Metropolentänzer von lady_j ================================================================================ Kapitel 8: Ich komm' erst jetzt an dich ran ------------------------------------------- Yuriy musste den Luftzug gespürt haben, als Kai die Badezimmertür öffnete, denn er drehte sich beinahe sofort zu ihm um. „Oh, hallo”, sagte er und klang so gar nicht überrascht, „Was wird das denn?” Seine Augen wanderten von Kais Gesicht zu seinem Oberkörper, da der sich gerade das T-Shirt über den Kopf gezogen hatte. Als nächstes knöpfte er seine Jeans auf. „Ich dachte mir, vielleicht hast du Lust, deine kleine Fantasie wahr werden zu lassen”, sagte er. Yuriy stellte das Wasser ab. „Ich glaube, das würde mir gefallen.” Wieder ging sein Blick nach unten, und Kai nutzte den Moment, um ihn ebenfalls zu betrachten. Natürlich hatten sie sich auch vorher schon nackt gesehen, doch immer nur flüchtig und in einem ganz anderen Kontext. Yuriys Körper war, wie Kai es sich vorgestellt hatte: so viele gerade Linien; wie sich die Haut über Knochen, Sehnen und Muskeln legte; wie er dennoch alles andere als zerbrechlich wirkte. Seine Schultern waren breit genug, um Sicherheit zu vermitteln. Ein Muttermal auf seiner Hüfte überraschte ihn, und so war es das erste, was Kai berührte, nachdem er zu ihm in die Duschkabine gestiegen war. Flüchtig, weil er nicht anders konnte. Weil er es endlich konnte. „Machst du das Wasser wieder an?”, fragte er, woraufhin es lauwarm auf ihn herabregnete, beinahe zu kalt für diese Jahreszeit. Yuriys Haut allerdings war warm unter seinen Händen. Er reckte sich ein Stück, spürte Yuriys Mund auf seinem, als sie sich ohne ein weiteres Wort küssten. Seine Frisur fiel dem Wasser zum Opfer, die Tropfen prasselten kurz auf seine geschlossenen Lider, bevor er sich ein wenig drehte, um nicht direkt im Strahl zu stehen. Yuriys Hände strichen über seinen Rücken, seine Finger pressten sich fest in seine Haut, als wolle er jeden Wirbel, jede Rippe einzeln ertasten. Kai seufzte in ihren Kuss hinein, dann griff Yuriy in sein Haar, grob genug, um seinen Spieltrieb zu entfachen, und instinktiv biss er ihm in die Unterlippe. Wieder lief ein Schwall Wasser über seine Schultern, als er einen Schritt nach vorn trat - die Berührung kurzzeitig nicht unterscheidbar von denen seines Gefährten - sammelte sich dort, wo sich ihre Körper aneinanderpressten, kühl an einigen Stellen und Hitze an anderen. Von Yuriy kam ein Laut, bei dem ihm die Knie weich wurden. Kai löste sich von den Lippen des anderen und vergrub den Kopf in seiner Halsbeuge. Kurz schlossen sich Yuriys Hände um seine Oberarme, als wolle er ihn aufhalten, doch der Moment war vorbei, bevor Kai sich darüber Gedanken machen konnte. Er schmeckte das Wasser an seinem Hals und hier und da noch das kleinste bisschen Salz. Beinahe wäre Kai gestolpert, als Yuriy einen Schritt nach hinten machte, doch sie wurden beide von der Wand aufgehalten. Yuriy sog scharf die Luft ein. „Warte…” Vielleicht hatte die Kälte der Fliesen ihn überrascht. Womöglich überhörte Kai auch einfach, was er sagte, denn alles an dieser Situation stachelte ihn nur weiter an. Er legte die Hände an Yuriys Taille und drängte ihn noch ein wenig zurück; zuerst schien es, als würde der andere dagegen halten, doch dann ließ er nach, neigte den Kopf zur Seite, sodass seine Wange an Kais lag. Sie atmeten nun beide lauter, Kai hielt die Augen geschlossen, wollte nur hören und spüren, alle Eindrücke in sich aufnehmen. Yuriy war nicht der einzige, dessen Tagträume hier gerade Wirklichkeit wurden. Und er wollte mehr, viel mehr. Seine Finger kratzten über Yuriys Hüfte, während er ihn noch weiter gegen die Wand presste, und dann tiefer, dem Zentrum der Hitze entgegen... „Fuck, Kai, warte.” Yuriy griff nach seinem Handgelenk, drückte ihn von sich weg. Verwirrt öffnete er die Augen und löste sich sofort von seinem Freund, als er dessen Gesichtsausdruck bemerkte. Er wusste nicht genau, was es war, aber es war definitiv nicht positiv. „Was ist los?”, fragte er alarmiert. Der Moment dauerte vielleicht zwei Sekunden an, bevor Yuriy sich wieder fing. Der Abstand zwischen ihnen schien zu helfen. Er atmete einmal tief durch, erst dann verschwand die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen. „Alles in Ordnung?”, fragte Kai und streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu berühren. Zum Glück ließ Yuriy es zu, strich nach einem Moment sogar selbst über Kais Schulter, eine entschuldigende Geste. „Ja, alles gut”, sagte er. „Hab ich dir wehgetan?” Kais Blick glitt nach unten, aber seine Finger hatten nicht einmal Kratzer auf Yuriys Haut hinterlassen. „Nein, gar nicht. Ich hab mich nur erschreckt, als du mich so gepackt hast.” Es schien, als wäre er von sich selbst überrascht, und ein wenig verärgert. „Sorry.” „Nein, mir tut es leid”, sagte Kai und kam Yuriy wieder etwas näher, diesmal, um ihn zu beruhigen. Erleichtert stellte er fest, dass auch das dem anderen nichts auszumachen schien. Es war alles wieder wie zuvor, hinge da nicht ein leises Unbehagen zwischen ihnen. „Lass uns lieber aufhören”, schlug Kai vor. Er war noch immer verwirrt, und diese Verwirrung mischte sich unter die Überbleibsel seiner Lust, eine sehr seltsame Kombination. Er konnte nicht wirklich klar denken, ahnte aber, dass es das Klügste wäre, das hier abzubrechen. Doch auch dieses Mal hielt Yuriy ihn auf. „Warte”, sagte er wieder, aber in einem anderen Ton, „Bleib hier.” Er überbrückte den Abstand und umarmte ihn, und instinktiv schlang auch Kai die Arme um Yuriys Mitte. Das Wasser, das noch immer lief, wurde etwas wärmer, vielleicht hatte Yuriy den Regler bedient. Er drehte den Kopf, damit sie sich ansehen konnten. „Lass mich machen, okay?”, fragte Yuriy. „Bist du sicher?” Etwas flackerte in den blauen Augen, das ausreichte, um Kais Lust in den Vordergrund rücken zu lassen. Bereitwillig ließ er sich küssen, und mit jeder Sekunde, die verstrich, verschwand auch sein Unbehagen. Schließlich wagte er die ersten Berührungen, achtete jedoch darauf, dass diese leichter und weniger fordernd waren. Er überließ seinem Freund die Führung, auch wenn sein ursprünglicher Plan anders ausgesehen hatte. Und dann wanderten Yuriys Hände über ihn und trieben erschreckend schnell alle Gedanken aus seinem Kopf. Der feste Griff dieser großen, schlanken Hände war alles, was Kai heute brauchte. Da er sich gerade so gemerkt hatte, dass sie sich in einem ziemlich hellhörigen Badezimmer befanden, unterdrückte er sein eigenes Stöhnen kurzerhand, indem er seinen Mund auf Yuriys presste. Ließ sich einige Minuten lang einfach treiben, bis er sich von den Lippen des anderen losreißen musste, weil sein Kopf nach hinten fiel. Auf einmal war er es, der an der Wand lehnte, keuchend. Yuriys Fingerspitzen strichen noch sehr leicht über seine Haut, lösten winzige, letzte Schauer in ihm aus; gleichzeitig spürte Kai, wie eine angenehme Ruhe über ihn kam. „Du siehst so heiß aus, wenn du kommst”, sagte Yuriy in diesem Moment, und es klang nur ein ganz klein wenig spöttisch. Kai brummte, für eine kluge Erwiderung war es noch zu früh. Endlich drehte Yuriy das Wasser ab und es wurde still um sie herum. Langsam aber sicher drang kühle Luft in die Duschkabine ein und Kais Gedanken klärten sich in gleichem Maße. „Hey”, sagte er und griff nach dem anderen, als der die Kabinentür aufstieß. „Erklärst du mir, was das eben war?” Yuriy zögerte, dann nickte er. „Ja. Aber lass uns erstmal rübergehen.” Sie trockneten sich schweigend ab, sammelten ihre Kleidung zusammen und schlichen nackt durch den Flur zurück in Yuriys Zimmer. Er schaltete die Deckenlampe aus, doch die Lichter der Stadt waren wie immer hell genug, um sich trotzdem zurechtzufinden. Sie krochen unter die Bettdecke und setzten sich etwas auf, um aus dem Fenster sehen zu können. „Also?”, fragte Kai schließlich. Er hatte den Kopf auf Yuriys Schulter gelegt und spürte nun, wie dessen Wange auf seinen Scheitel sank. Am liebsten hätte er einfach die Augen geschlossen und ein wenig gedöst, aber er wollte wissen, was mit seinem Freund los war, solange dieser bereit war, darüber zu sprechen. Yuriy seufzte. „Das ist ein schwieriges Thema. Und ein bisschen peinlich.” „Yura”, sagte Kai. Er benutzte diesen Spitznamen nicht oft, denn er war vorwiegend für Boris reserviert, aber manchmal half es, um den anderen aus der Reserve zu locken. „Du hast mir vorhin echt Angst gemacht. Wenn es etwas gibt, das ich wissen sollte, dann lieber jetzt als zu spät.” Yuriy drehte den Kopf und drückte seine Lippen kurz auf Kais Scheitel. „Du hast ja Recht”, murmelte er. „Aber ich muss dafür ein bisschen ausholen. Ich habe dir doch mal von meinen ersten Beziehungen erzählt.” Kai nickte. Irgendwann während der letzten Jahre hatte er ihn gefragt, wie es so war, am Rande Berlins aufzuwachsen. Yuriy erzählte nicht gern von seiner Schulzeit als (so dachte er zumindest damals) einziger Schwuler und ewiger Außenseiter mit komischen Hobbies zwischen den ganzen anderen Draufgängern. Seine Mitmenschen hatten ihn weitestgehend in Ruhe gelassen, der Zusammenhalt gegen die Lehrer war stärker gewesen als die Differenzen untereinander - aber es war eben auch keine Umgebung, in der nicht-heterosexuelle Teenager sich untereinander austauschen konnten. Sie wussten schlichtweg nichts voneinander. Und so hatte Yuriy seine Erfahrungen allein machen müssen, wobei einige von diesen wohl mehr als schlecht gewesen waren. „Deine ersten Beziehungen waren, ich zitiere, für den Arsch”, sagte Kai. „Aber ich dachte immer, das wäre, naja… Auf einer anderen Ebene als der sexuellen.” „Es war auf vielen Ebenen so”, meinte Yuriy. „Aber um es kurz zu machen: Ich habe meine ersten Erfahrungen auf Raves und nach irgendwelchen Partys gemacht. Wir konnten ja auch schlecht in den Wohnungen unserer Eltern… Das wollte jedenfalls keiner. Das einzige, was ich damals sicher wusste, war, dass man immer Kondome benutzen sollte, und das war’s. Du kannst dir vorstellen, von welcher Qualität der Sex unter diesen Bedingungen war. Ich hatte nichts dagegen, bottom zu sein, ich meine, ich wollte es einfach ausprobieren. Aber die ersten Male waren hirnloses Rein-Raus. Ziemlich schmerzhaft und so gar nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte. Also habe ich mir gesagt, das tue ich mir nicht mehr an, und war seitdem eigentlich immer lieber top. Aber irgendwie hat sich das mit der Zeit zu so einer Art Tick entwickelt.” „Hm?”, machte Kai. Während Yuriy gesprochen hatte, hatte er eine Hand auf seinen Unterarm gelegt und ihn sanft zu streicheln begonnen. Geschichten wie diese waren ihm leider nur allzu vertraut, wenn er so etwas auch nicht selbst erlebt hatte. Er hatte erst angefangen, mit Männern zu schlafen, als er nach London gezogen war. Davor war es unmöglich, den wachsamen Augen seiner Familie für längere Zeit zu entkommen. Doch so hatte er sich zumindest gut informieren können, bevor er in die Vollen ging. „Was meinst du mit Tick?”, hakte er nach. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll”, antwortete Yuriy, „Ich will beim Sex immer die Kontrolle behalten. Wenn jemand etwas mit mir macht, mit dem ich nicht gerechnet habe, kriege ich so einen Fluchtreflex. Und ich bin überhaupt nicht gern bottom. Ich meine, ich weiß, dass es darauf nicht ankommt bei der Frage, wer den Ton angibt, aber andersrum fühle ich mich einfach sicherer.” Kai richtete sich auf, um seinen Freund ansehen zu können. „Yuriy, das sollte aber nicht so sein”, sagte er, „Das weißt du, oder?” „Natürlich. Und es tut mir leid, dass du es so erfahren hast. Ich hätte es dir vorher sagen sollen.” „Hör auf, dich zu entschuldigen.” Kai war viel eher wütend auf die Umstände, die dazu geführt hatten, dass Yuriy so schlechte Erfahrungen machen musste. Er hatte nichts gegen Spontanität beim Sex, aber es gab einfach genug Menschen, die das mit bloßer Willkür verwechselten. Und ja, er fühlte sich auch schuldig, schließlich hatte er Yuriy unter der Dusche mehr oder weniger überfallen. „Du hättest es einfach sagen können”, murmelte er, „Dann hätte ich dich doch niemals so bedrängt.” „Ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen”, entgegnete Yuriy, „Und außerdem war ich selbst überrascht. Ich hatte das schon länger nicht mehr. Nicht so.” Das machte es nicht besser, aber Kai versuchte, den Stich zu ignorieren, den diese Worte ihm versetzten. „Warum hast du dann weitergemacht?”, fragte er. „Hey. Du musst nichts machen, nur weil ich es bin, okay?” „Kai.” Yuriy sah ihn beinahe ungeduldig an. „Ich wollte das. Ich kenne solche Situationen, ich weiß, wo meine Reaktionen herkommen und ich habe mich heute bewusst dafür entschieden, trotzdem weiterzumachen. Weil ich nicht wollte, dass du gleich beim ersten Mal mit mir ein schlechtes Gewissen bekommst.” „Das habe ich aber trotzdem.” „Ja. So weit habe ich nicht gedacht.” Kai seufzte, aber er konnte Yuriy nicht böse sein. „Kann ich irgendwas tun, um es für dich einfacher zu machen?”, fragte er. „Wie du vielleicht gemerkt hast, übernehme ich auch gerne das Kommando, egal in welcher Position. Also wäre es mir schon lieb, wenn wir irgendwie eine Lösung finden können.” „Ich will mir doch auch nicht von ein paar miesen Erfahrungen mein Sexleben versauen lassen”, sagte Yuriy. Es entstand eine kleine Pause, und Kai merkte, wie sein Gegenüber nach Worten suchte. „Das mit Garland”, fuhr Yuriy schließlich fort, „Hat geholfen.” „Ach so?” Das machte Kai nun doch neugierig. Er hatte nie Detailfragen zu den beiden gestellt, aber wenn es etwas gab, was Yuriy Sicherheit vermittelte, wollte er es wissen. „Ja.” Sein Freund regte sich ein wenig; vielleicht war es ihm trotz allem ebenso unangenehm, über sich und Garland zu sprechen. „Das erste Mal mit Garland war halb im Suff, und es ist natürlich alles schief gegangen. Er hat mich dazu gebracht, auszupacken. Garland wechselt auch gerne nach Lust und Laune, deswegen wollte er sich erst gar nicht auf eine feste Rollenverteilung einlassen. Und ich muss sagen… Er hat einfach Ahnung von Sex?” Kai zog die Augenbrauen hoch; nun war er ganz Ohr, versuchte, den Anflug von Eifersucht zu ignorieren, der natürlich in ihm aufstieg. „Ja. Ich meine, Garland hat mir Dinge gezeigt, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Ich habe echt Wissenslücken, immer noch. Aber irgendwie hat er es mir leicht gemacht, auch mal die Kontrolle abzugeben. Am Schluss war es überhaupt kein Thema mehr. Ich dachte, ich wäre darüber hinweg, bis… Tja. Bis heute.” „Verstehe.” Kai sank zurück gegen Yuriys Schulter und legte die Arme so gut es ging um ihn. Sein Freund erwiderte die Geste. „Wir können uns Zeit lassen, wenn dir das angenehmer ist. Und einfach probieren, was uns gut gefällt und was nicht.” Kai grinste. „Ich kenne auch ein paar Tricks.” So hatte er sich den Start in diese Beziehung nicht unbedingt vorgestellt. Eigentlich mochte Kai spontanen, wilden, etwas rauen Sex, und das auch gern regelmäßig. Aber Yuriy war es wert, sich zurückzunehmen, viel zu kommunizieren. Mit ein bisschen Geduld würde er etwas später, aber dafür umso mehr auf seine Kosten kommen. Die Sache mit Garland bewies ja, dass es klappen konnte. „Und ich meine”, fuhr er fort und drehte den Kopf, um einen Kuss auf Yuriys Schulter zu drücken, „Was du mit deinen Händen anstellen kannst, hast du ja eben schon eindrucksvoll bewiesen.” Es schien fast, als gäbe Yuriy sich große Mühe, damit seine Partner die schlechten Erfahrungen, die er selbst gemacht hatte, nicht auch durchleben mussten. Kai verstand das, doch es weckte auch seinen Ehrgeiz. Er wollte in seinem Freund die gleichen Gefühle auslösen wie der in ihm. „Ich lasse dir sicher ab und an mal freie Fahrt”, fügte er hinzu. „Hey, in dem Fall weiß ich, was ich tue”, meinte Yuriy, und Kai hörte, dass er lächelte. „Knöpfchendrehen ist schließlich mein Job.” Boris fand wirklich erst am nächsten Morgen heraus, was zwischen ihnen lief. Was am Vorabend passiert war, hatten sie natürlich nicht vergessen, doch da sie darüber gesprochen hatten, stand es auch nicht zwischen ihnen. Sie waren in der Küche, kochten Kaffee und zogen sich gegenseitig auf, wie immer - bis Yuriy Kai packte, um ihn zu küssen (er konnte gar nicht genug von diesen Küssen kriegen, und würden die Umstände es erlauben, würde er alles, was ihr Freundeskreis jemals scherzhaft über ihre Knutschereien behauptet hatte, wahr werden lassen). So hatten sie sicher ein paar Minuten lang an der Anrichte gelehnt, bis ein lautes Räuspern sie unterbrach. In der Tür stand Boris, die Augenbrauen so weit hochgezogen, dass sie fast seinen Haaransatz berührten. „Was. Zum. Fick?”, fragte er, aber unter den gegebenen Umständen brauchten sie eigentlich gar nicht so viel zu erklären. Zur Strafe mussten sie sich allerdings den ganzen Morgen seine Sprüche anhören, und darüber hinaus mussten sie mit vereinten Kräften verhindern, dass Boris die „frohe Botschaft” sofort per Nachricht oder, noch schlimmer, Social-Media-Post in den Äther blies. Yuriy konnte ihn schließlich bezirzen und versprach, den Kühlschrank für eine Woche nach seinen Wünschen zu füllen (was eigentlich nur viel Eier und viel dunkle Schokolade bedeutete). Beim Rest ihres Freundeskreises wollten sie es etwas langsamer angehen lassen und beschlossen, dass es nicht schlimm war, wenn die anderen es erst erfuhren, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot - weder Yuriy noch Kai hatten Lust auf eine große Verkündigung ihres Beziehungsstatuses. Und waren darüber hinaus sowieso viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Yuriy war wirklich froh darüber, dass er mit Kai so früh über seinen „Tick” hatte sprechen können. Er hatte im Vorhinein überlegt, wann und wie er das Thema am besten anschneiden konnte, und so wie es gelaufen war, war es vielleicht nicht perfekt, aber es hatte zu einem guten Ergebnis geführt. Denn nach diesem etwas holprigen Start begann die Phase, in der sie die Finger nicht voneinander lassen konnten. Irgendwie schafften sie es, sich in der ersten Woche fast jeden Tag zu sehen - außer am Samstag, denn Yuriy war von Freitag bis Sonntag wieder einmal unterwegs. Ihre gemeinsamen Nächte waren kurz, denn auch wenn sie sich buchstäblich vortasteten, taten sie dies sehr ausführlich. Yuriy merkte schnell, dass Kai nicht viel Vorspiel brauchte - er war wie ein Streichholz, das man nur einmal kurz anreißen musste, und Yuriy fragte sich ernsthaft, wie er diese Art Energie noch nie an dem anderen hatte bemerken können. Anfangs überforderte es ihn ein bisschen, aber mit der Zeit pegelten sie sich ein. Nach dem Akt wurde Kai allerdings anhänglich. Darin unterschied er sich sehr von Garland, der selten bis nie seine Nähe gesucht hatte. Das war Yuriy immer sehr recht gewesen, denn eigentlich konnte er gut auf überflüssige Berührungen verzichten. Selbst Umarmungen zur Begrüßung hatte er sich in einem langen, von Mathilda und Salima initiierten Prozess antrainieren müssen. Mit Kai allerdings wollte er diese körperliche Verbindung haben, und das eigentlich ständig. Das hatte nicht unbedingt nur etwas mit Sex zu tun, sondern wirkte auch wie eine Bestätigung, dass das hier wirklich passierte - dass sie tatsächlich zueinander gefunden hatten und sich alles so verdammt gut und richtig anfühlte. Und außerdem liebte er Kais Körper. Klar, Boris’ Training war daran nicht ganz unschuldig, aber das war nicht alles, und nicht einmal der wichtigste Grund. Kais Hände beispielsweise waren immer warm und vermittelten Halt, auch wenn sie kleiner waren als Yuriys. Und seine Haut war unglaublich weich. Kai hatte auch kein Problem mit Nacktheit, im Gegenteil: Wenn sie allein waren dauerte es meist nicht lange, bis er einen Grund fand, seine Finger unter Yuriys Oberteile gleiten zu lassen. Es gab kaum ein Gefühl von Scham zwischen ihnen. Als Yuriy die Stadt für zwei Nächte verließ, war es wie ein Schritt in ein altes Leben - mit dem Unterschied, dass er schon nach einer Stunde Zugfahrt die erste Nachricht an Kai schrieb. Es war eine belanglose Unterhaltung, doch sie hielt an, bis er wieder nach Berlin zurückkam. Sie trafen sich bei Kai, und in dieser Nacht warfen sie alle guten Vorsätze, es langsam anzugehen, über Bord, weil Yuriy ihm einfach zeigen musste, wie sehr er ihn vermisst hatte. Kai war in der Stimmung, sich von ihm dirigieren zu lassen, ging irgendwann aber dazu über, ihm zu sagen, was er wollte, und Yuriy kam diesen Wünschen nur allzu gerne nach. Der Blick aus den dunklen Augen, der ihm bestätigte, dass er seine Sache gut machte, entlohnte ihn. Danach lagen sie aneinandergeschmiegt im Bett und Yuriy hatte das Bedürfnis, Kai mit seinem ganzen Körper zu umschlingen, sich in seine Wärme zu hüllen bis sie ihn ganz durchdrang. Trotz allem erkannten sie ziemlich schnell, dass diese Beziehung viel Planung verlangte. Ihr jeweiliger Alltag war nicht gerade gut auf den des anderen abgestimmt: An Yuriys freien Tagen musste Kai früh aufstehen und ins Büro fahren, und an den Wochenenden war Yuriy meistens irgendwo gebucht. Selbst wenn er in Berlin arbeitete, bedeutete das, dass er am frühen Abend begann, seine Vorbereitungen zu treffen und nicht vor fünf Uhr zurückkam. Sein dadurch verschobener Schlafrhythmus würde das Ganze nicht besser machen. Er ertappte sich dabei, wie erleichtert er darüber war, dass der Winter begann; in der kälteren Jahreszeit hatte er weniger Auftritte, da die Festivals und Open-Air-Partys wegfielen. Was den Geldbeutel strapazierte war für ihre Beziehung umso besser, und dank des finanziellen Polsters, das er über den Sommer angespart hatte, machte er sich wenig Sorgen. Über kurz oder lang würden sie sich trotzdem entweder daran gewöhnen oder eine Lösung finden müssen. Zunächst war ihre Strategie, sich möglichst oft zu sehen, auch wenn das mit zusätzlichen Pendelfahrten verbunden war. Am Mittwoch stellte Yuriy fest, dass er Kai den Zweitschlüssel abluchsen musste. Sie waren eigentlich bei letzterem verabredet, doch der musste noch irgendetwas anscheinend sehr Wichtiges erledigen und deswegen länger im Büro bleiben. Zum Glück erreichte Yuriy die Information, bevor er im Studio alles einpackte, allerdings wusste er nicht, ob er sich noch für mindestens eine Stunde beschäftigen konnte. Er überlegte gerade, ob er einfach bei Phoenix Consulting, das ja auf dem Weg lag, vorbeifahren sollte, als Mathilda zu ihm kam. „Hey”, sagte sie, „Du bist ja noch hier, das trifft sich gut.” Er ließ die Hand mit seinem Telefon sinken. „Was gibt’s denn?” Seltsamerweise wirkte Mathilda etwas nervös, sah sich kurz um, bevor sie ihn leise fragte: „Kommst du kurz mit in den Seminarraum, damit wir das besprechen können?” Neugierig geworden folgte er ihr in das angrenzende Zimmer, wo noch die Stühle der letzten Gruppe in einem unordentlichen Kreis standen. Das Licht war ziemlich grell und die Einrichtung erinnerte ihn immer an seine alte Schule - graues Linoleum und weiße Wände mit vielen Abrieben. Er setzte sich auf einen der Tische, die an die Wand geschoben worden waren, und sah Mathilda erwartungsvoll an. „Was ist los?” Sie sprang neben ihm auf die Tischplatte, ihre Beine berührten den Boden nicht. „Ich wollte dich fragen, ob du meine nächste EP produzierst.” Das kam unerwartet. Normalerweise wirkte Kane als Producer für sie alle. Er hatte schließlich die meiste Erfahrung. Und in der Vergangenheit hatte das gut geklappt. Deswegen fragte er nun auch direkt danach: „Was ist mit Kane? Keine Zeit?” „Doch.” Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Aber irgendwie funktioniert das mit ihm nicht mehr so gut. Ich habe das Gefühl, dass er mich in eine bestimmte Richtung drängen will, die nicht… ich ist. Ich habe versucht, ihn darauf anzusprechen, aber er sagt, dass er mich so besser vermarkten kann. Du kannst dir denken, was ich davon halte.” Sie wechselten einen Blick. „Aber du kennst meinen Stil, Yuriy”, fuhr sie fort, „Und du weißt, was mir wichtig ist. Also - hilfst du mir?” Yuriy gab einen zweifelnden Laut von sich. Zeitlich würde er es wahrscheinlich sogar hinbekommen, aber er ahnte, dass sie Kane damit ganz schön auf die Füße traten. „Ich bin nicht so gut wie Kane”, meinte er schließlich. „Willst du mich verarschen? Du hilfst Vanja und Salima ständig mit ihren Tracks - und bei Allee der Kosmonauten hat Kane kaum etwas beigetragen! Das war doch schon fast fertig, als du es hergebracht hast!” „Mattie, ich kann Kane nicht so in den Rücken fallen!”, sagte Yuriy laut, „Er ist immer noch unser Boss, irgendwie. Und wir haben ihm echt viel zu verdanken. Denk mal an unseren Takeover am Wochenende, das würden wir ohne ihn auch nicht machen können.” Am Freitag würden sie zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit wieder zu viert auflegen. Das war im Rahmen einer Partyreihe möglich, die Kane hostete und sollte im Octavian stattfinden. Doch Mathilda schien das egal zu sein. „Yuriy, denk nach. Wir verdanken ihm nicht endlos viel. Ja, er hat uns schnell bekannt gemacht, aber wir waren auch ohne ihn schon auf einem guten Weg! Es hätte vielleicht ein Jahr länger gedauert, aber wir hätten es auch allein geschafft. Und du kannst mir nicht erzählen, dass du unglaublich viel Neues von ihm gelernt hast, was die Produktion angeht. Du warst schon immer gut.” Yuriy wollte widersprechen, denn er hatte durchaus etwas dazugelernt, aber er sah ein, dass er damit nicht weiterkam. Also wartete er ab, was sie zu sagen hatte. „Ich habe gehört, er hat dich für Vocals angefragt”, sagte Mathilda. „Weißt du, warum? Er will dich beschäftigt halten, damit du nicht mehr so viel Production machst. Du sollst für ihn Platten drehen und ein paar niedere Arbeiten verrichten, nichts weiter. Seine größte Angst ist gerade, dass wir abhauen und unser eigenes Ding machen. Deswegen hält er uns, und vor allem dich, kurz.” „Woher willst du das wissen?” „Alle sagen das!”, entgegnete Mathilda. „Vanja hat mir neulich erzählt, dass er auch mit dir was machen wollte, aber dann war auf wundersame Weise das Studio nur frei, wenn du nicht da warst. Also hat er es mit Kane gemacht. Und Salima denkt auch, dass da was im Busch ist. Kane ist nett, ja, aber seine Karriere geht ihm vor. Er will dich nicht als Konkurrenten.” Das war fast zu viel Information auf einmal. Wenn Yuriy ehrlich zu sich war, so wollte er im Moment einfach nur ein bisschen mit dem Strom schwimmen, nichts weiter. Er hatte keine großartigen Pläne für die nahe Zukunft, aber was auch immer hier im Busch war, es wirkte, als sollte er bald welche machen. „Tja”, sagte er, „Und jetzt?” „Jetzt hast du die Fakten”, meinte Mathilda, „Mach damit, was du willst. Die anderen und ich sind auf deiner Seite, okay? Uns ist das Kollektiv wichtiger als Kanes Label. - Und, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen, machst du es?” „Deine EP?” „Ja.” Er zögerte, aber nicht lange. „Meinetwegen. Aber du musst mit Kane sprechen; wir können das nicht hinter seinem Rücken machen, das gibt nur Ärger. Oder er sperrt wieder das Studio, wie bei den anderen.” Er seufzte. „Ich sag ihm wegen der Vocals ab. Hatte eh keinen Bock darauf.” „Gut!” Endlich lächelte sie, dann sprang sie auf die Füße. „Sollen wir Feierabend machen?” Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte dabei erfreut fest, dass Kai ihm inzwischen geschrieben hatte, er wäre auf dem Weg nach Hause. „Ja, gib mir noch fünf Minuten, um mein Zeug zu holen.” Während er im Studio seinen Laptop einpackte und nach seinen Kabeln und Datenträgern suchte, ließ Yuriy sich das Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen. War er naiv gewesen, wenn es um Kane ging? Er hatte sich ihm eigentlich nie gleichgestellt gesehen, da Kane einfach mehr Erfahrung hatte. Yuriy war erst seit gut zwei Jahren freiberuflich, er hatte noch nicht einmal kapiert, was er alles von der Steuer absetzen konnte. So recht wollte er nicht glauben, dass Kane ihn jetzt schon als Konkurrenz sah. Aber so, wie er den anderen kannte, wäre es auch nicht ungewöhnlich. In Berlin gab es sowieso ein Überangebot von Musikern und Mini-Labels, gerade in ihrer Szene. Er musste sich also durchsetzen können. Und was wollte Yuriy? Das war schwer zu sagen. Er liebte es, aufzulegen, und seit er seine eigenen Tracks spielen konnte, war es noch ein Stück besser geworden. Und Musik zu produzieren ging ihm immer besser von der Hand. Mathilda war genauso ambitioniert, aber sie wollte später lieber ins Clubmanagement. Ob Salima auf ewig Djane bleiben würde, war fraglich; Vanja hingegen nahm jeden Gig an, den er kriegen konnte. Sicher, irgendwann würde sich die Überlegung lohnen, ein eigenes Label aufzumachen. Aber war es nicht noch zu früh dafür? Und außerdem, dachte Yuriy, als er zu Mathilda zurückkam, gab es in seinem Leben jetzt eine weitere Variable, die er mit einberechnen musste. „Fährst du mit mir U6?”, fragte Mathilda, als sie vor der Tür standen. „Äh, nein. Ich nehme die Ringbahn. Bin mit Kai verabredet.” „Ach so.” Sie war davon derart unbeeindruckt, dass Yuriy klar wurde, wie häufig das schon passiert war, noch bevor Kai und er zusammengekommen waren. Es war ihm früher gar nicht aufgefallen. „Grüß ihn von mir. Kommt er am Freitag?” „Hm.” Natürlich würde er das, und auch wenn er arbeiten musste, freute Yuriy sich darauf. Seine Gedanken drifteten ein bisschen ab, und wahrscheinlich grinste er schon wieder grundlos ins Leere. „Alles klar bei dir?” Mathilda klang fast besorgt. „Jepp”, entgegnete er, aber seine Mundwinkel blieben, wo sie waren. „Alles gut.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)