Metropolentänzer von lady_j ================================================================================ Kapitel 10: Unter deiner Sonne ------------------------------ “Du weißt, dass du mir alles erzählen musst, oder?” Garland stiefelte neben ihm die schlecht beleuchtete Straße entlang, sein heller Pferdeschwanz schaukelte bei jedem Schritt hin und her. Kai schob beide Hände in die Taschen seines Mantels. Die gute Laune, die in der Stimme seines Begleiters mitschwang, irritierte ihn ein wenig. Doch er würde nicht in der Wunde bohren. “Hat Yuriy dir nicht schon gesagt, was du wissen musst?”, brummte er. “Yuriy hat mir nur gesagt, dass euer Date scheiße war und ihr trotzdem am Ende rumgemacht habt. Aber wie es dazu gekommen ist - nein!” “Meine Güte Garland, wir saßen mit einem Spätibier vor meiner Tür, er hat einen dummen Spruch gemacht, ich auch, und dann ist es passiert. Punkt!” Er fing sich einen Seitenblick ein. “Das ist das berlintypischste Date, von dem ich jemals gehört - ach du Scheiße.” Sie waren um eine Ecke gekommen und beinahe in das Ende der Schlange vor dem Club hineingelaufen. Die Leute standen quer durch das mit Wellblech umzäunte Clubgelände und bis auf den Bürgersteig an. Es war kein ungewöhnlicher Anblick, nicht an einem gerade angebrochenen Sonntag. “Es lebe die Gästeliste”, meinte Kai und setzte sich wieder in Bewegung. Inzwischen kannte er viele der Türsteher und konnte auch heute zwei von ihnen mit Handschlag begrüßen. Dabei merkte er, wie er von den anderen Gästen, die meisten davon irgendwelche Studierende mit mehr oder weniger Promille im Blut, heimlich gemustert wurde. Er war auf Partys schon für vieles gehalten worden - Clubbetreiber, DJ, Drogendealer - und das hatte viel mit der Wahl seiner Klamotten zu tun. Dreißig war ein magisches Alter: Er konnte je nach Laune so tun, als wäre er ein Bachelorstudent oder ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftsmann. Heute hatte er sich dafür entschieden, sehr nah an sich selbst zu bleiben. Sie wurden ohne zu murren (jedenfalls von Seiten der Türsteher) eingelassen, gaben die Mäntel an der Garderobe ab und machten sich auf die Suche nach Getränken und bekannten Gesichtern. Es war warm hier drin, die Hitze staute sich unter der niedrigen Decke, die Luft war etwas feucht. Kai wusste nicht recht, ob er froh sein sollte, statt des Mesh-Shirts aus Kunststoff (mit dem Mensch in Technoclubs nie etwas falsch machen konnte) doch eines aus dünner Baumwolle angezogen zu haben. Vermutlich hätte es keinen Unterschied gemacht, nass blieb nass. Er gähnte verstohlen; obwohl er ein paar Stunden geschlafen hatte, würde er irgendeinen Wachmacher brauchen, um wieder vollständig zu sich zu kommen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, drückte Garland ihm ein eiskaltes Glas in die Hand, das augenscheinlich Cola enthielt. “Da ist Alkohol drin!”, warnte er ihn und Kai schickte ihm einen Blick, der ihm zu verstehen gab, dass er mit nichts anderem gerechnet hatte. Das Octavian war kein großer Club. Der Hauptdancefloor nahm beinahe die gesamte Fläche ein, es gab zwei, drei Bars und einen kleineren Nebenraum, in dem heute aber nicht aufgelegt wurde. Vermutlich würde man dort alle finden, die rummachen, high werden oder einfach ihren Rausch ausschlafen wollten. Kai und Garland standen an einem Gelb ausgeleuchteten Tresen und konnten den Hauptraum gut überblicken. Es war ziemlich dunkel, ein paar Scheinwerfer warfen spärliches Licht auf die Menge. Ab und zu knallte Stroboskoplicht durch ihre Pupillen und machten die Graffitis an den Wänden lebendig. Es gab hier wenig Überflüssiges. Abgesehen von den psychedelischen Gemälden waren die Wände roh und uneben, die Soundanlage machte ordentlich Wumms, die Bühne mit den Turntables lag minimal erhöht, zwei kleine, rote Strahler waren auf sie gerichtet, in deren Licht man aber nicht viel erkennen konnte. Es war unverkennbar Ivan, der gerade sein Set spielte. Die Musik dröhnte hart und schnell in ihren Ohren. Nach ihm war Mathilda an der Reihe, dann Yuriy und zum Schluss Salima, die die Leute wahrscheinlich mit ihren weitaus rhythmischeren Tönen wieder auf den Boden der Tatsachen brachte. Kai warf einen Blick auf sein Handy. Er hatte Yuriy geschrieben, wo er sie finden konnte, denn er war sich sicher, sein Freund chillte entweder backstage oder lief hier irgendwo herum und redete mit mehr oder weniger wichtigen Leuten. Tatsächlich hatte er schon eine Antwort erhalten. Er hoffte nur, dass Bin gleich da auch wirklich das meinte, denn es wurde langsam voll um sie herum. “Ist das nicht ein Track von Mathilda?”, fragte Garland in diesem Moment. Kai hob den Kopf und hörte genauer hin. Tatsächlich, diese Melodie kam ihm bekannt vor, nur eigentlich war sie einen Tick langsamer. Diese Version klang eher nach… Ivan. “Glaube schon”, sagte er und meinte sich zu erinnern, dass Yuriy ihm mal erzählt hatte, Remixes seien der beste Weg für DJs, sich gegenseitig zu promoten und Anerkennung zu zollen. Als er den Blick erneut schweifen ließ, sah er etwas weiter weg Salima, umringt von anderen Frauen, vermutlich ihre Freundinnen oder Fans. Und waren das nicht Mao, Rei und Lai? Erstere erkannte man eigentlich recht schnell an ihrer pinken Mähne, aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich beide Männer in ihrer Gesellschaft gesehen hatte. Sie waren schon weitergegangen. “Ich glaube, ich habe vorhin Raoul und Giulia gesehen”, rief Garland ihm ins Ohr. Kai zog eine Augenbraue hoch. Seines Wissens nach war es die erste Party, auf der sowohl Lai als auch Raoul waren. Er hatte schon länger nichts mehr von den beiden gehört, nicht einmal Giulia hatte ihm etwas erzählt, und so fragte er sich kurz, ob das wohl gut ausgehen würde. Dann aber bemerkte er Yuriy, der sich gerade einen Weg zu ihnen bahnte, und seine Grübeleien waren vergessen. “Wolltest du nicht schon gestern kommen?”, fragte Yuriy und zog ihn an sich, bevor er auch Garland begrüßte. Kai verdrehte nur die Augen. Yuriy hatte gut reden, sein Arbeitstag begann jetzt erst und dementsprechend voll waren seine Energiereserven. Kurz fragte Kai sich, wie sie das auf Dauer aushalten sollten, aber da Yuriys Hand inzwischen seinen Rücken streichelte, verwarf er den Gedanken schnell. Wieder einmal sahen sie sich viel zu lange stumm an. Auch Yuriy setzte die stickige Luft hier drin zu, seine Haare waren wirr und kräuselten sich leicht an den Spitzen und ein feiner, glänzender Film lag auf seinen Armen. Auf seinem Shirt prangte ein kleines Ostblocc-Logo in Höhe der linken Brust, die Ärmel hatte er bis über die Schultern hochgekrempelt. “Wie läufts?”, fragte Garland. “Ganz schön voll, oder?” “Ja!”, entgegnete Yuriy begeistert, “Es sind einige Promoter hier und die Leute aus den anderen Clubs. Auch aus Frankfurt, Mannheim, München… Ich glaube, sogar ein paar aus Frankreich? Ich bin nur am Händeschütteln. Wenn das heute alles klappt, rennen die uns hoffentlich danach die Tür ein.” “Krass. Hat Kane für euch die Werbetrommel gerührt?” “Gar nicht mal so sehr! Er hat ein paar Anrufe gemacht, aber das war’s. Ist wohl alles Mund zu Mund Propaganda.” Garland hob anerkennend die Augenbrauen. Kai entging nicht, dass sein Blick danach etwas zu lange auf Yuriy lag, aber er sagte nichts dazu. Immerhin war es sein Arm, der um Yuriys Taille lag und seine Hand, die sich in seinen Gürtel gehakt hatte. “Wann musst du backstage?”, fragte er. “So zwanzig Minuten vorher”, entgegnete Yuriy, “Hey!” Kai hatte sein nächstes Gähnen unterdrücken wollen, doch sein Freund durchschaute ihn sofort. “Was wird das denn?” “Sorry”, sagte Kai. “Du bleibst heute wieder bis zum Schluss, oder?” “Ja, sicher. Wir müssen ja noch zusammenräumen und alles. Wieso?” Er verzog bedauernd den Mund. “Hör mal, ich bin echt fertig. Ich weiß nicht, ob ich so lange durchhalte. Werd wohl recht bald nach deinem Set nach Hause gehen.” Es war nicht gelogen, er war einfach nicht so fit wie er es gerne hätte, das merkte er schon jetzt. Yuriy wirkte tatsächlich ein wenig enttäuscht. “Soll ich später nachkommen?” Sie hatten ursprünglich geplant, die Nacht bei Kai zu verbringen - bevor Yuriy ihm gesagt hatte, wann genau er spielen würde. Und Kai hatte mitgedacht. Er schob umständlich die Hand in seine Hosentasche und zog seinen Zweitschlüssel heraus, um ihn Yuriy zu übergeben. “Nicht verlieren. Und wehe, du bist laut!” Statt zu antworten zwinkerte der andere ihm nur zu und löste sich dann von ihm, da der Barkeeper in ihre Nähe gekommen war. Oftmals blieb Yuriy bei alkoholfreien Getränken, wenn er arbeitete, manchmal gönnte er sich nach seinen Sets ein paar Drinks. Heute schien aber einer dieser Ausnahmetage zu sein, an denen er schon vor der eigentlichen Arbeit ein oder zwei Gläschen trank. Kai kannte Yuriy nun schon lange genug, um zu wissen, dass er sich nicht vor seinem Set abschießen würde. Andernfalls hätte er es in seinem Job nicht einmal annähernd so weit geschafft. Garland, der nun direkt neben Yuriy stand, stieß ihn an und sagte etwas zu ihm, das Kai nicht hören konnte. Yuriy nickte nur und sie lächelten sich flüchtig an. Schwer zu sagen, ob dieser Austausch eine tiefere Bedeutung hatte oder Garland nur auch etwas bestellen wollte, denn als Yuriy sich wieder umdrehte, hatte er gleich drei Getränke in den Händen. “Lai und Raoul sind hier”, sagte er wie aus dem Nichts, nachdem sie angestoßen hatten. “Ja, ich habe sie vorhin gesehen”, bestätigte Kai, “Weißt du da mehr?” “Nope. Hoffe nur, das clasht nicht.” Ja, das hoffte Kai auch. So süß Lai und Raoul als Paar auch gewesen waren, die Trennung war das genaue Gegenteil. Es lag nicht einmal so sehr an den beiden, die sich zwar recht oft und dramatisch gestritten hatten, bevor es komplett in die Brüche ging, sicher aber Freunde hätten bleiben können, hätten sich nicht so viele Menschen in die Sache eingemischt. Natürlich besaß Giulia einen riesigen Beschützerinstinkt Raoul gegenüber. Und Mao und Rei standen immer auf Lais Seite. Für eine gewisse Zeit hatte es ausgesehen, als würde sich ihre Clique aufspalten, und vor allem Leuten wie Mathilda oder Yuriy, die beide Seiten gut kannten, war das alles sehr auf die Nerven gegangen. Kai wusste bis heute nicht, wie das Schlimmste hatte verhindert werden können, doch er war sich sicher, dass Mathilda ihre Hände im Spiel hatte. “Apropos Raoul”, sagte Garland, “Ich werde mal sehen, ob ich ihn und Giulia finde. Dann habt ihr zwei Hübschen noch ein bisschen Zeit für euch.” Er lächelte - vielleicht etwas gequält, aber Kai konnte das nicht sicher sagen - und winkte kurz, bevor er in der Menge verschwand. Yuriy sah ihm kurz über seine Schulter hinweg nach, bevor er sich wieder zu Kai umdrehte. “Alles in Ordnung mit ihm?” Kai hob nur die Schultern. Für ein paar Minuten wurde es stiller im Raum. Anscheinend hatte Ivan sein Set beendet und übergab nun an Mathilda. Kurze Zeit später ertönte das Intro ihres Tracks Die Feuer von Varanasi und die Menge ging erneut steil. Yuriy kam mit dem Mund so nah an Kais Ohr, dass er seine vom Getränk kühlen Lippen spüren konnte. “Mathilda macht mich heute ein bisschen nervös. Sie wollte mir den Remix vorher nicht vorspielen.” “Den von Baikonur?”, fragte Kai, froh über den Themenwechsel. “Also wird das jetzt der offizielle Release?” “Ja, wir hauen heute alle neue Tracks raus. Vanja hat einen krassen Mashup mit einer von Kanes letzten Singles gemacht. Mathilda wie gesagt den Remix von Baikonur. Ich hab Kosmos fertig. Und Salima hat ihre Version von Giulia Tanzt, die ist sehr gechillt.” “Warte - du hast Kosmos fertig?” Yuriy tat, als wäre er entsetzt. “Folgst du nicht meinem Insta? Heute wird’s gedropped, morgen kannst du es überall kaufen und streamen.” “Ja sorry, ich schmachte immer nur deine Selfies an.” Wieder blickten sie sich an, doch noch bevor Kai nonchalant an seinem Drink nippen konnte, kam Yuriy ihm wieder näher, um ihn zu küssen. Nur am Rande fiel Kai auf, dass dies das erste Mal war, an dem sie sich öffentlich als Paar zeigten. Halb erwartete er irgendeinen Ausruf, weil ihre Bekannten sie entdeckt hatten, doch nichts passierte. Scheinbar waren sie alle wild im Raum verteilt. “Hast du es den anderen schon erzählt?”, fragte er, als sie sich lösten, und meinte ihren Beziehungsstatus. “Nein. Dafür war irgendwie keine Zeit. Sie werden es schon merken. Hey, bevor ich es vergesse, etwas anderes...” Kai sah zu Yuriy auf, um zu zeigen, dass er zuhörte. “Was hältst du davon, Miguel wegen der Sache in London zu fragen?” “Miguel?”, wiederholte er irritiert. “Ja”, sagte Yuriy. “Ich glaube, das könnte ganz gut passen. Er ist gut genug, um so eine Nacht zu überstehen, und die Kohle kann er sicher auch gebrauchen.” Kai spürte den Blick seines Freundes auf sich und verkniff sich, den Mund zu verziehen. Er hatte seit einer halben Ewigkeit nicht mehr mit Miguel gesprochen, geschweige denn, ihn persönlich zu treffen. “Ich weiß, es ist vielleicht ein wenig kompliziert zwischen euch”, fuhr Yuriy fort, “Aber meinst du, das ist so schlimm, dass ihr gar nicht mehr miteinander könnt? Wenn du willst, kann ich ihn auch darauf ansprechen.” Yuriy hatte Recht. Miguel und er hatten nicht einmal ernsthaft etwas miteinander gehabt, und es hatte auch keinen Streit zwischen ihnen gegeben - lediglich Enttäuschung. Damit sollte man doch umgehen können, oder? Also nickte er schließlich, bevor er, um nicht länger darüber nachdenken zu müssen, eine Kopfbewegung in Richtung des Dancefloors machte. “Na los, du wolltest doch tanzen, bevor du arbeiten musst.” Inzwischen war der Club brechend voll. Selbst wenn sie ausgelassen hätten tanzen wollen, wäre es ihnen wohl nicht gelungen. Ständig spürte Kai fremde Schultern, Arme, Hände in seinem Rücken, bevor sie sich ein bisschen Platz in der Menge gemacht hatten. Niemand achtete auf sie, und das war genau der Grund, weshalb Kai Raves weitaus mehr mochte als alle anderen Tanzveranstaltungen. Es war so gut wie unmöglich, sich irgendwie elegant oder auch nur systematisch zu Techno zu bewegen. Alle zappelten so gut herum, wie es eben ging. Die Pros schafften es, dabei eine gelassene Miene beizubehalten, aber das war es auch schon. Und außerdem wurde man selten bis nie angetanzt - wie auch, wenn die Gefahr, ganz unbeabsichtigt einen Ellenbogen ins Gesicht zu bekommen, durchaus real war? Für Kai war es perfekt so. Vor ein paar Jahren noch waren Clubs für ihn ein hinnehmbares Übel gewesen, um seine Freundschaft mit Ralf und Johnny aufrecht zu erhalten. Er hatte nie so wirklich verstanden, was so toll daran war, sich in irgendwelchen VIP-Lounges die Hirnzellen mit Alkohol und Koks abzutöten und dann mit Fremden auf der Tanzfläche zu grinden. Je öfter er auf Technopartys ging, desto mehr verstand er, was eigentlich hinter der Feierbegeisterung steckte. Es war vielleicht weniger das Feiern an sich, mehr das Aufgehen in der Musik, das er zuvor höchstens bei Live-Konzerten erlebt hatte. Und jetzt hatte er sich ausgerechnet in einen DJ verliebt. Während er Yuriy beobachtete, der sich benahm als wäre er hier zu Hause, konnte Kai sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wo zum Teufel er falsch abgebogen war, um hier zu landen; dann erinnerte er sich wieder an den Mist, der in Russland passiert war und die Zerwürfnisse mit Soichiro, die ihn schließlich nach Berlin gebracht hatten. All das kumulierte sich in genau diesem Moment, in dem sein Freund sich vor ihm bewegte, bunte Lichter im Haar und schwarze Linien auf den Armen, die sich zu winden, neu ineinander zu verschlingen schienen. Als hätte sie nur darauf gewartet, spielte Mathilda Baikonur an. Durch die Tanzenden ging ein begeisterter Aufschrei, doch Yuriy blieb augenblicklich stehen wie ein Reh im Scheinwerferlicht, seine Lippen formten die Worte “Oh Shit”. Kai trat näher an ihn heran, um ihm beruhigend, vielleicht aber auch etwas ironisch, den Arm zu tätscheln, während es um sie herum noch ein Stück wilder zuging. Natürlich hatte Mathilda die BPM etwas hochgeschraubt und neue Tonspuren hinzugefügt, doch die Melodie, die auch im Original an Trance erinnerte, blieb unverkennbar. Kai mochte den Track, und der Mix war definitiv nicht von schlechten Eltern. Er zupfte an Yuriys Shirt. “Und? Was sagst du?” “Diese Frau ist genial”, gab Yuriy zurück und klang fast resigniert. “Sie hat ihn besser gemacht. Das verzeihe ich ihr nie.” Kai wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick rempelte ihn jemand von hinten an. Er stolperte gegen Yuriy, der schnell einen Arm um ihn legte, um ihn abzufangen. Hinter ihm erklang eine Frauenstimme: “Oh mein Gott, es tut mir so leid! Irgendwer hat geschubst - Shit, Kai?!” Normalerweise machte er sich nichts daraus, wenn so etwas passierte, denn meist war es mit einer entschuldigenden Geste abgetan, und dann wurde weitergetanzt. Dass er mitten auf der Tanzfläche angeschrien wurde, passierte eher selten und sprach dafür, dass der Mensch hinter ihm sich mit den Gepflogenheiten auf Technopartys nicht auskannte. Und eine Sekunde später wusste er, warum diese Stimme ihm so bekannt vorkam. “Mariam?” Er war wahrscheinlich noch erstaunter über diese Begegnung als sie. Einen Moment lang starrten sie sich an und ja, es war wirklich seine Mitarbeiterin. Was zum Fick. “Hi.” Sie wirkte ertappt, aber nur für eine Sekunde. Und eigentlich durfte Kai sich auch gar nicht wundern. War ja klar, dass Garland und sie sich nicht nur über Berufliches austauschten. Diese sich anbahnende Freundschaft war unheilvoll, so viel stand fest. Mariams Blick wanderte von seinem Gesicht über seine Klamotten (er war nun schlagartig doch froh, nicht komplett dressed in den Club gegangen zu sein) und schließlich zu Yuriy, der Kai immer noch festhielt und sich zu seinem Ohr beugte. “Und wer ist jetzt das?” “Äh, das ist Mariam, eine meiner Consultants”, entgegnete er laut, “Mariam, das ist Yuriy, mein…” Er stockte, warf einen Blick zurück zu Yuriy, der nur die Augenbrauen hochzog und ihn erwartungsvoll ansah. “Mein Freund”, sagte Kai und wendete sich Mariam wieder zu. “Oh. OH!” Falls sie verunsichert war, konnte sie es augenblicklich überspielen. Schon strahlte sie sie an. “Schön dich kennenzulernen! Sorry, Kai ist so verschwiegen, ich wusste gar nicht… Aber egal. Ich bin auf der Suche nach Garland - oder sollen wir zusammen an die Bar?” Ihr Blick saugte sich wieder an Yuriy fest und Kai unterdrückte ein Seufzen. Das wars dann wohl mit Tanzen. Wie zur Bestätigung kam Yuriy ihm wieder näher. “Ich sollte langsam gehen, sonst verpasse ich mein Set.” Sie tauschten einen Blick: Kai teilte Yuriy stumm mit, was er davon hielt, dass der ihn nun in so einer Situation allein ließ und Yuriy tat unschuldig. Dann drückte er ihm noch einen Kuss auf die Schläfe, bevor er sich einen Weg durch die Menge in Richtung des Backstagebereichs bahnte. Und Kai versuchte sein bestes, um Mariam wieder abzuschütteln. Doch die war unerbittlich, klebte an ihm und redete unentwegt auf ihn ein. Im Job brachte sie das sehr weit, hier überforderte sie ihn damit. Er war schlichtweg zu müde, um ein vernünftiges Gespräch zu führen - tanzen ja, reden nein. Zum Glück wurde er irgendwann von Giulia und Garland erlöst, die Mariam unter ihre Fittiche nahmen. Kurz darauf begann Yuriys Set, ein willkommener Grund für Kai, sich von den anderen zu lösen und wieder unter die Tanzenden zu mischen. Die Stimmung war gut, die Leute hatten sich eingelebt, der Höhepunkt der Party war erreicht. Und nach dem Geräuschpegel zu urteilen gab es hier einige, die Yuriys Tracks kannten und abfeierten. Kai hatte am Rande mitbekommen, wie diese im Verlauf der letzten beiden Jahre in mühevoller Kleinarbeit entstanden waren. Es hatte ihn immer wieder erstaunt, wie nervös Yuriy angesichts der Veröffentlichung gewesen war, und das, obwohl er seit Jahren als DJ arbeitete. Eigene Tracks zu produzieren war scheinbar doch nochmal eine ganz andere Hausnummer. Kai mochte Yuriys Musik; wahrscheinlich würde er diesen Stil unter tausenden wiedererkennen. Und Techno gehörte zu Yuriy, er konnte beide nicht voneinander trennen. Vielleicht lag es daran, wie sie sich kennengelernt hatten, immerhin war das erste, was er bewusst von Yuriy wahrgenommen hatte, die Musik gewesen. Als er erneut am Arm berührt wurde, war er beinahe genervt. Konnte er nicht einfach nur für ein Stündchen durchtanzen, ohne dass jemand etwas von ihm wollte? Er drehte sich um und erblickte Mathilda, die mit gerunzelter Stirn vor ihm stand. “Was ist los?”, rief er über den Bass hinweg in ihr Ohr. Sie zog ihn noch ein Stück zu sich herunter. “Yuriy hat gesagt, du kannst zu ihm kommen, wenn du willst!” Es dauerte eine Weile, bis ihm die Bedeutung der Worte klar wurde. “Du meinst… jetzt?”, fragte er, zog nun selbst die Brauen zusammen. Sie nickte und starrte ihn an, eine stumme Frage in den Augen, die er ihr allerdings auch nicht beantworten konnte. Niemand, mit Ausnahme anderer DJs, durfte Yuriy während seiner Sets stören. Absolut niemand. “Und du sollst ihm ein Wasser mitbringen”, ergänzte Mathilda. Vermutlich sah sie, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Die ganze Zeit über wendete sie nicht den Blick ab, als hoffte sie, so seine Gedanken lesen zu können. Schließlich war Kai es, der sich als erster bewegte. Er nickte. “Okay.” Kurz darauf drängte er sich, in der Hand eine Flasche Wasser, an den Leuten vorbei zur Bühne. Es war eigentlich keine Bühne, eher ein Verschlag aus Technik, ein paar Boxen und dem eigentlichen Pult, mit einem kleinen Seiteneingang. Vor diesem standen Ivan und Sergeij, trotz der lauten Geräuschkulisse in ein Gespräch vertieft. Auch sie starrten ihn an, als er ihnen stumm zu verstehen gab, dass er vorbei wollte. Sie machten ihm Platz, doch er meinte, zu spüren, wie sich ihre Blicke in seinen Rücken bohrten. Vielleicht hofften sie darauf, dass Yuriy ihn in hohem Bogen wieder nach draußen beförderte. Er war zum ersten Mal auf dieser Seite des Pults. Die Turntables waren mit dezenten Spots beleuchtet, die man von der Tanzfläche aus nicht sah. Es war eng, auf dem Boden verliefen kreuz und quer Kabel, und in den dunklen Ecken blinkten Geräte, deren Funktionen Kai sich nicht erschlossen. Yuriy stand eine Armlänge entfernt rechts von ihm, die Kopfhörer über den Ohren und beide Hände an den Reglern. Es war laut; erst jetzt bemerkte Kai, dass es auch hier Boxen gab, damit sie unverzerrt alles hören konnten, was auf die Tanzfläche geblasen wurde. Yuriy musste ihn aus den Augenwinkeln gesehen haben, denn er lächelte ihn flüchtig an, bevor er kurz mit den Fingerspitzen am Jogwheel drehte und mit der Linken zwei, drei andere Knöpfe bediente. Der Rhythmus veränderte sich, ein neuer Track begann. Auf der Tanzfläche erklangen Pfiffe. Erst jetzt nahm Yuriy die Kopfhörer ab, wandte sich ihm zu und winkte ihn heran. “Hi!”, sagte er grinsend, als Kai bei ihm war, und nahm ihm die Wasserflasche ab. Während er trank, warf Kai einen Blick auf die Menge, die aus dieser Perspektive wie eine diffuse Masse wirkte, die durch den Raum schwappte. Dann tauchte Yuriys Hand wieder in seinem Sichtfeld auf, drehte beinahe nachlässig an den Reglern, woraufhin der Bass noch ein wenig dröhnender wurde. “Was verschafft mir die Ehre?”, rief er ihm schließlich zu. “Spontaner Entschluss”, entgegnete Yuriy und schob ihn ein Stück zur Seite, um den zweiten Controller erreichen zu können, der blinkend zum Leben erwachte. Auf dem kleinen Display spulte sich stumm ein weiterer Track ab. Dann hob Yuriy den Kopf, um ihn anzusehen. Es war so eng, dass ihre Schultern sich berührten. “Und denkst du nicht, die anderen werden spätestens jetzt kapieren, was los ist?” “Sie sind jedenfalls ordentlich verwirrt.” Kai trat einen halben Schritt zurück, damit Yuriy mehr Platz hatte, aber viel mehr war auch nicht möglich. Er traute sich nicht, irgendetwas anzufassen, aus Angst, an den falschen Knopf zu kommen - obwohl er sich ziemlich sicher war, dass mindestens ein Drittel der hier zusammengesteckten Geräte gerade sowieso ausgeschaltet waren. Er war Yuriy bei seiner Arbeit noch nie so nahe gewesen. Zwar wusste er von diversen Livestreams, wie sein Freund sich an den Turntables gebärdete, doch so war es doch noch mal etwas anders. Im Gegensatz zu Mathilda und Salima, die sich von ihrer Musik tragen zu lassen schienen oder gar Ivan, der mindestens genauso steil ging wie sein Publikum, bewegte Yuriy sich recht wenig. Es gab auch so gut wie keine Interaktion mit den Tanzenden, höchstens mal ein unbestimmtes Lächeln in die Runde, wenn eine besonders gute Transition bejubelt würde. Heute benutzte er vier Controller gleichzeitig, was schon einiges an Erfahrung voraussetzte - meistens waren zwei absolut ausreichend. Die Tracks folgten nicht einfach aufeinander, sondern liefen ineinander, ergänzen sich, veränderte sich je nach der Stimmung, die im Club herrschte. Je mehr Controller desto mehr Kombinationsmöglichkeiten gab es. “Hey Kai.” Yuriys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. “Hinter dir ist eine Box mit Tapes. Kannst du da mal ein Stück abreißen? So zehn Zentimeter?” Er musste ein wenig in der Dunkelheit herumtasten und fand dann tatsächlich eine Pappbox. Darin mehrere Rollen Tapes in Neonfarben. Er entschied sich für ein leuchtendes Grün und riss ein Stück des Bandes ab, mit dem er sich zu Yuriy gesellte. Der war schon wieder voll und ganz mit dem nächsten Übergang beschäftigt. Nach ein paar Sekunden kam der Drop ins nächste Stück und er hatte kurz die Hände frei. “Okay, jetzt musst du mir helfen.” Er nahm Kai das Tape ab und deutete auf ein Gerät, das über dem Zentrum des Pults lag und aus dem mehrere Kabel ragten. “Halt mal den Stecker dort fest. Den mit dem pinken Tape. Am besten ziehst du ihn ein bisschen nach oben.” Kai tat wie ihm geheißen, auch wenn es etwas gruselig war, sich so weit über die Regler zu beugen. “Was ist damit?” “Wackelkontakt. Wir dachten erst, es liegt am Kabel, aber der Stecker im Interface ist wohl hinüber.” Wieder justierte Yuriy erst die Musik, bevor er vorsichtig das alte Tape löste. Ihre Hände berührten sich, Yuriys Finger waren warm und arbeiteten präzise um die seinen herum. “Was passiert, wenn der abfällt?”, fragte Kai. Yuriy, der inzwischen mit dem grünen Tape herumhantierte, zog die Mundwinkel hoch. “Das ist das Audio-Interface. Wenn das kaputt geht, ist die Musik alle.” Angesichts von Kais erschrockener Miene lachte er. “Keine Sorge, sowas passiert ständig! Und außerdem habe ich es gleich gefixt. Kannst loslassen.” Schnell zog Kai die Hand weg und Yuriy wickelte die letzten Zentimeter des Tapes fest um den Stecker, bevor er sich sofort wieder seinen Controllern zuwendete. Er war sich sicher, auf der Tanzfläche hatte niemand bemerkt, dass es ein Problem mit der Technik gab, und so wie Yuriy sich benahm, musste er auch schon weitaus Schlimmeres erlebt haben. Trotzdem, Kai konnte darauf verzichten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, wenn es plötzlich komplett still wurde. In den nächsten Minuten passierte nichts Aufregendes. Sie tauschten ab und an ein paar Worte, während Yuriy weiter den Club beschallte. Mit der Zeit begann Kai sich ziemlich wohl hier zu fühlen, auch wenn er wenig mehr zu tun hatte, als dekorativ herumzusitzen - in einer Ecke gab es einen winzigen Hocker, auf den er sich zurückzog, um nicht im Weg zu stehen. Auch von dieser niedrigeren Position aus konnte er beobachten, was sein Freund an den Turntables veranstaltete. Zwar hatte er keine Ahnung, welcher Knopf was bewirkte, aber Yuriys Bewegungen hatten etwas sehr Beruhigendes, beinahe Hypnotisches. Und der Sound war allemal gut. Irgendwann streckte Yuriy die Hand in seine Richtung aus. Kai hob eine Augenbraue, dann ließ er sich hochziehen. “Das ist Kosmos”, sagte Yuriy und deutete auf einen der Controller. In seinem Gesicht stand Vorfreude, aber anhand der Art und Weise, wie seine Finger auf das Pult trommelten, erkannte Kai, dass er auch nervös war. Also grinste er ihn herausfordernd an. “Na dann hau mal raus!” Er kassierte einen Stoß in die Seite, bevor Yuriys Hände wieder über das Pult wanderten. Dieses Mal blieb Kai stehen, als moralische Unterstützung. Soweit er es beurteilen konnte, verlief die Überleitung in den neuen Track ziemlich smooth - Yuriy hatte die Transition gut aufgebaut, es war hörbar, dass gleich etwas Besonderes passieren würde. Fasziniert stellte Kai fest, dass er trotz der räumlichen Trennung sehr genau spüren konnte, was für eine Stimmung auf der Tanzfläche herrschte. Wie schon bei Mathildas Version von Baikonur gingen die Leute auch jetzt mit, bejubelten den neuen Track. Und endlich hielt Yuriy inne, ließ von seinen Reglern ab, warf erst einen Blick in den Raum hinein und wandte sich dann zu ihm. “Hm. Guter Track”, urteilte er, und es war nicht ganz erkennbar, wie ernst er diese Aussage meinte. “Durchaus”, bestätigte Kai. In diesem Moment fand er Yuriy, der genau unter einem der roten Strahler stand, mit ernster Miene aber Freude in den Augen, unwiderstehlich. Bevor er sich wieder in der Musik verlieren konnte, kam Kai ihm ein Stück näher und küsste ihn. Er spürte, wie Yuriy ihm nachgab, sich ein wenig an ihn lehnte, dann hielt er ihn fest. Tonspuren webten ein Netz um sie, schirmten sie von allem ab, was um sie herum geschah. Es war egal, ob sie von der Tanzfläche aus gesehen werden konnten oder ob Kai meinte, einen Aufschrei von einer Person hören zu können, die wie Giulia klang. Es war wahrscheinlich sowieso nur Einbildung. Er legte die Hände an Yuriys Wangen, die irgendwie kühl waren, strich mit den Lippen über seinen weichen Mund, der ihm beinahe hungrig entgegenkam, und hätte sich wahrscheinlich in diesen Berührungen verloren, wäre ihm nicht irgendwann etwas aufgefallen. “Yuriy…”, murmelte er. “Hm?” “Dein Track.” Kai öffnete die Augen, nur, um in Yuriys zu starren. Die Musik lief immer noch, aber bestimmt schon seit einer Minute ohne großartige Veränderung. “Oh shit.” Schon war Yuriy wieder an den Turntables, doch anstatt wütend zu sein schien er belustigt. “Jetzt habe ich meine Cue Points verpasst, Kai!” Yuriy räumte gerade den Backstage-Bereich auf, als die anderen hereinkamen. Anscheinend hatten sie ihn gesucht. Ivan warf sich auf ein Sofa, Mathilda lehnte sich gegen ein Regal und Salima blieb an der Tür stehen, als befürchteten sie, dass er fliehen würde. Yuriy hob fragend die Augenbrauen, ahnte aber bereits, worauf das Ganze hinauslief. “So so”, fing Salima an, “Wer hat denn heute seine Transition verkackt? Die ganzen Normalsterblichen haben nix gemerkt, aber du denkst doch nicht, dass uns das entgeht?!” “Endlich erwischt es auch mal dich!”, fügte Ivan schadenfroh hinzu. “Aber bitte vergesst nicht”, sagte Mathilda, “warum er es vergeigt hat!” Sie verschränkte die Arme wie eine Lehrerin, deren Schüler unerwartet eine schlechte Note geschrieben hatte. “Knutschen hinter den Turntables, aha. Ich fall vom Glauben ab, Yuriy!” “Mit dem Typen, von dem er seit drei Jahren behauptet, nichts von ihm zu wollen!”, rief Salima. “Du bist am Arsch.” Vanja feixte und verschränkte die Arme hinterm Kopf. “Du bist am Arsch wenn du uns nicht sofort die ganze Geschichte erzählst!”, bestätigte Mathilda. Sie stieß sich vom Regal ab und setzte sich schwungvoll an den runden Tisch, der mitten im Raum stand. Salima zog von irgendwo eine Sektflasche hervor und stellte sie auf den Tisch und Vanja steuerte ein paar Gläser bei. Dann saßen sie vor ihm wie ein hohes Gericht, allerdings grinsend. “Und bitte”, meinte Mathilda. Etwa eine Stunde später hatte Yuriy auch die letzte ihrer neugierigen Fragen beantwortet. Er war müde und hatte einen kleinen Schwips vom Sekt. Es musste inzwischen etwa fünf Uhr in der Früh sein, was nicht bedeutete, dass der Club bereits leer genug war, um zu schließen. Doch für ihn war es Zeit, nach Hause zu gehen. Kai war schon längst weg; nach Yuriys Set waren sie kurz in den Nebenraum gegangen, um auf einem versifften Sofa neben irgendwelchen Betrunkenen noch ein wenig rumzuknutschen. Doch irgendwann war Kai beinahe eingeschlafen und hatte sich schließlich verabschiedet. Die anderen zogen ihn in eine Gruppenumarmung, denn trotz einiger Patzer verdiente diese Nacht eine solche. Sie verabredeten sich noch für eine baldige Krisensitzung zu Salimas und Ivans Wohnsituation, dann gingen sie alle ihrer Wege. Yuriy packte ein paar letzte Kabel zusammen, bevor er quer durch den Clubraum auf den Ausgang zusteuerte. Auf halbem Weg fiel sein Blick auf zwei Gestalten an der Bar, die ihm bekannt vorkamen. Der eine war unverkennbar Garland, und neben ihm saß Kais Kollegin. Mariam. Kurzentschlossen machte er noch einen kleinen Schwenk zu ihnen. “Hey, alles klar bei euch?” “Holy shit.” Mariam starrte ihn an, dann griff sie nach seinem Arm. “Heeey, du bist auch noch hier, wie gut! Sorry, ich habe ein bisschen viel getrunken.” Sie war ziemlich neben der Spur, aber darauf wies Yuriy sie nicht hin. Auch Garland hatte schon mal nüchterner gewirkt. Wahrscheinlich wäre es das beste, die beiden in ein Taxi zu verfrachten. “Braucht ihr Hilfe bei der Heimfahrt?”, fragte er. Mariam winkte ab, aber ihre Bewegungen waren so fahrig, dass Yuriy trotzdem sein Handy zur Hand nahm und versuchte, nebenbei einen Fahrer zu rufen. Und gleich einen zweiten für sich selbst. Wieder packte Mariam seinen Unterarm, beugte sich verschwörerisch zu ihm. “Garland hat mir alles erzählt”, sagte sie. “Dass ihr was miteinander hattet, und jetzt bist du mit Kai zusammen. Kann’s ihm nicht verdenken.” Ihr Blick kletterte an ihm herunter. “Holy shit. Hätte nicht gedacht, dass das Privatleben von meinem Chef so spannend ist. Obwohl, doch, schon irgendwie. Aber holy shit. Und stimmt es, dass Kai vorher was mit einem anderen Bekannten von euch hatte?” “Mariam!” Jetzt schien auch Garland zu bemerken, was um ihn herum geschah. Sein Ausruf klang etwas gequält. “Das war alles vertraulich!” “Taxi ist gleich da”, sagte Yuriy laut, “Na los, ab nach Hause mit euch.” Erstaunlicherweise hielten sie sich ohne viele Widerworte an seine Anweisungen. Mariam schwankte zur Garderobe und besorgte sowohl ihre als auch Garlands Jacke. Das Anziehen dauerte etwas länger, aber schließlich standen sie in der kalten Morgenluft. Mariam stakste auf eine Gruppe Leute zu, um sich eine Kippe zu schnorren oder etwas ähnliches. Noch bevor Yuriy sie zurückholen konnte, klammerte Garland sich an ihn, legte ihm den schweren Kopf auf die Schulter. “Sorry”, murmelte er, “Ich wusste nicht, dass sie alles ausquatscht, sobald sie betrunken ist…” “Schon gut”, sagte Yuriy, “Es ist ja auch nicht gelogen, oder?” Garland brummte, dann war er eine Weile still. Mariam lachte mit den anderen. “Hör mal”, fing Garland dann wieder an. “Ich freue mich für dich und Kai. Wirklich. Aber… ich vermisse dich. Nicht nur… du weißt schon. Ich meine das ernst.” Yuriy wusste nicht wirklich, was er sagen sollte, er war ja selber nicht komplett klar, auch wenn die Kälte half. “Tut mir leid”, meinte er schließlich. “Aber ich bin jetzt mit Kai zusammen. Und das ist mir schon sehr ernst.” “Ich weiß, ich weiß. Du warst immer verliebt in ihn. Die ganze verdammte Zeit, Yuriy. Ich weiß.” Yuriy sagte nichts. “Ich meine-” Garlands Kopf bewegte sich auf seiner Schulter. “Allein wie du ihn angesehen hast. Und er dich. Es war nicht auszuhalten. Wie hast du das so lange ausgehalten?” “Ich weiß nicht”, antwortete er leise. Von Garland kam ein müdes Ächzen. “Hör mal”, fuhr Yuriy fort und schielte auf den hellen Schopf des anderen, “Vielleicht sollten wir uns eine Weile nicht sehen? Also, auch keine Nachrichten und sowas. Das könnte dir vielleicht gut tun.” “Das wird hart”, nuschelte Garland. Er schien drauf und dran, an Yuriy gelehnt einzunicken. Zum Glück kam kurz darauf das erste Taxi um die Ecke. Yuriy pfiff Mariam heran, setzte sie und Garland auf die Rückbank und gab dem Fahrer Garlands Adresse. Hauptsache, sie kamen irgendwo an. Alles weitere würde sich in spätestens ein paar Stunden finden, schließlich waren sie alle erwachsen. Sobald er die beiden abgefertigt hatte, hievte er die schwere Tasche mit seiner Ausrüstung in den Kofferraum des zweiten Taxis, das inzwischen auch vorgefahren war. “Lange Nacht?”, fragte die Fahrerin, als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Sie hatte wohl beobachtet, wie er seine Freunde in das andere Auto bugsiert hatte. “Kann man wohl sagen”, entgegnete er, bevor er ihr Kais Adresse nannte. Die Fahrt nach Friedrichshain dauerte nicht lange, und doch reichten die paar Minuten im stillen, warmen Auto aus, um Yuriy müde werden zu lassen. Ja, er brauchte Schlaf. Ein bisschen tat es ihm leid für Kai, denn für den Rest des Tages war er sicher nicht zu gebrauchen. Doch es war Samstag und er hatte dieses Wochenende keinen weiteren Termin. Vielleicht konnten sie einfach im Bett bleiben und die Seele baumeln lassen, so wie früher - nein, eigentlich noch besser als früher. In Kais Wohnhaus schien niemand wach zu sein. Alle Fenster waren dunkel, die meisten Rollos heruntergelassen. Im Treppenhaus hallte jede seiner Bewegungen von den Wänden wieder, doch er bemühte sich erst, leise zu sein, als er die Wohnungstür aufschloss. Kai hatte mitgedacht: In der Küche verströmte die gedimmte LED-Leiste unter den Hängeschränken warmes Licht, sodass er nicht komplett im Dunkeln stand. Vom Bett kam kein einziges Geräusch, während Yuriy die Tasche abstellte, die Schuhe auszog und ins Bad schlich. Auch das Rauschen der Dusche konnte Kai nicht wecken. Schließlich lief Yuriy, lediglich in Boxershorts, ein letztes Mal durch die Wohnung und schaltete das Licht in der Küche aus, bevor er möglichst vorsichtig ins Bett kroch. Doch ausgerechnet jetzt musste Kai die Bewegung neben sich bemerkt haben, denn er machte einen jähen, scharfen Atemzug und drehte sich zu ihm um. “Yuriy?”, murmelte er, seine Stimme war kaum zu hören. “Ja”, erwiderte er leise. “Hi”, seufzte Kai. Vermutlich war er gar nicht richtig wach. “Hi.” “Wie spät ist es?” Die Worte waren nur schwer zu verstehen. “Keine Ahnung, detka”, antwortete er, obwohl er sich sicher war, dass Kai schon gar nicht mehr zuhörte. “Schlaf weiter.” Von dem anderen kam ein weiteres Seufzen, dann spürte Yuriy, wie er nach ihm tastete und griff nach seiner Hand. Kai brummte, dann lag er wieder still, seine Atemzüge wurden gleichmäßig. Seine Finger zuckten, als wolle er ihn festhalten, ließen dann aber locker, und Yuriy durchfuhr ein Gefühl, als wäre er angekommen, er wusste selbst nicht so genau, wo. Er rückte noch ein Stück zu Kai heran, zog die Decke über sie beide und schloss die Augen. Kurz darauf schlief auch er tief und fest. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)