The Name of the Game von flower_in_sunlight ================================================================================ Prolog: -------- „Schau mal!“, rief der kleine Junge aufgeregt. Zwar war es eine Spielemesse, doch ein Kind fiel hier doch auf. Seto Kaiba, seines Zeichens CEO der erfolgreichsten Spielefirma der Welt, wollte bereits erbost aus dem Backstage-Bereich des Messestands treten, als er sah, dass es durchaus eine Aufsichtsperson zu geben schien. Spontan entschied er sich, die Tür wieder etwas zu zuziehen und so verborgen die Szene weiter zu beobachten. Der blonde Mann Mitte Zwanzig beeilte sich hinter ihm her zu kommen und ließ sich genau erklären, was den Jungen so begeisterte. Mit einer gewissen Genugtuung erkannte Seto, dass es seine neueste Duel Disk war. „Die ist ganz neu, oder?“ „Na, interessierst du dich bereits für das Duellieren? Für die ganzen bunten Monster?“, fragte eine der Verkäuferinnen gönnerhaft und mit zuckersüßer Stimme. Setos Miene verfinsterte sich ebenso wie die des jungen Mannes. „Er versteht bereits sehr viel von der Taktik des Spiels, auch wenn er noch kein eigenes Deck hat“, ging er dazwischen. „Onkel Lion ist der Meinung, ich muss erst neun werden ..." Es war offensichtlich, dass der Knirps selbst es nicht so sah. „Naja, wenn er es dir erlaubt, muss er es auch Clara erlauben und dann dreht deine Mutter durch und schimpft mit mir und ihm.“ Seto wusste nicht so recht. Irgendwie sah er noch zu jung aus, um der Vater dieses mindestens Sechsjährigen zu sein. Zwar sah er in dem dunklen Anzug und den nach hinten frisierten Haaren sehr seriös aus, aber irgendwie wirkte er dennoch jugendlich. An die Verkäuferin gewandt fuhr der Blonde fort: „Kann man die Duel Disk hier vor Ort auch testen? Ich würde mir gerne die Weiterentwicklung der Hologramme ansehen.“ Immerhin tat die Dame das wofür sie bezahlt wurde, führte sie wenige Meter weiter in den Stand hinein, wo an zwei Säulen Duel Disks angekettet waren. Das zuvor bewunderte Ausstellungsstück befand sich hinter dem stabilen Glas einer Vitrine. Anschließend wollte Setos Mitarbeiterin noch umständlich erklären, wie die Disk zu bedienen sei, da wurde sie aber auch schon unterbrochen. „Das ist nicht mein erstes Mal mit einer Duel Disk. Und wenn sie sich nicht intuitiv selbst erklärt, hat Ihr Design-Team seinen Beruf verfehlt." Geübt legte er das Gerät an, wobei Seto die geschmeidigen Hände bewunderte - vor allem als ein einfacher Griff in die Hosentasche genügte einen ordentlichen Stapel Karten zu Tage zu fördern. Dieser Stapel wurde kurz aufgefächert, eine Karte gezogen und noch aus der Bewegung heraus aktiviert. Vier kleine, bunte Widder erschienen mit leisem Blöken und versetzten die Umstehenden in Verzückung. Von irgendwoher hörte Seto sogar ein Mädchen quietschen „sind die süüüüüüüüüüß!“ . Der Junge blieb indes einigermaßen unbeeindruckt und der andere bewegte sich auf die Hologramme zu, soweit es die Kette zuließ. Er murmelte etwas und nickte anerkennend mit Kennermiene. „Komm näher, Ethan, und sieh dir das mal genauer an. Die sehen fast so aus, als könnte man sie scheren und die Wolle deiner Mutter zum Stricken mitbringen, oder was meinst du?" Der Junge - Ethan - trat tatsächlich näher und streckte nun vorsichtig die Hand nach einem der Böcke in der unteren Reihe aus. Exakt am Rande der Erscheinung hielt er inne, schien die Illusion zu genießen, und ließ die Hand dann darin verschwinden. Allgemeines nach Luft schnappen. Die Hand war von allen Seiten nicht mehr zu sehen. Schnell zog er sie zurück und blickte dann mit großen Augen zu dem anderen auf. „Rufst du mal einen deiner Drachen?“, wollte er wissen. Doch stattdessen wurde ihm durch die Haare gewuschelt. „Nicht hier. Das würde für zu viel Unruhe sorgen. Was hältst du davon, wenn wir jetzt deine Mutter und Clara suchen und ihr erzählen, was wir alles gesehen haben?“ Die Sündenböcke verschwanden. Der junge Mann bedankte sich bei der zur Salzsäule erstarrten Verkäuferin, legte die Duel Disk zurück und verstaute seine Karte. Beschwingt gingen Ethan und er davon. Seto hatte dadurch die Möglichkeit, seine durchaus ansehnliche Rückansicht noch eine Weile zu bewundern. Zwar konnte er aktuell keine Ablenkungen gebrauchen, doch der Blonde war durchaus attraktiv und wäre bestimmt eine gute Abwechslung in seinen seltenen Tagträumen. Das Weihnachtsgeschäft war mehr als gut gelaufen. Die Duel Disk, die sie auf der Messe Anfang des Sommers vorgestellt hatten, wurde ihnen quasi aus den Händen gerissen. Jetzt im Januar war es dafür wieder ruhiger und Seto Kaiba konnte es sich erlauben, kleinere Aufgaben zurückgezogen im Hintergrund des Messestandes zu erledigen, während seine Mitarbeiter die verbesserte Grafik der Online-Spiele anpriesen. Eigentlich hätte er gar nicht hier sein müssen, doch Ende der Woche gab es eine Jungunternehmer-Konferenz in der gleichen Stadt und er hegte die Hoffnung, dass der Duellant wieder auftauchen könnte. Ungläubig schüttelte er über sich selbst den Kopf. Ein Seto Kaiba hoffte nicht! Trotzdem hätte er gerne mehr über den jungen Mann in Begleitung des Jungen erfahren. Zwar hatten sie nicht miteinander gesprochen, aber er hatte etwas an sich gehabt, dass ihn faszinierte. Leider half ihm das wenige, was er bisher wusste, nicht weiter. „Sündenbock“ war eine weit verbreitete Karte und auch die Erwähnung von Drachen, die sich in seinem Deck befänden, war recht unspezifisch. Sich den Nacken massierend blickte er durch den Einwegspiegel nach draußen. Das Fachpublikum schlenderte vorbei in seinen dunklen Anzügen, seine Mitarbeiter waren alle in Verkaufsgespräche vertieft, führten die Geräte und Programme vor oder leiteten beim Ausprobieren an. Kurz: Sie taten ihren Job. Seto wollte sich schon der nächsten E-Mail widmen, als er einen Neuankömmling bemerkte. Der junge Mann hatte das blonde Haar nach hinten gekämmt und wirkte in seinem Anzug mit dunkelroter Weste gleichzeitig elegant und lässig, da er sich wie selbstverständlich darin bewegte, während viele andere sich schon in einem Hemd unwohl zu fühlen schienen. Sofort machte sich ein Verkäufer auf den Weg zu ihm, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Theoretisch wäre es Setos Chance gewesen. Er müsste nur hinaus gehen, mit einem „ich übernehme ab hier“ seinen Mitarbeiter los werden und ... Was dann? Wenn der andere ein unbedeutendes Licht war, würde er sich lächerlich machen. Wenn er kein Interesse an ihm hätte, aber Setos Interesse an ihm falsch - oder genauer gesagt, richtig - deutete, wäre sein Ruf ruiniert, die Presse könnte ihn zerfleischen. Er zögerte. Lieber betrachtete er den anderen noch etwas aus sicherem Abstand. „Bekommen Sie unauffällig heraus, wer das ist“, befahl er dem Verkäufer via Headset. Dieser ließ sich nicht anmerken, dass er etwas gehört hatte, und redete stur weiter. Währenddessen führte Seto seine Beobachtung fort. Der junge Mann trug keine Ringe an den Fingern. Am linken Ärmel sah er ein paar Mal eine Uhr aufblitzen. Den Besucherausweis hatte er unauffällig an den Rand der vorderen Hosentasche geclipst. Aus der Weite war nur eine römische Zwei zu erkennen, aber der Name schien tatsächlich zu fehlen. Das Gespräch zog sich und schien sich um Fachliches zu drehen. Als er schon gehen wollte, hielt ihm der Verkäufer noch ein Tablet unter die Nase, über das sich Interessenten für ein Gewinnspiel - immerhin die neueste Duel Disk und einige seltenere Duell-Monsters-Karten - eintragen konnten, aber er lehnte nur höflich ab und entschuldigte sich dann. Bald war er wieder in der Menge untergetaucht und verschwunden. Mit zittriger Stimme meldete sich der Verkäufer bei Seto: „Mister Kaiba, ich konnte leider keinen Namen herausbekommen, aber er schien von Industrial Illusions zu kommen. Außerdem kannte er sich hervorragend mit dem Grafiksystem von Duell Monsters aus.“ Es entstand eine Pause, in der er anscheinend erwartete von seinem obersten Vorgesetzten angeschrien zu werden. Dieser antwortete jedoch schlicht: „Das genügt mir für den Moment.“ Soso, Industrial Illusions also. Das wiederum stimmte ihn zuversichtlich. Alles was die Firma von Maximilion Pegasus zu bieten hatte, konnte er auch auffahren und vielleicht sogar mehr. Kapitel 1: Der Kongress ----------------------- Das Foyer war gefüllt mit Stimmengewirr und der freudigen bis bangen Erwartung, die einem Kongress vorausgeht. Würde man Neues lernen, seine Karriere vorantreiben oder zumindest gut essen können oder stellte er sich als komplette Zeitverschwendung heraus? In Seto Kaibas Fall hatte sich die Stimmung von „vollkommene Zeitverschwendung“ vor wenigen Minuten auf „gegebenfalls lassen sich neue Kontakte knüpfen“ gehoben. Von seiner Position am Rand des Geschehens aus hatte er die Ankunft eines jungen, blonden Mannes bemerkt, der augenblicklich von einer Schar anderer junger Männer umringt war. Generell waren die meisten Anwesenden in ihren Zwanzigern und fast alle ausnahmslos männlich. Mokuba hatte bereits gewitzelt, dass doch so für ihn das Paradies aussehen müsste, als er ihn davon überzeugte, dass der Besuch eines ''Unternehmer Unter 30''-Kongresses sich für ihn lohnen könnte. Die Veranstaltung gab es wohl bereits einige Jahre, doch erst mit Mokubas Unterstützung hatte die Einladung den Weg auf seinen Schreibtisch gefunden und so recht wusste Seto immer noch nicht, was er hier sollte. Viele viele der Anwesenden hatten genau wie er selbst ihre jetzige Position quasi geerbt. Doch er hatte bereits deutlich früher angefangen zu arbeiten, während viele der anderen noch im Sandkasten spielten als er das erste Mal im größeren Umfang Personalverantwortung übernahm. Er hätte ein eigenes, tagesfüllendes Programm mit seiner Erfahrung und seinem Wissen bestreiten können, stattdessen würde er sich langweilige Vorträge unbekannter Redner anhören. Immerhin konnte er das hier Mokuba als Urlaub verkaufen und nächstes Jahr war er laut den Regeln des Kongresses bereits zu alt. Es würde also eine einmalige Sachen bleiben. Genervt blickte er hinüber zu der Gruppe, die er die letzten Minuten bewusst ignoriert hatte. Dieses künstliche Gelächter war grauenvoll. Was waren das? Ernstzunehmende Geschäftsleute oder Teenie-Mädchen? Die wenigen Frauen waren allerdings in ruhige Gespräche vertieft oder sichtlich genervt von den ungläubigen bis lüsternen Blicken der anderen. Schnell fiel ihm auf, dass der Mittelpunkt der Gruppe keineswegs zu den Hyänen gehörte. Zwar hatte er wohl den Witz erzählt, jedoch lächelte er gerade einmal höflich. Kurz war sich Seto sicher, dass er in seine Richtung schaute. Aber der Moment war so schnell wieder vorbei, dass es auch Zufall hätte sein können. „Mister Kaiba“, wurde er von der Seite angesprochen. „Was für eine freudige Überraschung Sie hier zu sehen. Wir hatten noch nicht das Vergnügen. Ich bin meinem Vater erst vor drei Monaten nachgefolgt. Mein Name ist ... “ Ohne Interesse für mich. Ein Blick genügte für Seto um den Mittzwanziger mit erschreckend weit gelehrtem Sektglas als schmierig einzuordnen. Er konnte nur hoffen, ihn möglichst bald abzuwimmeln. Bis dahin müsste er wohl oder übel ein paar höfliche Floskeln tauschen müssen. Eine Viertelstunde später half leider nur noch die Flucht und er entschuldigte sich höflichst in Richtung der Toilettenräume, um endlich seine Ruhe zu haben. Die Reihe der Pissoirs an der Wand war leer und so konnte er unbehelligt in einer Kabine verschwinden. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, einfach vorne am Waschbecken zu bleiben, doch kämen andere herein, könnte er dort maximal noch für die Zeit des Händewaschens verweilen. Also schloss er einfach die Tür hinter sich ohne Abzuschließen und hoffte, er würde eine Zeit lang allein bleiben. Die Position seines Gesprächspartners hatte es unmöglich gemacht nicht den blonden Mann anzusehen, was ihn ein paar Mal ablenkte. Wie schon an der Messe trug er einen Anzug mit Weste, hatte die Haare nach hinten frisiert und überstrahlte durch seine bloße Präsenz alle in seinem unmittelbaren Umfeld. Statt Sekt trank er Wein und sprach nicht laut genug, dass Seto es hätte verstehen können. Und er musste wichtig sein, denn gleich drei Typen der schmierigen Sorte hingen an ihm dran, neben ein paar wenigen, denen gegenüber er anscheinend echte Sympathie verspürte. Was nicht in das Bild passte, war die Information, dass er für Industrial Illusions arbeitete. Pegasus würde nie die Leitung seiner Firma abtreten. Oder war er gar ein Hochstapler, der mit einem gefälschten Ausweis auf der Messe unterwegs gewesen war, um die Vorteile des großen Namens auszunutzen. Aber was machte er dann hier? Das Geräusch der Tür unterbrach seine Gedanken. Er spülte, wartete kurz und trat dann hinaus. Die beiden stehenden Männer zuckten bei seinem Anblick deutlich zusammen. Der dreckige Witz, den der eine gerade erzählte, war wohl anscheinend nicht für fremde Ohren bestimmt gewesen. Seto wusch sich die Hände und verließ den Raum. So konnte ihn seine drückende Blase vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal retten. Leider sollte sich dieser Trick als notwendig herausstellen. Auch bedauerte er, dass es zu auffällig wäre, wenn er zu oft auf Toilette ginge. Die anderen Gäste würden sich bestimmt sonst etwas zusammenreimen. Seine einzige Hoffnung bestand darin, sich ebenfalls zu verabschieden, sobald sich die Reihen etwas lichteten. Sein Versuch in Hörweite des seltsamen Mannes zu kommen, scheiterte indes. Einen Kater konnte man es beim besten Willen nicht nennen, was er beim Aufwachen spürte, aber sein Umgang mit Alkohol am Vorabend mit „Schönsaufen“ zu betiteln, traf es dafür umso mehr. Mit großen Mengen kalten Wassers in seinem Gesicht vertrieb er das widerliche Gefühl, bevor er kurz duschte, sich die Haare föhnte und anzog. Das Frühstück würde er ausfallen lassen, um noch etwas zu arbeiten. Kurz vor neun sah er überrascht auf seine Uhr. Der Veranstalter hatte extra eine Anwendung entwickeln lassen, mit der die Teilnehmer ihren persönlichen Plan erstellen konnten und der sie zudem an bevorstehende Termine erinnerte. „9.00 Uhr KEYNOTE“, schrie ihm das kleine Display entgegen. Entsetzen packte ihn. Er war zu spät dran! Das Hotel war direkt mit dem Kongresszentrum verbunden, doch für den Weg würde er mindestens fünf Minuten brauchen, da er zunächst in den ersten Stock hinunter musste. Hektisch packte er Notebook und Aktenkoffer und stürmte los. Ab der Fahrstuhltür im ersten Stock konnte er nur noch entschlossen schreiten. Schließlich war er der} Seto Kaiba und als solcher rannte er nicht. Zudem war ihm selbst vollkommen unklar, wieso er es als wichtig ansah, pünktlich zu erscheinen. Immerhin hatte er eine Firma zu leiten! So wie hundert Prozent der übrigen Teilnehmer auch. Der Saal war bereits gut gefüllt und es war eher Zufall, dass er in den vorderen Reihen noch einen Platz bekam. Wie selbstverständlich setze er auf dem Stuhl am Gang. Jemand hatte wenigstens hier mitgedacht und die Reihen waren weit genug auseinander und garantierten eine gewisse Beinfreiheit. Nicht mitgedacht worden war bei der bescheuerten Regel, weder Speisen noch Getränke in diesem Raum zuzulassen. Denn so langsam merkte er die Abwesenheit von Koffein in seinen Adern. Punkt 9 trat eine Frau auf die Bühne und die Gespräche verstummten. Seto glaubte ein paar unterdrückte Pfiffe und ungläubige Bemerkungen zu hören. Vielleicht war sie wirklich attraktiv, aber definitiv nicht sein Fall. Sie war groß und schlank, was der dunkelgrüne Hosenanzug dezent betonte. Doch weder die langen blonden Haare, noch die bernsteinfarbenen Augen zogen ihn wirklich in ihren Bann. „Guten Morgen und herzlich Willkommen zu unserem neunten “Unternehmer Unter 30“-Kongress. Die organisatorische Leitung hat mich wiederholt“, dieses Wort schien ihr eindeutig zu missfallen, „daraufhin gewiesen, dass ich seit Ende letzten Jahres gegen die von mir aufgestellten Regeln für die Teilnahme verstoße.“ Sie ließ diese Aussage kurz wirken und tatsächlich hörte Seto vereinzelt ein geflüstertes „Pegasus ist schon 30?“ und „Ich dachte, sie ist deutlich jünger als ihr Bruder“. „Wie dem auch sei. Das bietet mir die Chance mich allein auf die Organisation im Hintergrund zu konzentrieren und das Rampenlicht einer jüngeren Generation zu überlassen. Chef, würdest du bitte den Kongress eröffnen?“ Sie blickte hinüber in den Zwischenraum aus dessen Schatten ein gut gelaunter, ebenfalls blonder Mann trat. Seto wäre beinahe der Mund aufgeklappt. „Zumindest bleibt es in der Familie“, murmelte es in seinem direktem Umfeld. Hatte Maximilion Pegasus wirklich Familie? Er würde dem unbedingt nachgehen müssen, aber zunächst beschäftigten in andere Dinge. Wie konnte man in einem schwarzen Anzug so verboten gut aussehen? Wie der grüne Anzug sah auch dieses Exemplar nach einer Maßanfertigung aus, betonte die die sportlich schlanke Figur und ließ auch unter dem Stoff Vielversprechendes erahnen. „Vielen Dank, Martine, für die einleitenden Worte. Auch wenn ich befürchte, dass die Fußstampfen, in die ich trete, größer sind als du es während der Vorbereitung hast klingen lassen. Auch ich möchte Sie herzlich Willkommen heißen und gleich in medias res gehen. Schließlich ist für uns alle Zeit Geld.“ Vereinzeltes Gelächter. „Glücklicherweise kann man aber auch mit Geld die Zeit sehr angenehm gestalten.“ Die Leinwand flackerte kurz und ein kitschiges Bild mit Sandstrand und Palmen erschien.„Wie einige von Ihnen sicherlich wissen, kann ich von mir selbst behaupten, dort zu arbeiten, wo andere Urlaub machen.“ Viele nickten. „Doch während Sie dort entspannt die Füße hochlegen können, gilt und galt es für mich fortwährend Entscheidungen zu treffen.“ Untermalt mit weiteren Bildern und Comiczeichnungen beschrieb der Redner wie er ein kleines, exklusives Hotel aufbaute. Nebenbei streifte er verschiedene Methoden der Entscheidungsfindung, Risikobewertung, die Suche nach geeigneten Bewerbern, wie wichtig es war, Aufgaben abzugeben, Kurz um, schnitt er alle Themen an, die jeden Anwesenden im eigenen Unternehmen umtrieben. Mit „ich hoffe, Sie werden das ein oder andere Thema in den nächsten Tagen hier vertiefen können. Und scheuen Sie sich nicht, mit ihren Gleichgesinnten auszutauschen. Luft nach oben ist immer - und manchmal erreicht man neue Höhen nur gemeinsam“, schloss er. Noch während der Applaus aufbrandete, verschwand er in den Schatten der Bühne und ließ ein begeistertes Publikum zurück. „Ich wünschte, meine Profs hätten uns das damals so erklärt.“ „Das Hotel ist wirklich unglaublich!“ „Ja, man hat wirklich seine Ruhe dort.“ Seto bewegte sich an der Spitze des Stroms nach draußen. Er brauchte dringend Kaffee. „Ich habe ihn zuvor noch nie gesehen.“ „Ich schon. Er ist Pegasus' Adoptivsohn.“ „In dieses Projekt wurde viel zu viel Geld hineingepumpt.“ „Aber so ist doch die ganze Familie.“ Es gab offensichtlich auch weniger begeisterte Besucher. „Jeff? Ist das sein richtiger Name?“ „Nein. Aber“ Er wurde in den Vorraum gespült und steuerte direkt das Buffet an der gegenüberliegenden Wand an. In einen Keramikbecher füllte er den Rest von zwei Thermoskannen, stürzte den Kaffee hinunter und goss sich nach. Dann wanderte sein Blick zu den geplünderten Platten daneben. Dieser Schokomuffin sah genau nach dem aus, was er jetzt brauchte. Er stellte den Koffer ab und streckte die Hand danach aus. Doch jemand anderes kam ihm zuvor und statt des Muffins fasste er auf einen Handrücken. „Verzeihung, aber das ist mein Muffin!“, beharrte Seto auf seinem Recht, während sein Blick den schwarzen Jackettärmel nach oben wanderte. „Und ich würde behaupten, wir haben gewissermaßen beide anrecht auf ihn. Denn selbst, wenn Sie ihn zuerst gesehen haben, so war ich doch schneller“, entgegnete Setos Konkurrent mit einem charmanten Lächeln. „Daher schlage ich vor, das wir das ganz einfach schlichten. ... Am gerechtesten wird geteilt, wenn einer halbiert und der andere auswählt.“ Er nahm aus dem bereits leeren Brotkorb ein Messer, schnitt den Muffin in der Mitte durch und hielt Seto beide Hälften im Papierförmchen hin. Setos Puls raste. Nicht vor Wut wie er eigentlich erwartet hätte, sondern vor Aufregung. Das Objekt seiner Begierde sprach mit ihm und war ihm gegenüber angenehm unerschrocken. „Ein salomonisches Urteil so früh am morgen?“, erwiderte er wie er hoffte sympathisch, nahm sich die einen Hauch größere Hälfte und biss hinein. „Guten Appetit!“, wurde ihm daraufhin geantwortet und mit einer leichten Kopfbewegung vorgeschlagen, etwas zur Seite zu treten, um vom Rest der hungrigen Meute nicht überrannt zu werden. Wie selbstverständlich griff er dafür nach Setos Koffer und stellte ihn zwei Meter weiter direkt neben seinem Bein wieder ab. Für einen kurzen Moment waren sie sich so nah, dass Seto sein Aftershave riechen konnte, aber dann ging er wieder auf normale Gesprächsdistanz. „Mhm, die Küche hat sich mal wieder selbst übertroffen!“, schwärmte der Blonde. wobei seine Gebäckhälfte in großen Bissen verschwand. Noch zögerte Seto. Allerdings wusste er, würde er jetzt nicht fragen, würde er sich nachher selbst verfluchen, sich eine solche Gelegenheit entgehen gelassen zu haben. Und ein Mann wie er ließ nur selten eine gute Gelegenheit aus. Also fragte er vor einem weiteren Bissen: „Wie heißen sie eigentlich?“ Für einen kurzen Moment wurde er überrascht angesehen, als ob das offensichtlich wäre, doch dann kam die schlichte Antwort: „Joseph Pegasus.“ Er könnte also tatsächlich zu Maximilion Pegasus Familie gehören. „Sehr erfreut. Seto ... “ Erst jetzt fiel ihm auf, dass er einen taktischen Fehler begangen hatte und noch beide Hände voll hatte. Schnell schob er sich das letzte, eigentlich zu große Stück Muffin in den Mund, streckte die Hand aus und vollendete den Satz nach kurzem Kauen mit „Kaiba.“ Mit einem freundlichen Grinsen ergriff der junge Pegasus sie. Sie war angenehm warm. „ Sehr erfreut. Auch wenn ich Sie schon erkannt habe. Ihre technischen Entwicklungen haben für das Spiel meines Adoptivvaters wahre Wunder bewirkt und das Interesse auch bei weniger fantasiebegabten Menschen geweckt.“ Das Kompliment ging Seto runter wie Öl und er traute sich etwas weiter vor. „Danke. Aber Duel Monsters ist ja auch ein fantastisches Spiel, Mr Pegasus. ... Joseph ... Hatte ihre Tante“, er sah ihn fragend an, bekam ein Nicken und fuhr fort, „Sie nicht vorhin Jeff genannt? “ „Naja, da fragen Sie am besten meinen Cousin. Er hat mitbekommen wie mich mein Vater nennt und hat das mit seinen zwei Jahren nicht so wirklich hinbekommen und irgendwie ist das dann hängen geblieben. Es ist übrigens Chef nicht Jeff. Wie in Chef de Cuisine.“ „Aber wäre Joe oder Joey nicht näher liegender gewesen?“, fragte Seto erstaunt. „Das dürfen nur meine Freunde!“, kam die Anwort wie aus der Pistole geschossen. Zwar milderte Joseph den Eindruck mit einem Zwinkern etwas ab. Doch die Art der Betonung, die Wortwahl. Für einen kurzen Moment hatte Seto das Gefühl einem ganz anderen Joseph gegenüber zu stehen. Einem Joseph, den er nur ein einziges Mal im Anzug gesehen hatte - an dem Tag als er urplötzlich und mit ziemlich heftigen Worten aus seinem Leben verschwand. „Wobei ... selbst die nennen mich inzwischen eher Chef. Wenn er eines Tages alt genug ist, um es zu verstehen, muss ich wohl den Versuch starten mich zu revanchieren“, fuhr dieser Joseph fort. Seto wollte gerade etwas erwidern, wurde jedoch vom einstimmigen Summen der Smartphones unterbrochen. „Ich muss leider weiter. War schön Sie - kennenzulernen.“ Joseph Pegasus schüttelte ihm erneut die Hand und bewegte sich dann in großen Schritten von ihm weg. Verdutzt blieb Seto stehen. Nicht nur hatte sich sein heimlicher Tagestraum als kompetent und unglaublich charmant herausgestellt, nein, irgendetwas an ihm wirkte auch beunruhigend vertraut. Als ob er ihn eigentlich kennen müsste. Aber woher? Denn für ihn war es ausgeschlossen, dass es sich bei ihm um Joseph Wheeler handeln könnte. Es gab bestimmt viele Männer mit braunen Augen und blondem Haar. Die äußerliche Ähnlichkeit war bloßer Zufall. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, dass er sich erneut beeilen musste. Und so lief er mit Becher und Koffer in der Hand schon zum zweiten Mal an diesem Tag viel zu schnell den Gang hinunter. Zwischen den ersten beiden Vorträgen konnte Seto glücklicherweise sitzen bleiben. Nach „das Vorzimmer im Griff“ zog er das Jackett aus und ließ es auf dem Stuhl zurück, während er mit dem Koffer nach draußen ging, um sich einen frischen Kaffee zu holen. Seltsamerweise durfte man nämlich den Becher doch mit hinein nehmen. Als nächstes stand „Bonjour! How do you do? “ auf dem Plan und er fragte sich allmählich zwei Dinge. Erstens wer hatte sich diese bescheuerten Namen ausgedacht? Zweitens wieso hatte er Mokuba fast freie Hand bei der Planung gelassen? Man hatte sich - wohl zur besseren Raumaufteilung - bereits vorab für die Vorträge eintragen müssen und Mokuba hatte für ihn einfach eine ganze Reihe Soft Skills ausgesucht. Zwar gab es auch ein paar handfestere Themen, aber man musste ihm wohl nicht mehr erklären, wie man seine Jahresbillanz aufstellte Der Raum füllte sich wieder und die freien Plätze wurden von neuen Zuhörern eingenommen. Ganz in seiner Nähe hörte er jemanden sagen: „Mister Pegasus, ich bin freudig überrascht Sie hier zu sehen. Ich dachte Sie übernehmen nur die Leitung.“ Möglichst unauffällig drehte Seto den Kopf bis er aus den Augenwinkeln blondes Haar ausmachen konnte. „Wenn es Sie glücklich macht, können Sie es als Qualitätskontrolle bezeichnen.“ War da etwas ein unterdrücktes Schnauben gewesen? So ganz konnte Seto es nicht glauben. Aber sein Gehör funktionierte noch ausgezeichnet. „Sie schreiben tatsächlich von Hand?“ Dieses Mal war es überdeutlich, dass Joseph Pegasus von der Frage genervt war. Überaus freundlich antwortete er: „Das ist ein Tablet mit einem aktivem Stift. Dinge, die von Hand geschrieben werden, kann sich das Gehirn besser merken, als wenn man sie nur auf einer Tastatur tippen würde.“ Das betretene Schweigen daraufhin verbuchte Seto als klaren Punkt für den Blonden, auch wenn er selbst immer bestens mit auf dem Computer getippten Notizen zurecht gekommen war. Der Referent betrat das kleine Podest und machte es für Seto notwendig, sich etwas zu drehen, sodass er nun tatsächlich auch Joseph im Blickfeld hatte. Die Situation hatte etwas seltsam vertrautes und er kam während der darauffolgenden Stunde einfach nicht darauf, wieso. Einige schrieben eifrig jedes Wort mit, andere machten sich gar keine Notizen, Seto selbst tippte dann und wann etwas in sein Notebook, aber Joseph war mit einer Ernsthaftigkeit dabei, die überraschte. Er schien sich gezielt Notizen zu machen, markierte Querverbindungen und lauschte so aufmerksam, dass ihn vermutlich nicht einmal die Schulglocke aufgeschreckt hätte. Moment. Schulglocke? An was dachte Seto da schon wieder? Seine Schulzeit war seit neun Jahren vorbei und hier waren maximal die Timer der Handys ein Taktgeber. Aber ob der andere ein guter Schüler und zumindest später Student gewesen war? Hatte er eine normale Schule besucht oder vielleicht einen Privatlehrer gehabt? Wann genau hatte Pegasus ihn eigentlich adoptiert? Zu Zeiten des „Königreichs der Duellanten“ war von einem Sohn zumindest nichts zu sehen gewesen. Auf der anderen Seite hatte Seto bis vor wenigen Stunden auch nicht gewusst, dass sein Geschäftspartner eine Schwester hatte. Mit zeremoniellen Worten und einer gekonnten Verbeugung wurde der Vortrag beendet und alle sprangen schnell auf, um schnellst möglich beim Mittagessen zu sein. Joseph hingegen blieb sitzen und so ließ sich Seto auch Zeit mit dem Zusammenpacken. „Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?“, fragte der andere höflich und ging nach die wenigen Meter nach vorne. „Selbstverständlich. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ „Einer meiner Köche stammt aus Deutschland und hat behauptet, dass es dort zum guten Ton gehört auf die Frage, wie es einem ginge, ehrlich zu antworten. Leider konnte ich das bisher nicht verifizieren. Wie sind Ihre Erfahrungen diesbezüglich?“ Der ebenfalls junge Mann bekam leuchtende Augen. „Oh, ja. Das ist ein weitverbreitetes Phänomen! Angeblich ist es zwar rückläufig, aber dennoch sehr erfrischend. Und so viel direkter! Man fühlt sich einem Menschen gleich ganz anders verbunden. Da kommt mehr Nähe auf als sogar bei dem Begrüßen mit Wangenküsschen bei den Franzosen! ... “ So ging es noch einige Minuten weiter und Seto konnte beim besten Willen nicht mehr so tun, als müsse er noch etwas einpacken. Daher schlenderte er in aller Gemütlichkeit zum Ausgang und wurde kaum einen Meter hinter der Tür eingeholt. „Warten Sie! Dann können wir gemeinsam ... “, ließ der junge Pegasus seinen Satz verklingen. Anscheinend war er sich nicht vollkommen sicher, was sie denn dann gemeinsam machen könnten. Doch er kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. „Vielen Dank! Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte ich vermutlich die gesamte Pause über gefachsimpelt und dann mit leerem Magen in den nächsten Vortrag gemusst.“ „Sie legen wohl ziemlichen Wert auf regelmäßige Mahlzeiten“, versuchte Seto ihn ein wenig zu necken. Doch er wurde überrascht: „Naja, weniger als die meisten glauben würden. Aber meine Köche achten relativ streng darauf, dass ich mich ausreichend und einigermaßen gesund ernähre, und nach einer Weile gewöhnt sich der Körper an so etwas. Und definitiv an die Qualität. Das macht mich manchmal zu einem wirklich schwierigen Gast. Ist das Ihr Telefon?“ In der Tat vibrierte Setos Smartphone unangenehm laut in seiner Jacketttasche. Er holte es hervor, blickte aufs Display und als er den Namen las, blieb im nichts anderes übrig als zu sagen: „Da muss ich leider ran gehen. Gehen Sie ruhig schon vor.“ Nach dem Telefonat war seine Laune sichtlich schlechter als zuvor. Es hatte über eine Viertelstunde gedauert dem Projektleiter die relevanten Details aus der Nase zu ziehen, ihn mit gefährlich ruhiger Stimme klar zu machen, was er persönlich davon hielt, dass ein einziger Bug in Code, der ungetestet in die aktuelle VR aufgenommen worden war, das gesamte System lahm gelegt hatte, und die notwendigen Schritte zum retten des Projektes zu zitieren. War er zuvor schon etwas spät dran gewesen zum Essen, so grenzte es jetzt bereits an ein Wunder, wenn er überhaupt noch etwas bekam. In zwanzig Minuten würde es weiter gehen und wie er beim Betreten des Foyers, in dem ein Mittagsbuffet aufgebaut worden war, feststellen musste, waren die anderen Teilnehmer mehr als hungrig gewesen. Griesgrämig ließ er sich Fisch mit etwas Reis und Gemüse in eine Schale füllen und suchte den Raum nach blonden Haaren oder jemandem, der ihn zu sich winken würde, ab. Ohne Erfolg steuerte er schließlich einen kleinen, leeren Stehtisch an und aß ohne wirklichen Appetit schnell seine Portion. Zwar wollte er es nicht zugeben, doch ein wenig war er doch enttäuscht, dass man nicht auf ihn gewartet hatte. Um halb sechs endete der letzte Vortrag des Tages - etwas über den richtigen Umgang mit seinem Sekretariat - und entließ die Teilnehmer in den „Feierabend“. Ein paar von ihnen schienen das wortwörtlich zu nehmen und berieten sich bereits, wo sie zum feiern hingehen würden. Seto konnte nur hoffen, dass sie ihre Firmen mit der gleichen Begeisterung führten. Er selbst ging hinauf auf sein Zimmer, zog das Jackett aus, knöpfte die obersten Knöpfe seines Hemdes auf und arbeitete die nächsten zwei Stunden das Dringendste ab. Das VR System lief wohl wieder und alle Terminanfragen waren auf die nächste Woche verschoben worden. Er streckte sich und sah auf die Uhr. Ein wenig würde er wohl noch raus gehen können. Mokuba hatte ihm eine Liste mit Ausgehmöglichkeiten zusammengestellt, damit er „nicht nur einsam auf seinem Zimmer sitzen“ würde, und eine der Bars war zu Fuß nur wenige Minuten entfernt. Wenn er dorthin ging und eine Stunde blieb, würde er nicht zu viel Zeit verlieren und müsste gleichzeitig Mokuba nicht anlügen. Ein Kellner hatte gerade den bestellten Calvados vor ihm abgestellt, als sich zwei Stimmen aus dem allgemeinen Gewirr herauskristallisierten. „Ich habe dich noch gar nicht gefragt. Wie ist dein erster Tag als Schirmherr gelaufen?“, fragte die Frau. Ihre Stimme kam ihm bekannt vor, doch erst als ihr der Mann antwortete, konnte Seto sie als Martine Pegasus einordnen. „Besser als gedacht. Nur der Nachmittag war stressig. Ich habe drei Vorträge verpasst, weil so ein Idiot mir unbedingt sein traditionelles Rollenbild aufdrücken wollte.“ Deswegen hatte Seto ihn nicht mehr gesehen. Dabei hatte er extra nach ihm Ausschau gehalten, versucht immer einen Platz neben sich frei zu haben, den er anbieten konnte und ... Jetzt erst fiel ihm auf, wie lächerlich er sich eigentlich verhalten hatte. Seit wann hatte ein Seto Kaiba es denn notwendig, sich anzustrengen, um die Aufmerksamkeit anderer zu bekommen? Er trank den ersten großen Schluck und lauschte weiter. Anscheinend saßen sie in der Sitznische direkt hinter ihm und besprachen den Tag. Vermutlich hatten sie ihn noch nicht einmal gesehen, da zu der alten, wenn auch gepflegten Einrichtung aus dunklem Holz geschnitzte Paneele gehörten, die entlang der Wand kleinere Bereiche abtrennten. Der restliche Platz war durch Podeste und Treppen unterteilt, was einem Raum dieser Größe eine überraschende Behaglichkeit verlieh. Weiter als bis zur Analyse der Key Note und einem ersten Nippen an ihren Getränken, kamen sie allerdings nicht. Mit betont zerknirschtem Gesicht lief ein Mann an Seto vorbei und blieb vor ihrem Tisch stehen. „Es ist mir unglaublich peinlich, aber der Pianist, der für heute Abend gebucht war, hat gerade angerufen und hat wegen einer starken Erkältung abgesagt. Er hatte die ganze Zeit gehofft, dass er doch auftreten könnte, aber er niest wohl so sehr, dass er die Tasten ständig verfehlt. Und da habe ich Madame unter den Gästen gesehen. ... Wären Sie bereit, zumindest für eine Weile etwas zu spielen? Sie haben selbstverständlich die freie Auswahl was.“ Seto konnte sich das verzagt hoffnungsvolle Gesicht regelrecht vorstellen, aber die gut gelaunte Antwort „Natürlich! Gerne! Chef, kannst du solange auf mich verzichten?“ überraschte ihn. „Als wenn dich das davon abhalten würde!“ Sie schwebte vorbei zum Flügel, der in der Mitte des Raumes stand und begann ohne große Geste einfach zu spielen. Fast ohne erkennbare Übergänge wechselte sie von Jazz zu Klassik zu moderneren Stücken. Währenddessen wurde die Bar voller und Seto hing seinen Gedanken nach. Oder zumindest versuchte er es, denn die Präsenz des anderen in seinem Rücken konnte er nicht vollständig ausblenden. Es lenkte ihn sogar so sehr ab, dass er selbst es gar nicht merkte, als er leise mitsang: „You've got your dumb friends. I know what they say. They tell you I'm difficult, but so are they. But they don't know me.“ „Guten Abend. Tut mir leid, dass ich Sie vorhin nicht gesehen habe.“ Seto konnte nicht verhindern, dass er erschrocken und ertappt zugleich zusammen fuhr. Joseph Pegasus linste zu ihm herein. „Ich wusste gar nicht, dass Avril Lavigne Ihren Geschmack trifft.“ „Mokuba, mein kleiner Bruder, hat ihre Musik eine zeitlang gehört. Da muss wohl was hängen geblieben sein.“, versuchte Seto die Situation zu retten, aber kaum hatte er den Mund zugemacht, wusste er, dass sich dadurch weitere Fragen ergaben. Wieso hatte Mokuba so laut Musik hören dürfen? Wieso hatte er dennoch mitgesungen? Wieso gerade bei dieser Textzeile? Um in der Gegenwart des anderen nicht schon wieder an Joey Wheeler denken zu müssen und die Situation in sichere Gefilde zu lenken, schob er rasch nach: „Ihre Tante spielt sehr gut Klavier.“ „Ja, nicht wahr? Sie hatte in ihrer Jugend allerdings auch genug Zeit um zu üben. Und ein bisschen überrascht es mich, dass sie ausgerechnet dieses Lied ... Verdammt!“ Seto folgte Josephs Blick und sah eine Gruppe von vier Männern an einem Tisch in Flügelnähe, die offensichtlich über etwas - oder jemanden - herzogen. Mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, winkte er den Mann herbei, der mit seiner ungewöhnliche Bitte zuvor zu ihnen gekommen war, und forderte:„Lassen Sie die Männer sofort entfernen, Mike! Im Notfall gehen ihre Getränke auf mich.“ Mike wurde augenblicklich blass um die Nasenspitze, machte auf dem Absatz kehrt und steuerte besagte Gruppe an. „Bekannte von Ihnen?“, fragte Seto innerlich zutiefst beeindruckt. „Mehr oder weniger. Sie gehören zum Fanclub eines Arschlochs, das seine Freundinnen alle drei Monate wechselt und erst wieder etwas von der Mutter seiner Kinder wissen will, wenn er erfährt, dass sie in Wahrheit auf den Namen Pegasus hört.“ Die Erinnerung an einen kleinen weißblonden Jungen schoss Seto durch den Kopf und fügte dem Bild ein weiteres Puzzleteil hinzu. Vielleicht war es ja nur Josephs ... Cousin (?) gewesen. „Und wie sieht es bei Ihnen mit Nachwuchs aus?“ Der andere verschluckte sich heftig an seinem Rotwein und brauchte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte, in der sich die Szene weiter vorne in lautstarken Protest verwandelte, der zwei breitschultrige Türsteher herbeirief. „Mir reicht es vollkommen, wenn Martines Kinder zweimal im Jahr das Hotel auf den Kopf stellen. Und bei Ihnen?“ War das der Moment, in dem Seto gestehen sollte, dass er schwul war? Und schließlich schloss das eine das andere längst nicht aus. Also wählte er einen diplomatischen Mittelweg und sagte: „Das Aufziehen meines kleinen Bruders hat mir für die nächsten Jahre gereicht.“ „Haustiere?“ „Nein. Nicht genug Zeit, mich um sie zu kümmern. “ Wobei so ein kleines Hündchen auf zwei Beinen ... Er zwang sich den Gedanken abzubrechen, bevor er zu plastische vor seinem inneren Auge wurde. Die Situation wurde bestimmt nicht dadurch besser, dass er ständig an einen anderen dachte. „Und Sie?“ „Leider nein. ich bin die letzten Jahre immer zu viel unterwegs gewesen und jetzt passiert es mir immer häufiger, dass ich den ganzen Tag im Büro sitzen muss. Mein Team könnte sich zwar mit um die Hunde kümmern. Aber irgendwie wäre es nicht dasselbe und ich hätte vermutlich ein schlechtes Gewissen.“ Einen Moment schwiegen beide, dann fragte Joseph: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie sich zu mir setzen? Dann müsste ich nicht den Kopf so verrenken.“ Beinahe hätte Seto zu schnell „Natürlich nicht!“ gesagt und sich damit verraten. Der andere wollte sich anscheinend weiter mit ihm unterhalten und ihn dabei sogar ansehen. Ein viel zu irrationaler Teil seiner selbst freute sich eindeutig zu sehr über eine solche Kleinigkeit. Nur mit Mühe widerstand er dem Drang sich direkt neben ihn zu setzen und nahm stattdessen ihm gegenüber Platz, wo noch das Glas von Martine stand. „Ich rutsch rein, wenn sie wieder kommt.“ Insgeheim hoffte er darauf, dass es bald war, da er so einen Grund gehabt hätte auf der u-förmigen Bank nah genug an den anderen heranzurutschen, dass sich ihre Beine „zufällig“ berühren konnten. Doch sie schien sich erst warm gespielt zu haben und verlor sich gerade in einem Stück von Chopin. „Was machen Sie sonst so in ihrer Freizeit?“ „Außer, dass es sie für mich eigentlich nicht gibt?“ Joseph wirkte für einen Moment überrascht, nickte dann aber. „Ich lese gerne, versuche regelmäßig zu schwimmen und etwas mit Mokuba zu unternehmen. Der Rest besteht bei mir mehr oder minder immer aus Arbeit“, antwortete Seto. „Und ich dachte schon, ich hätte kein Privatleben!“, schmunzelte Joseph und genehmigte sich einen großen Schluck Wein. Sein Blick glitt durch den Raum als suche er ein neues Thema über das sie reden könnten. Oder erwartete er, dass er nach seinem Privatleben gefragt wurde? Aber das war für Seto unbekanntes Terrain. Er war zwar gut im Smalltalk, doch in der Regel interessierte ihn das private Geblänkel herzlich wenig. Also fragte er erst gar nicht danach. „Ich höre gerne klassische Musik“, fuhr der andere nach einer Weile immer noch in Gedanken und den Blick von seinem Gegenüber abgewandt fort. „Das erste Mal in der Oper war ich zwar erst, als ich während der Studiums in New York war, aber bereits davor konnte ich die Stücke den ganzen Tag hören - meistens zum Leidwesen meiner Mitbewohner und Kollegen. Nur leider haben meistens die Stücke mit der tragischsten Handlung die schönste Musik. Das habe ich allerdings erst gemerkt, als mein Italienisch besser wurde.“ Da war sie. Seine Chance auf Smalltalk. Also frage Seto:„Wie viel Sprachen sprechen Sie denn?“ „Fließend? Lassen Sie mich überlegen... Japanisch als Muttersprache, Englisch und Französisch in der Schule, Italienisch und Spanisch im Studium“,er zählte an einer Hand mit, „Das macht also fünf plus etwas Deutsch dank meines Kochs.“ Das beeindruckte Seto dann doch. Er selbst hatte es gerade einmal auf die ersten beiden geschafft. Dafür brillierte er in anderen Bereichen, versuchte sein Ego sich selbst zu trösten. Doch angesichts der Key Note ließ sich nicht von der Hand weisen, dass Joseph Pegasus sein Handwerk verstand. Von da an plätscherte ihr Gespräch mehr oder minder fließend entlang der üblichen Smalltalkthemen vor sich hin. Hin und wieder enthielten die Äußerungen persönliche Informationen und Seto versuchte für spätere Recherchen alles im Kopf zu behalten. Joseph war in Japan geboren und aufgewachsen. Die Praxisphase seines Studiums hatte ihn dann in die USA geführt. Mindestens einer seiner Schulfreunde war fürs Studium sogar nach Europa gegangen und damit immer noch nicht fertig. Neben dem Hören klassischer Musik, las er wohl sehr gerne und schwamm ebenfalls. Den Versuch mit ihm über die Vorzüge verschiedener Schwimmstile zu fachsimpeln brach er zum Glück schnell ab. Denn Allgemein hatte Seto Schwierigkeiten mit dem breit gefächerten Allgemeinwissen seines Gegenübers mitzuhalten und mehr als einmal tat sich vor ihm plötzlich eine Wissenslücke auf. Und so nahm er das Erscheinen von Martine Pegasus als willkommenen Anlass, sich zu verabschieden, auch wenn er gerne noch länger geblieben wäre. Den Blick starr auf die Decke gerichtet, dachte er nach. Es war nicht abzustreiten, dass Maximilion Pegasus einen außergewöhnlichen, jungen Mann gefunden hatte. Wie viel von dem, was er an diesem Tag hatte bestaunen können, bereits vorhanden gewesen war, war aber unsicher. Bei allen Schilderungen die mehr als sieben Jahre zurücklagen, hatte es so geklungen, als ob seine Lebensumstände völlig andere gewesen wären. Auch wenn er wohl schon damals sehr klug und an seiner Umwelt interessiert gewesen war. Mit Entsetzen musste er auch feststellen, dass ihn seine Wissenslücken weniger nervös gemacht hatten, weil er nicht als unwissend dastehen wollte, sondern weil er befürchtet hatte, den anderen zu langweilen. Denn dieser hatte keinesfalls so gewirkt als wäre ihm der Klang der eigenen Stimme und ein an seinen Lippen hängender Zuhörer genug. Er hatte einen Dialog mit Seto über die Themen führen wollen, sie erörtern, diskutieren, von verschiedenen Seiten beleuchten ... über sie streiten? Ungebeten schob seine Erinnerung einen schon etwas verstaubten Kasten mit Dias in sein Bewusstsein, öffnete ihn und präsentierte Momente mit einer anderen Person, mit der er so gerne gestritten hatte. Wheeler war mit seinem hitzigen Temperament ein so herrlich leichtes Opfer für seine Sticheleien gewesen und hatte dabei wohl nie gemerkt, dass es ihm dabei um so viel mehr ging. Er selbst hatte es ja erst bemerkt, als es längst zu spät war. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass er nach Ende ihrer gemeinsamen Schulzeit in der Nähe bleiben würde, aber er und der Kindergarten hatten sich in alle Himmelsrichtungen zerstreut und keiner hatte ihm noch Auskunft über ihn geben können. Lag es daran, dass er bei ihrer letzten Begegnung einen schwarzen Anzug getragen hatte, dass ihm jetzt ein anderer blonder Mann im schwarzen Anzug so gut gefiel? Und dazu noch der gleiche Vorname! Zwar hatte Seto ihn damals nie verwendet, aber es machte es ihm schwer, nicht nach weiteren Parallelen zwischen den beiden Männern zu suchen. Dabei waren sie doch so verschieden! Wo Wheeler hitzig, ungebildet und eine absolute Zumutung gewesen war, war Joseph Pegasus charmant, weltgewandt und so anziehend, dass Seto sich mehrmals innerlich zur Ordnung hatte rufen müssen. Wenn er nur wüsste, wie viel davon erst durch Maximilion Pegasus entstanden war. Wenn er nur wüsste, ob er eine Chance hatte. Wenn er nur wüsste, ob Joseph Wheeler unter seiner Anleitung sich ähnlich hätte entwickeln können. Wenn er nur wüsste, wo er inzwischen war und was er machten. Wenn er nur wüsste, was er damals hätte anders machen müssen. Wenn er nur ... Frustriert schrie er auf, die Hände zu Fäusten geballt und schlug auf die Matratze ein. Er musste endlich damit abschließen. Akzeptieren, dass er seinen größten Fehler nicht mit seiner Firma sondern in seinem Privatleben begangen hatte. Doch die Alternativszenarien schlichen sich immer wieder zurück und quälten seinen Verstand. Er wusste, dass man die Vergangenheit nur in der Zukunft verändern konnte, indem man aus Fehlern lernten. Und ein Aspekt von diesem speziellen Fehler war gewesen, dass er zu bequem gewesen war, von sich aus einen Schritt, der keinen Zweifel an seinen Absichten ließ, auf den anderen zu zumachen. Kapitel 2: Zweiter Versuch -------------------------- Obwohl er noch lange wach gelegen hatte, stand er wieder früh auf. Den restlichen Schlaf vertrieb er mit einer kalten Dusche aus seinem Körper und beruhigte damit auch den Teil seines Körpers, der schon viel zu wach war. Durch den unerwarteten Verlauf des vorherigen Abends war er sofort ins Bett gegangen, statt wie er es eigentlich vor gehabt hatte noch ein bisschen zu arbeiten. Das holte er jetzt nach. Doch um halb neun packte er alles zusammen und begab sich hinüber in das Kongresszentrum. Zum einen brauchte er dringend wieder einen Kaffee, zum anderen hoffte er, jemand Bestimmten in der Menge über den Weg zu laufen. Sie hatten festgestellt, dass sie prinzipiell die gleichen Themen interessierten, aber Joseph Pegasus hatte sich partout nicht entlocken lassen, welche Vorträge er sich anhören würde. Für einen kurzen Moment hatte Seto mit dem Gedanken gespielt, den Veranstaltungsserver zu haken. Doch dann war ihm der Vorfall vom Nachmittag eingefallen und, dass er, selbst wenn er den Plan kannte, keine Gewissheit hatte, dass der andere tatsächlich auch dort auftauchte. Um das Buffet herrschte bereits wieder großes Gedränge und Seto wappnete sich innerlich für ein energisches Vorgehen, als ihn eine Berührung an der Schulter herumfahren ließ. Die Hand, die ihn herumgeführt hatte, hielt einen der Keramikbecher und einen Schokomuffin. „Guten Morgen! Verzeihen Sie, dass ich ihnen nicht die Hand schüttle, aber wie Sie sehen, habe ich die Hände voll“, begrüßte ihn ein gut gelaunter blonder Mann und trieb Setos berüchtigte Schlagfertigkeit in die Flucht. „Das ist übrigens für Sie.“ Verdattert nahm Seto Getränk und Gebäck entgegen und biss auf den ersten Schock ein großes Stück von der Schokoladenglasur ab. „Gern geschehen.“ „Danke.“ „Sie sollten nicht immer das Frühstück ausfallen lassen. Was soll da bloß Ihre bessere Hälfte dazu sagen, wenn Sie morgens völlig entkräftet sind?“ „Ich habe keine“, antwortete Seto zu seiner eigenen Verblüffung wahrheitsgetreu. „Na, vielleicht ist auch das der Fehler?“ Joseph zwinkerte ihm zu und war, ehe er etwas Passendes erwidern konnte, in der Menge verschwunden, die sich allmählich in den Saal bewegte. Unter dem finsteren Blick des Sicherheitspersonals aß er den Muffin auf und suchte sich dann wieder einen Platz in den vorderen Reihen. Unauffällig sah er sich drinnen um, doch blonde Haare konnte er nirgends entdecken. Nach dem für ihn wenig überzeugenden Vortrag zum Thema „Achtsamkeit“ - einige um ihn herum nahmen das Ganze sehr begeistert auf - durfte er sich noch einen Vortrag zu „Balance zwischen Arbeit und Familie“ anhören, von dem er stark vermutete, dass Mokuba ihn auf die Anmeldungsliste geschmuggelt hatte. Seto war sich zwar nicht sicher, ob es dabei nicht ebenfalls um Achtsamkeit ging, da ein paar Aspekte genau gleich klangen, aber im Großen und Ganzen hörte es sich machbar an. Für den Anfang sollte man festlegen wie viel Zeit man mit der Familie verbringen wollte und dann entsprechend Termine festlegen, in denen die Familie den Rang des wichtigsten Kunden inne hatte. Angeblich würden sich dadurch Rituale wie das des gemeinsamen Abendessens bilden und irgendwann verbrachte man automatisch ausreichend Zeit mit der Familie und ließe sich während dieser Phasen nicht von der Arbeit stören. Naja, immerhin frühstückten er und sein kleiner Bruder am Wochenende gemeinsam - wenn dieser denn vor Mittag aus den Federn kam. Häufig nutzte Seto die Stunden aber bereits für seine Arbeit. Der abschließende Rat „Und vergessen Sie nicht, Ihre Famlienmitglieder in die Termine miteinzubinden!“ könnte vielleicht etwas bewirken ... Den leeren Kaffeebecher in der Hand verließ er den Saal, füllte sich nach und machte sich auf die Suche nach dem Raum, in dem der Vortrag zu „Entspannungsmethoden für Eilige“ gehalten werden sollte. Der Kurs war anscheinend weniger beliebt, denn er musste eine Weile gehen und der Flur blieb überraschend leer. Daher sah er auch schon von Weitem Martine Pegasus, die angeregt telefonierte und dabei etwas auf und ab ging. „Mach dir keine Sorgen. Es geht ihm meiner Einschätzung nach gut. Chef und er haben sich den halben Abend lang unterhalten.“ Während sie weiter lauschte, hob sie plötzlich den Kopf und sah ihn direkt an. „Keine Ahnung. Aber ich sehe ihn gerade. Warte kurz“, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. Sie streckte den Arm aus und versperrte ihm so den Weg. „Haben Sie schon Pläne für heute Abend?“ „Nein, aber ... “ „Prima. Dann seien Sie bitte heute um halb acht da. Die Suite im zehnten Stock“, erstickte sie seine Einwände im Keim. Auch hatte er keine Chance ihr eine adäquate Antwort zu geben, da in diesem Moment eine Nachricht mit dem Ton einer Alarmsirene auf ihrem Handy ankam und sie mit einer entschuldigenden Geste von dannen schritt. Er hörte nur noch wie sie sagte: „Mokuba, sei unbesorgt. Zumindest heute Abend wird er richtig essen!“ Verdutzt blickte er ihr nach. Was war das denn gewesen? Er hatte noch genug Zeit und nutzte sie um sich innerlich wieder etwas zu sammeln. Aus Angst es könnte doch noch jemand anderes vorbeikommen, steuerte er die nächste Toilette an und verzog sich in die hinterste Kabine. Er stellte den Koffer ab, den Becher darauf und lehnte sich gegen die gekachelte Wand. Gut. Zunächst die Fakten. Er hatte für heute Abend, 19:30 Uhr eine Essensverabredung mit der Schwester seines wichtigsten Geschäftspartners, von der er bis vor einem Tag noch nicht einmal gewusst hatte. Diese Schwester kannte wiederum seinen kleinen Bruder. Und zwar so gut, dass er sich mit ihr wohl über sein Wohlbefinden und die von ihm so oft bemängelten Essensgewohnheiten unterhielt. Jetzt die Fragen. Woher kannten sie sich? Er war sich bis dahin sicher gewesen Mokubas Freundeskreis, wenn auch nicht persönlich, aber wenigstens dem Namen nach zu kennen. Der Name Martine war bisher nicht gefallen. Hieß das, dass es vielleicht eine Finte war, um ihn rumzukriegen? Sie hatte nicht den Eindruck auf ihn gemacht, eine Frau zu sein, die auf solch billige Tricks zurückgreifen musste. Gewissheit würde er wohl erst erlangen, wenn er mit seinem Bruder direkt sprach. Doch der Empfang in der Toilette war bestimmt zu schlecht. Außerdem bekam man nicht mit, wer vielleicht lauschte. Mit Schwung öffnete er die Kabinentür und merkte seinerseits, dass er zu wenig auf die Umgebung geachtet hatte. Auf der äußeren Klinke lag ebenfalls eine Hand, der jetzt unweigerlich ein Körper folgen musste. Seto sah noch kurz schwarzen Stoff, bevor ihn etwas Warmes auf der Nasenspitze berührte. Die Berührung war sanft und hinterließ ein leichtes Prickeln. „Das hätte auch ins Auge gehen können“, stellte Chef verschmitzt fest und löste den Kontakt mit der rückwärtigen Wand, wo er sich abgestützt hatte, um nicht vollends mit ihm zu kollidieren. Oder auf die Lippen, erlaubte sich Seto für einen kurzen, schwachen Moment zu denken. „Entschuldigen Sie bitte. Ich dachte die Kabine sei leer“, wich der Größere weiter zurück, um einen sozial verträglichen Abstand zwischen sich zu bringen. Seto hoffte stumm, dass weder sein Gesicht noch seine Stimme ihn verraten würden, als er entgegnete: „Mein Fehler. Ich hätte abschließen müssen. Ich geh dann mal.“ Er hielt kurz bei den Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, vermied dabei aber sorgsam den Blick zurück. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Kurz musterte er sein Spiegelbild. Es wirkte wie immer. Also setzte er entschlossen seine Flucht fort. Zwar hatte er noch keine Erfahrung damit, aber den Darmaktivitäten eines anderen zu lauschen, fiel für ihn nicht in die Kategorie Romantik. Als sich der kleine Raum allmählich füllte, glaubte Seto sich verirrt zu haben. Außer ihm gab es nur noch einen weiteren Mann und den Referenten, der viel zu heiter wirkte. Er stand vor einem kleinen, fast ausschließlich weiblichen Publikum und wirkte wie die Ruhe selbst. Seto konnte und wollte das nicht verstehen. Vielleicht war er auch einfach zu sehr von seinem so genannten „Fanclub“ aus kreischenden Furien - pardon - Frauen traumatisiert. Insgeheim beneidete er den Mann jetzt schon. Nur mit einer kurzen Einführung darüber, dass man vor allem in stressigen Situationen die Entspannung nicht vergessen dürfe, startete er direkt in den Vortrag und erklärte ein paar effektive Methoden. Im Kern ginge es jedes Mal darum, die Energie, die der Körper entweder zum Kämpfen (sich dem Problem stellen und schwungvoll nach Lösungen suchen und sie auch gleich umsetzen) oder zum Fliehen (vor ebendiesen Problemen davonrennen) bereitstelle, nach getaner Arbeit wieder loszuwerden. Er könne nur Beispiele nennen und Tipps geben, aber die effektivste Methode müsse jeder für sich selbst finden. Zu seinem Glück enthielt der Vortrag auch einen praktischen Teil. Normalerweise hätte Seto solche Spielereien gestört, doch so konnte er absolut unauffällig seinen Puls beruhigen, der jedes Mal nach oben schnellte, sobald sein Kopf sich ausmalte, was noch alles hätte passieren können. Gut, er hatte sich nicht vorgestellt, dass sein erster Kuss auf einer Toilette stattfinden würde, aber es gab bestimmt schlechtere Partner dafür. Wenn bloß nicht dieser verdammte Größenunterschied zwischen ihnen gewesen wäre! Auf der anderen Seite wusste er immer noch nicht, auf was Chef stand. Nach diesem Zusammenstoß erlaubte er sich immerhin ihn in Gedanken mit der Kurzform seines Namens zu bezeichnen. Sobald er sich nicht mit etwas ablenken konnte, und sei es noch so kurz, fing seine Nasenspitze wieder an zu kribbeln und seine Mundwinkel zuckten gefährlich. Das war doch absolut entwürdigend! Er würde sich auf keinen Fall wie ein verknallter Teenager verhalten, der zufällig von seinem Schwarm berührt worden war. Aber wem machte er hier etwas vor? Wenn es um Liebesdinge ging, hatte er genauso viel, wenn nicht gar weniger Erfahrung als ein durchschnittlicher Teenager. Und das wurmte ihn seit er ein Alter erreicht hatte, in dem man selbstverständlich von einem gewissen Erfahrungsschatz ausging. Vor allem bei einem Seto Kaiba. Die Wut, die er über diese Unzulänglichkeit empfand, wurde er erstaunlicherweise durch das kräftige Werfen eines weichen Balls gegen die Zimmerwand wieder los. So einen sollte er sich vielleicht für die Firma zulegen. Das empfahl ihm sogar der Referent begeistert. „Möchten Sie vielleicht mit uns zum Mittagessen?“, fragte eine der Frauen, als sie alle Bälle, Gummibänder und Luftballons wieder einsammelten. „Dann müssten Sie nicht wieder alleine an einem Tisch stehen.“ War das Mitleid, was er aus ihrer Stimme heraushörte? Nicht dieses hämische Bedauern, mit dem er seine Umwelt bedachte, sondern ernsthaft besorgt. „Nein, danke. Ich bin verabredet“, erwiderte er schnell, bevor ihm das Gefühl unheimlich werden konnte. Sie gingen dann trotzdem gemeinsam zurück, auch wenn er weder Teil noch Inhalt ihrer Gespräche war. Die Frauen sprachen über die alltäglichen Probleme in ihren mittelständischen Unternehmen oder warnten sich gegenseitig vor den Anmachsprüchen aufdringlicher Teilnehmer. Manchmal schien es als ob sie seine Meinung zu etwas erwarteten, ließen sich aber nicht davon bremsen, dass er stumm blieb und sprachen einfach weiter. Nach der Essensausgabe trennten sie sich, wobei diesmal eine andere fragte, ob er sich ihnen nicht doch anschließen wolle. Doch Seto steuerte wieder einen kleinen Stehtisch an und wartete. Mehrere Herren der schleimigen Sorte visierten seinen Tisch an. Aber er blickte so eisig zurück, dass sie es selbst einsahen und ihn in Ruhe ließen. Schließlich hatte er weder die Lust sich mit ihnen zu beschäftigen, noch wollte er einen Platz, den er Chef anbieten konnte, an sie verlieren. Trotzdem er wurde bitter enttäuscht. Den ganzen Mittag und Nachmittag sah er kein einziges naturblondes Haar. Um Punkt 19.25 Uhr fuhr er in den zehnten Stock. Unsicher ob der Natur dieses Essens hatte er seinen Anzug von der Kongresseröffnung wieder angezogen, die Schuhe poliert und die Krawatte besonders ordentlich gebunden. Überrascht stellte er fest, dass der Flur deutlich kürzer war als in seinem Stockwerk und es nur drei Türen gab. Auf der einen stand „Kein Zutritt!“, auf der anderen „Treppen“ und auf der letzten „Owner Suite“ . Bitte was?! Er hatte zwar erwartet, dass Martine Pegasus als Organisatorin sich nicht mit dem geräumigen Doppelzimmer, das er Zähne knirschend bezogen hatte, zufrieden geben würde, aber das war wohl der Gipfel der Dekadenz! Schnell musste er lernen, wie falsch er gelegen hatte. Als er klopfte, öffnete ihm eine Frau in weitem Herrenhemd und Leggins, die das lange Haar zu einem Zopf geflochten trug. Das konnte er deswegen so gut erkennen, weil sie ihm direkt wieder den Rücken zuwandte. „Du bist spät dran, Jo! Mokubas Bruder müsste bald hier auftauchen.“ Seto interpretierte das als Einladung einzutreten und sah sich ausgiebig in dem großen Raum um, der mit seiner bodentiefen Glasfront die Stadt überblickte. Direkt neben der Tür war ein Bereich mit mehreren gemütlichen Sitzmöbeln. Dem gegenüber war ein großzügiger Essbereich mit Platz für acht Personen und an der Wand war eine kleine Küche eingebaut, wo Martine jetzt in den Töpfen rührte. „Was ist? Beeil dich!“, fuhr sie herum und blinzelte überrascht. „Oh. Mit Ihnen hatte ich noch nicht gerechnet. Wie spät haben wir?“ Statt seine Antwort abzuwarten, sah sie selbst auf die Uhr an der Wand und schimpfte: „Ich habe ihm doch ausdrücklich gesagt, dass ... Aber das soll nicht Ihr Problem sein. Kommen Sie ruhig näher und setzen Sie sich. Was möchten Sie trinken? Wasser? Wein? Saftschorle? Ich muss das Essen im Auge behalten, aber Sie machen es sich bitte gemütlich.“ Etwas überfordert mit ihrer Art, gehorchte Seto und setzte sich so, dass er ihr beim Kochen zusehen konnte. „Wasser reicht für den Anfang.“ Sie schenkte ihm aus einer Karaffe ein und reichte ihm das Glas. Nach einem ersten großen Schluck fragte er: „Wen erwarten Sie eigentlich noch?“ „Meinen Neffen natürlich.“ Es folgte eine Pause, in der sie mit dem Pfannenwender hantierte und sein Puls sich beschleunigte. Um sich davon abzulenken, fragte er als nächstes: „Und woher kennen Sie und Mokuba sich?“ Er nahm noch einen großen Schluck Wasser und verschluckte sich bei ihrer Antwort daran. „Durch Sie.“ „Mich?“ „Ja, Sie hatten mich doch damals für seine Bewerbungsfotos angeheuert. Dafür wollte ich mich sowieso noch bei Ihnen bedanken. Mokuba hat im Anschluss so sehr die Werbetrommel für mich gerührt, dass ich mich als Fotografin in Domino City etablieren konnte.“ Allmählich ging Seto ein Licht auf. Von „der Fotografin“ sprach Mokuba in der Tat häufiger. Bevor er aber darauf groß etwas erwidern konnte, wurde die Zimmertür erneut geöffnet. Der Mann in hautenger Laufkleidung ignorierte ihn völlig und legte Martine einen Arm um die Taille, während er sie auf die Wange küsste. „Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst! Seto Kaiba ist bereits hier! Und es ist unhöflich seine Gäste warten und das Essen verkochen zu lassen!“ Chef lugte vorsichtig über seine Schulter nach hinten. „Sorry, ich hatte unterschätzt wie lange ich für die neue Strecke brauche. Aber hattest du nicht gesagt, es käme der Bruder eines Freundes?“. flüsterte er gut vernehmbar ebenfalls in Englisch zurück. „Ja, der Bruder meines besten Freundes. Also beeil dich! Die Nudeln sind schon im Wasser.“ Ohne weiteren Kommentar oder Seto gar zu begrüßen, durchquerte Chef den Raum, wobei er sich weiter auszog, und verschwand in dem Flur, der die gegenüber liegende Wand teilte. Für einen kurzen Moment hatte Seto einen guten Blick auf einen trainierten, nackten Rücken. Als er sich zurückdrehte, um zur Beruhigung einen sehr großen Schluck Wasser zu trinken - ein Tipp, den er aus dem Entspannungsvortrag mitgenommen hatte - blickte er unerwartet in ein Paar bernsteinfarbener Augen und all seine Hoffnungen und Fantasien verflüchtigten sich. „Sie sehen so aus als wollten Sie fragen, weswegen er mein Neffe und nicht mein Mann ist.“ Seto brachte es nur fertig sie stumm anzustarren. Seit wann konnte man in seinem Gesicht sehen, was er dachte? Falls ja, ließ er eindeutig nach, und das beunruhigte ihn. „Keine Angst! Ich kann Sie beruhigen. Ich bin lediglich der Blitzableiter für diese Flirtmaschine. Es sind einfach zu viele gutaussehende Männer auf dem Kongress. Und manchmal sehnt er sich nach etwas Nähe und Häuslichkeit.“ Seto fiel es schwer, das zu glauben, bis sein Kopf die Aussage in ihrer vollen Bedeutung begriff. Nicht sie lief Gefahr bei der großen Auswahl an Männern schwach zu werden, sondern er, was er sich als Schirmherr der Veranstaltung natürlich nicht erlauben konnte. Aber das hieß auch, dass seine eigenen Chancen gerade nicht unerheblich gestiegen waren. Statt explizit danach zu fragen, trank er lieber noch einen Schluck und war froh, dass gerade die Nudeln Aufmerksamkeit brauchten. Während sie eine davon gekonnt aus dem Topf fischte, fiel ihm jedoch noch etwas anderes ein. „Die Beschriftung der Suite draußen... Wieso steht da Owner Suite?“ „Weil das hier nur die bescheidene kleine Unterkunft des Hotelbesitzers ist. Die eigentlichen Suiten sind deutlich größer und die hier oben wird nur im äußersten Notfall vergeben.“ „Ich dachte, Chef hätte nur das Hotel am Meer.“ „Als ob ihn das auslasten würde! Das Hotel hier betreut er schon seit dem Studium, auch wenn es einen anderen Manager hat. Sagen wir einfach, es liegt perfekt zwischen dem Hotel am Meer und unserem eigentlichen familiären Schwerpunkt. Und die Kongressräumlichkeiten sind ein gewisser Bonus.“ Martine goss die Nudeln ab, mischte sie mit dem Inhalt der großen Pfanne und begann sie auf drei Teller zu verteilen. Dann stellte sie je einen davon auf die drei eingedeckten Plätze am Kopfende, wo bereits Seto saß. Es folgte eine Dose mit gehobeltem Käse. Sie goss sich und auf dem leeren Platz Wein ein, fragte, ob er auch wollte, stellte die Flasche weg, ließ die Pfanne und andere Utensilien, die sie nicht mehr brauchte, in einem schmalen Geschirrspüler verschwinden. Anschließend setzte sie sich endlich über Eck neben ihn und blickte genervt auf die Uhr. Das hielt sie nicht einmal eine halbe Minute aus. Dann stand sie wieder auf und tippte auf eine Schaltfläche in der Wand ein. Zufrieden setzte sie sich wieder, während vertraute Gitarrenklänge den Raum füllten. „Come as you are, as you were As I want you to be As a friend, as a friend As an known enemy Take your time, hurry up“ Doch schlagartig änderte sich das Lied. „Come on over, come on over, baby Hey, boy, don't you know I got something going on I got an inviatation don't you keep me waiting all night long.“ Chef nahm nur bekleidet mit einer Anzughose Seto gegenüber Platz und grinste seine Tante breit an, die ihn kritisch musterte. Auch ihr Gast musterte ihn unauffällig, wobei sein Blick an dem schmalen Streifen dunkelblonden Haars oberhalb des Bundes etwas zu lange verweilte. „Was hast du? Du wolltest, dass ich hier erscheine wie ich bin. Bitte sehr. Weiter kam ich noch nicht. Außerdem bist du auch ziemlich leger gekleidet!“ Gespielt kritisch musterte er den durchscheinenden Hemdstoff und die Anzahl der offen gelassenen Knöpfe. Dann fiel sein Blick auf Seto, der mit seinem formellen Anzug eindeutig overdressed war. Etwas verlegen, aber erpicht darauf, zu zeigen, dass auch er durchaus ansehnlich war, zog dieser das Jackett aus, legte es auf den leeren Stuhl neben sich, lockerte etwas die Krawatte und öffnete den obersten Knopf des schmal geschnittenen Hemdes. „Können wir jetzt endlich essen?“, wollte Martine mit einem Augenrollen wissen. Ihr Neffe grinste sie an: „Natürlich, liebste Tante! Was hast du denn Leckeres ... “ Entgeistert starrte er auf seinen Teller. „Nudeln a la Julia? Du machst Nudeln a la Julia, wenn der wichtigste Geschäftspartner deines Bruders zum Essen kommt?“ Seto selbst nahm nun das Gericht genauer unter die Lupe. Der Pfanneninhalt entpuppte sich als Mischung aus grünen Oliven, Schinkenwürfeln, frischen Pilzen und ... „Es ist sehr offensichtlich, dass du heute niemanden mehr küssen willst.“ ... einer nicht unerheblichen Menge Knoblauch. „Das bisschen Knoblauch muss die Liebe abkönnen“, erwiderte Martine zuckersüß und begann zu essen. „Nur, weil du von meinem Koch flachgelegt wirst ...“ „Erstens legt er mich nicht flach. Hans kann sich durchaus benehmen. Und zweitens, wenn ich Küchenpersonal hätte, wäre es vor dir noch weniger sicher.“ Seto beschloss ebenfalls anzufangen, um nicht in die Schussbahn zu geraten. Wider Erwarten schmeckte es köstlich und selbst der Knoblauch war nicht zu dominant. „Das sagt gerade die Richtige, mein Rapunzel!“ Aus den Augenwinkeln sah Seto Martines Mundwinkel gefährlich zucken. „Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit welchem Feuer ich spiele, mein lieber Kalaf. Und jetzt iss endlich, bevor es kalt wird!“ „Mit dem größten Vergnügen. Ich muss nur manchmal sicher gehen, dass du vor lauter Arbeit nicht vergisst ein Mensch zu sein“, grinste Chef breit zurück. So schnell wie sich die Spannung zwischen ihnen aufgebaut hatte, so schnell war sie auch schon verflogen und sie saßen beide entspannt am Tisch, aßen und tranken Wein. „Apropos Arbeit. Wieso hatte ich bisher noch nicht das Vergnügen mit Ihnen?“, wollte Seto wissen, als er kaum noch etwas auf dem Teller hatte. Statt ihr antwortete Chef mit einem weiteren Grinsen, das ihn erneut an jemand vollkommen anderen erinnerte: „Weil Ihre Zusammenarbeit mit meinem Vater einigermaßen harmonisch verläuft. Sie übernimmt so Fälle wie von Schroeder, nachdem er das Eröffnungsturnier von Kaibaland manipuliert hatte.“ Die erwartete Gehässigkeit in der Aussage fehlte. Es war eine bloße Feststellung. „Spielen Sie selbst auch Duel Monsters und nehmen an Turnieren teil?“, fragte Seto weiter, da er ihn einmal zum Reden gebracht hatte. Er war am Nachmittag einer Eingebung gefolgt und hatte die Statistik der weltweiten Turniere überprüft, aber kein einziges Mal war dort ein anderer Eintrag mit dem Familiennamen Pegasus aufgetreten als die von Maximilion. „Oh nein. Nicht mehr. Das überlasse ich lieber Martine. Denn Ich habe meistens mehr Glück als Verstand gehabt. Aber ich habe mich zu einem ganz passablen Go-Spieler gemausert. Falls Sie nachher Lust auf eine Partie haben ... “ „Gerne.“ Seto wurde unter dem Blick des anderen unruhig, als ob dieser ihm zwischen den Zeilen etwas mitgeteilt hatte, und nun darauf wartete, dass er es verstand. Eine Ablenkung suchend, blickte er hinunter auf seinen leeren Teller. „Tut mir leid. Ich kann Ihnen leider keinen Nachschlag anbieten. Die Einladung war spontan und ich hatte keine Zeit mehr weitere Zutaten einzukaufen“, deutete Martine sein Verhalten. „Aber wir haben noch Nachtisch im Kühlschrank.“ Unaufgefordert sammelte Chef die Teller ein und stellte sie in den Geschirrspüler. Dann ging er zum Kühlschrank, öffnete die Tür und fragte: „Ist das dein Handy, Martine?“ Das Gerät lag neben einer großen, mit etwas hellem gefüllten Glasschüssel und vibrierte. „Ja, es ist deins“, versicherte er sich mit einem genaueren Blick. „Und du hast anscheinend einen Shooting-Termin verpennt.“ Mit einem „Aber der ist doch erst morgen!“, sprang Martine auf, griff in den Kühlschrank und fluchte herzhaft. „Zum Glück sind deine Kinder gerade nicht in der Nähe. Maximilion hätte dich für die Ausdrucksweise sicherlich einen Kopf kürzer gemacht.“ „Hauptsache du hast deinen Spaß! Du verträgst dich mit Mokubas Bruder? Teilt den Nachtisch unter euch auf. Könnte spät werden.“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern sprintete hinüber in den Flur, verschwand kurz in einem anderen Raum als zuvor ihr Neffe und kam in Jeans und Jacke und mit einer großen Kameratasche heraus. „Herr Kaiba, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Lassen Sie sich nicht alles von Jo gefallen. Wir sehen uns hoffentlich morgen noch einmal.“ Etwas verdutzt schüttelte er ihr die Hand, dann war sie auch schon verschwunden. Mit einem tiefem Seufzer streckte sich Chef. „Dann kann ja jetzt endlich der gemütliche Teil des Abends beginnen. Nehmen Sie bitte die Schälchen und die Löffel mit?“ Er selbst trug die Glasschüssel zu dem niedrigen Tisch zwischen den Sitzmöbeln und ging zurück, um die Gläser und den Wein zu holen. Auch zog er sich zu Setos Enttäuschung ein Hemd über und knöpfte es zu, während er sich in einem der Sessel niederließ. Seto selbst nahm nach einigem Zögern auf dem Sofa direkt daneben Platz und blickte hinaus in die dunkle Winternacht. „Möchten Sie auch noch?“ Chef hielt die Flasche hoch. „Ja, bitte.“ Der Blonde goss ihnen beiden nach und schwenkte die rote Flüssigkeit in seinem Glas. „Wussten Sie, dass der Wein mich und Maximilion Pegasus erst zusammengebracht hat?“ Die Fragen war wohl rhetorisch gemeint, denn er sprach gleich weiter und Seto, erpicht auf mehr Details, wagte es nicht, ihn zu unterbrechen: „Es war während der ersten Praxisphase meines Studiums. Ich arbeitete in einem großen und noblem Hotel in New York an der Bar und er orderte einen Wein bei mir, während mein Kollege sich um die Schwangere kümmerte, die etwa zur gleichen Zeit an die Bar gekommen war. Später erfuhren wir, dass sie seine Schwester war. Für mich als Somelier war sie aber gänzlich uninteressant. Also kam ich mit dem einzigen anderen Gast ins Gespräch, der mir am Ende des Abends die Unterstützung bei meinem Traumprojekt zusicherte. Als die Zwillinge auf die Welt kamen, war ich irgendwie bereits ein fester Teil der Familie geworden. Wie dem auch sei. Was halten Sie von einer Partie Go? Ich weiß, es ist nicht ganz so wie Schach, aber das Prinzip, dass alle Steine gleich mächtig sind, hat mich irgendwie schon immer fasziniert.“ „Meinetwegen. Aber beantworten Sie mir vorher noch eine Frage“, stimmte Seto zu. „Ihre Tante hatte vorhin etwas erwähnt und ... Wie kommt es, dass Sie kein Paar geworden sind? Also Sie und Maximilion Pegasus, meine ich.“ Überrascht sah ihn Chef an und trank einen großen Schluck Wein, um seine Kehle zu befeuchten. „Weil immer zwei dazu gehören. Aber den Fehler, ihn für schwul zu halten, machen viele. Dabei ist er einfach nur exzentrisch und hängt nach wie vor an seiner verstorbenen Frau. Und ich kann Sie darüber hinaus beruhigen. Er ist nicht mein Typ. Ich stehe mehr auf blaue Augen. Am liebsten in Kombination mit dunkelbraunem Haar.“ Bei den letzten Worten beugte er sich so weit vor, dass sich ihre Lippen fast berührten, und blickte Seto tief in die Augen als suche er dort nach etwas. Seto spürte zwar wie sich sein Puls erneut beschleunigte, aber er war nicht in der Lage sich zu bewegen. Der Beinahe-Kuss am Vormittag war Zufall gewesen. Doch das hier spielte in einer ganz anderen Liga. Joseph Pegasus hatte gerade zugegeben, dass er absolut in dessen Beuteschema passte. Er bot sich ihm gerade auf dem Präsentierteller an. Seto konnte nur raten, wie viel Erfahrung er hatte auf Grund dessen, was er zuvor im Gespräch mit seiner Tante gehört hatte. Aber er selbst? War er bereit dafür? Dass er es wollte, stand außer Fragen. Doch was wenn ... ? Mit einem leichten Lächeln des Bedauerns zog sich Chef zurück, unterbrach ihren intensiven Blickkontakt, und wollte von ihm wissen: „Und was halten Sie jetzt von einer kleinen Partie?“ Von woher auch immer zauberte er ein Brett und zwei Goke mit Spielsteinen hervor. „Wenn Sie wollen können wir gerne eine Extra-Regel einführen. Wenn ich verliere, muss ich ein Kleidungsstück mehr anziehen. Wenn Sie verlieren, legen Sie eines ab. Aber wehe, Sie fassen mich mit Samthandschuhen an! So etwas merke ich sofort.“ In der Tat konnte Seto es sich nicht erlauben, auch nur einen Spielzug zu verschenken. Nach drei Partien auf dem etwas kleineren 13x13 Brett, trug er nur noch Hose und Hemd. Was die sichtbare Anzahl an Kleidungsstücken anbelangte, hatte Chef nach allen Regeln der Kunst für Gleichstand gesorgt. Schnell unterdrückte Seto den Gedanken daran, dass sein Kontrahent nichts unter der Hose tragen könnte, bevor er zu einem ernsthaften Problem heranwachsen konnte. Er war sowieso Welten davon entfernt diesbezüglich Genaueres zu erfahren. Zum einen hatte er drei Niederlagen in Folge einstecken müssen, zum anderen hatte Chef sämtliche Flirterei eingestellt, obwohl sie während des Spiels weitersprachen. Allmählich machte sich die Angst in ihm breit, sein vorheriges Verhalten könnte als Desinteresse fehlinterpretiert worden sein. „Einigen wir uns angesichts unserer Kleidung auf unentschieden? Was halten Sie von etwas Nachtisch?“ Verblüfft nickte Seto einfach und nahm kurz darauf eine Schale mit gelblichem Inhalt entgegen. „Was ist das?“, wollte er wissen, während er in der Masse herumrührte und Stückchen darin fand. „Vanillepudding mit Dosenananas. Leider hat frische Ananas zu viel Säure und die Milch flockt aus. Probieren Sie ruhig. Es ist nicht vergiftet!“ Wie zur Bestätigung seiner Worte begann er selbst zu essen und offensichtlich schmeckte es. Genüsslich verzog er das Gesicht und zog den Löffel erst wieder aus dem Mund, als er vollkommen sauber war. Dann nahm er sich wieder etwas und wiederholte die Prozedur. Seto war so perplex, dass er völlig vergaß, ebenfalls zu probieren. Dieses Minenspiel. Diese Gestik. Er hatte diese Kombination bisher nur an einem Menschen gesehen - beim Verzehr eines Eisbechers mit Schokolade und Himmelblau und es hatte mal wieder mit einem Streit zwischen ihnen beiden geendet. Vermutlich hatte er zu viel Wein getrunken, denn er sagte einfach: „Wissen Sie, was merkwürdig ist? Sie erinnern mich die ganze Zeit schon an einen ehemaligen Mitschüler von mir. Aber das kann natürlich nicht sein.“ „Und wieso nicht?“, fragte der andere ruhig und sah ihm dabei gelassen und zugleich fest in die Augen. „Wieso kann das nicht sein?“ „Weil Sie zwei vollkommen verschiedene Menschen sind. Natürlich gibt es äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit, aber in Ihrem Verhalten sind Sie komplett verschieden. Selbst wenn man die gehobeneren Umgangsformen außer Acht lässt. Joey Wheeler hätte sich die Herren gestern Abend persönlich ohne großes Federlesen vorgeknöpft, hätte eine riesen Szene gemacht. Er hätte mir heute morgen keinen Kaffee in die Hand gedrückt und darauf geachtet, dass ich etwas esse. Er wäre heute Abend nicht Laufen gewesen, sondern auf der Couch. Er wäre eine halbe Stunde zu spät zum Essen erschienen. Er ... “ Er hatte seine Freunde immer beschützt. Er war immer aufmerksam gewesen, wenn es um anderen ging, selbst wenn ihm Details entfielen, machte das aber durch seine lebensfrohe Art wieder wett. Er war schon immer sportlich gewesen. Er hatte seinen zeitlichen Rahmen immer voll ausgeschöpft. Entgeistert starrte Seto Kaiba Joseph Pegasus an. „Für ein Genie hast du für diese Erkenntnis wirklich lange gebraucht, Kaiba.“ Es dauerte eine Weile, bis Seto seiner Stimme wieder soweit traute, dass er sprechen konnte. Das konnte einfach nicht sein! Joey Wheeler konnte sich nicht zu diesem unglaublichen, anbetungswürdigen Traum von einem Mann entwickelt haben! Allein, dass er ihn in Gedanken mit diesen Attributen bedachte, war nur schwer vorzustellen! Und dennoch war es so. Joey Wheeler saß ihm gelassen gegenüber und verputzte vergnügt Vanillepudding, während er selbst unfähig war sich überhaupt zu rühren. „Wieso hast du nichts gesagt?“, krächzte er endlich. „Du erinnerst dich an unsere letzte Begegnung in Domino?“ Er nickte. Wie könnte er diese Ansprache jemals vergessen. „Dann muss ich das ja nicht weiter ausführen, oder?“ „Aber warum hast du mich nicht einfach ignoriert?“ „Hätte es etwas gebracht? Es ist außerdem spannend zu sehen, wie du Leute behandelst, die nicht ich sind.“ „Ja, aber du hättest nicht ...“ ...nett zu mir sein müssen. „Wieso sind wir hier?“, fuhr er stattdessen fort. Chef legte fragend den Kopf schief. „Du fragst mich ernsthaft nach dem Sinn des Lebens?“ „Nein, ich meinte ... “ Das Lächeln auf den Lippen des anderen ließ Seto verstummen. „Ich weiß, wie du es gemeint hast. Und ich habe keine Antwort für dich, die dich auch nur annähernd befriedigen könnte. Denn ich weiß es selbst nicht. Noch Pudding?“ „Nein. Aber ... “ „Vergiss nicht zu atmen! Ich habe keine Lust bei dir Erste-Hilfe leisten zu müssen. Einatmen. Ausatmen. Frage stellen.“ „Was hat dich bewogen deine Seele an den Teufel zu verkaufen?“ Schallendes Gelächter. „Ausgerechnet du fragst das? Also ich würde behaupten, dass Maximilion in der Gesamtsumme besser wegkommt als Gozaburo. Klar, er hat seine Fehler gemacht, aber insgesamt hat er sich als ziemlich zuverlässiger Familienmensch herausgestellt. Martine wird dazu natürlich auch ihren Teil beigetragen haben. Aber ich hätte es wirklich schlechter treffen können. Du bist das beste Beispiel dafür. Hast du es überhaupt geschafft dir außerhalb der Arbeit ein Leben aufzubauen?“ „Ich sitze hier und nicht vor meinem Notebook, oder?“, brachte Seto zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Da wusste jemand wirklich, wo seine Schwachstellen waren. Und das nach all der Zeit. „Touché.“ „Wie haben die restlichen Clowns darauf reagiert?“ „Meine Freunde haben es im Großen und Ganzen sehr positiv aufgenommen. Sie waren wohl ziemlich froh, dass ich nach dem Tod meines ... Naja, sie haben sich auf jeden Fall über den Familienzuwachs für mich gefreut.“ Verlegen strich sich Chef die Haare nach hinten und löffelte wieder Pudding. Hatte Seto das gerade richtig verstanden? Joeys Vater lebte nicht mehr? „Wann?“ „Kurz nach dem Abschluss. Du erinnerst dich an den entgleisten Zug?“ Seto nickte und begann zu rechnen. Das Bergen des Körpers, das Ermitteln der Identität, das Abklären aller Formalien. die eigentliche Beerdigung. Schmerzhaft zog sich sein Magen zusammen. Er versuchte ihn mit einem großen Löffel Pudding zu beruhigen, doch das machte es nur noch schlimmer. Er hatte Joey am Tag der Beisetzung seines Vaters gesagt, dass seine Träume nie wahr werden würden. Und das hatte noch zu seinen netteren Kommentaren gezählt. Er hatte ihn mal wieder nur als seinen Blitzableiter missbraucht, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es ihm tatsächlich ging. Er griff nach dem Weinglas und stürzte den gesamten Inhalt auf einmal runter. Das vertrieb zwar nicht seine Schuldgefühle, doch es hielt ihn von weiteren Dummheiten ab. Statt sich zu entschuldigen, wechselte er plump und offensichtlich das Thema: „Und was hat es mit Martine und deinem Küchenpersonal auf sich?“ Unfassbarerweise ging Chef darauf ein und erzählte ihm von dem Koch, den er in Italien gefunden und angeheuert hatte. Oder genauer, hatte Martine ihn entdeckt und so lange auf ihren Neffen eingeredet, bis er ihm die Stelle anbot. So weit, so harmlos. Wenn er sie nur nicht im letzten Sommer in der Küche gesehen hätte. „Am helllichten Tag kochten die beiden kaum bekleidet und küssten sich dabei so leidenschaftlich, dass selbst ich rot wurde! Als sie mich sahen, meinte Martine schlicht, einer müsse Hans ja an Shins freiem Tag helfen.“ Seto konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen bei so viel berechtigter Entrüstung. Außerdem war seine Neugier geweckt. Doch statt zu fragen, weshalb die Schamesröte so seltsam war oder umgekehrt Martines Küchenpersonal nicht sicher gewesen wäre, wollte er wissen: „Und wer ist Shin?“ Das war der andere Koch und gleichzeitig der Kollege, der bei dem alles besiegelnden Gespräch zwischen Chef und Pegasus Martine mit alkoholfreien Cocktails verwöhnt hatte. Neben ihm gehörte noch eine junge Frau zum Team, die das Essen zu den einzelnen Ferienhäusern brachte und ihn im Management vertrat, wenn nötig. Das Team war aber erst mit einem Iren, einem wahren Putzteufel, und einem ruhigen Kanadier komplett, der die Familie wohl schon länger kannte und zwei grüne Hände statt eines einzelnen Daumens hatte. Gespannt hörte Seto zu und war erneut verblüfft, wie leicht ihm das fiel. Bei jedem anderen wäre er mehr als versucht gewesen, zu unterbrechen und mit seinem eigenen „Hofstaat“ aufzutrumpfen. Aber hier saß er still, lauschte und aß Pudding. Von alleine brachte Chef das Gespräch anschließend auf die Orte, die er gesehen und bereist hatte. Wo möglich, brachte sich Seto mit seinen Erfahrungen ein. Es war erstaunlich, wie selbstverständlich sie sich unterhalten konnten, auch wenn er das Gefühl nicht los wurde, dass sie sich wie zwei rohe Eier behandelten, die jederzeit zerbrechen konnten. Selbstverständlich neckten sie sich gegenseitig, doch gingen sie nicht tief genug, um den anderen zu verletzen. „Vermutlich hast du davon nur den Flughafen gesehen.“ - „Nein, ich habe es sogar bis zum Hotel geschafft!“ „Wusstest du denn wie man die isst?“ - „Bei der ersten nicht. Nachdem ich mein Hemd mit Fruchtsaft eingesaut hatte, erbarmte sich Maximilion und zeigte mir wie es geht. Die Zwillinge fanden es unglaublich lustig!“ - „Ich bezweifle, dass sie besser aussahen.“ „Du hast bestimmt mit deinen Anwälten gedroht, solltest du kein Extra-Handtuch bekommen.“ - „Für das, was meine Anwälte dafür in Rechnung gestellt hätten, hätte ich das Schwimmbad kaufen können.“ Irgendwann blickte Chef auf und sah auf die Wanduhr. „Martine müsste bald wieder kommen. Sie hat heute Nachmittag etwas davon gefaselt, dass sie mindestens sechs Stunden Schlaf am Stück bräuchte, um morgen durchzustehen. Und das wird allmählich schwierig“, stellte er trocken fest. Seto folgte seinem Blick. Es war nach Mitternacht. „Dann sollte ich wohl jetzt auch gehen.“ „Brauchst du etwas Schönheitsschlaf?“ „Nein, aber meine Firma leitet sich nicht von allein. Wie du genau weißt.“ Chef grinste ihn an und begleitete ihn die wenigen Schritte zur Tür der Suite und öffnete sie für ihn. „Also dann, Kaiba. Da ich weiß, was sich gehört“, streckte er ihm die Hand entgegen. „Danke, im Namen der Familie Pegasus für diesen Abend und eine angenehme“ Seto hatte die Hand ergriffen und genutzt, um ihn näher zu sich heranzuziehen. Die andere legte er ihm in den Nacken, damit er den Kopf nicht wegziehen konnte, und küsste ihn. „Nacht“, vollendete er den Satz, während er schon wieder losließ und schleunigst Richtung Treppe davon stürmte. Er wollte nicht sehen, wie der andere reagierte. Kapitel 3: Der dritte Tag ------------------------- Der Wein war schuld. Es musste einfach der Wein gewesen sein. Überraschenderweise war er zwar nüchtern und ohne Kater aufgewacht, doch im Nachhinein betrachtet, hatten er und Chef am Vorabend eine ganze Menge Wein getrunken. Anders konnte er sich nicht erklären, dass er beschlossen hatte, der perfekte Moment für seinen ersten Kuss sei zwischen Tür und Angel mit jemandem, der alles Recht der Welt hatte, ihn zu hassen. Auch hatte er noch zwei Stunden gebraucht, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er überhaupt an Schlaf denken konnte. Umso entschlossener hatte er seinen Wecker am Morgen beim ersten Piepsen auf acht Uhr umgestellt. Immerhin hatte er diese zusätzliche Zeit nicht verschwendet, indem er wie ein verliebter Trottel daran dachte, wie warm und samtig sich Chefs Lippen bei ihrer kurzen Berührung angefühlt hatten, sondern die Lücken in seinen früheren Recherchen mit neuen Informationen gefüllt. Jetzt fand er Artikel zu dem Zugunglück, bei dem ein einzelner Toter angesichts dessen, was hätte passieren können, heruntergespielt wurde. Fand Zeugnisse und Bescheinigungen ehemalige Arbeitgeber während des Studiums, wenige offizielle Artikel zum „neuen Mann“ in Maximilion Pegasus' Leben. Auf den Bildern die diesen Beiträgen angefügt waren, war Joey Wheeler fast noch zu erkennen, auch wenn er bereits damals die Haare nach hinten gekämmt trug und deutlich ernster in die Kameras blickte als zu seiner aktiven Zeit als Duellant. Schließlich hatte Seto das Gerät zugeklappt, sich ins Bett gelegt und war von dem grauenhaften Gedanken übermannt worden, dass er keine Ahnung hatte, ob er gut küssen konnte. Er beschränkte Zähneputzen und Duschen auf ein absolutes Minimum und noch während er sich anzog wählte er Mokubas Handynummer. „Guten Morgen, großer Bruder, was kann ich für dich tun.“ „Guten Morgen, Mokuba. Du musst mir nur ein paar Fragen beantworten.“ „Ja, ich vermisse dich auch. Ja, es ist für einen Samstagmorgen definitiv noch zu früh, um angerufen zu werden. Und ja, ich musste deinen Tisch und Stuhl in der KC verstellen, um hier gut zu sitzen. Hast du auch nur eines unserer Infoblätter zum ergonomischen Arbeiten gelesen? Der Schreibtisch ist selbst für dich viel zu hoch eingestellt!“ „Du bist in meinem Büro in der Firma?“ „Ja, irgendwer muss doch schließlich die Firma leiten. Und ich sage dir ja schon seit Jahren, dass ich sie übernehmen werden, solltest du für längere Zeit verschwinden.“ „Das war eine damals notwendige Reise nach Ägypten! Und das heißt wohl auch, dass ich meinen Urlaub nächsten Monat wohl besser verschiebe.“ „Keine Angst, großer Bruder, ich will lieber erst einmal in Ruhe das Studentenleben genießen. Aber du solltest trotzdem nicht erwarten, dass deine Mitarbeiter am Wochenende arbeiten. Zu deinen Reiseplänen kann ich dir leider noch nichts Neues sagen. Es ist nämlich gar nicht so leicht, etwas zu finden, das noch nicht ausgebucht ist oder wo es nicht vor verliebten Paaren nur so wimmelt.“ „Gut, dann schließe ich mich einfach um den Valentinstag rum im Keller der Villa ein. Wird schon nicht so schlimm werden.“ „Jetzt übertreibst du aber, Seto! Ich geb wirklich mein Bestes, um einen Rückzugsort für dich zu finden! Blöderweise bestehst du darauf, erreichbar zu sein. Orte, ohne ausreichend Handyempfang oder Internet gäbe es nämlich noch zuhauf auf der Liste.“ „Das kannst du vergessen, Mokuba. Wir reden darüber, wenn ich morgen wieder da bin. Andere Frage. Wie heißt deine beste Freundin?“ Stille. „Mokuba, ich erwarte eine Antwort.“ „Martine.“ Beinahe hätte sich Seto mit seiner Krawatte selbst stranguliert. „Hast du gestern mit ihr telefoniert?“ Wieder Stille. „Hast du das wirklich für eine gute Idee gehalten?“ „Ja?“ „Habe ich dich wirklich so schlecht erzogen?“ „Nein, denn ich hätte ihr Pudding übrig gelassen.“ Wann hatte diese Frau Zeit gehabt, mit seinem kleinen Bruder über den gestrigen Abend zu reden? „Hat sie sonst etwas erwähnt?“ „Nein, nur dass es ihr leid tat, dass sie wegen eines Jobs so schnell weg musste. Ist denn gestern noch was vorgefallen?“ „Nein.“ Er hoffte inständig, dass Mokuba die Lüge schlucken würde, und versuchte es erneut mit der Krawatte. „Der Abend war sehr normal. Was weißt du über ihren Neffen?“ „Chef? Nicht viel. Ist wohl gebürtiger Japaner und erstaunlicherweise naturblond. Aber sie erzählt von ihm fast so viel wie über die Zwillinge. Sie scheint ziemlich stolz auf ihn zu sein. Wieso? Ist er nett?“ Mokubas Neugier war selbst durch den Telefonhörer greifbar. „Einigermaßen. Wirkte auf mich eher durchschnittlich. Hat das VR-Team ...“ „Seto, was denkst du, was ich an einem wunderschönen Wintersamstagmorgen, den andere Leute im Bett von Schlittschuhfahren träumend verbringen, um zwanzig vor neun in deiner Firma mache? Ich sitze hier seit eineinhalb Stunden mit nur einem trockenen Bagel zum Frühstück und überprüfe die Arbeit der Woche. Ich mache also genau das, was ich schon die restliche Woche über gemacht habe -- und zwar ohne, dass mein großer Bruder mich dazu auffordern musste. Fang also endlich an deine kurze Auszeit zu genießen, denn in sechsunddreißig Stunden hat dich die alte Tretmühle wieder.“ „Zwanzig vor neun, sagst du?“ „Ja.“ „Hab dich lieb, Mokuba, aber ich muss los!“ Die Antwort darauf bekam er nur noch als Murmeln mit. Er konnte nur hoffen, dass es ein „Ich dich auch“ beinhaltete. Hektisch packte er alles zusammen und zog sich Schuhe und Jackett an. Die Uhr auf seinem Schreibtisch musste nachgehen, denn seine eigene zeigte bereits viertel vor neun an. Diese Unpünktlichkeit durfte unter keinen Umständen zu seiner neuen Gewohnheit werden! Wie zwei Tage zuvor verlangsamte er den Schritt erst unmittelbar vor dem Veranstaltungsbereich zu einem entschlossenen Schreiten, das in einem abrupten Stehenbleiben endete. Am Eingang des großen Saals stand Joseph Pegasus mit zwei Kaffeebechern in der Hand. Als er Seto sah, hoben sich seine Mundwinkel zu einem höflichen Lächeln. „Da sind Sie ja endlich! Tut mir Leid, dass es heute nur Kaffe ist. Für die Muffins war ich leider zu spät dran. Scheint sich herum gesprochen zu haben, wie lecker sie sind.“ Verdattert nahm Seto seinen Becher entgegen und folgte Chef in die dritte Reihe, wo zwei Plätze durch ein Jackett frei gehalten worden waren. „Meinst du nicht, dass du es mit der Kundenbetreuung etwas übertreibst?“, fragte der junge Mann, der auf Chefs anderer Seite saß. „Ich weiß, es ist der wichtigste Partner deines Dads, und du stehst total auf seine Spieltechnik, aber dass du ihm einen Platz reservierst, während wir Normalsterblichen zur absoluten Unzeit dafür aufstehen müssen, geht doch wohl etwas zu weit, oder?“ „Du hättest gestern eben nicht so viel feiern dürfen, Makoto“, konterte der diensteifrige Adoptivsohn schlicht und zog sich sein Jackett wieder an. Seto nutzte diesen Moment, um zu nachzuhaken: „Er steht auf meine Technik?“ „Ja! Total! Besonders das Zeug für Duell Monsters hat es ihm angetan. Er hat damit sogar meinen Vater überzeugt, mehr auf AR zu setzen! Wobei wir uns meistens mit VR begnügen müssen, weil die Räumlichkeiten der Kunden in der Regel noch nicht soweit sind, wenn wir anfangen. Den Unterschied zwischen einfachem Velours und feinstem Nadelfilz sieht man aber dennoch. Wir kombinieren das Erlebnis aber meist auch mit Fühlproben.“ „Sie stellen Teppiche her“, schloss Seto, der mit einem solchen Redeschwall nicht gerechnet hatte. „Nicht nur. Wir machen alle Arten von Heimtextilien. Für Chef haben wir damals die gesamte Einrichtung seines Hotel gemacht. Dass er nicht den Teppich mit kleinen Drachen für die Kinderzimmer wollte, nehme ich ihm heute noch übel.“ „Cian, Marek und ich waren uns einig, dass ein glatter Boden leichter zu pflegen ist. Und du durftest die Bettwäsche auf die Wandgemälde abstimmen.“ „Wandgemälde?“ Setos Augenbraue zuckte nach oben. „Überlasse nie einem Zeichner von Duell Monsters Karten die Gestaltung deiner Zimmerwände!“, war die einzige Antwort die Seto noch bekam, bevor höflicher Applaus für den Redner erklang. Und das war auch schon das einzige Highlight für diesen in der kommende halbe Stunde. Denn ab dem Moment, in dem den Teilnehmern wieder einfiel, dass sie den Tag in Workshops verbringen würden, sank die Stimmung beträchtlich. Bei den einen war die Erinnerung an grauenvolle Blockveranstaltungen an der Uni noch zu frisch. Die anderen verbanden damit pseudo-spaßige Tage zur Teambildung, die sie spätestens bei Unternehmensübernahme mit der alten Führungsspitze über sich hatten ergehen lassen müssen. Seto hatte sich vor beidem genau wie damals vor dem Schulsport erfolgreich gedrückt, war aber noch mit dem korrekten Einsortieren seiner neuesten Informationen beschäftigt und somit auch kein Zugewinn positiver Aufmerksamkeit. Chef hingegen verfolgte die Erläuterungen zur Gruppenaufteilung und den Abläufen gewissenhaft und nippte an seinem Kaffee. „Bis nachher Makoto! Mister Kaiba, wir sollten uns beeilen, wenn wir noch gute Plätze fürs Zeitmanagement bekommen wollen“, sprang er anschließend auf und schob Seto mit Nachdruck aus der Reihe. Den Stich ignorierend, dass Chef ihn wieder siezte, gehorche er und fragte nur: „Woher wissen Sie, für welchen Workshop ich mich eingetragen habe?“ „Manchmal hat es seine Vorteile Organisator zu sein. Und bevor Sie fragen, ja wir haben für heute den gleichen Stundenplan, aber wir haben beide unabhängig voneinander gewählt. Ich war einfach nur neugierig, nachdem wir Donnerstagabend festgestellt haben, dass wir die Schwerpunkte ähnlich gesetzt haben. Hier lang.“ Chef, mit dem mitzuhalten er Schwierigkeiten hatte, führte ihn in einen ruhigeren Nebenflur und durch eine Tür in ein Treppenhaus, das bestimmt nicht für den normalen Publikumsverkehr freigegeben war. „Sind Sie sich sicher, dass wir hier richtig sind?“ „Oh ja, das bin ich.“ Vor Schreck hätte Seto beinahe den Koffer mit dem Notebook und seinen Kaffee fallen lassen. Blitzschnell hatte Chef sich zu ihm umgedreht und die Unterarme links und rechts neben seinem Kopf auf die Wand gestützt. „Wieso hast du mir es nicht früher gesagt?“ „Dir was nicht“ Die restliche Frage ging in einem Kuss unter, der so gar nichts mit dem vom Vorabend gemein hatte. Dieser hier war stürmisch und soweit er es überhaupt bewerten konnte wütend. „Mir gesagt, dass du auf mich stehst“, erklärte Chef und seine Augen verhießen nichts Gutes. Seto musste schwer schlucken und versuchte es dann mit der einzigen Strategie, die er in den letzten Jahren hatte ausarbeiten können. Er stritt es ab. „Wer behauptet denn so etwas?“ „Dein Abschied gestern.“ „Das war der Wein. In meinen Kreisen gehören Küsschen zum guten Ton. Das nennt sich übrigens Etikette.“ „Ich glaube nicht, dass diese Art mit dazu gehört. Dann hätten wir da deine Augen. Deine Stimme. Dein Puls, wenn ich ...“ Chef beugte sich noch etwas näher zu ihm und biss ihm sanft in die Ohrmuschel, während seine Hand auf der anderen Seite nach Setos Puls am Hals suchte. „... das hier tue.“ „Nimm die Pfoten da weg, Hündchen!“, forderte Seto gereizt und schob den anderen mit seiner Kaffeehand von sich weg. Das war ihm aber nur gelungen, weil er ihn überrascht hatte. Denn sichtlich verwirrt fragte dieser: „Hündchen? Nicht Köter?“ Mist! Er hatte statt ihn zu beleidigen, seinen geheimen Kosenamen verwendet. Das Abstreiten wurde somit noch schwieriger. Aber ihm blieb immer noch die Flucht nach vorn. „Wäre dir den Köter lieber?“ „Um ehrlich zu sein, nein. Ich stehe nicht so auf herabwürdigenden Dirty Talk. Aber Vorschlag: du stellst den Becher und den Koffer ab, gibst mir meine Antwort und ich verspreche, dass ich mich benehme.“ Chef stellte seinen eigenen Becher auf den Stufen hinter sich ab und grinste dabei so breit, dass selbst ein Blinder erkannt hätte, wer er einst gewesen war. Widerwillig folgte Seto seinem Beispiel und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand, um ihn weiterhin im Blick behalten zu können. „Um eine Sache von vornherein klar zu stellen. Ich stehe nicht auf dich, noch sonst eine kindische Bezeichnung wie verknallt sein oder auf dich abfahren. Ich finde dich rein körperlich attraktiv. Du hast dich seit der Schulzeit gut entwickelt und ...“ „... du bist noch so grün hinter den Ohren, dass du weder richtig flirten, noch mir deine sexuellen Absichten einigermaßen gelassen vortragen kannst.“ Heftiges Zittern erfasste Chefs Körper, als er versuchte sein Lachen zu unterdrücken. „Entschuldige bitte, aber die Situation ist irgendwie surreal. Der begehrteste Junggeselle Japans, der mich während unserer Schulzeit immer abblitzen ließ, gesteht mir, dass er schwul ist und eindeutig was von mir will! Und dabei ist er nervöser als eine Vierzehnjährige bei ihrem ersten Kuss! Sorry, aber ich glaube, ich bin für das was du willst, echt der Falsche.“ „Und was will ich deiner Meinung nach?“, brachte Seto gepresst hervor. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. „Du glaubst jemanden zu wollen, der dich endlich flach legt, damit du fröhlich in die Welt hinausziehen kannst, um deinen Spaß zu haben und Erfahrungen zu sammeln. Natürlich unter Wahrung aller hygienischen Schutzvorkehrungen. Juhu, hier bin ich! Bereits in den fünfzehn Minuten, die wir bis zum ersten Workshop noch haben, könnte ich Dinge mit dir anstellen, dass die Hören und Sehen vergeht. Aber das, was du wirklich willst, ist jemand, der dich wirklich will. Nicht deinen Körper, sondern die noch so kleinste Faser deiner Seele. Der zärtlich zu dir ist, wenn du Trost brauchst. An den du dich nach einem harten Tag anlehnen kannst und der trotzdem nicht murrt, wenn du wegen der Arbeit zu wenig Zeit für ihn hast. Sorry, aber dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Ungläubig klappte Seto der Mund auf. Wenn er geglaubt hatte, dass ihn die Erkenntnisse des Vortages kalt erwischt hatten, dann kam diese Ansprache einem unverhofften Satz ins Polarmeer gleich. Dennoch drangen ein paar wichtige Details zu seinem Kopf durch, die ihn die Situation umgehend anders bewerten ließen. Chef klang weder wütend noch vorwurfsvoll noch verhöhnte er ihn. Er klang eher bedauernd und verzweifelt. So hatte er ihn noch nie erlebt. „Wenn du schon damals etwas von mir wolltest, wieso hast du nie etwas gesagt?“, fragte er zaghaft und traute sich damit auf sehr dünnes Eis. Er konnte ihn auch falsch verstanden haben. „Du hast mir damals deutlich genug gezeigt, was du von mir hältst. Und die wenigen Male, in denen ich es dir zeigen wollte, hast du entweder nicht kapiert, dass ich es war, oder du warst so blind für dein Umfeld, dass ich es auch gleich ganz hätte sein lassen können. Deine Krägen hatten wohl integrierte Scheuklappen.“ Alle Heiterkeit zwischen ihnen war verflogen und Seto hasste sich dafür. Vorsichtig streckte er die Hand nach Chefs Wange aus und löste sich dabei von der Wand. Ohne auf Gegenwehr zu stoßen drückte er ihn nun seinerseits gegen die Wand und küsste ihn vorsichtig. „Du lernst schnell!“, stellte Chef erfreut fest, als sie sich voneinander lösten. „Ich habe ja auch anscheinend einen guten Lehrer erwischt. Will ich wissen woher du...?“ „Glaub mir, willst du nicht.“ „Bist du dir da sicher?“ „Ja.“ Diese deutliche Aussage ließ Seto schlucken, brachte ihn aber auf eine Idee. Noch unsicher, wohin es führen würde, fing er an: „Da du auf dem Gebiet anscheinend deutlich mehr Erfahrung hast als ich ... Würdest du mir zeigen, was mir noch fehlt, um so jemanden zu finden, wie du ihn beschrieben hast? ... Oder zumindest dafür sorgen, dass ich mich nicht vollkommen lächerlich mache, wenn ich jemanden flach legen will?“ Er hatte es tatsächlich ausgesprochen. Und er hatte Joseph Wheeler um Hilfe gebeten. Er hatte ihn bei einem sehr heiklen Thema um Hilfe gebeten. Wer versicherte ihm eigentlich, dass er es nicht ausnutzen würde und beispielsweise Pegasus Senior ihn damit demnächst erpresste? „Wer sagt eigentlich, dass nicht du flach gelegt wirst, mein lieber Kaiba?“, wollte Chef lediglich wissen und lächelte ihn dabei schelmisch an. Dann löste er sich von der Wand, griff nach seinem Becher und stieg die Stufen hinauf. Noch ziemlich verwirrt nahm Seto im Seminarraum Platz und holte das Notebook aus dem Koffer. Chef hatte sich kurz entschuldigt. Nicht bei jedem säße die Frisur immer perfekt. Als einzige weitere Reaktion auf seine Bitte, hatte er nur noch gesagt bekommen, er würde sehen, was sich da machen ließe. Wie sollte er das bitteschön verstehen? Lange darüber Grübeln konnte er aber zum Glück nicht, denn Punkt zehn Uhr erschien der Leiter des Workshops -- gut gelaunt, die Haare wieder dort, wo sie hingehörten. Er stellte sich nicht vor, sondern fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Guten Morgen, und willkommen zum Thema Zeitmanagement. Wer von Ihnen hat hier länger als fünf Minuten gesessen ohne etwas Sinnvolles zu tun?“ Fast alle Hände gingen nach oben. „Als sinnvoll gilt auch, einfach kurz inne zu halten und sich zu entspannen.“ Keine einzige Hand ging nach unten. „Gut, dann wüsste ich jetzt gerne -- neugierig wie ich bin -- was Sie stattdessen getan haben.“ An Chef war ein Lehrer verloren gegangen. Nach einander erzählten sie und im Großen und Ganzen lief es auf inhaltslose Beschäftigung mit dem Handy hinaus. Sie hatten es noch nicht einmal genutzt, um in ihren jeweiligen Firmen nach dem Rechten zu schauen! Für Seto stand nach 10 Minuten fest, dass das Thema des Workshops nicht „Zeitmanagement“{}, sondern „Zeitverschwendung“ hätte heißen müssen. Seine genervte Grundhaltung schlug aber in Panik um, als Chef im Anschluss fragte: „Und was hat der Rest gemacht?“ Bei dem Blick, mit dem Seto bei diesen Worten bedacht wurde, wurde ihm heiß und kalt. Was er gemacht hatte? Er hatte mit seinem heimlichen Schulschwarm herumgeknutscht und sehr eindeutige Angebote von ihm erhalten, was dieser auch ganz genau wusste! Aber er hatte sich vorher nicht gemeldet, also musste er jetzt wohl zumindest irgendetwas sagen. „Ich habe bestehende Geschäftskontakte gepflegt und Wege diskutiert, wie wir in Zukunft noch erfolgreicher zusammen arbeiten können“, löste er letztlich das Problem diplomatisch und wurde dafür mit einem dreckigem, wenn auch kurzem Grinsen bedacht. Die drei anderen hatten sich entweder um ihr eigenes Unternehmen gekümmert, hatten versucht Kontakte mit einer Frau zu knüpfen oder gelesen. „Danke für diese Ehrlichkeit. Was haben all diese Beispiele gemeinsam?“ Verwirrte Stille. „Ok, nachdem Sie alle anscheinend noch nicht wach sind, verrate ich es Ihnen. Diese vier Teilnehmer haben sich Prioritäten gesetzt und sich danach ihre Zeit eingeteilt. Sie haben das kurze Zeitfenster von einer halben Stunde genutzt, um etwas zu erreichen, dass ihnen wichtig ist. Der Standardspruch, wenn es um unerledigte Aufgaben geht, lautet meistens, dass man keine Zeit dafür hatte. Und weswegen? Weil andere Dinge offensichtlich wichtiger waren! Was ich Ihnen heute mitgeben möchte, ist die Fähigkeit, ihre begrenzte Ressource Zeit so zu planen, dass Sie die Dinge, die Ihnen wichtig sind, auch tun. Schreiben Sie daher jetzt kurz auf, welche Aufgaben in ihrem Alltag anfallen und getrennt davon, wofür Sie gerne mehr Zeit hätten.“ In der nächsten Stunde ergänzten sie diese Liste um verbrauchte Zeit und Prioritäten. Sie sollten sich überlegen, was sie delegieren könnten, wo und wie sie den Aufwand reduzieren könnten, und wie viel Zeit sie dem, was immer liegen blieb zugestehen wollten. Setos Ergebnis war, dass er sich eine Menge Zeit sparen konnte, wenn er jemanden anstellen würde, der für ihn die Leute zusammenstauchte, da das fünfzig Prozent seines Berufsalltags ausmachte. Er schrieb es auf. „Weise Entscheidung, Workaholic. Aber wie willst du den dadurch angestauten Stress los werden?“, kommentierte Chef den Zettel. Er war nach dem Ende der Einheit an seinen Tisch getreten und studierte die Liste neugierig. Wortlos deutete Seto auf den Eintrag, dem er eine ganze Stunde täglich seiner wertvollen Zeit eingeräumt hatte. Sonstiges Privatleben. Chefs Mundwinkel zuckten und er reichte ihm das Papier. „Hast du noch Lust auf einen Kaffee vor dem nächsten Workshop?“ „Leitest du den etwa auch wieder?“, murmelte Seto vor sich hin. „Sag bloß du schmollst, weil ich dir nichts davon erzählt habe? Aber nein, ich bin diesmal nur Teilnehmer. Es wird dir trotzdem gefallen. Es geht um Smalltalk.“ Seto wurde das Gefühl nicht los, dass Chefs Humor über die Jahre zynischer geworden war. Der Workshop gefiel ihm ganz und gar nicht! Nach einer zwanzig-minütigen vollkommen überflüssigen Unterweisung in die „Feinheiten“ des Smalltalks, hatten sie die Tische ihm Raum umstellen müssen und mit Speed-Dating begonnen. Zumindest lief es nach ähnlichen Regeln ab und er musste das Geschleime des jeweiligen Kandidaten nur für fünf Minuten ertragen. Er gehörte zur Laufgruppe, die den Platz immer wieder wechselte, tankte mit einigen Schlucken Kaffee Kraft und beschloss bereits nach den ersten drei Versuchen, dass er für das Erreichen von „Sonstiges Privatleben“ kein Speed-Dating ausprobieren würde. Seine Laune hob sich erst wieder etwas, als er das letzte Mal auf einem neuen Stuhl Platz nahm. Ihm gegenüber saß die junge Frau vom Vortag, die genauso erleichtert wirkte wie er. Ohne große Umschweife klagte sie ihm ihr Leid: „Können wir bitte über die aktuellen Aktienwerte oder Datenbankprogrammierung sprechen? Ich hatte gerade irgendwie zu viele Gesprächspartner, die wenig geschickt meine Handynummer rauskriegen wollten.“ „Das kommt mir entgegen. Aber woher wollen Sie wissen, dass ich sie nicht auch will?“ Sie bedachte ihn mit einem seltsamen Blick und rückte ihre Brille gerade. „Sagen wir einfach, dass Martine uns -- also mir und den restlichen Frauen -- den Tipp gegeben hat, dass Sie einer der angenehmsten Teilnehmer auf dem Kongress sind. Übrigens schade, dass nichts aus Ihrer Verabredung wurde.“ „Wie darf ich das genau verstehen?“ „Naja, Sie versuchen nicht uns anzubaggern, behandeln uns wie normale Menschen und Ihre Anwesenheit hält unangenehmere Zeitgenossen auf bewunderswerte Weise fern.“ Seto schwieg sie an. „Kurz: Wir sind für Sie offensichtlich nicht interessiert“, schob sie als Erklärung nach, sichtlich genervt davon, dass sie es so deutlich aussprechen musste. Allerdings hatten sie sich eher leise unterhalten und der nächste Tisch war gute zwei Meter entfernt. Setos Kiefer klappte nach unten. Hatte sie ihm gerade wirklich gesagt, dass sie ihn für angenehme Gesellschaft hielt, weil er schwul war? War das denn so offensichtlich? Er dachte an das Abendessen am Vortag zurück. Hatte Martine mit ihrem Outfit lediglich ihre Vermutung bestätigen wollen? „Keine Angst. Ich glaube nicht, dass es den anderen Teilnehmern groß aufgefallen ist. Und es ist süß, wie Martines Neffe Sie umgarnt. Für die meisten ist das aber nur schmieriges Geschäftsgebaren. Also, was halten Sie von der neuesten Entwicklung im Bereich der Festplattenspeicher? Glauben Sie, dass es ihre Serverstrukturen nachhaltig effektiver gestalten wird?“ Bereitwillig griff er das Thema auf und hätte über ihre technische Diskussion fast den Gong überhört. Das kurz Gespräch hatte ihm erstaunlich Spaß gemacht. „Haben Sie vielleicht Lust, beim Essen weiter zu diskutieren?“, fragte er daher. „Gerne.“ Auf dem Flur trafen sie Chef, der ebenfalls zur Laufgruppe gehört hatte, „Joseph, ich gehe mit ... “ Er hatte noch nicht nach ihrem Namen gefragt. „ Mizuki.“ „Mit Mizuki essen. Du darfst dich aber gerne anschließen.“ „Wie großzügig von dir.“ Die Stimme des anderen Mannes triefte vor Sarkasmus. „Wieso nennen Sie ihn denn bei seinem vollständigen Vornamen?“ „Weil der liebe Kaiba hier, sich nicht traut, mich mit meinem Spitznamen anzusprechen und er nicht auf den Nachnamen zurückgreifen möchte“, versprühte Chef seinen Charme. „ Whee ... Chef, ich warne dich!“ „Wir sollten uns beeilen, damit wir noch einen großen Tisch bekommen. Makoto will sich bestimmt auch noch zu uns setzen.“ Mit dieser Prognose lag der Hotelmanager diesmal sogar richtig. Sie saßen mittig an einem der großen Tische, links von Seto saß Mizuki mit ihren Freundinnen, ihm gegenüber Chef und direkt neben diesem Makoto, der ihn davon überzeugen wollte, das Firmenlogo in die Teppichböden aller Büroräume zu integrieren. Nach ihm kamen weitere Bekannte von ihm und Chef, die sich einfach mit dazu setzten und ihre eigenen Gespräche führten. Eine Weile versuchte Seto mitzubekommen, was alles gesprochen wurde, war aber vollkommen überfordert mit der Situation. Selbstverständlich war er förmliche Essen mit vielen Teilnehmern gewohnt, doch dort saß man nicht so eng zusammen, die Etikette war strenger und die meisten seiner Tischnachbarn warteten darauf, dass er etwas sagte. Hier redeten alle durcheinander wie sie wollten. Das Salz wurde quer über den Tisch gereicht. Mancher Wortwitz war eindeutig nicht für die andere Tischhälfte bestimmt und wurde dort dafür umso begeisterter aufgenommen und kommentiert. Irgendwann merkte er, wie Chef besorgt über einen Caesar Salad zu ihm hinüber schaute. „Es ist alles okay“, antwortete er auf die ungestellte Frage. „Ich bin es ...“ „... einfach nur nicht gewohnt mit anderen zu essen. Aber gut, dass du es von alleine wolltest. Es ist ein Anfang.“ Seto kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Mizuki forderte seine Meinung zum Objektorientierten Oberflächendesign von Software ein. Offensichtlich sollte er eine Diskussion zwischen ihr und einer der anderen jungen Frauen schlichten. Doch seine Antwort machte alles nur schlimmer. Keine Minute später lachten die Freundinnen jedoch ausgelassen und fragten frech, ob er die Krawatten immer passend zu seiner Augenfarbe kaufe, was wiederum Makoto und sein „Gespür für Farben“ auf den Plan rief. Und schon war Seto wieder aus der Diskussion raus. Als er fertig gegessen hatte blieb er noch kurz sitzen, doch allmählich wurde es ihm zu viel. Er blickte kurz auf seine Uhr und stand dann auf. „Ich muss noch kurz ein paar Anrufe erledigen.“ Der Rest folgte ihm mit den Augen. Ein paar murmelten Verabschiedungen, die er nur halbherzig erwiderte. Wieder auf dem Flur sah er sich vorsichtig um. Wo könnte er hingehen, dass er keinem der anderen sofort wieder begegnete, sollten sie auch bald gehen? Die Mittagspause ging noch eine halbe Stunde und er führte sich erbärmlich auf. Er war Seto Kaiba und ergriff die Flucht! Er leitete seit über zehn Jahren einen Weltkonzern, richtete Veranstaltungen aus, die globales Interesse hervorriefen, brachte gestandene Geschäftsmänner zum Zittern. Aber sobald es nicht um Geschäftliches ging, versagte er offensichtlich. Das war kaum zum Aushalten! Statt seiner Wut mit einem Schrei Luft zu machen, spürte er eine Hand in seinem Rücken. „Ich kann dir einen Ort zeigen, wo du in Ruhe telefonieren kannst.“ Ohne Widerstand zu leisten, ließ er sich von Chef durch die Flure führen und stieg sogar mit ihm in den Aufzug. Als sich die Türen wieder öffneten, empfing ihn kalte Luft. Erschrocken fuhr er herum und blickte in den blauen Winterhimmel über der Dachterrasse. „Was soll ich hier draußen?“, schnauzte er seinen Entführer an, während er sein Jackett enger um den Körper zog. „Den Kopf etwas frei bekommen. Du warst bestimmt seit Tagen nicht mehr draußen. Komm hierher. Hier ist es wärmer. Wer hätte gedacht, dass ein Eisschrank frieren kann? Funktionieren die nicht, indem man die warme Luft absaugt?“ „Wheeler, übertreib nicht! Hier draußen ist es so kalt, dass mein Atem kondensiert. Und ich bin immer noch ein Mensch und kein Küchengerät!“ „Hat man vorhin gesehen“, antworte Chef schlicht und räkelte sich vor dem Gitter der Lüftung. Statt zu fragen, was er denn damit meinte, schwieg Seto und rückte etwas näher an ihn, um ebenfalls von der warmen Luft zu profitieren. „Wie oft kommst du hierher?“, wechselte er das Thema. „Mehrmals im Jahr. Meistens, wenn es im Hotel am Meer ruhiger ist. Dann ist hier nämlich in der Regel Hauptsaison und alle Zimmer sind wegen Veranstaltungen gebucht.“ „Ich meinte eigentlich die Terrasse. Rauchst du etwa?“ „Glaub mir, dass wüsstest du inzwischen längst. Aber so zu denken wie ein Raucher hilft manchmal tolle Orte zu finden. Bevor ich die Leitung übernommen habe, kam hier nur ab und zu einer der Haustechniker rauf. Inzwischen kann man hier über den Dächern der Stadt Sommerfeste feiern.“ Mit großen Schritten lief der Hotelmanager die Bohlen ab und erklärte dabei: „Hier steht die Bar. Dort der DJ, Hier ist eine Tanzfläche. Entlang dieser Kante stehen kleine Tische ... Es ist fantastisch! Auch wenn sie mir im wahrsten Sinne des Wortes aufs Dach steigen. Mein Zimmer ist direkt hier unten drunter. Aber zurück zu dir. Wieso bist du vom Essen geflüchtet?“ „Ich sagte doch“ „Ich habe gehört, was du gesagt hast, und gesehen, was du eigentlich meintest. Du bist so viel menschliche Nähe nicht gewohnt. Vor allem nicht von Fremden. Nicht wahr?“ Langsam kam er zurück zu Seto und stellte sich so nah neben ihn, wie er es gerade noch aushielt. Angenehm daran war eigentlich nur, dass er ihn nicht mehr ansah. „Wenn du schon alles über mich weißt, wieso fragst du dann überhaupt noch?“ , entgegnete Seto gereizt. „Weil du mich gebeten hast, dass ich dir helfe, jemanden für dich zu finden. Dafür musst du lernen, dich in der Nähe anderer Menschen wohl zu fühlen. Du musst ja nicht gleich auf jeden mit offenen Armen zu gehen, aber ein wenig offener solltest du schon werden, wenn du jemanden kennen lernen willst.“ „Dich habe ich doch auch kennen gelernt. Wieso reicht das nicht?“ „Weil ich für das, was du brauchst nicht zur Verfügung stehe.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Das hast du vorhin schon gesagt. Sag mir, wieso.“ Chef seufzte tief und strich sich die Haare nach hinten, mehr als Geste, denn aus Notwendigkeit. Dann fing er leise an zu sprechen: „Da du vermutlich eh keine Ruhe gibst, bis du es weißt. Ich war vor knapp einem Jahr verlobt. Er war toll, alles was ich mir je hätte wünschen können. Doch mein Unterbewusstsein war nicht zufrieden und verriet mich. Sagen wir einfach, ich bin nicht das Material für eine lange Beziehung. Darum bin ich keine Option für dich. Und darum... “ „Was hat dein Unterbewusstsein denn gemacht? Das klingt ja nicht so, als seist du fremd gegangen.“ „Nein. Anderes Thema.“ „Welche Fähigkeiten fehlen mir, deiner Meinung nach denn noch?“, fragte Seto daraufhin, versucht Chef nicht weiter zu necken oder gar zu verärgern. Das war neu für ihn. „Ich schreib dir während des nächsten Workshops eine Liste, okay? Naja, früher hätte ich gesagt, du musst den Leuten mehr zuhören. Aber wenigstens das scheint sich gebessert zu haben. Du musst versuchen, sie zu verstehen, zu verstehen, weswegen sie dieses oder jenes tun. Für sie da sein, wenn sie Hilfe brauchen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“ „Das tue ich eh nicht. Würde ich mich darauf verlassen, wäre ich mit meiner Firma nie so weit gekommen.“ „Und du musst aufhören, dich über deine Firma zu definieren“, schloss Chef resigniert. „Wieso? Neben Mokuba ist die KC seit Jahren das Wichtigste in meinem Leben. Man kann nicht von mir sprechen, ohne auch sie zu erwähnen! Ich verbringe dort meine meiste Zeit. Ich bin stolz darauf, was ich mit ihr bisher erreicht habe. Und sie ist ein fester Bestandteil meiner Zukunft. Mit der Verantwortung, die ich trage, bin ich meine Firma!“ Der andere verdrehte die Augen und antwortete: „Genau deshalb, musst du dir das abgewöhnen. Sonst wird immer nur der Status gesehen, den die Nähe zu dir bringt. Aber was macht den Menschen Seto Kaiba interessant? Ich weiß es seit vorgestern Abend, aber vor dem Rest der Welt versteckst du diesen Teil deiner Persönlichkeit. Es wollen dir nicht alle schaden, glaub mir.“ Zum Ende hin wurde seine Stimme sanft, doch Seto wollte davon nichts hören. „Was weißt du denn schon davon? Du bist vor sieben Jahren zufällig auf die Füße gefallen und seitdem ging es für dich nur aufwärts. Es wollen alle einem schaden oder ein Stück vom Kuchen. Die, die es nicht wollen, sind die Ausnahme! Wenn du willst, dass ich verweichliche, kannst du deine Tipps für dich behalten!“, schloss er barsch, machte auf dem Absatz kehrt, stieg in den Aufzug und drückte auf die Taste für den zweiten Stock, um wieder ins Kongressgebäude hinüber zu gelangen. War er schon spät dran gewesen, so konnte man bei Joseph Pegasus nur von einer Punktlandung sprechen. Er betrat zusammen mit dem nächsten Workshopleiter den Raum und ließ es so aussehen, als ob sie sich im Gespräch befunden hatten. Ohne Seto auch nur eines Blickes zu würdigen, setzte er sich auf einen Platz möglichst entfernt von ihm, während man versuchte zu erklären, weswegen ein gesunder Schlaf so wichtig war. Erstaunt stellte Seto fest, dass ihn die Situation sehr an ihre Schulzeit erinnerte. Auch dort hatte er immer möglichst weit hinten gesessen, damit er in Ruhe am Computer arbeiten konnte, ohne dass seine Mitschüler ihm auf den Monitor blicken konnten. Auch dort hatte Joey immer in seinem Blickfeld gesessen. Auch dort waren sie nicht in der Lage gewesen normal miteinander zu reden. Eine Tatsache, die zu einem großen Teil seine Schuld war, wie er inzwischen wusste. Nur am Rande bekam er mit, wie schädlich für das ruhige Einschlafen, die späte Arbeit am Bildschirm war. Er war in Gedanken damit beschäftigt, sich auszumalen, wie es hätte laufen können, wenn er früher gemerkt hatte, was er eigentlich vom Köter gewollt hatte. Sobald ihm das klar geworden war, war er zum „Hündchen“ aufgestiegen. Aber bereits damals war es schon zu spät für sie gewesen. Joey Wheeler war bereits aus Domino verschwunden. Hatte ihn ohne ein weiteres Wort zurückgelassen. Nein, das war nicht wahr. Er hatte sich mit sehr deutlichen Worten von ihm verabschiedet. Ihm aufs Gesicht zugesagt, dass niemand ihn je um seiner selbst willen lieben würde. Nicht einmal mit viel Zynismus war es ertragbar, dass nun ausgerechnet er ihm Tipps gab, wie er einen Partner finden könnte. Er wusste genau, wer er war, und dennoch hatte er ihm helfen wollen. Das Läuten des Weckers an die Schlafphasen anpassen. Keine schlechte Idee. Dafür ließ sich bestimmt etwas entwickeln. Nicht nur Büroangestellte, sondern auch scharenweise Eltern würden das dann kaufen, damit ihre Kinder morgens einigermaßen wach in der Schule saßen ... Hatte Chef vorhin nicht auch was gesagt wegen der Schule? Dass er bei ihm während der Schulzeit immer abgeblitzt war? Hieß das dann etwa, dass er bei ihrem letzten Gespräch damals einfach nur wütend gewesen war? Dass er ihm jetzt half, weil er genau wusste, dass man sich in ihn verlieben konnte? Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte den anderen zur Rede gestellt, doch es ging nicht. Er musste nicht nur an seinen Ruf denken, sondern auch noch erst herausbekommen, wie die Stimmung zwischen ihnen war, nachdem er ihn einfach auf dem Dach hatte stehen lassen. Nach Ende des Vortrags und einer kritischen Analyse ihrer Schlafzeiten, wollten alle schnell raus und der Todsünde -- Koffein -- frönen. Außerdem stand schon wieder ein Raumwechsel an. Seto ließ Chef, der sich mit dem Strom bewegte, zuerst raus, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Als er sich endlich etwas aus dem Pulk gelöst hatte und den Flur entlang ging, überholte Seto ihn mit großen, entschlossenen Schritten. Wie zufällig berührten sich dabei ihre Hände und ihm lief ein angenehmer Schauer den Arm hinauf. Doch die erhoffte Reaktion blieb aus und so ging er weiter, eher darauf bedacht sich nichts anmerken zu lassen, als auf den Weg achtend. „Hallo, Lion“ , hörte Seto eine weibliche Stimme hinter der nächsten Ecke. Neugierig blieb er stehen. „Ja, ich weiß, dass ich früh dran bin. Ich hab nur heute morgen noch geschlafen ... Ja, ich weiß, was du davon hältst, wenn ich bis in die Nacht arbeite, aber manchmal geht es nicht anders. ... Woher soll ich wissen, was dein Sohn macht? Mit Kindern in dem Alter kenne ich mich nicht aus! ... Doch, ich fürchte, dass macht sehr wohl einen Unterschied. Kann dir nur sagen, dass mir noch keine Klagen zu Ohren gekommen sind, und er immer noch von der neuen Duell Disc schwärmt. Vielleicht sollten wir bei seinem Geburtstagsgeschenk ... Hallo Clara, mein Schatz. Wie war die erste Woche zurück in der Schule? ... Aber die Hausaufgaben habt ihr gemacht, bevor ihr zu Izumi gegangen seid? ... Nein, Onkel Lion hat mir nichts verraten. ... Das klingt wundervoll! Jetzt freue ich mich noch mehr auf morgen. ... Ich dich auch. Aber weißt du was? Noch einmal schlafen, dann bin ich wieder bei euch. ... “ Seto hatte genug gehört. Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, drehte er sich um. Er hatte sich eh auf dem Weg zum Seminarraum verlaufen. So sehr hatte es ihn enttäuscht, dass sein Plan nicht aufgegangen war. In seiner Vorstellung hatte Chef seine Hand ergriffen und sie ... Ja, was denn nun? Eine Versöhnungs- und Liebesszene vor so vielen Leuten? Vor Schreck wäre er beinahe schon wieder falsch abgebogen. Der letzte Workshop des Tages beschäftigte sich mit der Körpersprache während Präsentationen und bestand aus sehr vielen praktischen Übungen. In Vierergruppen mussten sie kleinere Vorträge improvisieren und sich anschließend gegenseitig mitteilen, was ihnen aufgefallen war. Seto hatte versucht trotz aller Vorbehalte in eine Gruppe mit Chef zu kommen, doch er war so spät dran gewesen, dass er wieder weit entfernt von ihm saß und bis er sich zu ihm durchgekämpft hatte, war seine Gruppe voll. Also blieb er selbst bei drei eher ruhigen, ihm fremden Männern hängen, die ganz aufgeregt wirkten als sie merkten, wen sie da in der Gruppe hatten. Noch ziemlich unsicher schilderten sie in der ersten Runde ihren Arbeitsalltag. Das war eines der möglichen Themen, die von einer Folie vorgeschlagen wurden. Seto entschied sich spontan stattdessen davon zu erzählen, wie er sich bei den Prototypenentwicklung von der Außenwelt abkapselte. In Runde zwei, in der sie etwas zu ihren Hobbys erzählen sollten, fing er mit ernster Miene und den Regeln des Schachs an, bekam aber noch den Bogen zum Schwimmen hin und dass er jede Wasserrutsche in Kaiba-Land persönlich getestet habe. Das lockerte sichtlich die Atmosphäre und auch die drei anderen erzählten jetzt begeisterter von sich. Es kam Leben in ihre Augen und ihre Haltung wurde selbstbewusster. Plötzlich klangen Kanufahren, das Modellieren von Actionfiguren und Schafe züchten sehr interessant. Runde drei brach vollends das Eis. Seto machte diesmal nicht den Anfang, sondern sollte als Dritter vortragen. Zum Thema „Was stört Sie bei der Arbeit?“ fielen ihm eine Menge Dinge ein, aber sobald er die ersten beiden hörten, wie sie über dieses oder jenes jammerten, wurde ihm klar, dass er es eins zu eins wiederholen könnte. Ja, ihn nervten Inkompetenz, zu spät begonnene Meetings, erkalteter Kaffee und das Getuschel auf den Fluren. Aber was könnte er ihnen erzählen, was sie nicht selbst schon wussten? „Wissen Sie, was mich wirklich nervt?“, fing er einfach an. Sie hatten zuvor eingebläut bekommen, wie wichtig es war, ihre Zuhörer bereits zu Beginn mitzunehmen. Brav schüttelte daher seine Zuhörerschaft den Kopf. Früher hätte er vermutlich gesagt: „Dieser ganze Workshop.“ Jetzt sagte er stattdessen: „Wenn mein kleiner Bruder Musik hört! Früher hat er das zu jeder Tages- und Nachtzeit in voller Lautstärke getan. Selbst wenn ich einige Zimmer weiter bei der Arbeit saß, konnte ich die Musik bestens hören. Und leider ist unser Musikgeschmack etwas verschieden. Das hält bedauerlicherweise manche Lieder trotzdem nicht davon ab sich bei mir als Ohrwurm einzunisten. Besonders schlimm war einmal ein Lied einer Sängerin, das sich über Wochen in meinem Kopf hielt. Mein Bruder hatte zu dem Zeitpunkt schon längst auf ein anderes Album gewechselt, doch ich hatte ein Geschäftsessen mit einem amerikanischen Kunden. Und statt ihm nach dem Abend zu sagen, er werde von mir für die weiteren vertraglichen Details hören, sagte ich: Call me maybe!“ Die Mundwinkel zuckten gefährlich, aber noch waren sie sich nicht sicher, ob sie tatsächlich lachen durften. „Als Antwort bekam ich ein erstauntes Lächeln und die Aussage, er habe auch Teenager zu Hause“, beendete Seto trocken und erntete überraschend Szeneapplaus. Nicht nur von den dreien, sondern auch von zwei anderen Gruppen und dem Kursleiter. Dieser überschlug sich fast mit Lob für seine Rhetorik und sein nüchternes Auftreten, das in so wundervollem Kontrast zu dem Inhalt des Vortrages gestanden hätte. Er selbst wusste nicht so richtig, wie er die Situation einordnen sollte. In seiner Nähe lachte man nicht. Wenn überhaupt lachte man trotz ihm oder sehr höflich und gekünstelt. Über ihn zu lachen wagte niemand. Aber ein paar der Teilnehmer waren in Mokubas Alter und sie lachten tatsächlich, weil sie das Erzählte für lustig hielten. Ihn für lustig hielten. Der Respekt, den sie vor ihm gehabt hatten, war damit vermutlich auch hin. Doch auch hier sollte er sich irren. Am Ende des Kurses hörte er geflüstert, wie jemand ehrfurchtsvoll von seinem Stil Anekdoten zu erzählen sprach. Und auch derjenige aus seiner Gruppe, der fragte, ob er bei an der Abendveranstaltung teilnehmen würde, blieb auf respektvoller Distanz. Er verneinte jedoch und redete sich damit raus, dass er bereits andere Pläne hätte. Dann beeilte er sich auf sein Zimmer zu kommen, ohne sich noch einmal nach Chef umzudrehen. Trotz allem machte sich ein Gefühl von Euphorie in ihm breit, während er die aktuellen Zahlen der Wochen erneut durchging und die Ergebnisse der Entwicklungsabteilung kontrollierte. Auch legte er einen ersten Entwurf für den Schlafphasen-Wecker an und formulierte die Spezifikationen so, dass das Team gleich Montagmorgen mit den Arbeiten daran anfangen konnte. Das fesselte ihn so sehr, dass er zunächst das Klopfen an der Tür nicht hörte. Das Geräusch wurde lauter und schließlich konnte er es nicht länger ignorieren und stand auf. „Was...“ Vor der Tür stand Chef mit einem schiefen Grinsen. „Hatte ich's mir doch gedacht, dass du dich in dein Zimmer verkrochen hast und dich so vor der Party drückst. Darf ich rein kommen?“ Perplex wich Seto einen Schritt nach hinten und Chef schlüpfte in den Raum. Die Tür schloss er fest hinter sich. Neugierig sah er sich um, wie Seto sich eingerichtet hatte. War das rein berufliches Interesse? Nein, stellte er kurz darauf fest, nachdem zuerst er und dann der Inhalt des Kleiderschranks gemustert wurden. „Zieh mal das an“, drückte der unerwartete Gast ihm ein mitternachtsblaues Hemd in die Hand und setzte sich auf den Stuhl, an dem Seto kurz zuvor gearbeitet hatte. „Was machst du hier?“, gelang es diesem endlich zu fragen, ohne sich zu rühren. „Ich hole dich für die abendlichen Vergnügungen ab und bin der Meinung, dass du dort nicht im gleichen Outfit auftauchen solltest, das du den ganzen Tag an hattest.“ „Aber du hast mich den ganzen Nachmittag über ignoriert!“ Chefs Augen blitzen auf, doch er antwortet gespielt beiläufig: „Und du hast dich auch ohne meine Hilfe hervorragend geschlagen, Mister Ich-bin-CEO. Das muss belohnt werden. Und jetzt zieh dich um!“ Für einen kurzen Moment glitt Setos Blick zur Badezimmertür, doch dann entschied er sich für eine offensivere Strategie. Er legte das dunklere Hemd aufs Bett und begann langsam das andere aufzuknöpfen. „Und du denkst, etwas Ruhe und die Möglichkeit meine Ideen für neue Produkte festzuhalten, reicht nicht als Belohnung?“ „Nein. Wer hat außerdem gesagt, das die Belohnung für dich ist?“ „Ich könnte mich ja auch mit dir zusammen ausruhen.“ Zufrieden bemerkte er, wie Chefs Blick auf ihm lag, während er sich vom Stoff befreite, auch wenn er den Kopf schüttelte. „Bedaure, nein. Wenn du heute Abend nicht unter Leute kommst, war der Erfolg für die Katz.“ „Letzte Chance“, wiederholte der Stehende sein Angebot, während er sich wieder anzog und das Hemd bis oben schloss. Überraschend wurden da die Hände nach ihm ausgestreckt. Mit wenigen Schritten war er bei ihm. Das Zimmer war für seine Verhältnisse wirklich zu klein. Geschickt wurde er am Kragen nach unten und mit der freien Hand in einen Kuss gezogen. Die Lippen waren so sanft, dass ihm die Knie weich wurden, obwohl ein gewisser Nachdruck in ihnen lag. Und die Hand an seinem Haaransatz fühlte sich so wundervoll warm an, während die andere ... Erschrocken machte er sich los. „Was machst du da?“ „Nur ein paar Knöpfe auf. Jetzt sieht es perfekt aus.“ Hatte er ihn nur geküsst, um das Styling zu vollenden? Kritisch musterte Seto sich im Schrankspiegel. „Das ist viel zu aufreizend!“, befand er und knöpfte sich entschlossen wieder zu. „Als würde ich jemanden aufreißen wollen!“ „Auch nicht mehr, als diese schwarzen Rollis, die du früher immer getragen hast. Und was spräche dagegen? Wie oft befindest du dich in einem Raum voll hinreisender, erfolgreicher junger Männer, von denen bestimmt ein paar nicht im Geringsten abgeneigt wären? “ %s. Video, das ich heute gesehen habe I'm gay, but I'm not ... into fashion „Es ist nur so, dass ich es mir nicht erlauben kann. Weißt du, was los ist, wenn die Presse erfährt das ich schwul bin?“, stellte Seto klar und begann sich die passende, weiße Krawatte umzubinden. „Na und? Erstens erfährt die Presse nicht immer zwingend von so etwas. Von meinen früheren Partnern kann man in ihr fast nichts lesen. Und zweitens macht deine sexuelle Ausrichtung dich nicht zu einem schlechteren Menschen.“ „Ich bin der Chef eines Spielzeugherstellers!“ „Maximilion auch. Und er ist sogar mit dem, was er während des Königreichs der Duellanten getan hat, durchgekommen. Industrial Illusions geht es besser denn je.“ „Ja, aber auch nur, weil er direkt danach komplett von der Bildfläche verschwunden war!“ „Wohl eher, weil sich Martine des Problems angenommen hat.“ „Wie bitte?“ Beinahe hätte er den Knoten zu eng gezogen. „Martine hat ihn ... nennen wir es einfach monatelangen Hausarrest erteilt. Als sie heraus bekam, was er euch, aber auch Yugis Großvater angetan hatte, ist sie ziemlich ausgetickt. Das muss wohl das erste Mal gewesen sein, dass sie sich so offen gegen ihren Bruder aufgelehnt hat. Du solltest das Jackett auslassen. So kann man deutlich besser deine Rückansicht bewundern.“ „Und wenn ich nicht möchte, dass sie bewundert wird?“ „Dann wird es für dich noch schwieriger. So könnte ich dir wenigstens Hinweise geben, wer etwas zu lange auf dieses Prachtexemplar schaut“, zwinkerte Chef ihm verschwörerisch zu und half ihm dann doch in die Jacke. „Mein Po soll aber nicht betrachtet werden!“ „Wie soll man denn sonst wissen, worauf man sich freuen kann? Oder siehst du deinen Partner dabei lieber an? Dafür sind übrigens auch Spiegel klasse. Aber die hast du bestimmt schon gut verteilt in deinem Eispalast hängen.“ Aufgebracht drehte sich Seto zu ihm um und zischte: „Lass die Anspielungen, wenn du nicht vor hast, Teil davon zu sein!“ „Aber das sind keine Anspielungen, sondern alles ernst gemeinte Fragen! Über so was musst du dir im Klaren sein, bevor du ... “ Der Groschen fiel. „Ja, du hast Recht. Lass lieber niemand diesen wundervollen Körper zu genau betrachten, solange du noch nicht einmal weißt, ob du lieber unten oder oben bist. Nach dir, Grünschnabel.“ Galant öffnete der Hotelmanager die Zimmertür und Seto rauschte mit sichtlich geröteten Wangen an ihm vorbei. Wie bereits vor drei Tagen war der Saal voll mit Menschen, doch die Atmosphäre hatte sich geändert. Sie war deutlich gelöster, jetzt wo Bekanntschaften erneuert und vertieft worden waren und der Kongress fast vorbei war. Manche sahen die Abendveranstaltung aber auch sichtlich als Möglichkeit zum Vorglühen, bevor sie zum eigentlichen Feiern das Gebäude verließen. Seto nahm sie sich zumindest in der Hinsicht als Vorbild, dass er jetzt dringend etwas Alkoholisches brauchte. Zwar schien sein Wunsch der letzten Jahre wahr zu werden, und Joey Wheeler, wollte tatsächlich etwas von ihm, aber er wurde den bitteren Beigeschmack irgendwie nicht los. Gerade wollte er an der Bar ein Glas Wein ordern, als er Mizukis Stimme hörte: „... Ich habe bereits Herrn Kaiba hier den ersten Tanz versprochen.“ Er sah gerade noch aus dem Augenwinkel, wie ihm finstere Blicke zugeworfen wurden, dann zog ihn seine Bekannte auf die halb gefüllte Tanzfläche. „Entschuldigen Sie bitte, Sie waren meine einzige Hoffnung, irgendwie da weg zu kommen“, flüsterte sie, während sie so viele Tänzer wie möglich zwischen sich und die Bar brachten. Seto ergriff derweil die Panik. Um eine größere Blamage zu vermeiden, antwortete er ebenfalls leise: „Und ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich kann nur Standardtänze.“ „Umso besser! Da kommt wenigstens keiner auf die Idee, dass er mich antanzen könnte!“ Als sie mit ihrer Position zufrieden war, hielt sie an und hob anmutig die Arme. Auch wenn sie ein ganzes Stück kleiner war als er selbst, hatte Seto keine Probleme sie in Disco Fox und Jive zu führen. Anscheinend um die Menge anzuheizen, wurden keine langsamen Stücke gespielt. Seine Tanzpartnerin hatte ihren Blazer gegen ein langärmeliges, aber luftiges Oberteil getauscht, doch ihm selbst wurde nach einer halben Stunde zunehmend wärmer. „Was halten Sie davon, wenn wir eine kleine Pause einlegen?“, sprach er die ersten Worte seitdem sie begonnen hatten zu tanzen vorsichtig aus. Seine Kehle war trocken. „Meinetwegen. Wir werden sowieso schon die ganze Zeit von dort drüben beobachtet.“ „Dort drüben“ stellte sich als ein Stehtisch heraus, an dem Makoto und Chef standen. Zuvorkommend drückte jener ihnen Gläser mit Mineralwasser in die Hand und schaute beeindruckt, als Mizuki ihr Getränk in einem Zug austrank. „Danke“, meinte sie schlicht und schob sich dann so zwischen die beiden, dass Seto unmittelbar neben Chef stand. Leicht außer Atem nippte er am Glas, während er die Krawatte lockerte und wider besseren Wissens sein Jackett auszog. In Ermangelung eines Stuhls legte er es quer über den Tisch. „Ihr habt ja ein sportliches Programm vorgelegt.“ „Nächstes Mal höre ich von Anfang an auf dich“, grummelte Seto halblaut und trank sein Glas aus. „Makoto und ich haben überlegt, ob wir uns euch anschließen.“ „Du hast überlegt. Ich lehne es immer noch ab. Meine Kondition reicht wenn überhaupt gerade mal für einen Tanz.“ „Wie sieht es bei Ihnen aus?“ Mizuki schüttelte so heftig den Kopf, dass die halblangen dunkelbraunen Haare um ihren Kopf flogen. „Ich verzichte dankend! Aber ich kann meinen Tanzpartner empfehlen.“ „Darf ich erst einmal wieder zu Atmen kommen, bevor Sie mich weiterreichen?“ „Ach, so erschöpft sehen Sie gar nicht aus. Aber wenn Sie möchten, hole ich die nächste Runde Getränke, und dann können Sie es sich ja nochmal überlegen.“ Sie lächelte ihn vielsagend an und ging hinüber zur Bar, in deren Nähe sie sich wieder befanden. Seto bemerkte währenddessen, dass Makoto ihn wissbegierig musterte. „Darf ich fragen wie Sie es angestellt haben, eine der wenigen Frauen hier im Saal abzubekommen?“, hielt er es schließlich nicht mehr aus. „Sie hat mich aufgefordert. Ich war wohl das kleinere Übel.“ „Sie können immerhin tanzen. Das muss der Neid ihnen lassen. Machen Sie das öfter?“ „Nur ein paar Mal im Jahr, wenn ich muss. Ich richte jedes Jahr einen Frühjahrsball aus, bei dem ich als Gastgeber mit gutem Beispiel vorangehe. Und dann gibt es natürlich noch Veranstaltungen wie heute.“ „Chef, hör auf so zu zappeln. Ich werde hier gerade in das Geheimnis eingeführt wie man tolle Frauen anzieht.“ „Auf jeden Fall nicht so wie du vielleicht denkst“, erwiderte der Hotelmanager spitz und wippte weiter im Takt der Musik. „Ach, was soll's. Seto, komm mit!“ Ohne die geringste Chance zur Gegenwehr wurde Seto am Arm zurück auf die Tanzfläche gezogen. Panisch blickte er sich um, doch auf der Tanzfläche hatten sich inzwischen schon andere rein männliche Paare gefunden -- neben Mizuki waren keine drei Frauen im Saal -- und so schenkte niemand ihnen groß Aufmerksamkeit. Das war auch besser so, denn allein dadurch, dass sein Vorname verwendet worden war, schlug Setos Herz schneller. Wie zuvor Mizuki hob Chef seine Arme, nur mit dem Unterschied, dass er größer als sein Tanzpartner war. Unschlüssig machte Seto die ersten Schritte und stellte bald fest, dass der andere problemlos folgen konnte. „Woher kannst du das?“ „Tanzen oder die Damenschritte?“ „Beides.“ Sie begannen eine Drehung zu deren Ende Chef in seinen Armen lag. Einen kurzen Moment schmiegte er sich an, dann drehte er aus und erklärte: „Das eine ist gesellschaftliche Konvention, das andere purer Spaß an der Freude. Du führst übrigens gut. Das könnte dir auch bei anderer Gelegenheit zu Gute kommen. Aber wenn du magst übernehme ich mal.“ Setos Züge entgleisten und er kam kurz aus dem Rhythmus. „Keine Angst. Bleib bei den Herrenschritten. Wie sagte schon Ginger Rogers? Als Partnerin von Fred Astaire habe ich immer die gleichen Schritte wie er gemacht. Aber rückwärts und mit hohen Absätzen.“ Der Wechsel war subtil und von außen vermutlich nicht sichtbar, aber Seto spürte es. Die Signale waren klar und eindeutig und lotsten ihn sicher durch Schrittfolgen, an die er sich nur noch äußerst vage erinnerte und von sich aus nie eingebaut hätte. „Besser. Auch wenn du nicht schlecht geführt hast. Aber so kann ich einfacher schauen, was um uns passiert.“ „Wieso das denn?“ „Du schwingst diesen absolut hinreißenden Hintern seit fast einer Stunde übers Parkett. Da müssten sich inzwischen ein paar Interessenten gefunden haben. Es ist eh ein Wunder, dass ich noch nicht längst abgeklatscht wurde...“ Und wieder kam Seto aus dem Takt. „Ich will aber keinen anderen Tanzpartner. Es ist schon schlimm genug, dass ich überhaupt mit einem Mann tanzend gesehen werde. War das nicht der Grund weswegen Makoto abgelehnt hat?“ „Nein, er hatte letztes Jahr einen Bänderriss und macht daher langsam. Davor wäre er nicht zu halten gewesen. Und entspann dich. Wir sind nicht die einzigen, die zusammen tanzen - obwohl wir die einzigen mit Klasse sind“, fügte er nach einer weiteren Drehung hinzu. Erstaunlicherweise half diese Äußerung etwas und Seto begann die Situation zu genießen. Denn genau genommen hielt er vor aller Augen die Hand seines Schwarms, ohne dass etwas dabei war. Plötzlich änderte sich die Musik zu etwas Ruhigerem und Chef blieb fragend auf Abstand, seine Rechte noch in Setos Linker. Dieser verstand und überlegte kurz. Es war seine Chance auf mehr Körperkontakt, doch so vor den Augen anderer wollte er das nicht. Er machte eine Kopfbewegung zu ihrem Tisch und fragte: „Was willst du trinken? Wein?“ „Bin ich ein Pegasus?“ Doch er hielt ihn am Arm zurück. „Kleiner Scherz. Beginnen wir mit einer Kirschschorle. Wäre schade, wenn ich den Wein gegen den Durst trinke.“ Sie trennten sich. Die Bar war zum Glück nicht mehr so belagert und der Barkeeper dahinter erledigte schnell die Bestellung. Auf dem Rückweg zum Tisch wurde Seto jedoch aufgehalten. Der Kursteilnehmer vom Nachmittag schob sich ihm leicht in den Weg und begrüßte ihn überschwänglich: „Wie schön, Sie doch hier zu sehen!“ „Ja. Es war ein recht spontaner Entschluss“, erwiderte Seto kurz angebunden. Er wollte möglichst schnell zu Chef zurück. Denn wer wusste, was sich aus ihrem Tanz noch ergeben konnte? „Sind das nicht eh die Besten? Sie haben übrigens toll beim Tanzen ausgesehen. Wenn Sie nachher Lust haben... Ich habe den Tanzkurs bis zum Gold Start gemacht.“ Seto, der eigentlich nach Makoto geschielt hatte, um zu wissen, in welche Richtung er gehen musste, wandte nun seine vollkommen Aufmerksamkeit dem ungebetenen Gesprächspartner zu. Dieser war ein absoluter Durchschnittstyp, langweilige braune Haare, dunkle Augen, weder sonderlich groß noch klein, kein weiteres Merkmal stach an ihm ins Auge. Das Interessanteste war noch das magentafarbene Einstecktuch. „Ich glaube nicht. Ich hatte nur eine Wette verloren“, erklärte der CEO der Kaiba Corporation ihm und hoffte, dass damit auch geklärt war, dass er keinerlei Interesse hatte. Es befriedigte ihn zwar, dass Chefs Plan aufging, doch etwas an der Art des anderen stieß ihn ab. Schnellen Schrittes ging er weiter und stellte die Getränke auf dem Tisch ab. Obwohl ihm noch viel zu heiß war, zog er sein Jackett wieder an. Dann fragte er an Makoto, der alleine rumstand, gewandt: „Wo ist Chef?“ „Nur kurz raus. Sollte gleich wieder da sein. Gab es gerade Probleme?“ Seto folgte seinem Blick zurück und sah wie sein neuer Bekannter finster gemustert wurde. „Nein. Es wurde nur eine Theorie von Chef bestätigt.“ „Ja, gruselig womit er alles Recht hat. Wie lang kennen Sie sich eigentlich schon?“ „Seit der Schulzeit. Wir waren einige Jahre auf der gleichen Schule, haben uns aber nach dem Abschluss aus den Augen verloren. Davor ist er auch in einem paar meiner Duelle angetreten“, antwortet Seto wahrheitsgemäß. „Stimmt. Komisch, dass mir der Gedanke nie kam. Aber das erklärt es natürlich“, murmelte Makoto und starrte versonnen in sein Glas, bevor er trank. „Wie meinen Sie das?“ „Nun ja. Ich bin mit Chef erst seit einiger Zeit befreundet und“ , druckste er nun verlege, „als Ryan sich damals von ihm getrennt hat klangen die Anschuldigen etwas an den Haaren herbeigezogen. Aber jetzt, wo ich Sie so vor mir sehe, macht es irgendwie Sinn.“ „Macht was Sinn?“ Statt auf die Frage zu antworten, trank Makoto einen weiteren großen Schluck. Doch der Tonfall war so schneidend gewesen, dass er sein Smartphone herauszog. „Bitte trinken Sie etwas.“ Seto gehorchte und leerte das halbe Glas, bis der andere das gefunden hatte, was er offensichtlich gesucht hatte. Wortlos schob er ihm das Gerät hin. Das Display zeigte zwei Männer, die liebevoll die Arme um einander gelegt hatten und in die Kamera strahlten. Den einen erkannte er inzwischen problemlos als Joseph Pegasus. Der andere war etwas kleiner, war brünett und hatte blaue Augen. Doch es gab noch mehr Details. Das schmale Gesicht, die hervorstehenden Wangenknochen. Das da auf dem Bild war er! Und doch wieder nicht. Im Durchgang stieß er mit Joseph zusammen. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten oder gar langsamer zu werden, packte er ihn am Arm und befahl: „Mitkommen!“ Kaum waren sie außer Hörweite der Feiernden, fragte er: „Wer ist Ryan?“ „Woher kennst du diesen Namen?“, wollte der Blonde seinerseits aufgebracht wissen. „Wer ist Ryan?“, wiederholte Seto und sah ihm dabei fest in die Augen. Oh ja, er konnte immer noch eisig schauen, wenn er wollte. Auch wenn in ihm aktuell ein Feuer loderte, dessen Ursprung er noch nicht zuordnen konnte. „Wer ist Ryan? Sag es mir!“ „Mein ehemaliger Verlobter. Verdammt! Du solltest diesen Namen noch nicht einmal kennen!“ „Und wieso nicht? Weil ... “ , überkam Seto ein schrecklicher Gedanke, „ich eine Art Ersatz bin? Eine billige Kopie? Ging es dir die ganze Zeit darum? Warst du deswegen nett zu mir und wolltest mir helfen? Weil du Arsch deine Gewissensbisse mit mir beruhigen wolltest? Frei nach dem Motto, wenn ich Kaiba helfe, helfe ich eigentlich meinem Ex und mache meinen Seitensprung ungeschehen? Seht her! Ich verkuppel meinen Ex und damit bin ich fein raus?“ „Halt's Maul! Was weißt du denn schon? Wie oft habe ich dir in den letzten drei Tagen gesagt, dass ich keine Beziehung mit dir will?“ „Gesagt hast du vieles, aber mich doch jedes Mal wieder angemacht! Scheint so, als hätte es dein Stolz nicht verkraftet, abserviert zu werden. Ganz ehrlich, ich kann ihn verstehen. Mit so einem würde ich auch nicht“ „Ich sagte du sollst still sein!“ Seto war vom Anblick, den sein ehemaliger Mitschüler bot so erschrocken, dass er gehorchte. Weder Joseph Pegasus noch Joey Wheeler hatte er je so erlebt. Er zitterte am ganzen Leib als hätte er alle Mühe sich zu beherrschen. Das Gesicht war fleckig rot und seine Augen verströmten eine Kälte, auf die ein anderer Seto Kaiba neidisch gewesen wäre. „Du denkst es drehe sich hier alle um dich, oder? Einen Scheißdreck tut es das! Du hast mir einfach nur Leid getan und ich dachte, du hättest dich wenigstens ein bisschen geändert! Aber da lag ich wohl falsch. Zu deiner Information: Weder du noch Ryan seid Kopien voneinander! Er ist so viel besser als du! Das wissen alle, die jemals beide von euch kennen gelernt haben! Und ja, ich bin in der Lage hinter die Fassade einer attraktiven Hülle zu sehen! Aber du minderwertiges Stück Dreck musstest dich ja in meine Träume schleichen! Musstest mir alles zerstören, weil mein jüngeres Ich noch an dir hing! Um eine Sache all für eine Mal klar zu stelle: Ich habe mich mit dir nicht wegen sondern trotz meiner gescheiterten Beziehung abgegeben!“ Für einen kurzen Moment dachte Seto, dass ihm reale Schläge lieber gewesen wären. Denn dagegen hätte er sich wehren können. Doch diese Gnade wurde ihm nicht gewährt. Stattdessen traf ihn jeder Satz dort, wo allgemein das Herz vermutet wurde. Und mit jedem Treffer bekam etwas in ihm Risse, bis es schließlich vollends zersprang. Die Hitze, die zuvor in ihm gelodert hatte, verpuffte wie Wasser, dass auf einen heißen Stein traf. Doch in seinem Fall siegte das Wasser. Im Angesicht des Hasses, der ihm von seinem Hündchen entgegenschlug, war das Letzte, was er wollte, schwach zu wirken. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Augen feucht wurden. „Dann lass mich doch einfach in Ruhe!“, schleuderte er dem fremden Mann entgegen und lief los. Er sollte, nein, durfte ihn nicht so sehen. Verletzlicher als ihn je ein anderer Mensch gesehen hatte. Er hörte keine Schritte hinter sich. Dennoch beschleunigte er seine eigenen, bis er schließlich rannte. Er wollte auch nicht riskieren beim Warten auf den Aufzug eingeholt zu werden, also stürmte er die Treppe im Hotel hinauf, obwohl ihn das vermutlich langsamer machte. Alles in ihm schrie und befahl ihm, aus diesem Hotel, dem Hoheitsgebiet dieses Mannes zu fliehen. Aber als er endlich in seinem Zimmer anlangte hatte, reichten seine Kräfte nur noch dazu die Tür hinter sich zu verbarrikadieren, bevor er vollends zusammenbrach. Kapitel 4: Aller Guten Dinge sind vier -------------------------------------- Er wusste nicht wie spät es war, als er auf dem Boden wieder zu sich kam, doch draußen war es noch dunkel. Das hatte im Winter jedoch nicht viel zu heißen. Benommen stand er auf und taumelte ins Badezimmer. Im Dunklen stellte er das Wasser auf eiskalt und klatschte sich mehrere Hand voll davon ins Gesicht. Dass sein Anzug davon etwas abbekam, war ihm egal. Sein Zustand war sowieso fragwürdig. Seto wusste nicht mehr genau, was er alles getan hatte, bis ihn endlich die Erschöpfung übermannte. Er schaltete das Licht ein und blinzelte heftig. Sein Spiegelbild tat es ihm nach und bedachte ihn mit einem Blick, der Bände sprach. Er hatte selten so scheiße ausgesehen. Die Augen waren trotz des Schlafs stark gerötet, seine Haare standen wirr von seinem Kopf, der Mund war eine schmale, verbissene Linie und auch der Rest von ihm wirkte wie eine hohle, leere Hülle. Er schaltete das Licht wieder aus, tapste zurück in das Zimmer und riss das Fenster auf. Kalte Nachtluft schoss ihm entgegen als hätte sie nur darauf gewartet auch die restliche Wärme um ihn herum zu vertreiben. Das Fenster offen lassend, sank er auf den Stuhl, auf dem noch vor wenigen Stunden ein anderer Mann gesessen und ihn geküsst hatte. Er wusste nicht mehr, wie er ihn bezeichnen sollte. Wheeler? Pegasus? Joseph? Ihm war nur klar, dass weder „Joey“ noch „Hündchen“ passend gewesen waren. Weder waren sie Freunde, noch war er etwas Niedliches, das so warme Gefühle in einem weckte, dass man es unbedingt knuddeln wollte. Hunde stammten von Wölfen ab, fiel es Seto wieder ein. Und dieser Wolf hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er höchstens geduldet war. Seine Stirn traf die Tischplatte, während seine Arme weiter darauf entlang glitten. All seine Hoffnungen hatten sich in Schall und Rauch aufgelöst. Und dabei hatte er ihn sogar noch gewarnt, ihm wiederholt gesagt, dass er nicht der Richtige für ihn war. Wie hatte er es überhaupt mit ihm im gleichen Raum ausgehalten? Wie hatte er so mit ihm sprechen können? Ihm Mut machen können, dass er jemanden finden könnte, der für ihn da war. Ihn liebte? Hatte er ihm nicht selbst dieses jemands beraubt? Er wusste, dass er bei vertauschten Rollen nicht so ruhig hätte bleiben können. War dieser Ryan wirklich so viel besser als er? War es ihm gelungen Chef das zu bieten, was er selbst Joey nie hatte bieten können? Ihn glücklich zu machen? Träge tastete er nach dem Notebook und klappte es auf. Zwischen Display und Tastatur war ein zusammengefalteter Zettel geklemmt. Statt sich darüber zu wundern, schob er ihn einfach beiseite. Er hatte wichtigeres zu tun. Joseph Pegasus. Partner. Wenn man wusste, wonach man suchen musste, fand man es tatsächlich. Keine zwanzig Artikel, vielleicht die Hälfte erwähnte auch einen gewissen Ryan. Alle enthielten irgendwelche Bilder und reißerische Überschriften. In den älteren wurde der junge Pegasus als ziemlicher Playboy dargestellt. Später wurde mehr auf das frische Liebesglück und spekulative Zukunftspläne abgezielt. Zwei äußerst widerwärtige Artikel unterstellten jedoch fleischliche Beziehungen zu den Geschwistern Pegasus - gleichzeitig. Ihnen war eine erfolgreiche Klage wegen Verleumdung gefolgt. Seto fiel wieder das Abendessen in der Owner-Suite und das zufällig mitgehörte Gespräch ein. Dann dachte er an sich und Mokuba. Mit Nachdruck schloss er die Browserfenster und wandte sich den Bildern der restlichen Artikel zu. Die Behauptung, er würde mehr als nur die Hülle sehen, stand in einem gewissen Kontrast zu der Tatsache, dass alle Männer an seiner Seite brünett waren und blaue Augen hatten. Hatte er selbst einst einfach nur in ein Schema gepasst? Schließlich hatte er wenig getan, um positive Gefühle zwischen ihnen zu bestärken. Eher im Gegenteil. Resigniert ließ er die Finger von der Tastatur gleiten und streifte dabei abermals den gefalteten Zettel. Dieses Mal nahm er ihn im fahlen Bildschirmlicht jedoch genauer unter die Lupe. In ordentlicher, ihm fremder Schrift stand darauf „Seto“. Er entfaltete das Papier. Auf einer Seite stand außer seinem Namen in einer Ecke nur die unterstrichene Überschrift „Woran du noch arbeiten musst“. Auf der anderen stand „Worin du bereits gut bist“. Er beugte sich weiter vor, um die darauf folgende Liste besser lesen zu können. Worin du bereits gut bist: - Ehrlichkeit - auch wenn du es regelmäßig damit übertreibst - ein großer Bruder zu sein - Zuverlässigkeit - Eloquenz - schwarzer Humor - die beste Spieltechnik zu entwickeln - Lösungen finden, auf die kein anderer kommt - medizinisch fragwürdiger Kaffeekonsum - ein zweitklassiger Duellant zu sein - an Martine und Yugi wirst du nie vorbeikommen - nach außen hin stärker zu wirken als du vermutlich bist, wenn es die Situation erfordert - mich zu motivieren, die beste Version meiner selbst zu sein - andere zu überraschen - Zuhören - mich daran zu erinnern, was ich früher an dir mochte - es wert zu sein, geliebt zu werden Ungläubig las er die Liste ein zweites, ein drittes und sogar ein viertes Mal. Der Inhalt veränderte sich nicht. Fassungslos starrte er auf den letzten Punkt. Anders als an den Vortagen begannen sie nicht ihren Tag gemeinsam, sondern mit dem jeweils letzten Workshop. Seto war müde auf eine Art und Weise gegen die selbst pures Koffein nicht mehr angekommen wäre. Irgendwie hatte er es geschafft noch drei Stunden im Bett liegend zu schlafen, allerdings wenig erholsam. Er probierte es daher doch mit Kaffee. Missmutig stellte er beim Einschenken fest, dass ihn bereits der einfache Becher an ihn erinnerte. Keine vier Stunden und er wäre erlöst. Im nüchternen Licht des Morgens hatte er beschlossen, nicht vorzeitig abzureisen, sondern das Pflichtprogramm durchzuziehen. Nur das Mittagessen würde er auslassen. Die Kursgruppe war klein und enthielt glücklicherweise niemanden, mit dem er in den letzten Tagen näheren Kontakt gehabt hatte. Nur mäßig interessiert lauschte er, wie man Essenseinkäufe plante. Er war sich sicher, dass Mokuba dieses Thema für ihn ausgewählt hatte. Vermutlich, damit er sich einen Eindruck davon bekam wie schwierig es war für ihn zu kochen. Denn für gewöhnlich hatte er keinen Hunger, aß eben das, was da war, und wenn er tatsächlich mal etwas explizit wollte, war es so ausgefallen, dass sie es natürlich nicht im Haus hatten und er auswärts essen ging. Ab und zu machte er sich noch Notizen, doch eigentlich hörte er ab der Erläuterung zur Haltbarkeit verschiedener Lebensmittel nicht mehr zu. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu den vergangenen drei Tagen zurück und ließen in verzweifeln. Nach zwei quälend langen Stunden gingen sie geschlossen hinunter zum großen Saal, in dem der Abschlussvortrag stattfinden sollte. Kurz vor ihrem Ziel, ließ sich Seto zurück fallen. Er hatte keine Lust sich unnötig lange unter so vielen Menschen aufzuhalten, besonders da er nicht wusste wie viele von ihnen die Geschehnisse zwischen ihm und ... Joesph Pegasus mitbekommen hatten. Unweit von drei Männern, die lustlos im Flur standen, zückte er sein Smartphone und las die letzten E-Mails. Er versuchte ihre Stimmen auszublenden, doch das Gespräch wurde hitziger und vor allem einen von ihnen konnte er nicht überhören. „Ich bin so froh, wenn ich hier endlich weg kann! Aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich mich dieses Jahr hier blicken lasse. Es ist schon schlimm genug, dass Steve dieser Schlampe und ihrer Familie in den Arsch kriecht, seit er weiß das sie eine ach so großartige Pegasus ist. Habt ihr ihre Bälger mal gesehen? Die sehen ihrem feinen Herrn Neffen doch viel ähnlicher als ihm! Aber angeblich sei der Vaterschaftstest eindeutig. Und selbst wenn er es nicht mit ihr treibt, ihren Bruder hat er bestimmt nicht von der Bettkante geschubst. Wie der Typ schon herum stolziert! Der bildet sich was ein, nur weil der den Richtigen die Schwänze gelutscht hat! Ohne das Geld und den Namen wäre der doch gar nichts!“ Bei Seto flog eine Sicherung raus. Mit wenigen Schritten war er bei der Gruppe und blickte abweisend auf den Verursacher des Lärms herab. Mit gefährlich ruhiger Stimme begann er: „Schönen guten Tag. Wir wurden uns bisher noch nicht vorgestellt. Ich bin Seto Kaiba. Ihr Vater produziert seit Jahren für die Produkte meiner Firma die Computerchips. Normalerweise würde ich sagen, angenehm. Aber nach dieser Showeinlage werden sie von meiner Sales-Abteilung hören. Ich kündige hiermit sämtliche Verträge auf.“ „Aber ...“, stammelte der andere, der bereits jetzt sichtlich geschrumpft war. Doch Seto war gerade erst dabei in Fahrt zu kommen: „Wie Sie vielleicht wissen, ist mir ein familienfreundliches Image der Kaiba Cooperation wichtig. Wenn ich aber hören muss wie von einem meiner Zulieferer ein modernes Familiensystem herunter gemacht wird, geht das zu weit! Es ist heute eher die Ausnahme, dass Kinder mit beiden Elternteilen aufwachsen und für jeden ihrer Fehler sogar noch gepampert werden, bis sie endlich den Familienbetrieb übernehmen können. Natürlich ist es erstaunlich, dass ein Cousin, der sich um die Kinder seiner Tante kümmert, mehr ein Vater für sie ist, als derjenige der sie schwanger sitzen ließ und sich noch nicht mal am Geburtstag meldet. Bei zehn Vaterschaftstests in verschiedensten Laboren liegt die Wahrscheinlichkeit für ein False-Positive-Ergebnis außerdem bei fast null. Was ihren bestimmt wundervollen Freund zu einem rückgratslosen Egoisten macht. Martine Pegasus ist übrigens eine großartige Mutter, die trotz der Belastung von zwei Jobs immer Zeit für ihre Kinder hat! Wenn Sie ihnen so zuwider ist, dann seien Sie wenigstens so ehrlich zu sich selbst und verschwinden von hier! Sie Schmarotzer verpesten hier nur die Luft. Maximilion Pegasus würde Sie vermutlich mit Insektiziden von seiner Bettkante vertreiben, sollten sie dort auftauchen. Und was seinen Sohn anbelangt. Joseph Pegasus hat bereits vor seiner Adoption mehr geleistet als Sie in ihrem ganzen Leben erreichen werden. Also gehen Sie mir mit Ihrer ätzenden Durchschnittlichkeit gefälligst aus den Augen!“ Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Alle drei nahmen die Beine in die Hand - zu Setos großer Genugtuung direkt in Richtung Hotel. Zufrieden mit sich rief er ihnen hinter her: „Und richten Sie bitte schöne Grüße an Ihren Vater von mir aus!“ Mit noch rasendem Puls drehte er sich um, um seinen Koffer zu holen, und starrte in glühende, braune Augen. Besagter Joseph Pegasus lehnte an der nächsten Durchgangstür und musterte ihn von oben bis unten. Schließlich sagte er: „Diese verbalen Exekutionen sind bestimmt nicht gut für Ihren Blutdruck, Mister Kaiba. Sie sollten dringend mal Urlaub machen! Falls Sie noch immer einen Rückzugsort im Februar suchen, kommen Sie doch einfach an mein Hotel am Meer.“ Damit ging er durch die Tür und Seto stand nun vollkommen allein auf dem Flur. Hektisch rannte er ihm nach. „Warte!“, rief er mit der schweren Tür kämpfend. „Ich weiß nicht, wem ich glauben soll. Deinen Aussagen gestern Abend oder dem Zettel, den du mir dagelassen hast.“ Chef drehte sich um und ging wieder auf ihn zu. „Was sagt dein Herz dir?“ Seto starrte ihn mit großen Augen an. Der Hotelmanager beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn sanft.„Wir sehen uns im Februar.“ Er wollte sich bereits vollends von ihm lösen, doch Seto ließ es nicht zu. Der Koffer knallte auf den Boden, während er ihn mit beiden Händen zu sich zurück zog. Ihre Lippen trafen sich ein zweites Mal und er spürte wie starke Arme ihn umschlangen. Vorwitzig schob er seine Zunge in den Mund des anderen und stieß augenblicklich auf ihr Pendant. Sie umkreisten sich, während die Hände zu den Armen mutiger wurden und auf Wanderschaft seinen Rücken hoch und runter gingen. Ein sanfter Kniff in den Po ließ ihn aufstöhnen. Als er ihren Kuss wieder aufbauen wollte, schob ihn Chef jedoch sanft von sich. „Nein, du kommst zu spät zum Abschlussvortrag.“ „Meine Pünktlichkeitsstatistik ist mit gerade ziemlich egal“, erklärte ihm Seto bestimmt. Er hatte verführerisch klingen wollen, doch seine Stimme war seltsam nach oben gerutscht und so klang es nun fast bettelnd. „Okay. Ich komme zu spät. Was leider auffallen wird. Komm mit!“ Der Schirmherr zog ihn weiter den Gang hinunter und um einige Ecken. Vor einer unauffälligen Tür ließ er ihn los. „Durch die Tür kommst du direkt in den Saal. Auf dieser Karte findest du meine Kontaktdaten.“ Ein letztes Mal nahm er Setos Gesicht zwischen seine Hände und küsste ihn, wobei er mit der Zunge über dessen Lippen fuhr. „Oh ja, ich freue mich auf Februar“. stellte er fest, als er die Klinke herunterdrückte und Anstalten machte Seto durch die Tür zu schieben. „Böses Hündchen!“, entgegnete Seto leise. Die Tür schloss sich hinter ihm und er musste feststellen, dass er tatsächlich direkt die wohlbekannten Sitzreihen vor sich hatte. Die meisten Plätze waren bereits belegt. In der Hoffnung auf einen freien Platz weiter vorne machte er sich auf den Weg, wurde aber bereits nach drei Reihen in die linke Hälfte hineingezogen. Mizuki hatte über zwei andere Teilnehmer hinweg nach seinem Handgelenk gegriffen und bugsierte ihn auf den freien Platz neben sich. Seto behielt seinen Koffer wohlweislich auf dem Schoß. „Entschuldigen Sie den Überfall, aber vorne ist schon alles dicht“, erläuterte sie und betrachtete ihn genauer. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen so ...“ „Ja, alles in Ordnung. Ich habe nur gerade meinen Chip-Zulieferer gefeuert. Sie wüssten nicht zufällig jemanden?“ „Ich kann Ihnen am Montag ein erstes Angebot schicken, wenn Sie mir Typ und Stückzahl nennen.“ „Sie stellen Computerchips her?“ „Ja. Und Festplatten, USB-Sticks, Computerkabel ... “, zählte sie auf, unterbrach sich aber sofort, als das Licht im Saal gedimmt wurde und dafür auf der Bühne anging. Martine war bester Laune und strahlte von einem Ohr zum anderen. Sie sprach ein paar einleitende Worte und steckte den gesamten Saal mit ihrer fröhlichen Art an. Seto konnte immer noch nicht so ganz glauben, was er über sie herausgefunden hatte. Allerdings hatte seine unfreiwillige Begegnung auf dem Flur ihm gezeigt, dass seine Recherche zutreffend gewesen war. Das war also das organisatorische Genie hinter Industrial Illusions. Der Realist. „Naja, inzwischen habe ich mich abgefunden, dass Rampenlicht einem anderen zu überlassen. Ob er in den letzten Tagen in meine Fußstapfen hineingewachsen ist, werden wir jetzt sehen.“ Mit zur Seite ausgestrecktem Arm überließ sie ihrem Neffen die Bühne und ging zur anderen Seite ab. Dieser trat beschwingt auf und schüttelte den Kopf. In ihre Richtung blickend fragte er: „Ich habe noch keine Highheels in meiner Schuhgröße gefunden. Also werde ich noch lange nicht ein deine Fußstapfen passen. Aber Sie sind ja nicht hier, um sich meine Einkaufprobleme anzuhören. Worüber ich mit Ihnen eigentlich reden möchte ist etwas, was Sie hoffentlich alle in den letzten vier Tagen gelernt haben. Ein einzelner Schuh ist in der Regel nutzlos. Und genauso funktionieren unsere Geschäfte und Firmen nicht ohne zuverlässig Partner. ... “ Während er weitersprach schweifte sein Blick über die Menge, blieb mal hier mal dort hängen, bis er endlich Seto gefunden hatte. Seine braunen Augen funkelten ihn an und Seto rückte seinen Aktenkoffer noch etwas mehr zurecht. Die Visitenkarte in der Innentasche des Jacketts brannte sich in seiner Vorstellung sowieso schon durch den Stoff. Seit so langer Zeit hatte er endlich eine Anschrift, eine E-Mail Adresse und sogar eine Telefonnummer. Er war Joe endlich zum Greifen nah. Der Klang des Namens gefiel ihm. Ein wenig Altes, ein wenig Neues. Vielleicht wurde es dem Mann gerecht, der nun so souverän Studien darüber vorstellte, welche positiven Auswirkungen eine gute Vernetzung mit den richtigen Leuten auf das Berufs-, aber auch das Privatleben haben kann. Als würde er Bestätigung suchen, trafen sich ihre Blicke noch mehrmals und Seto wurde es jedes Mal heiß und kalt zugleich. „In diesem Sinne, wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise und hoffe, Sie alle nächstes Jahr hier wieder begrüßen zu können.“ Im Saal wurde es unruhig, als alle aufsprangen und zum Ausgang strömten. „Bleiben Sie noch zum Mittagessen? Ich weiß von meiner Cousine, dass es Sushi gibt.“ „Vielleicht. Ich will zumindest erst diesen Pulk loswerden. Woher weiß Ihre Cousine denn, was es hier zu essen gibt?“ „Sie arbeitet im Hotel am Meer und ihr Kollege Shin macht heute wohl extra eine Ausnahme von seinem Urlaub. Das sollte man sich nicht entgehen lassen. Yuki schwärmt mir seit Monaten von seinem Essen vor!“ „Okay, überredet. Von Shin habe ich schon viel Gutes gehört.“ Nicht nur Mizuki war überrascht, dass er sich an den Namen erinnern konnte. Sie unterhielten sich weiter, bis sie die beinahe die Letzten im Saal waren. Dann standen auch sie auf und gingen zum Ausgang. Im Vorbeigehen zog Seto an der Tür, durch die er herein gekommen war, doch der Türknauf ließ sich nicht drehen. Das war also nur ein Durchgang in eine Richtung. Auf dem Weg in den Speisesaal blickte er sich dennoch weiter nach Joe um - schließlich musste er in mindestens fragen, ob er mit dem Namen einverstanden war - doch sie trafen nur Makoto und eine von Mizukis Freundinnen, die sich ihnen begeistert anschlossen. Epilog: Heimfahrt ----------------- Als er in die Tiefgarage kam, stand sein dunkelblauer Sportwagen alleine dar. Martines Kombi war bereits weg. Er verstaute seinen Koffer, stieg ein und fuhr los. Sobald er die Stadt hinter sich hatte, wählte er über die Freisprechanlage und wartete. Sie hob fast augenblicklich ab. „Wieso hast du nicht gewartet?“, fragte er statt einer Begrüßung. „Hatte Sehnsucht nach dem Rest der Familie. Außerdem habe ich gedacht, dass du noch ein bisschen im Hotel bleibst.“ „Das was ich wollte, habe ich erreicht. Du wusstest, dass er dort sein wird, oder?“ In ihrem Schweigen hörte er die klassische Musik. „Was ist das für ein Lied?“ „Name of the game. Eigentlich von Abba. Das Arrangement geht irgendwann in Take a chance on me über. Ich konnte nicht widerstehen und habe eine Playlist für die Fahrt zusammengestellt. I've seen you twice, in a short time Only a week since we started It seems to me, for every time I'm getting more open-hearted I was an impossible case No-one ever could reach me But I think I can see in your face There's a lot you can teach me So I wanna know What's the name of the game? “ „Manchmal ist dein Humor sehr fragwürdig.“ „Wieso? Du hast an Silvester selbst noch gesagt, wie gerne du mit einem gewissem CEO mal spielen würdest. Und nach außen hin sah es so aus, als hättet ihr euren Spaß“, tat seine Tante jetzt unschuldig. Chef stieß schnaubend die Luft aus. Dann fasste er sich und erwiderte ruhig: „Ich fürchte nur, dass ich die Spielregeln verletzt habe.“ „Wieso?“ „Weil es sich seltsam anfühlt.“ „Seto Kaiba.“ „Was sollte das? Ich wäre gerade fast meinem Vordermann drauf gefahren!“ Sie kicherte auf ihre mädchenhafte Art und neckte ihn weiter: „Wer es nicht beherrscht, sollte nicht so schnell fahren!“ „Wenn du vor mir zu Hause bist, fährst du eindeutig zu schnell. Selbst mit Vorsprung.“ „Willst du mich bei Lion verpetzen?“ „Nein, ich will nur, dass du heil ankommst.“ „Also jetzt sag, was hat dein Herz beim Klang seines Namens gemacht?“ „Es hat schneller geschlagen.“ „Glückwunsch! Du hast in diesem Spiel komplett versagt. Werdet ihr euch wiedersehen?“ „Wahrscheinlich kommt er im Februar zu mir.“ „Dann solltest du aufhören mit ihm zu spielen. Ich glaube, dass tut euch beiden besser.“ „Hab dich auch lieb, Maman!“ „Ich dich auch, Kleiner. Dann fahr mal vorsichtig!“ „Du auch. Moment! Hast du die Playlist schon synchronisiert?“ „Ja. Du findest sie unter dem Datum von heute. Also, bis bald!“ Er hörte noch wie der Kombi beschleunigte, dann war die Leitung tot. Er stellte auf Musik um und fand tatsächlich die Playlist sofort. Mit den ersten Klängen des Saxophons hoben sich seine Mundwinkel und glücklich sang er mit: „Don't go changing to try and please me You never let me down before Don't imagine you're too familiar And I don't see you anymore I wouldn't leave you in times of trouble We never could have come this far I took the good times; I'll take the bad times I'll take you just the way you are“ Outtakes Auf der Dachterrasse: „Du musst mehr auf deine Gesprächspartner achten und was sie nebenbei über sich erzählen.“ „Es mag schwer vorstellbar für dich sein, aber das mache ich bereits!“ „Ach ja? Was kannst du denn so über mich erzählen?“ „Du machst viel Sport. Liebst Wein. Deine Lieblingsfarbe ist schwarz.“ „Falsch. Das ist außerdem keine richtige Farbe.“ „Ich weiß. Hatte nur nicht gedacht, dass du das weißt. Rot?“ „Nö. Blau.“ „Wie kommst du bitteschön auf blau? Ausgerechnet!“ Als Antwort grinste Chef ihn einfach nur an. Heimfahrt: „Wenn du vor mir zu Hause bist, fährst du zu schnell! Besonders in dieser alten Klapperkiste.“ „Das ist keine Klapperkiste! Du müsstest doch genau verstehen, wie besonders die Beziehung zu dem ersten Auto ist, das man von seinem selbstverdienten Geld bezahlt.“ „Das schon, aber bei mir war das wenigstens was Schickes.“ „Ich brauchte halt Platz!“ Martines Playlist (oder was ich beim Schreiben höre) - Abba -- Name of the Game - Royal Philharmonic Orchestra -- The Name of the Game - David Garrett -- Walk this Way - Avril Lavinge -- Happy Ending - Billy Joel -- New York State of Mind - Elton John -- I'm still standing - Elton John -- Don't go breaking my heart - Sarah McLachlan -- Building a Mystery - Anastacia -- Left outside alone - Leona Lewis -- Better in Time - Tina Turner -- Golden Eye - Phil Collins -- True Colors - Mama mia! -- Was ist das für ein Spiel? - Hoobastank -- the reason - Queen -- Save me - Lady Gaga -- Born this way - Take That -- How deep is your love - Christina Aguilera -- Come On Over Baby - Nirvana -- Come as you are - Zascha Moktan -- Like U do - Robbie Williams -- Shine my Shoes - P!nk -- Please don't leave me - Tarzan Soundtrack -- Fremde wie ich - Silbermond -- Das Ende vom Kreis - Roxette -- How do You Do! - Rainbow -- Since you've been gone - Katie Melua -- Blame it on the Moon - Abba -- gimme! Gimme! Gimme! - Pat Benatar -- Love is a Battlefield - DJ Bobo -- Somebody Dance With Me - Taylor Swift -- Bad Blood - Taylor Swift -- I knew you were trouble - P!nk -- Glitter in the air - Natasha Bedingfield -- Soulmate - Alice Merton -- 2 Kids - Roxette -- The Centre of the Heart - Billy Joel -- Just the way you are Shin und Seto treffen sich zum ersten Mal Ihre einstmals beeindruckende Schar war auf vierzig Leute zusammengeschrumpft. Dennoch war im gesamten Speisesaal eingedeckt und das Küchenpersonal huschte wie eh und je hinter der gläsernen Theke hin und her. Unter dem weiß ihrer Jacken stach ein Neuling in schwarzer Jacke hervor. ... „Sind Sie Shin?“, fragte Seto möglichst gleichgültig, als er an die Reihe kam. Sein Gegenüber zerteilte geübt eine Maki-Rolle mit Lachs und musterte ihn, bevor er antwortete: „Ja. Wieso fragen Sie?“ „Weil Sie Joseph mit Anfang zwanzig kannten. Ich habe ihn jetzt erst wiedergetroffen und würde gerne ein paar Wissenslücken füllen.“ Shin betrachtete ihn noch eingehender. „Jetzt weiß ich auch, wer Sie sind. Ich bin frühestens in zwei Stunde fertig ...“ „Solange kann ich warten.“ „... und ich weiß nicht, ob Ihnen das, was ich zu sagen habe, gefallen wird. Guten Appetit!“ Joe erhält von Seto eine Duell Disc zum Geburtstag „Ich freue mich schon, sie mit dir zusammen einzuweihen“ Gedanken beim Schreiben: Die könnten da eigentlich ... Aber armer Seto! Und Joey würde sich dann nicht an seine eigenen Aussagen halten. Mist! Muss die Szene entschärfen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)