Metropolentänzer von lady_j ================================================================================ Kapitel 7: Ist nicht so schwierig, oder? ---------------------------------------- Im Vergleich zu den Entfernungen, die Yuriy sonst so in dieser Stadt zurücklegte, war es von Kais Wohnung aus nach Kreuzberg beinahe ein Katzensprung. Garland und er hatten sich in der Oranienstraße verabredet. Während er in der U-Bahn stand und der Kiez vor den Fenstern vorbeiruckelte, merkte er, dass er schon die ganze Zeit ziemlich breit grinste. Kai war gegen halb zwölf gegangen und Yuriy hatte daraufhin geduscht und sich an seinem Kleiderschrank bedient. Aus dem Shirt, das er nun trug, stieg ihm Kais Duft in die Nase, und vielleicht war das der Grund, weshalb sich die letzten Stunden immer und immer wieder vor seinem inneren Auge abspulten. Er konnte immer noch nicht fassen, wie dieses schreckliche Date so einen Ausgang hatte nehmen können. Scheiße, er war mit Kai zusammen. Ihre Freunde würden ihnen das Leben schwer machen, sobald sie davon erfuhren. Zunächst aber musste er Garland beibringen, dass ihre Treffen zu zweit gezählt waren. Er hatte kein schlechtes Gewissen dabei – Garland hatte ihn damals, als Mystel in sein Leben getreten war, auch sehr unspektakulär davon in Kenntnis gesetzt. Er sollte es also verstehen können. Natürlich war ihr Verhältnis durch ihr Stelldichein inniger geworden; Yuriy hatte aufgrund einiger anfänglicher Missverständnisse über ein paar Dinge aus seiner Vergangenheit mit ihm sprechen müssen, die er sonst lieber unerwähnt oder zumindest nur angedeutet ließ. Und Garland war ehrlich mit ihm gewesen, was seine Gefühle für Brooklyn anbetraf, die ihm teilweise bis heute zu schaffen machten. Letztendlich hatte aber beides dazu geführt, dass das, was sie hatten, für beide Seiten genau das war, was sie brauchten. Und ja, rückblickend war Yuriy Garland sogar dankbar, immerhin hatte er auch ein bisschen was über sich selbst gelernt. Garland stand schon vor dem Restaurant, in das sie gehen wollten, wirkte allerdings etwas nervös. „Hey“, sagte er, als Yuriy vor ihm stand, „Das war ja jetzt sehr spontan. Muss ich mir Sorgen machen?“ „Hm, weiß nicht. Vielleicht?“, entgegnete er. Garland packte ihn am Arm. „Shit, ist etwa was mit deinem Test nicht in Ordnung?“ „Was?“ Yuriy starrte ihn an, dann begriff er, was der andere meinte. „Oh Gott, nein! Nein, damit ist alles gut. Es ist etwas anderes. Lass uns reingehen.“ Garland atmete erleichtert aus und kurz tat er Yuriy leid, denn er hatte gar nicht daran gedacht, wie sein plötzlicher Anruf auf ihn wirken könnte. „Sorry“, sagte er leise, aber der andere schüttelte nur den Kopf und wies zum Eingang des Restaurants. Sie fanden einen Platz am Fenster und Yuriy, der natürlich immer noch lediglich seine Lederjacke trug, war froh über die Heizungswärme. Es war mäßig voll dank des Mittagsandrangs, dennoch konnten sie sich hier unbeobachtet fühlen. Die Mittagskarte war übersichtlich und günstig, und so konnten sie schnell bestellen und sich dann den wesentlichen Dingen zuwenden. „Also“, fing Garland an, „Da du dich bester Gesundheit erfreust, ist meine größte Angst aus dem Weg geräumt. Schlimmer als das kann es nicht sein, also schieß los.“ Yuriy verzog amüsiert den Mund, dann sah er auf in Garlands Augen, die ihn neugierig musterten. Verdammt, er wusste nicht, wie er es formulieren sollte. Einfach so wie es war, oder? „Um es kurz zu machen“, sagte er, „Wir können uns nicht mehr treffen. Nicht so, meine ich.“ „Okay.“ Unbeeindruckt stützte sein Gegenüber das Kinn auf die Faust. „Darf ich fragen, warum?“ „Es ist etwas passiert.“ Sein Blick ging zur Decke, bevor ihm bewusst wurde, was er tat. „Aha?” Sein Gegenüber wartete noch ein paar Sekunden, dann verlor er die Geduld. „Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!” „Ja, schon gut!” Yuriy wusste ja selbst nicht, warum er so zögerte. Es war, als würde sich, sobald er es aussprach, herausstellen, dass alles nur ein Traum gewesen war. „Ich hatte ein Date mit Kai”, sagte er schließlich. Garlands Arm fiel auf die Tischplatte. „Nein!“ Ihm stand der Mund offen, dann grinste er anzüglich. „Ohne Scheiß jetzt? Erzähl mir alles. Wann? Wie?” „Gestern. Und es war schrecklich.” „Oh.” „Aber…”, fuhr Yuriy fort, und der Bierdeckel vor ihm auf dem Tisch war plötzlich sehr interessant, „Wir haben uns trotzdem geküsst.” „Oh!” „Dann haben wir geredet…” Jemand hatte etwas auf den Bierdeckel gekritzelt. Seufzend drehte Yuriy ihn um. „Und haben beschlossen, dass wir es miteinander versuchen wollen.” Es schien nicht möglich, dass die Augen seines Gegenübers noch runder werden konnten. Dann sammelte er sich, schlug die Hände zusammen – ob nun aus Resignation oder als Andeutung von Applaus war schwer zu sagen – und flüsterte: „Oh. Mein. Gott.“ Eine kurze Pause. „Wissen schon alle was davon?“ Er griff wie nebenbei nach seinem Essen, dass gerade gekommen war, und schob sich ohne hinzusehen den ersten Löffel davon in den Mund. Auch Yuriy zog seinen Teller zu sich heran. „Du bist der erste, der es erfährt.” Garlands Augenbrauen schnellten in die Höhe, aber er kaute noch und konnte deswegen nichts sagen. „Ich weiß“, meinte Yuriy, „Kai hat mich ein bisschen gedrängt, weil ihr beide wohl zusammenarbeitet?“ „Ja, er hat mich für ein Projekt angefragt“, sagte Garland. „Ihr lasst gerade echt nichts anbrennen, oder? Erst drei Jahre lang Flaute, und dann lässt man euch ein paar Stunden allein und - Zack.” Er klang immer noch eher ungläubig als belustigt, obwohl er sich reichlich Mühe gab. Es entstand eine kleine Pause, in der auch Yuriy endlich mit dem Essen begann. Er wartete ab. Garland stocherte sehr betont auf seinem Teller herum, dann legte er die Gabel zur Seite und griff nach seinem Glas. „Habt ihr es schon miteinander getrieben?” „Haben wir nicht”, entgegnete er, „Warum denken das eigentlich immer alle sofort?“ „Weil ihr drei Jahre lang thirsty aufeinander wart“, schoss Garland zurück. Nun war Yuriys es, der seinem Blick auswich, was aber nicht half, denn er fühlte sich immer noch beobachtet. „Weiß Kai Bescheid über… das, was wir so besprochen haben?“, fragte Garland schließlich. Yuriy seufzte. „In Ansätzen“, antwortete er. Es war schon eine Weile her, dass Kai und er tiefgründige Gespräche über ihre verflossenen Beziehungen geführt hatten. Grundsätzlich wussten sie zumindest grob, was im Leben des jeweils anderen vor sich gegangen war. Es waren die Details, die Yuriy schwerfallen würden, doch davon wollte er sich nicht aufhalten lassen. Nicht mehr. Und wenn er mit Garland über diese Dinge reden konnte, sollte es mit Kai doch umso besser funktionieren. „Verstehe”, sagte der andere in diesem Augenblick. „Ihr werdet das schon hinkriegen.” Diesmal lächelte er ganz ehrlich. „Obwohl euer Timing natürlich auch nicht bescheuerter hätte sein können. Ich habe wenig Lust, den Winter allein zu verbringen.” Er verzog den Mund. „Ich werde dich vermissen.” „Hey, ich bin nicht komplett aus der Welt!” „Korrigiere: Ich werde deinen Schwanz vermissen.” „Na wenigstens bist du ehrlich.” Yuriy musterte sein Gegenüber, versuchte zu ergründen, wie viel von seiner Leichtigkeit echt und wie viel vermutlich nur aufgesetzt war. Eigentlich war er der Überzeugung, dass Garland keine tiefergehenden Gefühle für ihn hegte; aber Yuriy hatte ihn durch einige Höhen und Tiefen begleitet, und es würde ihn nicht wundern, wenn Garland dadurch ein bisschen an ihm hing. Er wurde ja selbst nervös bei der Vorstellung, die vertraute Intimität mit Garland einzutauschen gegen die große Unbekannte, die Kai war. Natürlich wollte er mit Kai schlafen, und das lieber früher als später - doch es gab einfach Dinge, die sie klären mussten, was vermutlich kräftezehrende emotionale Arbeit bedeutete. „Ich fass es nicht”, murmelte Garland in diesem Moment. „Du und Kai fucking Hiwatari. Ich glaube, das hat niemand mehr für möglich gehalten, ehrlich!” Sie tauschten einen Blick. „Er ist halt auch echt heiß.” Yuriy gab nur ein amüsiertes Brummen von sich. „Ich hoffe, das steht dir nicht im Weg, wenn ihr zusammenarbeitet.” „Oh Gott, das habe ich schon wieder verdrängt.” Garland sah ihn an, und in seinem Gesicht stand pures Leid. „Ihr quält mich. Beide.” Grypholion saß in einem der frisch aus dem Boden gestampften Bürogebäuden östlich des Alexanderplatzes. Man konnte sie noch keine Wolkenkratzer nennen, aber Berlin war so flach, dass man auch so eine grandiose Aussicht von den obersten Stockwerken aus hatte. Und natürlich nahm Grypholion die obersten beiden Etagen für sich ein. Kai musste nicht lange am Empfangstresen warten. Ein kurzer Anruf des Mitarbeiters genügte, und Ralf Jürgens persönlich kam mit langen Schritten den Flur hinunter auf ihn zu. „Kai Hiwatari”, sagte er sehr laut, dann war er herangekommen und musterte ihn von oben bis unten. „Gut siehst du aus. Berlin scheint dir zu bekommen.” „Ich wollte bis eben nicht glauben, dass du dieses Meeting wirklich selbst abhältst”, gab Kai zu, setzte aber ein unverbindliches Lächeln auf, was ihm heute aus irgendeinem Grund sogar zu gelingen schien, denn Ralf fiel darauf herein. „Nicht nur ich”, sagte er, „Johnny ist auch hier. Komm, wir sind schon in den Konferenzraum gezogen.” Nun war Kai wirklich erstaunt. Mit Ralf hatte er früher zwar oft persönlich zu tun, Johnny jedoch hatte er seit ihrem gemeinsamen Studium nicht mehr gesehen. Ralf und er teilten sich die Arbeit auf und waren sowieso nur sehr selten gemeinsam unterwegs. Ihm schwante, dass diese Nummer hier größer war, als es den Anschein hatte, doch noch war er nicht abgeschreckt. Er würde sich anhören, was sie wollten und dann entscheiden. Die Einrichtung und Gestaltung der Büros war ziemlich generisch, auch wenn noch alles sehr neu roch. Die Farben waren eher dunkel gehalten, ein dicker Teppich dämpfte die Schritte. Die einzelnen Räume waren nur durch Glas getrennt, es saßen immer vier oder sechs Leute beisammen, dazwischen standen ein paar Pflanzen und Flipcharts. Die großzügigen Fenster blickten auf das Nachbargebäude und die Otto-Braun-Straße - als sie den Konferenzraum betraten, öffnete sich vor ihnen die Aussicht auf den Fernsehturm, dessen Spitze heute in tiefhängenden Wolken verschwand. Erst als Kai dieses Panorama in sich aufgenommen hatte, bemerkte er die beiden Personen, die noch anwesend waren. Der eine war Johnny McGregor, ein untersetzter Schotte mit wildem rotem Haar und seit neuestem einem dazu passenden Vollbart. „Hiwatari”, sagte er in einem Tonfall, der nicht preisgab, was er inzwischen von ihm hielt. Sie waren nie die besten Freunde gewesen, aber während des Studiums hatten sie die Gesellschaft des jeweils anderen durchaus zu schätzen gewusst. Ralf war derjenige gewesen, der ihr Dreiergespann zusammenhielt. Johnnys Händedruck war kräftig wie immer und wenn er sich anstrengte, konnte Kai ein grimmiges Lächeln unter dem Bart erkennen. „Johnny, hi”, sagte er, was er nicht unbedingt geplant hatte, die Worte kamen einfach so heraus. Wenn Johnny sich über diese informelle Begrüßung wunderte, so zeigte er es nicht. Die zweite Person, die auf sie gewartet hatte, musste wohl die CEO von Grypholion sein, Katharina Nowak, die sich ihm als Katja vorstellte. Sie konnte sich durchaus neben den beiden Investoren behaupten und hatte sich offensichtlich den Platz an der Stirnseite des Tisches erkämpft. Wie immer hielten sie ein wenig Smalltalk, versorgten sich mit Kaffee und Wasser und nahmen dann langsam ihre Plätze ein. Eigentlich hasste Kai dieses Vorgeplänkel; er kam lieber möglichst schnell zur Sache, um sichergehen zu können, dass er keine Zeit verschwendete. Heute jedoch erwischte er sich selbst dabei, wie er unverhältnismäßig oft über Ralfs und Katjas Witzeleien lachte und vergaß darüber die sarkastischen Bemerkungen, die er sonst immer von sich gab. Auch Ralf musste das bemerkt haben, denn er warf ihm verwunderte Blicke zu. Schließlich kamen sie doch noch zum Geschäftlichen. Erfreulicherweise schien bei Grypholion alles mit rechten Dingen zuzugehen. Ralf und Johnny beschritten hier einen neuen Geschäftszweig, hatten sich aber gute Kompetenz auf dem Gebiet der Cyber-Security aufgebaut. Katja brachte entsprechende Berufserfahrung mit, und da Berlin in der Start-up-Welt immer noch als günstiges Pflaster galt, war das Risiko nicht allzu hoch. Was Kai etwas erstaunte war, dass die beiden Investoren eine schnelle Vergrößerung der Firma planten, auch international. Um das zu bewerkstelligen, musste die Basis stimmen, und da kam er ins Spiel. „Das heißt”, fasste Kai nach etwa einer Stunde zusammen, „Ihr wollt vor allem eure Datenhaltung möglichst nachhaltig gestalten. Das betrifft natürlich auch die Auswahl der Server und der Programme, die ihr eventuell nutzt. Zweitens wollt ihr möglichst wenig Datenmüll verursachen. Den Punkt Datenschutz können wir etwas herunterpriorisieren, da ihr da sicher noch besser Bescheid wisst als ich.” Er erntete einstimmiges Nicken und sortierte noch einmal seine Notizen. „Gut”, meinte er dann, „Ich muss ehrlich sagen, ich habe angesichts der Größe eures Unternehmens angenommen, das allein machen zu können. Da ihr aber schnell skalieren wollt, sollten wir generell etwas größer denken - vor allem, wenn ihr wollt, dass wir auch die Skalierungsprozesse supervisen.” „Kommt drauf an, wie teuer das ist”, warf Johnny ein. Kai ging nicht darauf ein. „Unter diesen Umständen”, fuhr er fort, „Würde ich gerne eine meiner Mitarbeiterinnen mit ins Boot holen. Zusätzlich habe ich extern einen IT-Spezialisten angefragt, der noch mal einen frischen Blick mitbringt. Wir wären also zu dritt. Um uns mit euren Strukturen und Prozessen vertraut zu machen, brauchen wir ungefähr einen Monat, für die Lösungsfindung und Implementierung sicher auch jeweils noch einen… Sodass wir im ersten Quartal des nächsten Jahres alles aufgesetzt haben.” „Schneller geht es nicht?”, hakte Ralf nach. „Kommt ganz darauf an, wie schnell wir uns einarbeiten”, entgegnete Kai, „Ihr wisst, meine Agentur ist noch recht überschaubar. Ich habe also nicht unendlich Kapazitäten.” „Doch, doch, wir wollen dich”, sagte Ralf, „Und zeitlich passt das auch für uns.” Er wechselte einen Blick mit Johnny und Katja und erhielt Schulternzucken und ein Nicken. Nach einer kurzen Pause legte Ralf beide Hände auf den Tisch. „Ich denke, im Groben sind wir uns einig”, meinte er. „Kai, lass uns so verbleiben, dass Katja dir in den nächsten Tagen noch ein paar mehr Eckdaten zukommen lässt. Und wir warten dann auf dein Angebot.” „Alles klar. Wenn ich die Unterlagen bis morgen Nachmittag bekomme, hört ihr bis Ende der Woche von mir.” „Sehr gern”, sagte Katja und erhob sich. Das war für alle das Zeichen, dass das Meeting beendet war. Das große Nickenlächelnhändeschütteln begann. Sie tauschten ein paar Floskeln aus, dann musste Katja schon wieder zum nächsten Termin. Während Kai seine Unterlagen zusammenpackte, leisteten Ralf und Johnny ihm Gesellschaft. „Sollen wir vielleicht noch einen Kaffee trinken?”, schlug Ralf vor, „Oder musst du gleich weiter, Kai? Wir könnten auch heute nach Feierabend noch irgendwo hingehen.” „Der Kaffee wäre mir lieber, ich bin heute Abend schon verplant.” Der bloße Gedanke an Yuriy machte ganz seltsame Dinge mit ihm. Er grinste schon wieder. „Lasst mich vorher kurz mit den anderen telefonieren”, sagte er und versuchte, seine Mimik zu kontrollieren. Die anderen beiden gingen daraufhin hinaus. Nachdem er Mariam von den neuesten Entwicklungen berichtet hatte - über die sie sich natürlich besonders freute, bedeutete es doch mehr Verantwortung für sie - konnte Kai sich einen kurzen Blick auf seine eingegangenen Nachrichten nicht verkneifen. Yuriy hatte geschrieben: Mission accomplished :* und Kai tippte schnell Same , bevor auch er endlich den Konferenzraum verließ. „Okay, das ist jetzt wirklich unheimlich!” Ralfs Worte holten ihn wieder in die Realität zurück. „Ich habe dich noch nie, und ich schwöre: noch nie so gut gelaunt erlebt. Was zur Hölle ist passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?” Ertappt wandte Kai sich ihm zu, doch es war ausgerechnet Johnny, der ihm die Antwort abnahm: „Also ich wäre auch glücklich, wenn ich gerade einen Deal wie diesen eingefädelt hätte. Wir finanzieren dir doch sicher das nächste halbe Jahr, oder?” Kai verdrehte nur die Augen. Johnny war ein Geizkragen, und genau deswegen würde er sein Angebot etwas großzügiger rechnen müssen. Johnny war erst zufrieden, wenn er seine Geschäftspartner runterhandeln konnte. Im Erdgeschoss des Bürogebäudes gab es einen Coffeeshop, der überteuerten Espresso anbot. Kai fühlte sich ein bisschen in seine Studienzeit zurückversetzt, als es normal gewesen war, mit Ralf und Johnny an Orten wie diesen abzuhängen, meist irgendwo in der City of London, wo alle in Anzügen und Kostümen herumliefen. Hier fühlte es sich eher an, als wären sie in einem Paralleluniversum. Während die anderen beiden noch auf ihre Getränke warteten, setzte er sich mit seinem Cappuccino ans Fenster und zog noch mal das Handy aus der Tasche. Wann sehen wir uns heute?, schrieb er. Dann warf er einen flüchtigen Blick über die Schulter. Er wurde nicht ganz schlau aus Ralf, der sich noch nie so betont nett ihm gegenüber verhalten hatte wie heute. Ob er eventuell ernsthaft bereute, wie es vor drei Jahren gelaufen war? Womöglich ließ sein Stolz eine direkte Entschuldigung nicht zu, also machte er es mit beschämender Freundlichkeit wett. Johnny war wie immer, aber Johnny glaubte auch nicht daran, dass er Fehler machen konnte. Sein Handy leuchtete auf. Yuriy hatte geantwortet: Ich bin ab jetzt zu Hause, komm einfach später rum. Das rote Herz stach ihm in die Augen. Bei Yuriy schwang immer ein wenig Ironie mit, wenn er so etwas schickte, selbst jetzt noch. Es war irgendwie beruhigend; ansonsten hätte Kai wohl gar nicht mehr, gewusst, wohin mit seinen Gefühlen. „Ist es ein Kerl?” Ralf rutschte auf den Stuhl neben ihn. In seinem Blick lag etwas Wissendes, als er in Richtung von Kais Telefon nickte. Kai ließ die Hand sinken und sah ihn an, überlegte. „Möglich”, sagte er dann. „Oha.” Er wollte genervt gucken, aber irgendwie wurde ein Lächeln daraus. „Geht dich nichts an.” „Fair.” Ralf hob die Schultern. „Aber es erklärt einiges.” „Was erklärt einiges?” Auch Johnny hatte es nun zu ihnen geschafft, aber glücklicherweise winkte Ralf ab. „Wie lange seid ihr in der Stadt?”, fragte Kai, um das Thema zu wechseln. Halb nahm er an, dass die beiden gleich wieder abreisten, tatsächlich aber würden sie bis zum Wochenende bleiben. „Gut, dass du fragst!”, sagte Ralf, „Es gibt da nämlich noch etwas. Du hast doch Kontakte zu diesem DJ-Kollektiv, oder?” „Ja…”, machte Kai langgezogen. „Wieso?” „Wir feiern unser zehnjähriges Bestehen”, antwortete Ralf nicht ohne Stolz. „In ein paar Wochen in London. Wird eine Riesenparty, wir haben eine richtig gute Location direkt an der Thames gefunden. Du solltest auch kommen, ich schicke dir eine Einladung. Der Punkt ist aber, dass wir uns dachten, so ein hipper Berliner Underground-DJ würde das Ding noch perfekt machen. Kannst du uns jemanden empfehlen?” Kai ahnte, dass er sie gerade sehr zweifelnd anstarrte, doch sie verzogen beide keine Miene. „Ich kenne DJs”, sagte er schließlich, „Und sogar gute.” „Wie teuer sind die so?”, fragte Johnny sofort. Kai verzog den Mund. „Naja, sicher so dreitausend pro Abend”, meinte er - die Zahl hatte er komplett aus der Luft gegriffen. „Plus Flug und Hotel, natürlich.” „Dreitausend nur fürs Plattendrehen?”, sagte Johnny ungläubig. Kai hob die Schultern. „Das sind Club-DJs, keine Wanderblaskapellen”, entgegnete er, verschwieg aber, dass sowieso niemand von Ostblocc sich dazu herablassen würde, bei einer Firmenfeier aufzulegen. „Ich mach euch gerne bekannt.” Endlich gelang es ihm, seine Mimik unter Kontrolle zu bekommen und das Feixen hinter Gleichgültigkeit zu verbergen. Die beiden würden komplett auflaufen, vor allem, wenn er Yuriy vorwarnte. Aber ein bisschen Rache musste einfach sein. Natürlich musste Kai nach diesem Treffen noch einmal kurz im Büro vorbeifahren, wenigstens, um so zu tun, als hätte er seine Gedanken beisammen. Mariam und Wyatt waren beide aus dem Häuschen - erstere, weil sie bei Grypholion mitmischen durfte, letzterer, weil Kai überhaupt noch aufgetaucht war. Dass er durchaus auch in den Auftrag mit einbezogen werden könnte, wenn auch eher hinter den Kulissen, schien ihm nicht ganz so bewusst zu sein. Ansonsten war die Firma nicht untergegangen, nur weil Kai einmal einen Tag lang ungeplant außer Haus gewesen war. Auch das war beruhigend zu wissen. Und so erledigte er nur noch die dringendsten Korrespondenzen, bevor er Feierabend machte. Um kurz nach sechs machte er sich auf den Weg nach Hause, jedoch nur, um sich umzuziehen, zu duschen und alles zusammenzupacken, was er für den nächsten Tag brauchte. Es war nicht ganz einfach, mit den Öffis zu Yuriy zu kommen, er musste zweimal umsteigen. Manchmal, wenn er im Herbst oder Winter die Straßenbahn nahm und die Plattenbauten im Halbdunkel an ihm vorbeizogen, fühlte er sich ein bisschen wie in den Randbezirken von Moskau. Vielleicht hatte Marzahn aber auch schon längst die vagen Bilder seiner Erinnerungen verdrängt. Einmal hatte er mit Yuriy und Boris zu Neujahr den Film „Ironie des Schicksals” gesehen, in dem das Wohnviertel herrlich nach ihrem Kiez aussah; sein Eindruck konnte also gar nicht so weit hergeholt sein. Um halb acht stand er vor der Wohnung, die Haustür unten war offen gewesen. Halb befürchtete er, dass Yuriy inzwischen in seinen Tracks versunken war und sein Klingeln nicht hörte, dann wurde ihm tatsächlich geöffnet. Yuriy trug ausgewaschene Jeans und einen viel zu großen Pullover, von dessen weiten Ärmeln Kai sich nur allzu gern einhüllen ließ. Dann küssten sie sich ziemlich ungeniert noch im Türrahmen, bevor er endlich eintreten durfte. Ihm schlug der Geruch nach Tomaten und Käse entgegen, und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. „Ich habe Boris heute auch verpasst, aber er hat für uns gesorgt”, erzählte Yuriy, „Ich glaube, er ist erst kurz nach neun wieder hier. Nimm dir was und komm rüber, ich muss noch schnell was fertig machen.” Das ließ Kai sich nicht zweimal sagen. Während er in der Küche hantierte, ging Yuriy schon zurück an seinen Platz. Er folgte ihm wenig später. Kai fühlte sich immer ein bisschen in seine Studienzeit zurückversetzt, wenn er bei Boris und Yuriy zu Hause war. Vielleicht, weil die WG so klein war, es gab nicht einmal ein gemeinsames Wohnzimmer. Doch seit Yuriy sein Zimmer umgestaltet hatte, war es nicht mehr ganz so schlimm. Der alte Kleiderschrank war einem neuen gewichen, der zwar ein Stück größer war, aber derart in den Raum integriert, dass es wirkte, als würde er weniger Platz einnehmen. Die großen Spiegel an den Schiebetüren befanden sich genau gegenüber des Bettes, was Kai heute zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Auch das Bett war neu und breiter als das vorherige. Kai hatte mindestens so oft hier genächtigt wie Yuriy bei ihm - gerne auch nach Partys, was verkaterte Folgetage nach sich zog, die sie natürlich ebenfalls in diesem Bett verbracht hatten, mehr oder weniger ansprechbar. Die größte Veränderung betraf aber Yuriys Arbeitsbereich. In einer Ecke des Zimmers hatte er sich eine Art kleines Heimstudio eingerichtet. Ein riesiger Monitor hing, flankiert von Boxen, an der Wand; die Tischplatte war handgefertigt, sodass eine größtmögliche Fläche ausgenutzt werden konnte. In sie waren verschiedene Controller eingelassen, nur ein paar Quadratzentimeter blieben frei für die Tastatur. Es gab auch ein ausziehbares Fach, in dem sich ein schmales Keyboard befand, das heute jedoch versteckt war. Erst als er schon im Raum stand, fiel ihm ein seltsamer, summender Ton auf: ein zu- und wieder abnehmendes metallisches Klingen, wie von einer futuristischen Maschine, die irgendwo in großer Entfernung arbeitete. Kurz darauf wurde ihm klar, dass das Geräusch aus den Lautsprechern drang. „Was ist das?”, fragte er, während er sich, sein Essen balancierend, aufs Bett setzte. Yuriy, der bis zu diesem Moment auf den Monitor gestarrt hatte, drehte sich schwungvoll zu ihm um. „Jupiter!” „Was?” „Space Sounds!”, sagte Yuriy begeistert, „Von der NASA. Das ist eine Data Sonification von den Voyager Recordings des Jupiter Approaches. Kann man sich runterladen. Inzwischen gibt es solche Aufnahmen von allen Planeten und der Sonne.” „...Data Sonifications?” Kai war nicht unbedingt schlecht in Physik gewesen, aber das war auch schon eine ganze Weile her. „Ja, um die Daten besser interpretieren zu können”, erklärte Yuriy. „Voyager hat damals gemessen, wie Sonnenwinde auf die Magnetosphäre verschiedener Planeten treffen. Dabei entstehen Vibrationen, die vom menschlichen Gehör wahrgenommen werden können - aber da Schall im Weltraum nicht transportiert wird, hören wir normalerweise nichts. Also wurden die Messungen im Nachhinein hörbar gemacht. Und das klingt dann so.” Er wies mit dem Daumen auf die Lautsprecher. „Aha. Und du nutzt das für deine Tracks?” „Jepp. Der hier heißt Kosmos. Kommt aber nicht auf Magnitogorsk, weil er nicht zum Thema passt. Ich schätze, ich hau ihn einfach früher raus. Das heißt, wenn er irgendwann fertig wird. Ich habe die letzten drei Stunden mit dem Äquivalent von zehn Sekunden Musik verbracht.” Yuriy seufzte und griff nach seinen Kopfhörern. „Wenn du mir noch eine Viertelstunde gibst, kriege ich es vielleicht noch hin.” Kai nickte nur und nahm noch eine Gabel voll Lasagne, die zugegeben wirklich gut war. Yuriy lächelte ihn dankbar an und setzte die Kopfhörer auf; kurz darauf verstummte das Summen. Nur noch das Klackern der Tastatur und der Regler war zu hören. Kai beendete in Ruhe sein Abendessen, und da es auch dann noch nicht so aussah, als würde Yuriy bald fertig sein, angelte er nach seinem Rucksack und zog seinen Laptop heraus, um noch ein paar kleinere To-Dos zu erledigen, die heute unter den Tisch gefallen waren. Ab und an schielte er in Richtung seines Freundes, der komplett von seinen Tonspuren vereinnahmt wurde. Das war ein neuer Anblick für ihn, obwohl er daran gewöhnt war, dass Yuriy in seiner Musik versank, bis er alles um sich herum vergaß. Beim Auflegen war es ähnlich. Alle in ihrem Freundeskreis wussten, dass Yuriy es nicht mochte, wenn man ihn während eines Sets störte. Niemand, mit Ausnahme der anderen Ostblocc-Gründungsmitglieder, traute sich, zu ihm hinter das Pult zu kommen. Wenn sie noch gemeinsam feiern wollten, mussten sie wohl oder übel warten, bis er zu ihnen kam. Nachdem sie mehr als eine halbe Stunde lang einträchtig nebeneinander gearbeitet hatten, beschloss Kai, für heute Schluss zu machen. Er klappte den Laptop zu, schwang sich aus dem Bett und näherte sich Yuriy, überlegte dabei, wie er dessen Aufmerksamkeit bekommen konnte, ohne ihn zu erschrecken. Doch der andere musste ihn aus den Augenwinkeln gesehen haben, denn er blickte zu ihm auf und zog die Kopfhörer herunter. „Ich sollte aufhören, oder?” „Wenn wir noch Zeit miteinander verbringen wollen, schon”, meinte Kai. Er fügte sich bereitwillig, als Yuriy nach ihm griff und zu sich zog, um ihn zu küssen. Zuerst stützte er sich noch auf den Armlehnen ab, dann kroch er auf Yuriys Schoß, hatte kurz das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, aber das war nur der Stuhl, der nach hinten kippte. Yuriys Duft hüllte ihn ganz ein und beruhigte seine von den vergangenen Stunden strapazierten Nerven. Und seine Lippen taten ihr Übriges. „Fuck”, meinte Kai, als sie sich lösten, „Hättest du vor vierundzwanzig Stunden gedacht, dass es so kommt?” „Vor vierundzwanzig Stunden habe ich mein erstes graues Haar entdeckt”, entgegnete Yuriy trocken, „Also nein. Was aber nicht heißt, dass mir nicht gefällt, wie der letzte Tag verlaufen ist.” Er reckte erneut das Kinn, doch Kai wich ihm knapp aus. „Lass uns zum Bett gehen. Und zieh dieses Zelt aus.” Mit diesen Worten zupfte er an Yuriys Pullover. „Dann muss ich erst duschen, ich bin unter diesem Zelt nicht mehr frisch…” „Hmm… Vielleicht sollte ich dir Gesellschaft leisten?” Nun beugte Kai sich doch wieder vor. Kurz fragte er sich, ob er zu voreilig handelte, aber von Yuriy kam nur ein Brummen, das nicht unwillig klang. Kai schloss die Augen, als er spürte, wie die Lippen des anderen über seine Wange strichen, bis hin zu seinem Ohr. „Eventuell habe ich in der Vergangenheit schon öfter an so etwas gedacht”, flüsterte Yuriy und der warme Hauch seines Atems ließ Kai erschauern. Wenn Yuriy so weitermachte, würde er es nicht mehr bis ins Bad schaffen, soviel war klar. Doch bevor Kai zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hörten sie, wie jemand die Wohnungstür aufschloss. Boris war nach Hause gekommen. Als er in Yuriys Zimmer spähte, stand Kai längst wieder auf seinen eigenen Beinen. „Hey”, sagte Boris, „Alles klar?” Yuriy nickte und öffnete den Mund; sie hatten sich mit einem Blick verständigt, und Kai wusste, dass sein Freund Boris möglichst ohne viel Gewese erzählen wollte, was zwischen ihnen los war. Doch der ließ ihn erst gar nicht beginnen. „Schön!”, sagte er, „Also, tut mir leid, aber ich bin total im Eimer. Ich hau mich aufs Ohr. Schönen Abend noch!” Und damit verschwand er wieder im dunklen Flur. Yuriy und Kai sahen sich irritiert an. „Sollte ich ihm nachgehen?”, fragte Yuriy. Kai hob die Schultern. „Vielleicht ist es besser, wenn wir das morgen machen.” „Wahrscheinlich; er sah ziemlich fertig aus.” Sie lauschten, und tatsächlich hörten sie nur noch kurz, wie Boris durch die Wohnung ging, dann fiel seine Zimmertür ins Schloss und Stille brach über sie hinein. Yuriy räusperte sich. „Ich wollte duschen gehen.” „Wolltest du”, bestätigte Kai, wusste aber nicht so recht, wie er die zerstörte Stimmung zwischen ihnen wieder kitten konnte. Also ließ er es. Yuriy schickte noch ein wissendes Grinsen in seine Richtung, bevor er den Raum verließ. Kai hörte, wie er kurz vor Boris’ Tür stehenblieb, vielleicht nachsah, ob sein Mitbewohner noch wach war, dann aber unverrichteter Dinge weiter zum Bad ging. Er selbst blieb allein zurück, und es wurde seltsam still um ihn herum. Yuriys Worte von eben hatte er keineswegs vergessen, und als er nun wieder daran dachte, stieg einmal mehr Hitze in ihm auf. Verdammt. Er wollte nichts überstürzen - aber was konnte schon schief gehen? Sie waren zwei Erwachsene, die aufeinander standen. So einfach, so gut. Und außerdem hatte er verdammt noch mal drei Jahre lang auf einen Moment wie diesen warten müssen. Kurzentschlossen stand er auf und folgte Yuriy. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)