Thin Lines von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 7: Mein Körper gebrochen, deiner verbraucht --------------------------------------------------- Yuriys Augen waren so gletscherblau, dass Garland wie die Titanic an ihnen zu zerschellen drohte. Er ließ die Fingerspitzen über Yuriys milchweiße Haut wandern, dann die Zungenspitze über die Narben, die sich da und dort in seinen Körper gruben. Zeugen eines bewegten Lebens. Garland hatte mittlerweile genügend eigene, aber von Yuriys Körper konnte er ohnehin nicht genug bekommen. Und wenn er ehrlich mit sich war, war es mehr als das. Er war fasziniert, angezogen wie abgestoßen. Er wollte Yuriy überflügeln, er wollte Yuriy sein, er wollte Yuriy. Yuriy lächelte, aber das Lächeln war voller rasiermesserscharfer Zähne, und Garland hatte diesen Traum in den letzten zehn Jahren mittlerweile oft genug gehabt, um zu wissen, wie er ausging. Es war unausweichlich. Er war sich bewusst, dass er träumte, aber er konnte nichts tun, um den Verlauf des Traums zu beeinflussen. Und so war er auch dieses Mal wie gebannt, als Yuriy sich zu ihm beugte - sein rotes Haar war überall, war so grell, dass es alle anderen Farben des Traums verschlang - und die Lippen auf seine legte, und während sie sich küssten, während Garland die Fingernägel in Yuriys Hüften grub und sich an ihn drängte, in ihn drängte, begann es nach Rauch zu riechen, bis er den Rauch schließlich sogar auf seiner Zunge schmecken konnte. Yuriy sah ihn an, ließ ihn nicht los, und die Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen, während er in Flammen aufging und brannte, brannte, brannte. Das Feuer sprang auf Garland über, wo sie miteinander vereint waren, und er fühlte den Schmerz, der sich durch seine Haut zu fressen begann, unfähig, sich davon zu befreien. Yuriy presste einen Kuss auf seinen Mundwinkel, zart wie Schmetterlingsflügel und voll von bitterem Triumph. „Ich gewinne“, sagte er, und Garland wachte auf. Augenblicklich schlug er die Bettdecke zurück und setzte sich am Bettrand auf. Das kalte Metall des Rahmens brannte auf der Innenseite seiner Knie, als er die Ellbogen auf seinen Oberschenkeln abstützte und die Fingerknöchel gegen die Augen presste, um dann tief durchzuatmen. Das Schlafzimmer im Penthouse hoch über der Stadt war vollkommen ruhig um ihn herum. Garland konnte nur bei absoluter Stille und Dunkelheit schlafen. Er hatte sich nie vor dem gefürchtet, was im Dunkeln lauerte. Der Traum erinnerte ihn wieder daran, warum. Nichts konnte so beängstigend sein wie das, was sein Gehirn sich ausdachte, wenn er sich einen Moment entspannte. Und Yuriy … zehn Jahre, und er suchte ihn immer noch heim, wie ein blutgetränkter Geist, den Garland nicht loswurde. Garland zuckte, als die Schlafzimmertür aufschwang. Hiro lehnte im Türrahmen und musterte ihn mit undeutbarem Blick, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Sein Head of Security begleitete ihn nun schon seit Jahren, lebte und arbeitete auf engstem Raum mit ihm. Ihm fehlen zwei Finger an der rechten Hand, aber das war die gerechte Strafe für einen Maulwurf der Polizei, der dachte, cleverer zu sein als erlaubt war. Garland war ihm auf die Schliche gekommen, und Brooklyn hatte viel Spaß dabei gehabt, Hiros Loyalitäten auf die richtige Seite zu ziehen, was wiederum auch ohne die abgeschnittenen Finger möglich gewesen wäre, denn Hiro wurde für seine Arbeit mehr als fürstlich bezahlt - fürstlicher, als es ein Cop wurde.. Er war ein wertvolles Mitglied von Garlands Truppe, auch wenn Garland ihn genauso ohne zu zögern für das Erreichen seiner Ziele opfern würde wie alle anderen, mit denen er sich umgab. „Drink?“, fragte Hiro in seine Gedanken hinein. Sein Blick verriet, dass Garland Geräusche im Schlaf gemacht haben musste, die ihn verraten hatten. Garland rieb sich über das Gesicht und atmete erneut tief durch, dann nickte er und erhob sich. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er wanderte an der breiten Fensterfront vorbei und warf einen Blick auf die Stadt, die sich wie ein glitzernder Teppich unter ihm ausbreitete. Seine Casinos hätte er im Schlaf finden können - und es waren seine Casinos, auch wenn sie eigentlich jemand anderem gehörten. Aber Garland hatte sie groß gemacht, kümmerte sich um den regulären Betrieb und das, was hinter den Kulissen abging. Er war der Herr im Haus. Nicht Volkov, für dessen Schatten Garland längst schon zu groß geworden war und von dem er sich mittlerweile nur noch in seinem Tun behindert fühlte, was ihn nicht davon abhielt, über allem zu schweben wie die böse Version des Heiligen Geists. Garland biss die Zähne aufeinander und rieb sich das Handgelenk. Dann verließ er die allumfassende Stille seines Schlafzimmers und begab sich in die Wohnzimmerhalle. Er war nicht überrascht, Brooklyn mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem mannshohen, goldenen Käfig zu sehen, hinter dem ein kleiner Schwarm Papageien ihr Unwesen trieb. Er reagierte nicht auf Garland und der wusste es besser, als ihn von der Seite her anzusprechen, wenn er nicht aufnahmefähig war. Stattdessen ließ er sich auf die bohnenförmige Couch in der Mitte des Wohnzimmers fallen, eine Couch, die groß genug war, um einem ganzen Fußballteam Platz zu bereiten. Hiro reichte ihm dienstbeflissen ein Whiskeyglas, dann ließ er sich am anderen Ende der Couch nieder und musterte ihn erneut. Garland wich seinem Blick aus und nippte an seinem Glas. Es enthielt keinen Whiskey. Er senkte das Glas und sah Hiro an. „Was zum Teufel ist das?“ Hiro zuckte nicht mit der Wimper. „Sake.“ „Ugh“, sagte Garland und trank noch einen Schluck. Hiro lächelte matt und sagte nichts. Eine Weile lauschte Garland auf die Hintergrundgeräusche: Wassergeplätscher des Springbrunnens, den er im Penthouse hatte installieren lassen, die sanften Töne eines Klaviers, das leise Gezwitscher und Gezanke der Papageien. Noch ein paar Wochen bis zur Eröffnung des Poseidon und es gab noch so viel zu tun. Eigentlich konnte er es sich gar nicht leisten, auch nur eine Minute lang die Augen zuzumachen, nicht, wenn er wollte, dass alles glatt ging. Gott, er konnte spüren, wie sich schon wieder alles in seinem Rücken verknotete. „Ich gehe ins Büro“, sagte er schließlich und setzte das Glas ab. „Schickt dann Ming Ming zu mir, ich hoffe wirklich, dass sie endlich ihre Show durchgeplant hat. Wir müssen den Plan für die Eröffnungsnacht finalisieren.“ „Entspann dich“, erklang Brooklyns sanfte Stimme vom Käfig her, ohne dass er sich umdrehte. „Ihr Zeitfenster steht doch. Ist doch egal, was sie dann im Endeffekt singt.“ Garland wollte ihm sagen, dass es ganz und gar nicht egal war, weil er ein Gesamtkonzept verfolgte, verdammt nochmal, aber er wusste nur zu gut, dass Brooklyn solche Details nicht im Geringsten interessierten. Also seufzte er nur, erhob sich und streckte sich, bis er hörte, wie sämtliche Wirbel in seinem Rücken knackten. Er brauchte Sex. Möglichst bald. Erneut warf er einen Blick zu Brooklyn. Ich gewinne, hallte die Erinnerung an Yuriy in seinem Ohr nach. Garland biss die Zähne zusammen, schüttelte sein Bild fort. „Danke für deinen Input, Brooklyn“, sagte er, verließ das Wohnzimmer und zog sich in sein Büro zurück. Arbeit gab es bei zwei Casinos immer genug, und Arbeit führte im Normalfall auch dazu, dass er sich nach und nach wieder fokussieren konnte. Heute jedoch blieb die erhoffte Wirkung aus. Er sortierte Unterlagen, starrte die neuesten Bilanzen aus dem Zeus und dem Apollon an und klärte einige ausstehende Details zum Cocktailempfang bei der Eröffnung des Poseidon, aber sein Herz war nicht so recht bei der Sache. Einer seiner Eventmanager hatte eine Eiskunstlaufshow vorgeschlagen. Yuriys gletscherblaue Augen blitzten wieder in Garlands Erinnerung auf, ein Lächeln so scharf wie eine frisch gewetzte Klinge. Du und ich, Gar. Gemeinsam bringen wir Volkov zur Strecke und dann machen wir was Ehrliches aus dem Schuppen. Was mit Substanz. Gott, sie waren so jung gewesen, und Yuriy hatte immer einen idealistischen Funken besessen. Schwächling. Garland bereute nicht ein bisschen, wie die Sache zwischen ihnen vor zehn Jahren ihr fulminantes Ende gefunden hatte. In manchen Bereichen war Yuriy zu viel gewesen und in manchen zu wenig. Er taugte nicht für diese Welt, weil er sich nicht entscheiden konnte, ob er sie regieren oder verlassen wollte. Garland hingegen hatte seine Entscheidung in dem Moment getroffen, in dem er sich von Volkov unter seine Fittiche hatte nehmen lassen. Das war der große Unterschied zwischen ihnen, war es immer schon gewesen: Yuriy redete nur groß, aber wenn es darauf ankam, hatte er nicht die Eier in die Hose. Garland hingegen hatte nie ein Problem damit gehabt, sich die Hände schmutzig zu machen, wenn das Ziel es wert war. Ehre? Moral? Beides waren Dinge, deren Wert von Menschen festgelegt wurde. Wenn man den letzten Schritt nicht gehen konnte, nur weil man irgendwelche moralischen Bedenken hatte oder jemanden sympathisch fand, hatte man in dieser Welt, in der sie sich bewegten, nichts zu suchen. Deswegen verschimmelte Yuriy jetzt in einem Gefängnis und er selbst saß am Dach der Welt - und Gott mochte ihm helfen, er würde auch dort bleiben. Er hatte keine Angst vor einem Geist, und Träume waren letztendlich nur das. Sie hatten das Spiel gespielt und er hatte gewonnen. Es gab nichts zu befürchten. Mit einem zufriedenen Schmunzeln lehnte er sich zurück und spielte mit einigen Würfeln, die er frisch als Sonderedition für den Abend der Eröffnung anfertigen ließ. Das Leben war ein Spiel, ja - aber jedes Spiel konnte manipulieren, wenn man nur die Regeln kannte, und keiner kannte die Regeln besser als Garland. Bei drei Casinos war die Grenze noch lange nicht erreicht. Die ganze Welt stand ihm offen, und er würde danach greifen. Und weder Volkov, noch Yuriys Schatten, noch irgendjemand anderes würde ihn daran hindern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)