besser, als weiterhin gelangweilt aus dem Fenster zu starren und das Lehrpersonal mehr oder minder zu ignorieren, aber hey, mich fragt ja nie jemand von Bedeutung nach meiner Meinung. Während meiner schon an Stalking grenzenden Recherche habe ich immerhin das Geheimnis gelüftet, warum mir seine Kumpanen unbekannt sind. Nicht etwa, weil ich sie bislang mit Missachtung bedacht habe, wie eigentlich jeden außerhalb meiner Blase, sondern weil sie offensichtlich gar nicht in unserer Stufe sind, sondern eine drüber und damit im Abijahrgang. Verwunderlich, dass er sonst niemanden zu haben scheint. Klebengeblieben ist er definitiv nicht, was die einzig mir bekannte Ursache dafür wäre, alternativ zu meiner Annahme, dass ohnehin alle um mich herum dumme Idioten sind, meiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Aber Paul kommt mir viel zu lieb vor, um diese Ansicht zu teilen. Tief in Gedanken versunken lehne ich an einer Säule und starre Löcher in die Luft, als etwas schwarz-blond-pinkes in meinem unteren Sichtbereich auftaucht. „Und? Wer von denen ist es?”, flüstert Holly viel zu laut und sichtbar aufgeregt, meinem Blick folgend, sich halb um mich herumlehnend, was wohl meine ganze bemühte Unauffälligkeit zunichte macht. Um nicht doch noch Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, lege ich einen Arm um ihre Schulter und schleife das protestierende Bündel um die runde Steinkonstruktion herum und weiter in das Gebäude hinein. „Hey, lass mich!”, quiekt das zappelige Wesen. „Nein. Was machst du eigentlich hier, du darfst noch nicht in den Oberstufenhof”, frage ich sie, um Ablenkung bemüht. „Darf ich wohl, wenn ich meinem großen Bruder etwas mitteilen muss”, sagt Holly unschuldig und klimpert mir mit ihren getuschten Wimpern vor großen Augen von unten herauf zu. „Und das wäre?”, seufze ich ergeben. Bei ihr besitze ich einfach keine Widerstandskraft. „Dass du ein Idiot bist, aber ich dir helfen werde – Wah!” Ihre Auführung endet in einem Schrei, da ich sie erneut gepackt habe und nun wieder deutlich entschlossener auf den Kleinkinderbereich zustapfe. „Warte Joshi! Ich will dir wirklich helfen!” „Ich brauche keine Hilfe von kleinen frechen Gnomen, ich schaffe das schon ganz alleine, vielen Dank auch”, grummle ich verstimmt, in Gedanken dabei ihre Haarpracht beim nächsten Mal braun zu machen. Die einzige Farbe die mir spontan einfällt, die sie nicht gut finden würde. „Du bist gemein.” Nun schmollt Holly und ich habe alle Mühe, sie nicht anzusehen, da mein Widerwille beim Anblick ihrer vorgeschobenen Unterlippe und den Hundeaugen sofort wieder klein beigeben würde. „Jap. Erzähl mir was Neues.” Wir sind im 'normalen' Pausenbereich angekommen und ich lasse meine kleine Schwester los. „Zu mir bist du sonst nie gemein”, widerspricht sie, immer noch schmollend. Ich hole tief Luft und betrachte für einen Moment die Decke mit den Oberlichtern. Einatmen. Ausatmen. Manchmal komme ich mir vor, wie in einem sehr schlecht inszenierten Komödienfilm. Oder die Truman Show, nur auf einer billigen Chinaschrott-Seite bestellt. „Doch, diesmal schon. Hör zu Holly, was auch immer los ist, ich muss es alleine schaffen, okay?”, versuche ich es mit einer anderen Taktik. Ihre Schultern sacken herab und sie hört mit dem gekünstelten Schmollen auf. „Na gut, wenn du es unbedingt willst...” Misstrauisch mustere ich sie, traue dem plötzlichen Einlenken kein bisschen, dafür kenne ich sie zu gut. Und dass sie nun das Thema wechselt, macht es nur verdächtiger. „Was ich eigentlich fragen wollte-” Aha! Da haben wir es. „-kannst du mich und zwei Freundinnen am Samstag von einer Party abholen? Bitte bitte?” „Party? Samstag? Diesen Samstag?”, frage ich perplex nach um ganz sicher Missverständnisse zu vermeiden. Eifriges Nicken ist meine Antwort und Holly strahlt, als hätte ich ihr bereits zugesagt. „Aber...” Mir fällt kein 'Aber' ein. Diesen Samstag habe ich weder Auftritt noch Probe, mein Stammclub hat geschlossen wegen Wasserschaden und soweit ich weiß, ist auch sonst nichts los. Alexis ist mit ihrem Macker unterwegs und kann so ohnehin keinen Holdienst schieben und unsere Eltern haben ihr und mir den Führerschein unter der Bedingung bezahlt, dass wir uns zum einen untereinander einig werden, wer den Zweitwagen wann fahren darf und zum anderen, dass wir uns um sämtliche nicht-schulischen Aktivitäten und deren Erreichen beziehungsweise Verlassen selber kümmern, inklusive der beiden Minderjährigen. Da die Vorteile eindeutig überwiegen, haben wir selbstverständlich zugestimmt. Wobei ich mich nicht erinnern kann, Nathan jemals abgeholt zu haben, der würde vermutlich lieber zwei Stunden auf seinem Longboard durch den Wald brausen als sich mit einem seiner Geschwister sehen zu lassen. Wenn wir denn hier einen Wald hätten. „Was für eine Party ist das denn?”, frage ich stattdessen. „Und wo?” „Jahrgangsparty. In der Vereinshalle Süd.” Vor meinem inneren Auge erscheint sofort ein Lageplan der Stadt. Die genannte Location ist tatsächlich etwas ungünstig gelegen, wenn man in unsere Richtung will, vor allem mitten in der Nacht. Oder zumindest soweit in der Nacht, wie man mit fünfzehn sein darf. „Na gut...”, stimme ich resigniert zu. Zum Ablehnen fehlen mir die Argumente und eine Jahrgangsparty zu verpassen – noch dazu die erste, an der es möglich sein sollte, zumindest an Bier zu gelangen, was aber nie jemand laut aussprechen würde – wäre für einen extrovertierten Kampfzwerg wie Holly ein mittelschwerer Weltuntergang, den sie mir die nächsten Monate täglich vorhalten würde. „Juhu! Du bist der Beste!” Besagter Zwerg hüpft an mir hoch, schlingt die Arme um mich und wirbelt anschließend davon, garantiert um ihren Freundinnen von dem Erfolg zu berichten. Meine Wenigkeit hingegen steckt die Hände in die Hosentaschen und macht sich relativ missmutig auf den Weg zum nächsten Unterricht. Selbst die Aussicht, Paul eine weitere Schulstunde lang anstarren zu können heitert mich nicht auf. Nicht nur, dass ich dann wieder diese bescheuerten Flatterviecher im Bauch spüre und mein Hirn sich mit rosa Zuckerwatte vollstopft, nein, ich habe dann auch ständig die Schmach vor Augen, dass ich mich nicht traue ihn einfach mal anzusprechen und seine Stimme hören zu können, was aber vermutlich die ersten Probleme noch mehr verstärken würde, was mir auch nicht passt. „Du... wirkst, als hättest du noch weniger Lust auf Geschichte, als ich.” Genau diese Stimme meine ich. Mein Kopf kann sie schon perfekt nachstellen. Nur das Thema finde ich unpassend... Moment mal?! Das kam nicht aus meinem Kopf! Erschrocken über mich selbst bleibe ich abrupt stehen, wodurch die tatsächliche Ursache der Stimme in mein Blickfeld gerät, noch bevor ich mich zur Seite drehen kann. Fragend legt sich der blonde Kopf schräg und ich versinke für eine Sekunde in den blauen Tiefen, bevor ich mir einen mentalen Arschtritt gebe. Zusammenreißen jetzt! „Äh ja. Also nein. Wirklich Lust hab ich nie.” Paul fängt an, ganz hinreißend zu lächeln und mich damit in die nächste Sinnkrise zu stürzen. Mein Herz bollert los, als wollte es sich demnächst als Schlagzeuger in unserer kleinen Band bewerben, sobald es meinen Brustkorb gesprengt hat. „Ich auch nicht. Und ich hab nichts zu lesen dabei...”, jammert er und ärgert sich sichtlich über sich selbst. Wir setzen unseren Weg fort, nebeneinander. Ich kann mich kaum auf den Flur konzentrieren und bin froh, dass mich ohnehin niemand übersehen kann, denn ich habe definitiv keine Augen für andere Menschen, die nicht rechtzeitig Platz machen. „Oh, hast du deine Comics vergessen?”, frage ich unüberlegt und zucke ertappt zusammen, als ich Pauls erstaunten Gesichtsausdruck bemerke. „Ähm... hab ich letztens zufällig gesehen. Mir war langweilig und da hab ich mal geguckt, wie andere den Frontalunterricht überleben und so.” Oh man, tolle Leistung, Joshua. Wirklich. Was Besseres fällt dir nicht ein, oder wie? Aber ihn scheint das nicht zu stören, denn er gluckst amüsiert und nickt. „Ja, 'überleben' trifft es ganz gut. Aber wenigstens darf man sich heimlich ablenken, solange man nicht stört.” Unwillkürlich muss ich an mein Geplapper mit Sophie denken und die daraus resultierenden Ermahnungen. Im Nicht-Stören bin ich nicht besonders gut, geht mir doch so ziemlich alles am Allerwertesten vorbei. „Äh... ja.” Wir schweigen den restlichen Weg bis zu unserem Raum, doch es ist kein unangenehmes Schweigen. So gerne ich etwas Geistreiches sagen oder vielleicht durch eine sarkastische Bemerkung noch ein Lachen aus Paul hervorholen würde, aber mir fällt partout nichts ein. Mein Hirn ist wie leergefegt. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als seine Gegenwart zu genießen und ihn immer wieder verstohlen aus dem Augenwinkel zu betrachten. Mein heimliches Anhimmeln wird beendet, als Sophie – nach kalter Luft und vor allem Rauch stinkend – zu uns stößt und mich ohne Rücksicht auf meine Begleitung beiseite zerrt, irgendwas über zwei andere aus unserer kleinen eingeschworenen Gruppe meckernd. Ein kurzer Blick zurück bestätigt mir, dass meine Chance vertan ist. Paul hat sich in eine andere Ecke verzogen und würdigt mich keines Blickes mehr. Scheißdreck.   ~*~   Der Samstag kommt, ohne dass ich noch einmal die Gelegenheit habe, mit Paul zu sprechen. Zumindest keine, die mir passend erschien. Nicht einmal vor mir selbst würde ich zugeben, dass ich mich um jede Chance drücke. Was doppelt peinlich wäre, da der Kleine mich bereits von sich aus angequatscht hatte und offensichtlich keine solchen Bedenken hat, wie ich. Aber er ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht verknallt. Leider. Ich seufze, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf meinen Schultern lasten und bekomme prompt ein Kleidungsstück an den Kopf geworfen, was sich zu allem Überfluss auch noch erdreistet, dort zu verweilen bis ich es entferne. „Joshi! Du sollst mir helfen und keine Löcher in die Luft starren!”, empört sich meine kleine Schwester und baut sich drohend vor ihrem Bett auf, welches ich als Sitzgelegenheit benutze. So drohend, wie ein kleiner Kampfzwerg eben sein kann. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie Paul wohl aussehen würde, wenn er sich so aufregen würde, Hände in die Seiten gestemmt, Wangen aufgepustet und die großen Welpenaugen zusammengekniffen. Oh Himmel hilf, ich würde es vermutlich nicht überstehen, ohne ihn anschließend in Grund und Boden knutschen zu dürfen und dann- Aaaah anderes Thema, sonst wird es hier gleich peinlich. Schwester. Samstag. Party. Helfen. Klamotten. Ja, das war's, da bin ich gerade. Ich mustere kurz das scheinbar disqualifizierte Oberteil in meiner Hand, dann die über jede verfügbare Oberfläche verteilten Kleidungsstücke überall im Raum, deren vorherrschende Farbe Schwarz ist, nur durchbrochen von hauptsächlich pinken Akzenten. Warum muss Alexis ausgerechnet heute mit ihrem Macker in der Weltgeschichte herumtingeln? Stylingberatung ist eindeutig die Aufgabe einer großen Schwester! Große Brüder sind zum grimmig Verehrer-Verscheuchen da und zum Beschützen und zum Trösten. Und als Kutschierdienst. Aber nicht für so einen Kram. Ein Glück, dass ich nicht noch mit Holly einkaufen gehen musste, irgendwo hat Geschwisterliebe auch ihre Grenzen. „Sorry, war kurz abgelenkt. Kannst weitermachen.” Auffordernd wedel ich mit der Hand in Richtung des halb entleerten Kleiderschranks, ohne einen blassen Schimmer, wie das Ganze hier noch enden soll. Holly schnaubt noch einmal, dann wendet sie sich wieder ihrer schier unlösbaren Aufgabe zu und zerrt ein weiteres Kleid aus dem Schrank, hält es sich vor und wirft es über die Schulter, ohne auf einen Kommentar meinerseits zu warten. Ich rappel mich derweil mal auf und durchsuche die aussortierten Dinge nach einer möglichen Alternative, die nur etwas gutes Zureden bedarf. Erfahrungsgemäß kommt man, je tiefer man sich in einen Schrank gräbt, irgendwann an einen Punkt, an dem es nur noch Sachen gibt, die man nicht grundlos in ebendiese Tiefen verbannt hat. Ein Kleid in die Höhe haltend, drehe ich mich zu meiner Schwester um. „Was ist hiermit?” „Zu lang. Und langweilig”, lautet das Urteil, was nur Sekundenbruchteile dauert. In meinen Augen ist das an ihr etwas mehr als knielange Kleid mit Schnürung am Rücken und unter dem Saum hervorlugenden Spitzenstoff zwar nicht langweilig, aber nun gut. Mit einer achtlosen Bewegung werfe ich es aufs Bett und forsche weiter. „Ha!” Triumphierend zerre ich ein weiteres Kleid unter einem Berg Wäsche hervor und betrachte es. Kürzer – aber nicht zu kurz –, schwarz mit pinken Ziernähten, was gut zu ihren augenkrebserregenden Strähnchen passt, der untere Teil in Falten geworfen, der obere glatt und der Ausschnitt züchtig genug geschnitten, dass ich nicht die ganze Nacht auf der Lauer liegen muss, um kleine Jungs daran zu erinnern, dass sie noch zu jung für alles ist, was über Händchenhalten hinausgeht. Dabei ignoriere ich geflissentlich, was ich in dem Alter bereits getan habe. „Hm...”, brummt Holly unentschlossen und blickt zweifelnd zwischen meinem Vorschlag und dem kläglichen Rest der noch nicht begutachteten Auswahl hin und her. „Vielleicht... mit einer dicken Strumpfhose...?” Nun, da das Ende meiner Tortur in greifbare Nähe rückt, kommt auch wieder mehr Begeisterung in mich. „Doch, das ist toll! Komm, probier es mal an, wie es jetzt mit deinen Haaren aussieht. Husch husch!” Ohne Widerworte abzuwarten, drücke ich ihr das Kleid in die Hand und schiebe sie mitsamt diesem aus dem Zimmer, quer durch den Flur ins Bad und ziehe schnell die Türe hinter ihr zu, bevor sie wieder hinauskommen kann. Sicherheitshalber halte ich die Türklinke zu und lehne mich nach hinten, damit es auch ja kein Entkommen gibt. Hinter mir geht eine Türe und ich bilde mir ein, ein gemurmeltes „Alles Bekloppte hier” zu hören. Ich muss leise lachen. Stimmt. Normal kann ja schließlich jeder.   Da ich ohnehin nichts besseres zu tun habe, fahre ich Holly – die tatsächlich das von mir ausgesuchte Kleid trägt – und ihre auf kleinen Umwegen eingesammelten Freundinnen zur Party hin. Auf der Rückbank zusammengequetscht, schnattern die drei Mädchen aufgeregt durcheinander und ich versuche nicht zu genau hinzuhören, wenn es um Jungs oder sonstige Weiberthemen geht. Ich kann nur den Kopf darüber schütteln, wie es Holly gelingt, trotz ihrer rebellischen Art und der offensichtlichen Weigerung sich dem Mainstream anzupassen dermaßen beliebt zu sein. Während ich mich bewusst am Rande der Gesellschaft aufhalte, steht sie am liebsten im Mittelpunkt. Wo ich mit Desinteresse und ehrlicherweise auch Arroganz aufwarte, punktet sie mit Empathie und Aufgeschlossenheit, ohne dabei jemals ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Verrückte Welt. Halb in Gedanken setze ich den Blinker und lenke unseren alten Van auf den Parkplatz vor der Vereinshalle, wo bereits ein Haufen halbstarker pseudocooler Jungs auf der einen und dutzende Grüppchen tuschelnder Mädchen auf der anderen Seite warten. Rein der Provokation willen, steige ich aus, richte mich zu meiner vollen Größe auf und nehme meine kleine Schwester demonstrativ in den Arm. 'Ja, guckt ihr nur. Wenn ihr an sie ranwollt, müsst ihr erst an mir vorbei!', denke ich mir und verstecke mein höhnisches Grinsen besser vor Holly, bevor die mir einen Rüffel erteilt, der meiner Autorität schaden könnte. Wäre ja noch schöner, wo ich mir extra die Stiefel mit den breiten Metallschnallen und meinen langen Mantel angezogen habe, um auch ja abschreckend zu wirken. „Du rufst an, sobald du weißt wann ich dich holen soll, okay? Spätestens elf!”, erinnere ich sie streng. „Ja ja”, winkt Holly ab und strahlt mich an. „Bis später, großer Bruder.” Damit dreht sie sich um und leitet ihre Begleiterinnen – die mir auch noch kurz einen teils bewundernden, teils eingeschüchterten Blick zuwerfen – zu der größten Traube weiblicher Partygäste. Ich spare mir weiteres, mahnendes Gehabe und steige wieder ein, fahre zurück auf die Straße und hänge ein bisschen meinen Gedanken nach. Als ich an einer Ampel halte, fällt mein Blick auf einen kleinen, recht bunten Laden an der Ecke. Ein Comicladen. Huch, sowas gibt es noch? Sofort überkommt mich der Gedanke an Paul und ich muss die irrsinnige Idee niederkämpfen, abzubiegen, zu parken und mir das Geschäft von innen anzusehen. Als könnte mich so etwas meinem Ziel näherbringen. Dämlich. Das einzige Ergebnis wäre, dass ich mich lächerlich mache. Aber tue ich das nicht ohnehin schon? Ein wütendes Hupen hinter mir macht mich auf die grüne Ampel aufmerksam und rettet mich vor weiteren Selbstzweifeln.   ~*~   Das Wetter an diesem Tag ist ziemlich eklig, mit Wind und Nieselregen, was die Nikotinsüchtigen aus meinem schulischen Bekanntenkreis aber nicht davon abhält, ihrem Drang nachgeben zu wollen. Unschlüssig stehe ich in der Pausenhalle, betrachte die bedrohlich geringe Akkuanzeige meines Handys, die mich davor warnt, jetzt Musik zu hören, sofern ich es nicht vorzeitig in die Ohnmacht schicken will. Mist. Mir ist über Nacht das Kabel aus der Buchse gerutscht und ich habe es zu spät gemerkt, um es noch vor der Schule aufladen zu können. Und jetzt hänge ich hier, mit der Wahl zwischen Langeweile, Schulkram und der Option mich mit meinen Mitschülern zu beschäftigen. Oder alternativ nach draußen zu den Rauchern zu gehen. Pfui bah. Leise murrend schweift mein Blick durch den Raum, bis ich ganz in meiner Nähe eine bestimmte Person entdecke. Wie ein heilsbringender Sonnenstrahl erscheint mir der blonde Haarschopf inmitten des trostlosen Dezembertages. Kurzentschlossen kratze ich alles zusammen, was von meiner üblichen Selbstsicherheit übriggeblieben ist und marschiere zu Paul, der tief in Gedanken versunken aus einem der Fenster starrt, einen Schreibblock fest in den Armen. „Hi”, begrüße ich ihn ein wenig atemlos und zwinge meine Mundwinkel in ein Lächeln. Der Andere fährt erschrocken zusammen, so wie ich es vor kurzem getan habe, und blinzelt dann irritiert zu mir auf, als müsse er sich erst wieder in der Realität zurechtfinden. „Oh. Äh. Hi”, stottert er, leicht überfordert wie mir scheint. „Sorry, wollte dich nicht erschrecken”, versichere ich ihm und hebe besänftigend die Hände. „Ach, schon gut.” Nun legt sich auch auf seine Lippen ein seichtes Lächeln und ich muss schlucken. Weiß er eigentlich, wie küssenswert er gerade aussieht? Auch wenn nach wie vor ein dunkler Schatten über ihm zu hängen scheint. Anders kann ich es nicht beschreiben, aber ich habe das Gefühl, er strahlt nicht so von innen heraus, wie er es sonst tut. Doch ehe ich mich erkundigen kann, ob alles okay ist, redet er schon weiter. „Ich muss ja hier nicht lebende Statue spielen, dann passiert so was auch nicht.” 'Meinetwegen darfst du jederzeit Statue spielen, solange ich dabei bin und dich anstarren und dabei sabbern darf.' Laut sage ich: „Macht doch nichts. Schließlich müsste ich dich ja auch nicht einfach so anquatschen.” Nanu, täusche ich mich, oder wird er ein ganz kleines bisschen rot? Selbst wenn es nur Einbildung war, meine neuen Begleiter nutzen diese Gelegenheit erneut einen Aufruhr in meiner Magengegend zu veranstalten. Bah, ist das nervig! „Ich... freu mich aber. Also, das du mit mir sprichst”, nuschelt Paul seinen Schuhspitzen entgegen, die plötzlich viel interessanter sind, als ich. Noch ein Grund mehr für meinen Körper, in inneren Aufruhr zu geraten. „Magst du... vielleicht mitkommen?” Schüchtern hebt er den Kopf und deutet mit einem Finger zu der Bank, die er für gewöhnlich mit seinen Freunden belegt, von denen aktuell jede Spur fehlt. „Klar, gerne”, spricht mein Mund, ohne vorher den bewussten Teil meines Hirns um Erlaubnis zu fragen. „Meine Truppe ist so bekloppt bei dem Wetter trotzdem noch rauchen zu müssen”, hänge ich als Erklärung hintendran. Nur für den Fall, dass er sich fragt, warum ich ihm plötzlich nachstelle. „Du rauchst aber nicht?”, fragt der Kleinere mit einem merkwürdigen Unterton nach. „Nein, überhaupt nicht!”, wehre ich sofort ab. Zumindest keine Zigaretten. Dass ich mir schon ein paar Mal vielleicht eventuell einen Joint etwas näher angeguckt habe, werde ich ihm besser nicht erzählen, so erleichtert wie er nun auf meine Beteuerung reagiert. „Das ist gut. Sucht jeder Art macht einen Menschen kaputt.” Schon wieder huscht ein Schatten über sein Gesicht, ehe er sich abwendet und zu 'seiner' Sitzgelegenheit geht, den Rucksack nur über eine Schulter gehängt. Ich folge ihm eilig, in Gedanken noch bei dem kurzen Stimmungsumschwung hängend. „Ach, Matz, Kathi und Charly schreiben gerade noch eine Klausur, deshalb bin ich auch alleine”, fügt er als verspätete Erklärung hinzu, warum auch er ohne Anhang hier herumsteht. „Klausur? Die Pause durch? Wie mies.” Meine Nase zieht sich kraus beim Gedanken, an solche Schandtaten. Paul kichert leise. „Ja, oder? Da hat man gar keine Lust in den Abschlussjahrgang zu kommen. Und dann die richtigen Abiprüfungen im Frühjahr!” Stöhnend lässt er sich auf das Holz plumpsen und klopft auffordernd neben sich. Ich tu ihm den Gefallen, allein schon, weil ich nicht will, dass er sich wegen mir einen Nackenkrampf holt. „Die drei sind also schon in der Dreizehnten?”, frage ich neugierig nach, obwohl ich die Antwort ja bereits kenne. Er nickt bestätigend. „Und wie kommt's, dass ihr zusammen abhängt?” Schulterzucken. „Hab ihnen mal gezeigt, wie man das Sicherheitssystem an den Rechnern hier austrickst, nachdem ich das Programm geknackt hatte. Und irgendwie haben wir uns danach gut verstanden.” Das sagt er einfach so, als wäre nichts dabei. Mir bleibt nur, ihn bewundernd anzustarren. „Du bist der Typ, der das fertiggebracht hat?” Schon wieder ziert eine leichte Röte seine Wangen und vor allem den sichtbaren Teil seiner Ohren, diesmal sehe ich es ganz genau. „Vielleicht?” „Aber... fuck, ich dachte immer das wäre so ne Schullegende und irgendein Depp hätte das wer weiß wo runtergeladen oder so.” „Ist doch nichts dabei. Nicht, wenn man sich ein bisschen auskennt. Und die Technik von vorvorgestern ist.” Den letzten Teil grummelt er, ihn scheint dieser Umstand wirklich zu stören. Ich kann immer noch nur perplex auf das Wesen neben mir starren, dass mir immer mehr Rätsel aufgibt. Nun ist er auch noch der mysteriöse Kerl, dank dem man an den meisten Rechnern inzwischen heimlich auf eigentlich gesperrte Webseiten kommt und die schuleigenen Computer auch zu was anderem als sinnlosem Wikipedia-Kopieren nutzen kann. Aber er hat recht, selbst ich weiß, dass die Computer alt sind und kaum für was anderes taugen. Aber dennoch... „Du erzählst es aber nicht weiter, oder?” Nun klingt er plötzlich wieder verunsichert. Energisch bewege ich meinen Kopf verneinend hin und her. „Auf keinen Fall! Wäre doch ganz schön blöd von mir, unseren ganz eigenen Robin Hood ans Messer zu liefern.” „Robin Hood?”, fragt er ungläubig aber hoch amüsiert nach. „Wie kommst du denn auf den Vergleich?” „Na, die Lehrer stehlen uns Zeit und das Recht auf freies Internet und du eroberst uns ein Stück zurück und verteilst es heimlich unter uns armen, gequälten Seelen.” Über meine todernst hervorgebrachte, dezent übertriebene Veranschaulichung müssen wir beide wieder lachen. Warum habe ich mich eigentlich so lange davor gedrückt, mit ihm zu reden? Auf einmal geht es so leicht und Pauls fröhliche Art macht es wirklich einfach, die Anspannung aus meinen Muskeln zu vertreiben. Obwohl wir doch eigentlich kaum etwas gemeinsam haben. Aber zum ersten Mal bin ich wirklich neugierig auf einen Menschen, der fernab meiner eigenen Filterblase existiert. Und naja, ein paar gemeinsame Themen haben wir durchaus, auch wenn sie solch unerfreuliche Dinge wie Schule betreffen. Aber sogar darüber rede ich gerne, sofern es mit einem engelsgleichen Blondschopf ist, wie ich in der restlichen Pausenzeit feststelle.     Pauls POV   Mit einem Winken, was kaum mehr als ein Heben meiner rechten Hand ist, verabschiede ich mich von dem durchaus imposanten jungen Mann, der mich die letzte Viertelstunde unerwartet aber alles andere als unwillkommen beansprucht hat. Das Lächeln ist immer noch wie festgetackert, dabei ist längst niemand mehr in der Nähe, der sich für mich interessieren könnte. 'Aber Joshua tut es', geistert mir eine leise Stimme durch den Kopf. Ja, das tut er wohl, warum auch immer. Es hat tatsächlich Spaß gemacht, sich mit ihm zu unterhalten. Und das nach so einem Tag, oder vielmehr so einer Nacht, angefangen beim letzten Abend... Ich stoße die Erinnerungen von mir, ehe sie sich manifestieren können. Nein, dafür ist hier und jetzt kein Platz! Und ich bin Joshua wirklich dankbar, dass er mich eben aus meiner melancholischen Stimmung gerissen hat. Natürlich weiß er davon nichts, aber dennoch kam er zur rechten Zeit. Schon wieder. Meine Gedankenwelt hellt sich wieder ein wenig auf, als ich mir den stets dunkel gekleideten Schulkameraden vor Augen rufe. Ich glaube, er ist in Wirklichkeit ein sehr netter Kerl. Warum er allen anderen gegenüber wohl immer einen auf brummig und abweisend macht? Ich gebe mir immerhin große Mühe, unsichtbar zu bleiben, aber seine Art schreit geradezu 'Schaut mich an! Und jetzt haut ab!' Ein krasser Gegensatz. Er will förmlich ausgegrenzt werden, aber ganz bewusst, jeder soll wissen, dass er keiner von ihnen ist und sein will. So verrät es mir mein Bauchgefühl und das ist auf Stimmungen und Einstellungen geeicht, seien sie noch so subtil. Und obwohl auch ich möglichst niemanden an mich heranlassen will, erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich über das Rätsel nachdenke, was er mir stellt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)