Gegensatz und Vorurteil von Ana1993 (- Ehemals Schubladenmagnet -) ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Mein YouTube-Algorithmus kriegt bald Burnout... für hier die Story höre ich hauptsächlich Metal und Rock, für HidSec Elektro/EDM und Charts, für andere Projekte Film- und Spielmusik. Ach und ich bin ganz fasziniert von Metalcovern klassischer Musikstücke! FunFact: Ich kann keine Musik mit deutschen Texten hören, weil mich das ablenken würde. Ebenso Rap/HipHop.     ~ 3 ~   Pauls POV   Die für mich letzte Schulglocke des Tages erklingt und lässt um mich herum reges Treiben ausbrechen. Unsere Lehrerin hat den Unterricht gerade rechtzeitig abgeschlossen und kommt so um die elendige Diskussion herum, wer angeblich die Stunde beendet. Ich habe es nicht besonders eilig und lasse mir entsprechend etwas mehr Zeit mit dem Packen. Doch auch das ist irgendwann geschafft und es bleibt mir nicht viel mehr übrig, als den letzten Nachzüglern aus dem Raum zu folgen. „... nicht, wegen dem Auftritt morgen”, höre ich eine bekannte, männliche Stimme vor mir. Neugierig hebe ich den Blick und sehe einen breiten, sehr hoch angebrachten Rücken. „Oh, ihr tretet sogar auf? Wie spannend!”, kichert da eine eindeutig weibliche, zweite Stimme. Eine andere fällt noch mit ein. Mein armer Retter von vor einigen Wochen wird von einer kleinen Traube Mädchen umschwärmt, sieht dabei allerdings nicht besonders glücklich aus. „Ähm... ja. Wird euch aber bestimmt nicht gefallen. Metal und so, ihr versteht?” Begleitet werden seine Worte von schon fast als wegscheuchend zu interpretierenden Handbewegungen. Ich würde mich ja wirklich gerne verkrümeln, aber leider steht mir die Gruppe im Weg. Und vielleicht eventuell bin ich ja auch ein kleines bisschen neugierig. Ein paar Mal habe ich Josh mit einem Instrumentenkoffer gesehen, dass er aber tatsächlich in einer Band spielt und sogar auftritt, ist auch mir neu. Das Genre hingegen wundert mich wenig. „Ach, mein Vater hört auch nur so Musik, das passt schon. Ihr seid live bestimmt super! Nicht wahr, Julia?”, wendet sich die eine Mitschülerin an ihre deutlich schüchterner dreinblickende Freundin. Eine zarte Röte macht sich auf ihren Wangen breit. Sie sieht hübsch aus, wie sie durch ihre langen Wimpern hindurch nach oben schaut. „Schon. Leider hab ich morgen keine Zeit...”, nuschelt sie und klingt ernsthaft geknickt. Josh atmet auf und kassiert dafür einen sehr tadelnden Blick von seiner Freundin mit den dunkelroten Haaren. Sophie? Sophia? „Ist hoffentlich nicht unser letzter Gig, da findet sich bestimmt ein anderer Termin”, sagt sie im lockeren Ton zu den anderen Mädchen. Ich würde einerseits gerne noch weiter ein bisschen lauschen, andererseits finde ich mein Verhalten selbst ein wenig unhöflich. Zögerlich räuspere ich mich und setze ein entschuldigendes Lächeln auf. Als sich die allgemeine Aufmerksamkeit in meine Richtung wendet, mache ich eine vage Geste den Flur entlang. „Sorry, ich müsste mal vorbei.” Eigentlich ist es an alle gerichtet, doch mein Blick wird von dem verdutzten Schwarzhaarigen genau vor mir eingefangen. „Paul? Oh sorry, war keine Absicht! Sag doch was.” Schnell macht er einen Schritt zur Seite und wirft dabei fast seine Freundin um. „Hab ich doch”, erwidere ich schmunzelnd. Dass ich mit Absicht gelauscht habe, gebe ich lieber nicht zu. „Ähm... schönes Wochenende zusammen! Viel Erfolg euch.” Mit diesen letzten Worten husche ich den Gang lang und die Treppe zum Fahrradkeller hinab, unsicher, wem ich jetzt für was genau Erfolg gewünscht habe. Ach, soll sich doch jeder angesprochen fühlen. Mein treuer Zweirad wartet brav an seinem Platz und das Schloss lässt sich auch gnädigerweise schnell öffnen. Hat wohl auch keine Lust mehr, länger als nötig im Schulgebäude zu bleiben. Ich schiebe mein Gefährt durch die schwere Kellertür und anschließend bis zur Grenze des hinteren Schultors und steige dort erst auf. Unser Hausmeister kriegt immer Tobsuchtanfälle, wenn Schüler Zeit sparen wollen und sich noch auf der Anlage auf ihr Rad setzen. Komische Vorschriften, garantiert irgendwas mit Versicherungen. Auf der Straße stellt sich diese Problematik zum Glück nicht. Hier muss ich mich nur mit Fußgängern auf meiner Seite des Fuß- und Radweges rumärgern und Autos ausweichen, die sich auf den Fahrradstreifen verirren. Am angenehmsten sind die Nebenstraßen, allerdings habe ich seit dem Vorfall letztens ein dummes Bauchgefühl, sobald ich zu tief in das Geflecht aus Gassen abtauche. Heute kann mein Mitschüler eindeutig nicht rechtzeitig zu meiner Rettung erscheinen. Doch zumindest für den Moment muss er das auch nicht, denn mein Ziel kommt in Sicht. Der Parkplatz des Supermarkts ist brechend voll und ich arbeite mich vorsichtig bis zum Eingang vor, neben dem ich mein Rad erneut parken darf. Falls ich es bis dahin schaffe, denn selbst wenn ich absteige und schiebe, scheinen mich einige gestresste Autofahrer nicht wahrnehmen zu wollen. Würde es wirklich so viel mehr Zeit kosten, erst zu gucken und dann aus der Parklücke zu setzen? Kopfschüttelnd betrete ich – vorerst unfallfrei – den ebenso überfüllten Laden. Das Geld für den Einkauf habe ich mir schon heute morgen aus der Haushaltskasse genommen, mein Limit ist lediglich die Kapazität meiner Taschen und Körbe. Dumm, wenn im Grunde mal wieder alles fehlt. Vielleicht hole ich jetzt nur das Nötigste und probiere meinen Vater zu überreden, morgen mit mir im Auto erneut zu kommen? Ich seufze lautlos. Oder ich nehme morgen den alten Fahrradanhänger mit, in dem ich früher mal zeitweise die Zeitung ausgetragen habe, der ist schön geräumig. Eine Flasche Milch brauche ich fürs Frühstück. Ebenso Brot und Frischkäse. Oder doch Marmelade? Nudeln sind auch leer. Kartoffeln müssen warten, die sind nicht nur zu schwer, sondern würden mir auch den Rucksack versauen. Olivenöl... wo war noch mal das Öl? Ich blicke mich ratlos um, nur quer durch den Laden bis zum Anfang zurück zu laufen. Ach ja, hier steht es ja. Margarine steht komischerweise nicht bei dem Öl. Hm. Egal, komm ich schon noch hin. Auf dem Weg zum Gemüse fallen komischerweise noch eine Tafel Schokolade und Kekse in den Wagen. Schnell verdecke ich sie vor meinem schlechten Gewissen mit Salat, Tomaten und Paprika. Letztere sind im Angebot und ich mache mich sogleich auf die Suche nach Reis und passierten Tomaten, um heute Abend gefüllte Schoten in der fleischlosen Variante machen zu können. Für den Reis muss ich immerhin nur bis zu den Nudeln zurück laufen. Jetzt fehlt mir noch Käse und Feta, beides ist eine Etappe weiter Richtung Kasse. Nach kurzem Überlegen wandert zur Feier des Tages noch eine Flasche Cola in meinen Korb. So viel Platz habe ich noch in meinen Taschen. Den Rest hole ich dann morgen in aller Ruhe, wenn nicht hunderte Verrückte durch die Gänge hetzen, als gäbe es nach dem Wochenende nichts mehr. Entweder das, oder sie wollen schnell nach Hause zu ihren Liebsten. Erneut seufze ich.   Als ich in unsere Einfahrt einbiege, fällt mir sofort unser älteres Auto ins Auge, welches vor der Garage steht. Hoffnung keimt in mir auf, ein äußerst unerwünschtes Gefühl, was sogleich von Skepsis verdrängt wird. Mit ebendieser öffne ich die Haustüre und trete ein. „Hallo? Papa, bist du schon da?”, rufe ich in den dunklen Flur, der nur von der Küche aus beleuchtet wird. Ich trage meine Einkäufe in diese Richtung und tatsächlich, am Tisch sitzt er. Müde blicken mich seine braunen Augen an, die allgegenwärtigen Augenringe lassen ihn älter wirken, als er ist. Seine Mundwinkel heben sich ein wenig, als er mich sieht. „Hallo, mein Junge. Du bist ja auch schon da.” „Ich- Ja”, meine ich nur, schlucke meine ursprüngliche Antwort hinunter. „Magst du mit mir essen? Ich mach gefüllte Paprika.” Doch er schüttelt den Kopf und erhebt sich vom Stuhl. „Mach dir wegen deinem alten Herrn keine Umstände. Du weißt doch, ich esse in der Kantine.” Auf dem Weg in den Flur verharren seine Schritte kurz neben mir und ich spüre, wie er mir durch die Haare wuschelt, als wäre ich sieben und nicht siebzehn. „Du bist ein guter Junge, Paul”, flüstert er, endgültig aus der Küche tretend. Mühsam schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter. Warum trifft es mich jedes Mal aufs Neue? Es ist doch nur ein Abendessen. Andere in meinem Alter wären froh, wenn sie ihre Ruhe hätten. Schnell verteile ich die Einkäufe an ihre Plätze. Ein verstohlener Blick in Richtung Pfandflaschensammlung lässt mich immerhin ein wenig aufatmen. Nur Wasserflaschen und Softdrinks. Die Dosen sind mal mit Energydrinks gefüllt gewesen und stammen von mir. Ich hole mein Headset von der Ladestation und beginne – zum Soundtrack eines japanischen Rollenspielklassikers – mit meiner Kochsession, dankbar, dass meine Gedanken schnell in fiktive Welten abdriften.   ~*~   Am nächsten Morgen stehe ich schon früh auf. Viel zu früh, für viele meiner Klassenkameraden und meine Kumpels, aber gerade richtig für mich. Aus dem oberen Stockwerk höre ich nur Stille und ich fürchte, dass es vorerst auch so bleiben wird. Ich setze heißes Wasser auf für meinen Kaffee und verquirle zeitgleich die zwei letzten Eier, die ich im Kühlschrank finden konnte. Filterbeutel in den Trichter, Trichter auf die Tasse. Pulver in den Filter und das kochende Wasser drüber. Schritte, die ich notfalls im Schlaf beherrsche, was auch gut so ist, denn eine Abweichung würde unnötige Sauerei bedeuten. Die zischende Pfanne hinter mir macht mich darauf aufmerksam, dass das Öl heiß genug ist. Eier in die Pfanne, Toast in den Toaster. Mit dem Pfannenwender um die Eier kümmern, nachwürzen, weil schon wieder vergessen. Das 'Klack' der Brotröstmaschine kommt zeitgleich mit dem sieben Uhr-Glockenschlag der örtlichen Kirche. Noch Milch und Zucker in den Kaffee und fertig ist mein Frühstück. Ich ziehe meine Kopfhörer auf, sperre die erdrückende Stille aus und summe leise die Melodie mit. Eine ruhige, melancholische Melodie. Eine, die ich mir nur am Wochenende erlaube, so früh, dass mich niemand sieht, niemand mitbekommen kann, wie es in mir aussieht. So früh, dass auch mein Vater noch nicht wach sein kann, sollte er sein Zimmer doch einmal überraschend verlassen. Ich will nicht, dass er mich so sieht. Sich womöglich noch Vorwürfe macht. Es ist nicht seine Schuld. Er ist auch nur ein Opfer der Umstände und bemüht sich. Und mehr können wir nicht tun. Uns bemühen. Jeden Tag wieder. Einen Schritt vor den anderen, immer weiter durch den Morast, und hoffen, dass uns am Ende vom Sumpf kein grundloser Ozean sondern endlich wieder fester Grund erwartet. Nachdem ich fertig gegessen habe und die Küche wieder sauber ist, gehe ich langsam in mein Zimmer zurück. Atme einmal tief durch. Streife mir die Schlafkleidung ab und ziehe Alltagskleidung an. Mit dem Wechsel des Stoffes auf meiner Haut kommt auch ein Wechsel meiner Stimmung. Mein melancholischer Teil hatte lange genug Auslauf, jetzt wird es Zeit für die produktive Seite. Es sind keine Masken. Masken tragen Menschen, die sich verstellen. Ich sehe es mehr als die Seiten eines Würfels. Sie sind alle da, je nachdem, wie der Würfel fällt, mal mehr, mal weniger und manchmal eben auch gar nicht sichtbar. Klar getrennt durch Kanten und doch Part ein und desselben Objekts. Der Vorteil an der frühen Uhrzeit ist, dass die meisten Menschen noch schlafen oder zumindest in ihrem Haus bleiben. Obwohl ich mit Anhänger deutlich sperriger bin, fährt mich heute niemand beinahe zu Brei. Auch der Parkplatz des Supermarktes liegt nahezu leer vor mir, obwohl er schon längst geöffnet hat. Mein Budget sieht gut aus, obwohl noch kein neues Geld für die kommende Woche hinzugefügt wurde, also lasse ich es mir ausnahmsweise gut gehen und kaufe, worauf ich Lust habe. Viel Obst und Gemüse, wie Orangen und Kohl, Nüsse. Käse aus der Frischetheke, deren Bedienung sich nett mit mir unterhält. Zutaten für Plätzchen. Summend folge ich meinen eigenen, wirren Pfaden durch den Laden, die jeden Sicherheitsmann in den Wahnsinn treiben würden. Aber was kann ich dafür, dass mein Kopf anders arbeitet, als die Regale angeordnet sind? Apropos, was fehlt noch? Ach ja, die Kartoffeln. Wo waren die noch gleich? Hier beim Honig wohl eher nicht. Ich werfe im Gehen einen Blick auf meine Uhr. Es bleibt noch genug Zeit um ein bisschen im Haushalt zu tun, bevor ich kochen will. Um drei bin ich online verabredet und ab dann sind Unterbrechungen ungünstig. Perfekt. Ab dann bin ich bis Sonntag morgen in virtuellen oder geträumten Hemisphären und das ganz ohne schlechtes Gewissen.     Joshuas POV   Mit einer Mischung aus Seufzen und Stöhnen lasse ich meinen erschöpften Körper auf einen Barhocker fallen. Während ich meinen Bass in den Händen halte, merke ich nie, wie anstrengend Musik machen eigentlich ist, erst recht nicht, wenn man durch das Publikum aufgepeitscht wird. Die Erschöpfung kommt erst, sobald das Adrenalin weg und das Hirn wieder in der Realität angekommen ist. Zufrieden grinsend nehme ich die Bierflasche entgegen, lehne mich zurück an die Theke und nicke brav, als sich einige Gäste mit positivem Feedback an meine Kollegen und mich wenden, doch in Gedanken bin ich längst weit weg. Zum Glück ist niemand aus meiner Schule aufgetaucht, der nicht ins Ambiente passt. Schlimm genug, dass sich Sophie geistig mit der BFF von Fräulein Ich-mach-dir-auffällig-unauffällig-hübsche-Augen verschworen und mich Freitag aufgehalten und gemeinsam mit den Tussis ausgequetscht hat, aber noch schlimmer wäre es gewesen, wenn ich mich jetzt pflichtschuldig um diese verirrten Seelen hätte kümmern müssen. Wenn überhaupt, würde ich mich nur um kleine, blonde Jungs kümmern... Schnell vertreibe ich diesen Gedanken durch einen tiefen Zug aus meiner Flasche. Wie das funktioniert? Ganz einfach, man muss sich nur blöd genug verschlucken. Puff! Alle anderen Dinge im Kopf sind verschwunden. Zauberei. Während ich also versuche, nicht zu ersticken, tritt eine andere Person an mich heran und knallt mir beherzt die Pranke auf den Rücken, sodass ich nicht nur mit der Luft, sondern auch mit meiner Balance auf dem wackeligen Barhocker zu kämpfen habe. „Fuck... Olli... pass doch auf”, huste ich mit Mühe. „Yo, immer wieder gerne”, grinst der Depp mich an. „Du weißt schon, dass die Plörre in die andere Röhre gehört, oder Kindchen?” Ich ziehe eine Grimasse, die man hoffentlich als Zähnefletschen deuten könnte. Hat der ein Glück, dass ich meinem Sprachorgan noch nicht wieder traue. „Ich mein ja nur. Wäre schade drum”, meint er schulterzuckend und genehmigt sich selbst einen Schluck Hopfen-Malz-Gebräu, elegant ohne Verschlucken oder sonstige Unfälle, leider. „Um das Bier. Und um unseren Bassisten. Ihr seid schwer zu finden.” Mein geschnaubtes Lachen tarnt sich gut zwischen zwei letzten Hustern. „Arsch.” Trotzdem stoße ich mit ihm auf den gelungenen Auftritt an und mit einem vernehmlichen 'Klonk' treffen die Glasflaschen aufeinander. „Und, noch Pläne für heute Abend?”, fragt er mich nach einer Weile. „Außer trocken werden?” Vielsagend ziehe ich an meinem verschwitzten Shirt, als der Lockenkopf dreckig zu lachen beginnt. „Solange du das gleiche Ziel nicht bei den Mädels hast...”, grinst er zweideutig. „Zieh es aus, dann bist du gleich zwei Zielen einen Schritt näher.” Ich winke ab. „Kein Bock.” „Nicht? Nur nicht auf Weiber oder...?” „Auf gar niemanden.” Seine fragend hochgezogene Braue ignoriere ich gekonnt. Ich weiß selbst, dass ich gerade heute genug Auswahl hätte, denn kaum hat man ein Instrument in der Hand, kommen sie an, wie die Motten zum Licht, bereit, sich für ein bisschen einmaligen Spaß am Feuer zu verbrennen. Und normalerweise bin ich auch nicht abgeneigt, das auszunutzen. Hey, ich bin jung und hormongeladen. Und solange sich beide Parteien einig sind und man gewisse Vorkehrungen trifft, ist das auch alles cool. Aber heute nervt es mich, diese Erwartungshaltung aller um mich herum. Und es nervt mich, dass ich nicht einmal weiß, warum es mich plötzlich nervt. Geht mir doch sonst am Hinterteil vorbei. Ich kippe den letzten Schluck hinunter und erhebe mich. „Bin mal wohin.” Ohne eine Antwort abzuwarten zwänge ich mich durch die Meute Richtung WC. Wirklich müssen tu ich nicht, die Flüssigkeit hat auf anderem Wege meinen Körper verlassen, aber hier ist es etwas abgeschotteter und ich kann versuchen, meine plötzliche schlechte Laune mit kaltem Wasser aus meinem Gesicht zu wischen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich natürlich, warum mich aktuell niemand beeindrucken kann. Zumindest sofern er nicht männlich, ein bisschen kleiner als ich und blond ist. Und einen Namen mit vier Buchstaben hat. Shit. Dieser ganze Liebeskram ist so eine Grütze. Und je länger ich damit infiziert bin, umso weniger verstehe ich, wie Menschen diesen Zustand toll finden können. Zwei Wochen. Seit zwei Wochen (also eigentlich zwei Komma fünf) versuche ich nun schon, damit klar zu kommen. Toll ist anders. Überall in der Schule sehe ich plötzlich kleine blonde Engelchen, mein Hirn ist zu nichts mehr zu gebrauchen und meinen letzten Traum erzähle ich besser keinem, sonst werde ich noch zwangskastriert. Und das Schlimmste ist ja auch noch, dass kein Ende in Sicht ist, denn meines Wissens nach vergeht dieser Zustand nicht einfach so wieder von heute auf morgen und die Alternative scheint nicht zu existieren- Ein Räuspern hinter mir holt mich sehr unhöflich aus meinen Gedanken. „So schlimm, dass du dich ertränken musst, können deine Probleme nicht sein, Schwagerlein.” „Du hast ja keine Ahnung...”, knurre ich, den Mann hinter mir im Spiegel böse anfunkelnd. Ohne mir die Mühe zu machen, mich umzudrehen. Praktische Sache, so ein Spiegel. „Außerdem 'Schwager in Spe'. Wenn überhaupt.” „Okay, ich nehm's zurück. Ertränk dich bitte und nimm deine miese Laune mit.” Gegen meinen Willen muss ich auflachen. Die Hohlfritte kann also doch kontern, muss mein guter Einfluss sein. „Was willst du, Martin? Oder warte, lass mich raten: Alexis schickt dich.” Große Schwestern sind die Pest. Kleine auch, aber die sind ab und an wenigstens noch ganz putzig. „Auch. Aber mal ehrlich, deine miese Laune merkt doch jeder Blinde quer durch den Raum. Was ist los? Bei den Proben warst du schon komisch, aber das hier toppt doch alles. Der Auftritt ist doch super gelaufen?” „Hat nichts mit euch zu tun”, wiegle ich mürrisch ab. Hat es ja auch nicht. Nicht komplett. „Sophie nervt mich nur mit so einer Ische aus der Schule.” Die halbe Wahrheit, immerhin. „Wie kommt sie denn auf die Idee?”, fragt das Anhängsel besagter großer Schwester ernsthaft verwundert. „Na, wenn ich das wüsste...”, seufze ich resigniert. Wüsste ich echt gerne. Wer die Ursache kennt, kann auch die Symptome dauerhaft abstellen. Sophies Launen sind unergründlich, vielleicht findet sie es einfach nur lustig, mich in die Bredouille zu bringen? „Und sonst ist da nichts?” „Nein.” „Sicher?” „Ja.” „Du weißt, dass das Ding da in deiner Visage nicht nur zum Beleidigen und Rummaulen da ist, sondern auch um so Dinge zu tun wie... mit Leuten zu reden?” „Martin, verpiss dich.” Ein sehr anschauliches Beispiel für meine Fähigkeit, zu kommunizieren. „Genau das meine ich. Da ist doch noch mehr, was du nicht sagst. Aber schön, dann spiel halt weiter den großen, bösen Wolf. Aber pass auf, dass du dein Rotkäppchen nicht aus Versehen frisst.” Mit diesen, nicht wirklich Sinn ergebenden Worten geht er auch endlich. Ist es nicht das Ziel des Wolfs, Rotkäppchen zu fressen? 'Und dann verschling ich dich mit Haut und Haar' oder so ähnlich, sagt er doch zu dem blonden Ding. Blond... hm... ich würde meinen Blondschopf gerne auf andere Art und Weise verschlingen. Wenn ich nur wüsste wie. Meine Schultern sinken mutlos hinab. Mein Spiegelbild schaut ratlos zurück. Shit. Martin hat recht, so ungerne ich es zugebe. Ich muss wirklich mal mit jemandem reden. Nur mit wem? Der Trottel fällt selbstverständlich raus, ebenso Sophie. Alexis auch. Olli? Nein, der hatte bislang noch weniger Beziehungen, als ich. Meine anderen lockeren Freunde und besseren Bekanntschaften im Kopf durchgehend, trete ich endlich zurück in den Barbereich. Ich sollte versuchen, den Abend zu genießen und mir nicht ständig selbst die Laune vermiesen...   ~*~   Inzwischen ist schon wieder eine Woche vergangen, in der ich meinen persönlichen Engel nur von weitem anschmachten konnte und ich mich durch diverse Mittelchen gekämpft habe, um die blöden Raupen in meinem Bauch zu killen. Bislang ohne Erfolg. „Joshiiiiii?”, quiekt es fast von der Tür her und ich nehme, in böser Erwartung, meine Kopfhörer runter und wende mich langsam meinem Zimmereingang zu. Dort steht er. Ein böser Dämon, der sich von meiner Lebensenergie ernährt und gleichzeitig zu liebreizend ist, um ihm böse zu sein. Das blonde Etwas streckt mir eine Packung Haarfärbemittel entgegen, das verdächtig- „PINK!?”, rufe ich entsetzt und weiche so weit wie möglich vor diesem Ungeheuer zurück. „Holly! Bist du verrückt geworden?” Meine kleine Schwester zieht einen süßen Schmollmund, der schon mehr als einmal Grund dafür war, dass ich die große-Bruder-Beschützer-Karte auspacken musste. Denn leider wirkt dieser Satansbraten auf mein Geschlecht sehr anziehend. Bei ihrem übrigens auch, was mich zu der Annahme bringt, Holly wäre in ihrem vorherigen Leben ein Sukkubus gewesen. Aber vor Mädchen muss Fräulein weniger Angst haben. Die wollen nur am liebsten sofort einziehen, Katzen adoptieren und die Hochzeit planen, falsche Spiele spielen die eher selten. Äh, wo war ich? Ach ja, bei sehr zweifelhaften Lebensentscheidungen. „Ja, pink. Das sieht bestimmt voll toll aus! Also nur ein paar Strähnen, vielleicht noch ein paar schwarze? Stell dir nur vor, das mit meinem Lieblingskleid! Bitte bitte bitte! Ich kann das doch nicht alleine und du bist der beste große Bruder auf der Welt!” Zuckersüß klimpert sie mit ihren langen Wimpern und als ich resigniert seufze, grinst sie diabolisch, wissend, dass sie wie immer ihren Willen bekommt. „Na schön. Aber nur ein paar Strähnchen. Hopp, ab ins Bad, Mademoiselle.” Behutsam lege ich meine Kopfhörer auf das Bett und folge dem hoppsenden Wesen in besagtem Bad. Kaum zu glauben, dass sie fast sechzehn sein will. Routiniert zieht sie einen Stuhl heran und setzt sich in die Mitte des Raums, sodass ich die Farbe im Waschbecken anmischen und barrierefreien Zugang zu ihren blonden Locken habe. Warum sie ausgerechnet mich und nicht Alexis als ihren persönlichen Hairstylisten auserkoren hat, kann sich niemand so recht erklären, aber laut unseren Eltern war das schon im Kleinkindalter so. Nur Joshi darf Zöpfchen machen, auch wenn er das gar nicht kann. Und auch heute darf nur Joshi die wertvollen Haare färben, was er inzwischen zum Glück beherrscht. Selbst wenn das bedeutet, freiwillig Pink an den Händen haben zu müssen. Aber zunächst lege ich ihr ein altes Handtuch um die Schultern, die in einem ollen Tshirt stecken, das verdächtig nach einem von meinen aussieht, so locker wie es sitzt. Diebische Elster. Dann versuche ich mir etwas Platz zu schaffen und gleichzeitig den groben Kamm zu finden. Unser Bad ist eindeutig zu klein für den ganzen Scheiß, der sich hier drin stapelt. Wie Roßmann und dm zusammen. Nur nicht so hell und aufgeräumt. Bei vier Personen in unterschiedlichen Stadien des Heranwachsens und der Eitelkeit kein Wunder. Man findet immer irgendwas. In diesem Fall einen anderen Kamm, aber der wird es schon tun. Ich muss ihn nur gut genug abwaschen, nicht, dass mein kleiner Bruder mitkriegt, dass ich sein 'Eigentum' verwende. Eigentum, haha. Guter Witz. Als ob es so etwas in unserem Haushalt geben würde. Während ich die Vorbereitungen abschließe und mit der Färbung der naturblonden Haare beginne, fängt Holly an zu quasseln. Wie ein Wasserfall sprudeln die Worte aus ihr heraus und informieren mich über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Schule (der uns nur interessiert, weil es immer wieder so absurd ist, was für Gerüchte die Menschen verbreiten), das neue Album ihrer Lieblingsband (für meinen Geschmack zu sehr am Mainstream, aber immerhin noch irgendwie Gothic), ihre geplante Klassenfahrt nach Österreich (ob Alexis wohl einen unbenutzten Keuschheitsgürtel besitzt, den sie verleihen könnte?) und zuletzt der Junge, in den sie sich verguckt hat (wo ist mein Baseballschläger?). Uarghs. Wobei... da kommt mir eine Idee. „Mäuschen?” „Hm?”, sofort unterbricht sie ihren Redeschwall und spitzt die Lauscher. „Sag mal... was machst du eigentlich, wenn du einen Jungen nett findest, bislang aber nicht viel mit ihm zu tun hast?”, frage ich, so beiläufig wie möglich. Ich kann förmlich spüren, wie sie stockt und es in dem Kopf unter meinen Händen zu rattern beginnt. „Was meinst du mit 'nicht viel'?”, kommt interessiert zurück. „Naja... äh...” Fuck, wie sag ich das ejtzt möglichst unverfänglich? „Also, du bist schon ab und an in seiner Nähe, weil ihr... zum Beispiel in die gleich Klasse geht, aber ihr kennt euch eigentlich nicht. Weil er... einen anderen Freundeskreis hat.” „Hm...”, macht sie nachdenklich. „Entweder würde ich ihn einfach ansprechen...” „Ähm, ne. Mein Kumpel, für den ich frag, ist ziemlich schüchtern.” Erde an Hirn: Mission abbrechen, ich wiederhole Mission abbrechen. Offensichtlicher geht’s ja wohl kaum! 'Mein Kumpel'? 'MEIN KUMPEL'!? Ja ja, ich frag für 'nen Freund. Billiger geht’s echt nicht mehr! „Dann würde ich an seiner Stelle versuchen, langsam und unauffällig in seine Nähe zu kommen und zu testen, ob man sich mindestens anfreunden könnte”, spricht meine Schwester weiter und macht ziemlich deutlich, dass sie ahnt um wen es geht, aber zu nett ist, um etwas zu sagen. Oder um später ein Druckmittel in der Hand zu haben. Mist. Da war ja so eine Sache mit Geschwistern und Gefallen. „Äh... wie das?” „Na, wenn man sich näherkommen will, muss man genau das tun. Ein Meteorit, der in einen Planeten einschlagen will, muss ja auch erst in dessen Umlaufbahn gelangen. Und entweder schlägt er direkt frontal ein, oder er kreist in immer engeren Zirkeln um ihn herum, bis er ihn schlussendlich streift”, erklärt sie mir mit ausladenden Gesten, denen ich gezwungenermaßen ausweiche. „Ähm... Mäuschen, ich glaube nicht, dass das so funktioniert.” „Papperlapapp.” Die wegwerfende Handbewegung trifft mich diesmal seitlich am Rumpf. Zum Glück hat Mademoiselle keine Kraft hineingelegt, sonst hätte sie jetzt ein pinkes Problem auf der Stirn. „Und selbst wenn. Sei mal ein bisschen fantasievoller!” „Ich habe Fantasie!”, murre ich beleidigt und packe eine weitere Strähne in Alufolie ein. „Ja ja, deswegen musst du auch mich um Rat fragen. Wobei, deine Wahl ist schon gut. Stell dir vor, du hättest Alexis gefragt! Nachher hast du noch so jemanden wie Martin an der Backe!” Wir schaudern gemeinsam. Ja, unser zukünftiger Schwager hat es nicht leicht mit uns. Reicht, dass unsere Eltern ihn toll finden, warum auch immer. „Umlaufbahn, sagst du, ja?” „Jepp!” Sie stoppt ihre Nickbewegung noch gerade rechtzeitig. „Schulprojekte zusammen machen. Bei neuer Sitzordnung zufällig in die Nähe setzen. In der Pause mal mit dabei stehen...”, zählt sie an ihren Fingern oder viel mehr, den elendig langen Fingernägeln, ab. „Du stellst dir das aber verdammt einfach vor.” In Gedanken kapituliere ich bereits jetzt vor dieser unmöglichen Aufgabe. „Ist es ja auch! Wenn man kein sturer Esel ist, wie dein Kumpel”, schnaubt Holly hochnäsig. „Ist er nicht!”, widerspreche ich... wie ein sturer Esel. „Wir sind älter als du, wir können nicht mehr einfach zu jemandem hingehen und fragen 'Willst du mein neuer bester Freund sein?'.” „Das klappt eh nur im Kindergarten oder schlechten Filmen. Ein bisschen mehr Weltoffenheit und schon klappt das, vertrau deiner kleinen Schwester”, sagt sie, zuckersüß lächelnd. Mir wird ganz anders. Dieser Satz und dieser Gesichtsausdruck bedeuten selten etwas Gutes. So rein aus der Erfahrung heraus. Es hat zum Beispiel seinen Grund, warum an meine Haare nur noch mein Friseur darf. „So, fertig. In zwanzig Minuten gucken wir mal, ob das reicht.” „Alles klar.” Hopps und weg ist das Mäuschen. Ich verdrehe wortlos die Augen und mache mich ans Aufräumen. Erst den kostbaren Kamm von sämtlichen Farbspuren beseitigen (so lustig der Anblick meines ebenfalls blonden Bruders mit pinken Akzenten auch wäre, aber ich hänge an meinem Leben und meinen Klamotten), dann die Einweghandschuhe und diversen Verpackungsmüll entsorgen. Und die Farbkleckse abwischen, ehe sie sich in die Fliesen und Möbel fressen können. Was muss das Mädel auch immer so zappelig sein? Ich denke währenddessen über ihre Worte nach. Umlaufbahn, ja? Hm. Die Idee ist gar nicht so blöd. Simpel, aber einleuchtend. Nur wie kommt man in die Umlaufbahn von jemandem, der sich in einem ganz anderen Sonnensystem befindet?   ~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)