Metropolentänzer von lady_j ================================================================================ Kapitel 11: Bis das alles keinen Sinn mehr macht ------------------------------------------------ Zwei Wochen vor der Jürgens-McGregor-Party, am Freitag des Halloween-Wochenendes, traf Kai sich nach der Arbeit mit Miguel. Es war ihm unangenehm, aber es musste sein. Miguel hatte nämlich tatsächlich zugesagt, in London aufzulegen. Es war also vornehmlich ein berufliches Treffen; dennoch wusste Kai genau, dass er die Gelegenheit auch nutzen sollte, um ein paar Unstimmigkeiten zwischen ihnen aus dem Weg zu schaffen. Schließlich war er es gewesen, der sich in dieser Angelegenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. Das mit ihm und Miguel hatte eigentlich ganz unkompliziert angefangen. Sie hatten sich zwangsläufig kennenlernen müssen, denn je enger Kais Freundschaft mit Yuriy wurde, desto mehr von dessen DJ-Kollegen begegnete er. Manchmal schien es, als würde Yuriy die halbe Stadt kennen, und unter diesen vielen flüchtigen Bekanntschaften war Miguel einer derjenigen, die Ostblocc recht nahe standen. Er hatte ein paar Jahre später als die anderen seine Karriere gestartet, dann aber ebenfalls im Zentrum Fuß fassen können. Inzwischen war er Mitglied des Kollektivs. Zunächst hatten Kai und er sich nur flüchtig unterhalten, wobei Kai recht bald bemerkte, dass er es es Miguel angetan haben musste, denn der andere suchte immer öfter seine Nähe. Er hatte nichts dagegen, viel mehr gefiel ihm die Aufmerksamkeit, und vielleicht war er auch froh über ein wenig Ablenkung von dem Stress, den die Gründung eines eigenen Unternehmens mit sich brachte. Yuriy hatte das alles recht desinteressiert beobachtet, und inzwischen fragte Kai sich, wie viel davon wohl nur vorgetäuscht gewesen war. Anscheinend hatte Miguel ihn über Kai ausgefragt; Kai selbst machte nicht viel außer flirten. Zum ersten Mal geküsst hatten sie sich natürlich in einem Club, im Bunker, und ausgerechnet während Yuriys Set. Vermutlich hatte Miguel extra gewartet, bis Yuriy verschwunden war, um Kai anzusprechen. Der Plan war aufgegangen, und in dieser Nacht hatte Kai zum ersten Mal die berüchtigten Darkrooms von innen gesehen, wenn auch dort nicht viel mehr passiert war als knutschen und ein bisschen fummeln. Danach hatte es irgendwie seinen Lauf genommen. Sie hatten sich regelmäßig geschrieben und auch verabredet, und Miguel hatte sich bereitwillig von Kai mit nach Hause nehmen lassen. Nach ein paar Wochen dämmerte diesem allerdings, dass er sich gerade in etwas verstieg. Für ihn war Miguel nicht mehr als eine flüchtige Fickbeziehung, und er hatte nicht vor, diese länger andauern zu lassen, aber Miguel war da wohl anderer Meinung. Erst langsam wurde Kai klar, dass der andere ernsthafte Gefühle für ihn zu entwickeln begann, die er selbst so gar nicht erwidern konnte. Und so hatte er kurz bevor er nach Japan geflogen war die Reißleine gezogen. Miguel hatte das Ganze nicht wirklich gut aufgenommen. Es hatte keinen Streit gegeben, das nicht, aber Kai hatte ihm wohl schon ein bisschen das Herz gebrochen. Dennoch hätte er auch im Nachhinein nicht sagen können, wie er es besser hätte lösen können. Er hätte netter sein können, aber da lag wohl das Problem - nett war nicht seine Stärke. Mit diesen Gedanken saß er nun in einer Bar in der Gneisenaustraße und wartete. Er konnte sich schönere Freitagabende vorstellen, aber Yuriy arbeitete sowieso die ganze Nacht und hatte ihm schon gesagt, dass er morgen noch mal ins Studio musste, bevor sie sich trafen. Seine zweite EP sollte in den nächsten Wochen erscheinen und der Druck war entsprechend groß. Kai nippte schon an seinem ersten Glas Wein, als Miguel auftauchte. Ihre Blicke trafen sich sofort, aber es war nicht ganz so unangenehm, wie Kai erwartet hatte. Er stand auf und führte den anderen nach ein paar Höflichkeitsfloskeln zu einem Tisch, damit sie nicht für alle sichtbar am Tresen sitzen mussten. „Ich sollte mich wohl bei dir bedanken”, sagte Miguel, als er ebenfalls mit einem Getränk versorgt war, „Für den Job, meine ich. So gut werde ich normalerweise nicht bezahlt.” „Um ehrlich zu sein war das Yuriys Idee”, gab Kai zu, „Ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt jemanden finden würde.” Miguel nickte langsam. „Verstehe. Dann nehme ich es mal als Friedensangebot.” „Friedensangebot?” „Kai.” Miguel seufzte und es war klar, dass er genervt war. „Hör auf mit dem Spiel. Ich weiß, dass ihr zusammen seid.” Kai versteifte sich. Er war davon ausgegangen, Miguel die neue Situation irgendwie beibringen zu müssen, weil er wusste, dass der es nicht unbedingt positiv aufnehmen würde. Und Yuriy hatte ihm versichert, Miguel nichts gesagt zu haben. Sein Gegenüber seufzte und zog sein Handy heraus, suchte irgendwas und hielt es ihm dann vor die Nase. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Kai ein Video, das irgendjemand im Instagram-Kanal von Yamashita Records hochgeladen hatte. Darin war ziemlich deutlich zu sehen, wie er Yuriy während seines Sets im Octavian küsste. „Oh”, machte er unintelligent. Zum ersten Mal bereute er, sich nicht für soziale Netzwerke zu interessieren. Aber selbst an Yuriy musste das irgendwie vorbeigegangen sein, denn er hatte ihm nichts von dem Video erzählt. Bei dem Stress, den sein Freund in letzter Zeit hatte, war das aber auch nicht verwunderlich. „Ja, oh.” Miguel steckte das Handy wieder weg und sah ihn missmutig an. „Weißt du, du hättest mir auch einfach sagen können, was zwischen euch ist. Damit hättest du uns eine Menge Ärger erspart.” Darauf erwiderte Kai nichts. Womöglich war alles, was er jetzt sagte, sowieso falsch. Und Miguel hatte auch nicht Unrecht, aber es war viel zu kompliziert, jetzt alle Nuancen seiner Gefühle für Yuriy darzulegen. „Gott, Kai. Was dachtest du denn bitte, wie ich reagiere? Wenn du gehofft hast, dass ich mich für euch freue - sorry, aber nein. Ehrlich gesagt fühle ich mich ziemlich verarscht. Nicht zuletzt wegen des Jobs.” „Das eine hat mit dem anderen wirklich gar nichts zu tun”, sagte Kai fest. Er hielt Miguels aufgebrachten Blick. Der schnaubte kurz. „Glaubst du das wirklich? Oh klar, Yuriy hat dir ja sicher nicht erzählt, dass er mich wie Scheiße behandelt hat, als wir was miteinander hatten.” Kai blinzelte. „Hat er”, wiederholte Miguel. „Zuerst hat er mir versichert, dass er überhaupt kein Problem mit uns hat. Und eine Woche später zeigt er mir die kalte Schulter. Zuerst war er mein Coach, dann hat er mich zu Salima geschoben, weil seine Gruppe angeblich zu groß wurde und ich ja schon ach so viel kann. Salima ist nett, aber ich kann mit ihrem Stil einfach nichts anfangen. Also sorry Kai, aber eure kleinen Spielchen beeinflussen auch meine Karriere, weil ich nämlich gerade keine Chance habe, etwas dazuzulernen.” Kai öffnete den Mund ohne genau zu wissen, was er sagen wollte. Reflexartig wollte er Yuriy verteidigen, weil das, was Miguel eben geschildert hatte, so gar nicht nach seinem Freund klang. Dann aber wurde ihm bewusst, dass das nicht unbedingt stimmte. Yuriy konnte richtiggehend fies sein, wenn man ihm eine Gelegenheit dafür bot. Also entschied er sich dafür, möglichst sachlich zu bleiben. „Davon wusste ich wirklich nichts”, sagte er und schlug dabei denselben Ton an, den er auch für schwierige Verhandlungen nutzte, „Und ehrlich gesagt finde ich, dass das etwas ist, das du nur mit Yuriy klären kannst. Das mit dem Job war seine Idee, und ja, vielleicht meint er es als Friedensangebot. Frag ihn halt. Und was uns betrifft - als wir was miteinander hatten, und selbst als ich es beendet habe, wusste ich nicht… war mir nicht klar, was zwischen Yuriy und mir passieren würde. Also lass es mich nochmal in aller Deutlichkeit sagen: Ich habe es nicht beendet, weil ich in Yuriy verliebt war, sondern weil ich keine ernsthaften Gefühle für dich habe.” „Du willst es immer noch nicht wahrhaben, oder?” Miguel verdrehte die Augen. „Kai, verarschen kann ich mich selbst. Ihr habt immer aufeinander gestanden, und alle wussten es. Und jetzt sind alle happy darüber, dass ihr es endlich gepackt habt. Nur ich stehe da wie der letzte Idiot, weil ich mir trotzdem Hoffnungen gemacht habe. Weil ich so blöd war und dachte, ich hätte eine Chance bei dir. Sorry, aber unter diesen Umständen kann ich mich einfach nicht für euch freuen.” „Okay!”, sagte Kai laut, nahm sich aber sofort wieder zurück. „Das musst du ja auch gar nicht. Aber ganz ehrlich - selbst wenn das mit Yuriy irgendwie anders wäre, hätte das nichts daran geändert, wie wir zueinanderstehen. Es hätte trotzdem nicht geklappt. Und angesichts der Tatsache, dass wir in zwei Wochen beide in London sind, würde ich diese Sache damit gerne abschließen.” Miguel verdrehte die Augen, nickte dann aber. „Okay”, sagte er, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass absolut gar nichts okay war. Aber damit musste Kai sich heute wohl begnügen. „Dann zum Geschäftlichen. Also. Was sind das für Typen, für die ich auflegen soll?” Yuriy brachte es auf ganze vier Stunden Schlaf, bevor er sich wieder aus dem Bett quälte und sich auf den Weg ins Studio machte. Boris war inzwischen mit Gold nicht mehr zu bezahlen, denn er hatte ihm ein Fresspaket in den Kühlschrank gestellt, auf das er mit ein paar leuchtenden Klebezetteln hinwies. Und so konnte Yuriy in der S-Bahn immerhin seinen knurrenden Magen beruhigen. Er hatte Kopfschmerzen, vom Schlafmangel, von der schlechten Luft im Club, von der wummernden Musik. Schon vor Jahren hatte er einen Tinnitus entwickelt, der sich bisher aber nur bemerkbar machte, wenn er wirklich gestresst war. Seit ein paar Tagen war es wieder einmal so weit. Die Musik übertönte das Fiepen zwar, weshalb er trotz allem weiterarbeiten konnte, doch sobald es stiller wurde, machte es sich wieder bemerkbar. Ja, er war froh, dass die Saison sich dem Ende neigte und seine EP bald erscheinen würde. Danach würde er sich einen schönen Weihnachtsurlaub gönnen. Wenn alles gut ging, konnte Kai sich auch zwei Wochen zum Jahresende frei nehmen - und auf mehr als ein paar Tage in trauter Zweisamkeit, die sie mit Nichtstun verbringen würden, wagte er sowieso nicht zu hoffen. Er war ein wenig erstaunt, als er das Studio nicht abgeschlossen vorfand. Flüchtig dachte er an Einbrecher, aber das Schloss schien normal zu funktionieren. Und drinnen brannte Licht. Schließlich klärte sich die ganze Situation, als er Kane über einen Haufen Unterlagen gebeugt in der Lounge vorfand. Yuriy räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen, und Kane zuckte zusammen. „Heilige Scheiße Ivanov, erschreck mich doch nicht so!”, sagte er. „Was machst du hier überhaupt?” „Techno”, entgegnete er knapp und stellte seinen Rucksack auf der Couch ab. „Und du?” Aus der Küche drang Kaffeeduft; er schlenderte zur Maschine und stellte zufrieden fest, dass Kane eine ganze Kanne gebrüht hatte. „Ob du’s glaubst oder nicht, aber ich hab auch ein bisschen was produziert, bevor ich wieder mit dem Papierkram angefangen habe.” Kane war ihm gefolgt und füllte seine eigene Tasse ebenfalls auf. Sie hielten ein wenig Smalltalk über den Stand des neuen Studios und Yuriys letzte Auftritte. Dann zeigte Kane ihm verschmitzt grinsend ein Video, das Salima beim Ostblocc-Takeover gedreht hatte. Darauf zu sehen waren Kai und er, wie sie sich hinter den Decks aufeinander stürzten. Yuriys Augen weiteten sich erschrocken, als er realisierte, dass irgendjemand das Video über den Insta-Channel des Labels geteilt hatte, aber Kane schien das Ganze für ziemlich gute PR zu halten. Er klopfte ihm feixend auf die Schulter. „Hab gehört, du bist immer noch ziemlich gut beschäftigt”, sagte er. „Was machst du so die nächsten Wochen?” Yuriy seufzte, dann zählte er auf: „Ein Interview mit diesen Typen, die den Berlin-Techno-Podcast machen, dann ein Set für diesen Radiosender in Tempelhof, Freitag einen Live-Stream, den die Leute vom Don Quijote hosten… nächste Woche ein Live-Set für AUDIO in Neukölln, ein b2b mit Mathilda im Garten vom Bunker am Donnerstagnachmittag, äh… ich glaub, dann bin ich in Leipzig? Nein, Prag. Nee. Doch Leipzig.” Kane hob die Augenbrauen. „Und du bist sicher, dass du nicht mit einer Agentur zusammenarbeiten willst? Du brauchst echt langsam einen Assistenten, Mann.” Yuriy hob nichtssagend die Schultern. Bisher regelte er alle seine Termine alleine, vor allem, weil er die Freiheit haben wollte, selbst zu entscheiden, wem er zusagte und wem nicht. Aber Kane hatte schon recht; sich von einer Agentur managen zu lassen würde sein Leben inzwischen wahrscheinlich wirklich leichter machen. Außerdem hatte es in der Vergangenheit auch öfter Missverständnisse gegeben, weil Veranstalter nicht wussten, wie sie ihn am besten erreichen konnten. „Ich denke darüber nach”, sagte er schließlich. „Gut. Und noch etwas…” Kane unterbrach sich und sah nachdenklich zu ihm hoch. „Na, das ist vielleicht nichts für zwischen Tür und Angel. Hast du eine Minute, bevor du loslegst?” „Sicher.” Yuriy folgte dem anderen zurück in die Lounge und ließ sich ihm gegenüber auf ein Sofa sinken. Kane räumte seine Unterlagen zusammen, bevor er schließlich das Wort ergriff: „Ich hab‘ gemerkt, dass es in letzter Zeit ein paar Unstimmigkeiten bei deinen Kollegen von Ostblocc gibt. Anscheinend geht das Gerücht um, dass ich euch klein halte.” Yuriy nicke langsam. „Ich kann verstehen, woher dieser Eindruck kommt”, fuhr Kane fort, „Aber ich will euch wirklich nichts Böses. Allerdings würde mich schon interessieren - plant ihr, ein eigenes Label zu gründen?” „Nein”, sagte Yuriy, „Zumindest noch nicht. Warum fragst du?” „Ich habe einfach den Markt im Blick. In Berlin werden inzwischen fast wöchentlich neue Label gegründet, und es wollen ja alle irgendwie von etwas leben. Also ja, ich würde euch schon als Konkurrenz sehen, wenn ihr sowas plant. - Wobei das auch nicht unbedingt sein muss…” Sein Tonfall hatte sich geändert und Yuriy hob fragend die Augenbrauen. Kane verschränkte geschäftlich die Hände ineinander. „Ich hätte da noch eine andere Idee. Das betrifft jetzt nicht euch alle, sondern erstmal nur dich. Könntest du dir vorstellen, bei mir einzusteigen? So richtig, meine ich. Als Producer, als zweiter Labelhead... in diesem Rahmen.” Yuriy blinzelte. „...Wat?!”, rutschte ihm raus, mehr ging in diesem Augenblick nicht. „Muss ja nicht gleich sein!”, sagte Kane schnell, „Aber ganz ehrlich, wir expandieren hier gerade ganz schön und ich könnte ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Und ich frage mich halt, wie lange du planst, durch die Weltgeschichte zu tingeln und aufzulegen, bevor du dich wieder nach mehr Ruhe sehnst.” Yuriy starrte weiter. Kane wusste doch, dass er seit gerade einmal zwei Jahren von der Musik leben konnte. Er hatte nicht vor, in den nächsten fünf Jahren irgendwas großartig anders zu machen als jetzt. Andererseits wusste er genauso gut, dass es nicht unbedingt schlecht war, sich mehrere Standbeine aufzubauen. Die Frage war nur, ob seine Zeit dafür reichte. „Aber was ist mit den anderen?”, fragte er schließlich, um wenigstens ein bisschen von sich abzulenken. Kane hob die Schultern. „Für Ostblocc ändert sich erstmal nichts. Ihr bleibt weiter unter Vertrag und könnt euer Ding machen. Wenn von den anderen niemand Interesse hat, es auf eigene Faust zu versuchen, umso einfacher. Mit dem Vorteil, dass du vielleicht sogar ein bisschen mehr Zeit für Ostblocc hast, wenn du für sie produzierst - und zwar bezahlt.” Tja, das war allerdings der Haken an der Sache. Yuriy war sich nicht sicher, ob er die Pläne der anderen kannte. Salima und Ivan hatten gerade genug zu tun mit ihrem Wohnungsproblem. Mathilda wollte mehr als das, was sie jetzt hatte, aber ein eigenes Label? Das konnte er sich bei ihr nicht so wirklich vorstellen. Trotzdem. Es wäre nicht ungewöhnlich, einfach beides zu machen, Ostblocc und Yamashita Records. Er könnte sogar noch drei Kollektive gründen und niemand würde sich wundern. So funktionierte die Szene. „Ich muss das mit den anderen besprechen”, sagte er, weil ihm das trotz allem richtig erschien. „Sicher. Mein Angebot ist ja auch eher so mittelfristig gedacht. Aber ich würde mich wirklich freuen, wenn du es dir einfach gut überlegst. Denn wenn du nicht willst, muss ich eine andere Lösung finden.” Nach dem Gespräch mit Kane hatte Yuriy das Gefühl, einen Schnaps zu brauchen. Natürlich freute er sich über das Angebot und die offensichtliche Wertschätzung seines Labelheads, aber das alles verringerte nicht unbedingt den Druck, der auf ihm lastete. Er wäre sehr zufrieden damit gewesen, einfach nur seine EP zu produzieren und das Jahr langsam aber sicher ausklingen zu lassen, aber das war ihm wohl nicht vergönnt. Kane verabschiedete sich bald darauf und Yuriy vergrub sich für ein paar weitere Stunden im Studio, wo er versuchte, seine Gedanken abzuschalten und sich auf seine Musik zu konzentrieren. Es gelang höchstens mäßig, vor allem nachdem ihm siedend heiß einfiel, dass er gleich am Montag unbedingt drei Telefonate führen musste. Vielleicht war die Idee, sich bei einer Agentur zu melden, doch gar nicht so schlecht… Als er nach Hause kam, war die Tür zu Boris’ Zimmer offen und verschwommene Videospielgeräusche erfüllten die Wohnung. Auf Yuriys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Er schob seine Tasche in sein Zimmer, dann ging er rüber zu Boris. Sein Mitbewohner hing auf der kleinen Couch, die tatsächlich neben dem Bett noch hier reinpasste, einen Controller in der Hand und auf den großen Flachbildschirm an der Wand starrend. Boris brauchte keinen Platz für einen Schreibtisch, aber seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er einen sehr hässlichen, aber auch sehr slawischen Teppich erbte, der nun beinahe den ganzen Boden bedeckte (sie hätte ihm auch einen für die Wand mitgegeben, doch zum Glück hatte Boris dafür doch zu wenig Platz). Dem Teppich war allerdings auch zu verdanken, dass Yuriy hier nie kalte Füße bekam. Seine Zehen sanken ein Stück in die kratzigen Flusen ein, als er sich neben Boris setzte. „Na?”, brummte der, ohne den Blick von seinem Spiel zu nehmen, „Dein Loverboy heute gar nicht da?” „Kommt später”, antwortete Yuriy, „Musst du heute noch mal los?” „Ich fahr gleich rüber zu Serjoga. Der muss sich mal unter die Karre legen, da klappert was, hab Angst, dass es die Achsenaufhängung ist. Könnte spät werden.” Yuriy machte ein enttäuschtes Geräusch und lehnte sich an Boris, sodass sein Kopf auf dessen Schulter lag. Er schloss die Augen. „Was los? Schlechten Tag gehabt?” „Zu viel auf einmal”, murmelte Yuriy. „Willst du drüber reden?” „Weiß nicht. Das würde ziemlich lange dauern. Es ist einfach… Arbeitsstress.” Wieder brummte Boris und Yuriy blinzelte zum Fernseher, auf dem bunte Farben hin und her zuckten. Er war sich sicher, dass er sich nach zwei Stunden zocken wie auf einem schlechten Trip fühlen würde, aber Boris schien da abgehärtet zu sein. „Das klingt jetzt sicher billig, aber versuch mal, ein bisschen abzuschalten”, sagte Boris. „Es ist Wochenende, und dieses Mal sogar für dich! Entspann dich, lass dich ein bisschen von Kai verwöhnen, he?!” Yuriy schnaubte nur, als er bemerkte, wie sein Mitbewohner feixte. Eine Antwort gab er ihm nicht. „Wie läuft es eigentlich bei euch?”, fing Boris wieder an. „Was genau meinst du?” „So generell. Passiert ja nicht alle Tage, dass mein bester Freund in eine feste Beziehung gerät. Noch dazu mit einem shady Start-up-Typen, den er schon seit Jahren anschmachtet.” Yuriy zuckte kurz die Schultern. „Es läuft. Und ich finde das ehrlich gesagt ganz angenehm so.” „Hm. Und wie kommt ihr mit dem Pendeln klar? Ist ja auch nicht gerade einfach, wenn du an den Wochenenden ständig unterwegs bist.” „Nein”, gab Yuriy zu. „Es ist anstrengend, aber noch geht es.” „Noch bist du verliebt genug, um den ganzen Stress auf dich zu nehmen, was?!”, sagte Boris. Yuriy verzog den Mund. Inzwischen hatte Boris das Spiel pausiert, die Figuren hüpften lustlos auf der Stelle und die bunten Farben flackerten ein wenig. „Ich glaube, Kai ist nicht sehr begeistert davon”, sagte Yuriy schließlich, „Ich meine, ich bin es auch nicht. Aber was sollen wir machen? Bisher hat er auch noch nichts dazu gesagt, aber es wird sicherlich irgendwann dazu kommen. Und dann müssen wir halt sehen, was wir machen.” „Also schiebst du das Problem einfach auf?” Jetzt nahm Yuriy den Kopf von Boris’ Schulter, um ihn anzusehen. „Ganz ehrlich, mir fehlt momentan einfach die Kraft für alles andere. Das mit Kai ist neu, und er ist mir wichtig. Aber meine Arbeit eben auch. Momentan kann ich beides haben, und solange das geht, will ich es auch so.” Boris nickte. „Darf ich dich was fragen?” Yuriy machte eine auffordernde Geste. „Wenn du dich entscheiden müsstest zwischen Kai und deiner Karriere…?” Er ließ den Satz unbeendet und Yuriy sank ächzend wieder zurück. „Das ist fies”, sagte er und holte tief Luft. „Ich kenne Kai seit vier Jahren, und ja, ich bin verliebt und ich nehme das mit uns ernst. Aber dieser Job, diese Karriere… das will ich, seit ich fünfzehn bin. Das ist mehr als mein halbes Leben! Und klar, es geht gerade unglaublich schnell und es ist unglaublich anstrengend. Aber ich würde es für immer bereuen, wenn ich mir diese Chance entgehen lasse.” Er machte eine Pause. „Ist das unfair?” Doch Boris schüttelte den Kopf. „Du vergisst, dass Kai auch ein Karrieremensch ist. Aber selbst, wenn nicht… Es ist wie du es sagst, Yura. Und irgendwann wird es dir zugutekommen, dass du weißt, wo deine Prioritäten liegen.” Er stieß ihn an, als er bemerkte, wie Yuriy das Gesicht verzog. „Und egal was ist, mich wirst du zumindest nicht los.” „Das ist...beruhigend.” „Finde ich auch.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)