Metropolentänzer von lady_j ================================================================================ Kapitel 3: Morgens bin ich so solide, doch am Abend werd‘ ich schwach --------------------------------------------------------------------- Kai machte selten bis nie vor 18 Uhr Feierabend. Doch heute war kein normaler Freitag, denn ihm stand eine Trainingseinheit mit Boris bevor. Er wusste nicht, ob er sich darauf freute. Trainieren - ja, Zeit mit Boris verbringen - okay. Aber sich von ihm neunzig Minuten lang schinden lassen? Das grenzte an Selbstgeißelung. Jedoch, und das war der springende Punkt, brachte das Training bei Boris wirklich etwas. Kai war immer schon sportlich gewesen, doch gerade in seinen ersten Jahren in Berlin hatte er sich ein wenig vernachlässigt. Zwar blieb er dank seines Rennrads immer schlank, doch ansonsten verlor sein Körper an Definition. Das hatte sich inzwischen dank Boris rasant geändert. Einige seiner Hemden spannten schon ein wenig und ja, die Zahl der einschlägigen Komplimente, die er beim Ausgehen erntete, hatte sich erhöht. Vor allem aber liebte er das neue-alte Körpergefühl, genug Kraft und Ausdauer zu haben. Und so schulterte er die Sporttasche und verließ pünktlich um 16 Uhr sein Büro. Die anderen waren noch über ihre Rechner gebeugt, das Klackern der Tastaturen war das einzige Geräusch. Er räusperte sich vernehmlich, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Okay Leute, ich bin raus für heute”, sagte er, als sie die Köpfe hoben, „Wenn doch noch was ist, ruft mich auf dem Handy an. Und noch ein kleiner Hinweis: Wenn ihr keinen Bock darauf habt, eurem Chef beim Feiern zu begegnen, geht am Samstag nicht ins Zentrum. Wenn doch, wisst ihr ja - solange ihr am Montag wieder hier sitzt, sind wir uns offiziell nie über den Weg gelaufen. Schönes Wochenende.” Draußen war es zugig und ein wenig nass. Zum Glück dauerte es mit dem Rad nur ein paar Minuten bis zu dem Fitnessstudio, in dem er sich mit Boris verabredet hatte. Der war auch schon da, umgezogen und alles, und fing sofort an, ihn zu anzutreiben. Kai, niemals um einen Spruch verlegen, stichelte zurück, zumindest so lange, bis Boris ihn zum Aufwärmen aufs Laufband verfrachtete und die Hand drohend über dem Geschwindigkeitsknopf schweben ließ. „Bist du sicher, dass du dir keinen Ernährungsplan von mir aufstellen lassen willst?”, fragte er, nachdem Kai ein paar Minuten gelaufen war, „Das könnte durchaus noch was tun für dich.” „Danke, aber du weißt doch, dass ich kein food prepper bin”, entgegnete Kai, „Das würde nicht funktionieren.” „Ja, okay. Alternativvorschlag: Es gibt da einen Shake, der ist echt der Hammer. Wenn du sowieso kein richtiges Frühstück machst, könntest du dir auch so was reinziehen. Einfach, um ein paar mehr Proteine zu bekommen. - Du kannst jetzt hier Schluss machen, wir gehen hoch zum Crossfit.” In den nächsten Minuten zwang Boris ihn durch eine ganze Reihe von Eigengewichtsübungen, und da nach Wochen, in denen sie hier drin gezittert hatten, endlich jemand auf die Idee gekommen war, die Heizung anzumachen, war er am Ende ordentlich durchgeschwitzt. Doch Boris war noch lange nicht fertig mit ihm. „Gehst du morgen ins Zentrum?”, fragte Kai zwischen zwei Klimmzügen, halb auch, um eine Sekunde Pause zu haben, was er aber natürlich nie zugeben würde. Dabei bemerkte er, dass Boris’ Blick gerade einer Frau folgte, die an ihnen vorbeiging. Er stieß ihn mit dem Fuß an. „Hey, meine Muskeln, nicht ihre.” „Oh, du weißt doch, ich mache da keinen Unterschied.” Boris grinste. „Ein guter Hintern ist ein guter Hintern, egal, an wem er dranhängt. Und jetzt mach weiter, du bist hier noch nicht durch. So ist’s brav. Und noch zehn.” Kai verdrehte stumm die Augen, seine Arme brannten. „Und nein, ich bin nicht im Zentrum, sondern auf meiner Couch”, fuhr Boris fort, „Ich bin morgen nämlich auch den ganzen Tag unterwegs. Da schaff ich es nicht mehr, auch noch die Nacht durchzumachen.” „Du wirst alt.” „Ja, und noch mal zwanzig, Hiwatari, weil du noch aufmucken kannst.” Kai schaffte zehn, dann rutschten seine Hände ab. Damit schien er Boris allerdings beeindruckt zu haben, denn der drückte ihm die Wasserflasche in die Hand und winkte ihn weiter zu den Beinpressen. „Yuriy ist heute in Leipzig”, sagte er aus heiterem Himmel, während Kai sich gegen die Gewichte stemmte und er sich locker auf das Gerät stützte. „Hmhm”, machte Kai mit zusammengebissenen Zähnen. Der andere hatte ihm ganz schön was aufgelegt. „Die fahren da unten richtig auf ihn ab, er war bestimmt fünf Mal dort im letzten halben Jahr. Noch drei.” Kurz darauf fiel der Block mit den Gewichten scheppernd wieder an seinen Platz und Kai atmete tief durch. „Wann kommt er wieder? Morgen Nachmittag?” „Ja, oder am frühen Abend. Mach mal noch fünf drauf.” „Dein Ernst?!” „Maul halten, pumpen.” Er wartete, bis Kai sich wieder abmühte, dann sprach er weiter: „Übrigens hat Yuriy mir erzählt, dass du Miguel abserviert hast?” Kai brummte angestrengt. „Darf ich fragen, warum? Noch fünf. Wir wollen ja nicht, dass du Stockbeinchen hast.” Verbissen beendete Kai seinen Satz, erst dann ließ er sich dazu herab, Boris’ Frage zu beantworten. Er erzählte ihm dasselbe wie Yuriy: Dass es ihm sowieso nicht ernst gewesen war mit Miguel und dass es deswegen auch überhaupt nicht wichtig war, wie es geendet hatte. „Ich kann das nicht so durchziehen wie Yuriy und Garland”, sagte er schließlich, „Und erst recht nicht mit Miguel.” „Na gut, aber das mit Yuriy und Garland ist auch rein zweckmäßig.” Nach dieser Aussage pausierte ihr Gespräch, denn Boris peitschte ihn durch den dritten Satz, und danach fühlten sich Kais Beine schon sehr mitgenommen an. Doch er wurde prompt zum nächsten Gerät geschickt. Erst als er dort die erste Runde hinter sich hatte, nahm er den Faden wieder auf: „Haben Yuriy und Garland sich eigentlich gestritten oder so was? Ich hatte neulich ein Gespräch mit Garland und er hat irgendwas angedeutet, ob ich weiß, warum Yuriy noch Single ist… Klang fast, als wollte er ihn loswerden, obwohl ich mir das eigentlich nicht vorstellen kann.” Boris zog die Augenbrauen zusammen und antwortete nicht sofort. Stattdessen beugte er sich vor, als wollte er die Gewichte überprüfen. „Nein, ich glaube nicht”, sagte er, als er wieder hochkam. „Aber naja, Yuriy ist halt nicht sehr freigiebig mit seiner Liebe. Um ehrlich zu sein - mach das Bein mal ein bisschen grade, sonst kommt das doch gar nicht an. Ja, besser. - Um ehrlich zu sein, sind wir beide wohl einige der wenigen, die ihm wirklich nahe stehen. Du darfst dich geehrt fühlen.” „Das tue ich”, gab Kai offen zu. „Ich mag das, was wir haben.” Das Grinsen des anderen blieb ihm nicht verborgen, und augenblicklich bereute er, was er gesagt hatte. „Was?!” Boris tätschelte sein Knie. „Pause.” Sie lehnten sich etwas abseits ans Fensterbrett und Kai trank in großen Zügen aus seiner Flasche, während Boris ihn immer noch grinsend von der Seite ansah, offensichtlich sehr erfreut über die Wirkung seines harten Regimes. Sie zogen ihre Telefone heraus, um den Stand des Trainingsplans zu vergleichen und setzten hier und da ein paar Häkchen. Boris brummte zufrieden. „Aber ganz ehrlich”, sagte er, während er das Handy wieder einsteckte, „Niemand sollte mit über dreißig noch so gut aussehen wie Yuriy. Eigentlich müsste er langsam anfangen zu modern, wie wir alle, oder? Aber naja, du weißt ja, was man sich über Rothaarige so erzählt.” Er stieß Kai mit der Schulter an und lachte dreckig. „Oh Gott, Boris…” „Gib’s zu”, unterbrach ihn der andere, „Du würdest ihn nicht von der Bettkante stoßen. Oder?” Kai verdrehte die Augen. „Kuznetsov, du machst mich fertig.” „Lenk nicht ab, ich will eine ehrliche Antwort.” Er stieß die Luft aus. „Schön!”, sagte er, „Nein, würde ich nicht. Aber so läuft das bei uns nicht, und das weißt du”, fügte er hinzu und senkte automatisch die Stimme, denn das war nichts, worüber er einfach so offen reden konnte. Boris verstand ihn scheinbar, denn er legte den Kopf schief, wartete aber einfach nur ab. „Wir sind Freunde. Das ist wertvoll”, sagte Kai, „Und nichts, was ich für einen Fick einfach so aufgeben würde. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen Yuriy von der Bettkante stoßen und ihn dafür als Freund zu behalten und ihn anpacken zu dürfen, aber danach nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln - da müsste ich gar nicht lange nachdenken. Ich würde meine Finger bei mir behalten.” „Hm, es sei denn, ihr wäret euch einig…” „Was soll das, Boris?” Jetzt wurde er doch wieder lauter. Er war genervt. „Ich hab es ein bisschen satt, dass ihr ständig eure Witze über uns macht. Zwischen mir und Yuriy ist nie was gelaufen. Und nach meinen Erfahrungen ist das auch gut so. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er gerade sehr glücklich damit ist, frei zu sein und Musik zu machen. Vielleicht solltest du ihn einfach mal machen lassen.” „Hey, ist ja gut!” Boris hob abwehrend die Hände, doch er grinste schon wieder, wenn auch nur leicht. „Ich hab nur dummes Zeug gelabert. Na los, lass uns zum Stairmaster gehen, dann bist du durch.” Er drehte sich um und ging auf die Treppe zu, die zurück in die untere Etage führte. Kai wartete einen Augenblick, bevor er ihm folgte. Ihm war ein bisschen warm geworden über die letzten Minuten, obwohl er sich gar nicht bewegt hatte. Aus irgendeinem Grund war er nervös. Was er Boris gerade gesagt hatte, hatte er schon sehr oft gedacht. Und es stimmte ja auch. Er musste es sich selbst nur immer und immer wieder klarmachen, sonst würde es Probleme geben. Natürlich gingen die Zwillinge am Samstag mit ihm feiern. Giulia schaffte es auch nach knapp drei Jahren, bei fast jedem von Mathildas Auftritten dabei zu sein - woher sie die Energie dafür nahm, war Kai schleierhaft. Und seit Raoul wieder Single war, hängte er sich des Öfteren an seine Schwester. Mathilda hatte sie netterweise auf die Gästeliste gesetzt, und heute war einer dieser Tage, an denen das tatsächlich einen Unterschied machte. Und so mussten sie nicht lange in der Kälte stehen, bevor sie eingelassen wurden. Unten im Club war es angenehm warm, und Kai bereute kein Bisschen, lediglich ein Shirt unter seinem Mantel zu tragen. Giulia stand auf einmal in einem sehr kurzen Fummel vor ihm und Raoul - Raoul hatte er schon aus den Augen verloren. Vermutlich war er auf direktem Weg zur Tanzfläche gegangen. „Sollen wir erst mal was trinken?”, fragte er Giulia, die sich bei ihm einhakte. Er bahnte ihnen den Weg zur Bar in der Haupthalle, wobei sie hier und da die Leute grüßten. Mathilda würde heute nur kurz selbst auflegen. Die von ihr gehostete Partyreihe diente auch dazu, neue Talente bekannt zu machen. Einige von ihnen waren Mitglieder des Kollektivs, aber nicht alle. Die Musik war solide und die Tanzfläche gut gefüllt, aber Kai hatte definitiv schon wildere Nächte erlebt. Allerdings spürte auch er die Auswirkungen der Arbeitswoche, und das, obwohl er heute sogar ausgeschlafen hatte. Wenn nicht noch etwas Großartiges passierte (und das tat es eigentlich nicht, nicht mehr), dann würde er es einfach etwas ruhiger angehen lassen. „Matties Set fängt um zwei an”, sagte Giulia, nachdem sie mit Gin Tonic angestoßen hatten. „Also in einer halben Stunde. Ich würde gerne hoch zu ihr. Kommst du mit?” Kai winkte ab. „Geh nur, ich bleib erst mal hier.” Er hatte kein Problem damit, in einem Club allein zu sein. So konnte er die Eindrücke in sich aufnehmen und langsam runterkommen; er brauchte das. Die laute Musik, die tanzenden Menschen. Inzwischen fühlte er sich hier fast zu Hause. Und wenn er ab und an Smalltalk halten musste, sei’s drum. Manchmal entwickelten sich daraus durchaus interessante Gespräche. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tresen ab und beobachtete die tanzende Menge vor sich. Wie sie bunt ausgeleuchtet wurde, wie hier und da Pailletten und Schmuck das Licht zurückwarfen. Der Beat war beinahe etwas zu leicht für ihn, aber er war sich sicher, in ein paar Minuten würde er trotzdem genug Lust zum Tanzen haben. Vielleicht nach diesem Drink oder dem nächsten. In diesem Moment spürte er, wie sich jemand neben ihn stellte. „Ich habe ein Déjà-vu”, sagte eine vertraute Stimme sehr nahe an seinem Ohr, und Kai wandte den Kopf. Blickte in zwei helle Augen, die im diffusen Licht zu leuchten schienen. „Yuriy!”, stellte er überrascht fest. „Ich dachte, du gönnst dir mal ein paar Stunden Schlaf?!” Der andere hob nur die Schultern. „Boris hat gesagt, dass du heute hier bist”, antwortete er, „Und ich wollte dich sehen.” Darauf wusste Kai nichts zu erwidern, also lächelte er nur. Als nächstes stahl Yuriy sein Getränk. Sein Blick wanderte in Richtung der kleinen Bühne, auf der sich die Turntables befanden. „Das ist bestimmt Jenny”, sagte er, „Die hat es voll drauf, ist aber vor Auftritten so nervös, dass sie lieber auf Nummer sicher geht, und dann wird’s ein bisschen langweilig.” Kai nickte abwesend. Yuriy hatte den Arm hinter ihm auf den Tresen gelegt und sie standen nahe genug beieinander, um sich zu berühren. Er roch frisch geduscht, eine angenehme Alternative zu dem muffigen Geruch des Kunstnebels, den sie heute hier versprühten. Kai nahm dem anderen das Glas wieder ab, doch nur, um festzustellen, dass es inzwischen leer war. Yuriy winkte pflichtschuldig dem Barkeeper, als er ihn vorwurfsvoll ansah. „Warum eigentlich Déjà-vu?”, fragte Kai dann. Yuriy grinste und strich ihm kurz über den Rücken. „Erinnerst du dich nicht?” „Oh. Das.” Er nahm den neuen Drink entgegen. „Wie könnte ich das je vergessen?” Dabei war dies nicht einmal die Bar, an der sie zum ersten Mal ins Gespräch gekommen waren. Aber immerhin, der Club stimmte. Sie teilten sich auch das zweite Getränk, schwiegen dabei die meiste Zeit. Derweil wurde die Stimmung um sie herum etwas ausgelassener. Kai meinte, Mathildas rosa und Giulias brünetten Schopf oben auf der Empore zu sehen, aber bei dem ständig wechselnden Licht konnte er sich nicht sicher sein. Schließlich drehte er sich wieder zu Yuriy. „Tanzen?”, fragte er, doch sein Gegenüber verzog den Mund. „Rauchen?”, entgegnete er. „Das heißt, wenn Boris es dir nicht verboten hat.” „Boris kann mir gar nichts, der raucht selber noch”, sagte Kai. „Na dann. Lass uns an die frische Luft gehen, okay? Der Raucherraum ist so stickig.” Kai nickte nur, stürzte den Rest des Drinks runter und stieß sich vom Tresen ab. Augenblicklich wurde er von den tanzenden Menschen eingekesselt und streckte blind die Hand nach hinten aus, damit Yuriy ihn nicht verlor. Kurz darauf schlossen sich dessen kühle Finger um seine, und er zog ihn durch die Menge. Eigentlich sahen die Türsteher es nicht gern, wenn man grundlos vor dem Club herumhing. Schließlich befanden sie sich in einem Wohnviertel, und das funktionierte nur, weil die Clubräume zu einem großen Teil halb unter der Erde lagen. Dennoch, die Nachbarhäuser standen ziemlich nahe, und so wollte man Lärmbelästigung und die damit verbundenen Anzeigen natürlich so gut es ging vermeiden. Es war ein Glück für sie, dass Yuriy als quasi hauseigener DJ in manchen Dingen einen Freifahrtschein bekam. „Jo Alex, wir sind kurz rauchen”, sagte er zu einem der Türsteher. Der schnalzte mit der Zunge, nickte dann aber. „Aber geht um die Ecke, ja? Damit die Kids nicht denken, sie könnten das auch machen.” „Geht klar.” Sie schoben sich durch die winzige Eingangstür. Obwohl die Stoßzeit sich langsam dem Ende näherte, war die Schlange vor dem Club noch ziemlich lang. Einige harrten hier bestimmt schon seit zwei Stunden aus. Auch deswegen ging Kai ungern an Samstagen feiern, wenn er nicht auf der Gästeliste stand; es dauerte einfach zu lange. Er folgte Yuriy, der sich gar nicht so weit vom Eingang entfernt in den Schatten stellte, wo sie niemand sehen würde, und ihm eine Schachtel Zigaretten hinhielt. Es war kalt, sie hatten ihre Jacken nicht mitgenommen, was Kai jetzt ein wenig bereute. Nachdem Yuriy ihm Feuer gegeben hatte, rieb er sich flüchtig über die Arme. „Wie war es in Leipzig?”, fragte er dann. „Gut”, antwortete Yuriy, „Gefällt mir dort. Gibt halt sehr viele Studierende, und der Club, in dem ich immer bin, ist auch top. Die Managerin mag mich, ich glaub, das könnte was Längerfristiges werden. Wobei ich dann nicht teurer werden sollte.” Kai nickte. „Freut mich für dich.” Er hörte, wie Yuriy zittrig ausatmete. „Ist dir kalt?” „Dir etwa nicht? Rauch’ mal ein bisschen schneller, ich will wieder rein.” „Hetz’ mich nicht, ich bin ein wichtiger CEO.” „Hör mal, wichtiger CEO, ich schubs dich gleich.” „Dann schubs ich zurück.” Prompt empfing er einen Stoß gegen den Arm, der jedoch nur halbherzig ausgeführt war. Yuriys Hand war eiskalt. Davon ließ Kai sich nicht beirren, er holte in Yuriys Richtung aus und der andere duckte sich lachend weg. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen etwas, das ein lautes, hölzernes Rattern von sich gab. Das plötzliche Geräusch ließ sie innehalten. Kai spürte, wie warme Asche von seiner Kippe rieselte. „Was zum Fick?” Er tastete in der Dunkelheit herum, bis seine Zehen auf den Gegenstand trafen, der sich sofort wieder in Bewegung setzte. „Oh. Das ist ein Skateboard. Wie kommt das denn hierher?” „Keine Ahnung.” Er konnte nicht sehen, was in Yuriys Gesicht vorging, dazu war es zu dunkel, aber sie standen jetzt wieder sehr dicht nebeneinander und blickten dorthin, wo sie das Skateboard vermuteten. „Kannst du fahren?” „Ich konnte mal”, erwiderte Kai. „Du?” „Ich bin groß, dünn und schwul. Das sind nicht die besten Voraussetzungen.” „Also nein.” „Nein”, gab Yuriy zu. „Aber hey, wenn du lustig bist, zeig mir einen Ollie.” Kai hob eine Augenbraue. „Jetzt? Alex reißt uns die Eier ab.” „Nicht, wenn wir Richtung Karl-Marx-Straße gehen.” Er konnte förmlich hören, wie der andere grinste. „Oder hast du Angst, aufs Maul zu fallen?” Kai schnaubte. Ja, davor fürchtete er sich tatsächlich ein bisschen, vor allem, wenn ihm das vor Yuriy passierte - aber verarschen lassen wollte er sich nun auch wieder nicht. Ehe er es sich überlegen konnte, schnipste er den Rest seiner Zigarette weg und setzte sich in Bewegung. Er trat auf das Ende des Skateboards, um es aufzuheben. Dann drehte er sich zu Yuriy um und machte eine auffordernde Kopfbewegung. „Wenn ich’s noch kann, gibst du mir einen Döner aus.” „Deal.” Dass sie immer noch nur in Shirts draußen herumliefen, war für den Moment vergessen. Sie umrundeten die Schlange der Wartenden vor dem Club, kassierten einige schräge Blicke, machten sich aber nicht viel daraus. Ein Block weiter war die Straße asphaltiert und leicht abschüssig. Neben ihnen ragte ein kleines Einkaufszentrum auf, also fürchteten sie auch keine Beschwerden vonseiten der Anwohnenden. Yuriy hockte sich auf die Bordsteinkante und zündete sich eine zweite Zigarette an. „Na dann zeig mal”, sagte er. Kai schob das Board ein wenig mit dem Fuß hin und her. Von seinem Standpunkt aus sah er eine Gruppe Männer am Ende der Straße, die langsam in ihre Richtung kam. Na toll, auf Publikum hatte er jetzt keinen Bock. „Ich warte”, kam es von Yuriy. Er zeigte ihm den Finger und stellte sich auf das Board, das sich sofort in Bewegung setzte. Beinahe wäre er wieder abgesprungen, doch er konnte gerade so das Gleichgewicht halten und rollte ein Stück den Abhang hinab. „Das ist kein Ollie, Kai!”, rief Yuriy. „Fick dich!” Er ging in die Hocke und fuhr eine Kurve, dann hielt er an, indem er ein Bein auf den Boden setzte. Yuriy war nun ein ganzes Stück von ihm entfernt. Wenn er ein bisschen mehr Schwung holte, dürfte der Sprung eigentlich funktionieren. Eigentlich. Himmel, worauf hatte er sich hier eingelassen? Ganz nüchtern war er auch nicht, obwohl die kalte Luft den Gin Tonic schon fast vollständig aus seinem Kopf getrieben hatte. Aber einen Rückzieher konnte er jetzt auch nicht mehr machen. Also stieß er sich ab, etwas stärker dieses Mal, und rollte auf Yuriy zu. Es war erstaunlich, wie sein Körper sich an die alte Routine erinnerte. Beinahe automatisch verlagerte er das Gewicht, stieß sich ab, sprang nach oben und - rutschte vom Brett ab und verlor den Halt. Unsanft landete er auf dem Hintern, das Brett flog klappernd zur Seite weg. Von der Männergruppe, die inzwischen auf ihrer Höhe angekommen war, kam ein langgezogenes „Uuuuuffff.” Dann war Yuriy an seiner Seite. Sein Körper bebte vor unterdrücktem Lachen, doch seine Stimme klang etwas besorgt. „Alles okay?” Seine Hand berührte ihn vorsichtig an der Schulter Kai richtete sich ächzend auf. „Ja, schon gut.” Als er den Kopf hob, waren die anderen Typen schon weitergezogen, bis auf einen, der sie, eine Flasche in der Hand, weiter beobachtete, womöglich in Erwartung eines weiteren Stunts. Vielleicht war er auch einfach nur besoffen. Kai warf ihm einen bösen Blick zu. „Kiekst’n so?”, rief er herausfordernd, und siehe da, der Typ trollte sich. Seufzend drehte er sich zu Yuriy um, hielt jedoch inne, als er die Mimik des anderen bemerkte. „Was?” „Du hast berlinert”, stellte Yuriy fest. „Nicht richtig?” „Doch”, sagte er. „Ich bin schockverliebt.” Kai zog zweifelnd einen Mundwinkel hoch und schubste ihn halbherzig. „Das bist du doch seit Jahren.” „Hm. Das stimmt allerdings.” Etwas Warmes durchrieselte ihn, sammelte sich in seinem Magen. Was passierte hier eigentlich gerade? Gut, sie warfen sich öfter halbe Liebesgeständnisse an den Kopf - es lag auch ein bisschen an den Witzen der anderen, die sie dann einfach weitersponnen. Aber das hier... das war anders. Vielleicht lag es an Yuriys Tonfall oder an der bescheuerten Situation, in die Kai sich gebracht hatte. Ihm fiel einfach keine passende Erwiderung ein. Stattdessen starrte er Yuriy an, und der gab diesen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. Ihm war, als könnte er im Licht der Straßenlampen einen Hauch Nervosität bei dem anderen erkennen. Irgendwo weiter die Straße rauf zersprang klirrend eine Glasflasche auf dem Asphalt. Jemand rief „Schwuchteln!” und andere Stimmen brachen in schallendes Gelächter aus. Die Anspannung zwischen ihnen zerbrach, und kurz war es, als hätte der Moment nie stattgefunden. Yuriy wandte sich um und unterbrach so ihren Blickkontakt. Kai nutzte die Gelegenheit, um sich zu sammeln. „Sollen wir sie schubsen gehen?”, fragte er. „Das Shirt ist neu”, entgegnete Yuriy in einem gelangweilten Tonfall und zupfte wie zur Bestätigung daran herum. „Gegenvorschlag: Wir gehen dorthin zurück, wo wir in Ruhe Schwuchteln sein können, ziehen uns den Rest von Matties Set rein, und bevor wir nach Hause gehen spendiere ich dir noch ein Portion Trostpommes.” Er stand auf und hielt Kai auffordernd die Hand hin, damit er ihn hochziehen konnte. „Mit Ketchup und Majo?”, fragte Kai, bevor er den Rückweg Richtung Zentrum einschlug. „Aber natürlich. Hey. Du hast Staub am Arsch.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)