The Name of the Game von flower_in_sunlight ================================================================================ Kapitel 3: Der dritte Tag ------------------------- Der Wein war schuld. Es musste einfach der Wein gewesen sein. Überraschenderweise war er zwar nüchtern und ohne Kater aufgewacht, doch im Nachhinein betrachtet, hatten er und Chef am Vorabend eine ganze Menge Wein getrunken. Anders konnte er sich nicht erklären, dass er beschlossen hatte, der perfekte Moment für seinen ersten Kuss sei zwischen Tür und Angel mit jemandem, der alles Recht der Welt hatte, ihn zu hassen. Auch hatte er noch zwei Stunden gebraucht, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er überhaupt an Schlaf denken konnte. Umso entschlossener hatte er seinen Wecker am Morgen beim ersten Piepsen auf acht Uhr umgestellt. Immerhin hatte er diese zusätzliche Zeit nicht verschwendet, indem er wie ein verliebter Trottel daran dachte, wie warm und samtig sich Chefs Lippen bei ihrer kurzen Berührung angefühlt hatten, sondern die Lücken in seinen früheren Recherchen mit neuen Informationen gefüllt. Jetzt fand er Artikel zu dem Zugunglück, bei dem ein einzelner Toter angesichts dessen, was hätte passieren können, heruntergespielt wurde. Fand Zeugnisse und Bescheinigungen ehemalige Arbeitgeber während des Studiums, wenige offizielle Artikel zum „neuen Mann“ in Maximilion Pegasus' Leben. Auf den Bildern die diesen Beiträgen angefügt waren, war Joey Wheeler fast noch zu erkennen, auch wenn er bereits damals die Haare nach hinten gekämmt trug und deutlich ernster in die Kameras blickte als zu seiner aktiven Zeit als Duellant. Schließlich hatte Seto das Gerät zugeklappt, sich ins Bett gelegt und war von dem grauenhaften Gedanken übermannt worden, dass er keine Ahnung hatte, ob er gut küssen konnte. Er beschränkte Zähneputzen und Duschen auf ein absolutes Minimum und noch während er sich anzog wählte er Mokubas Handynummer. „Guten Morgen, großer Bruder, was kann ich für dich tun.“ „Guten Morgen, Mokuba. Du musst mir nur ein paar Fragen beantworten.“ „Ja, ich vermisse dich auch. Ja, es ist für einen Samstagmorgen definitiv noch zu früh, um angerufen zu werden. Und ja, ich musste deinen Tisch und Stuhl in der KC verstellen, um hier gut zu sitzen. Hast du auch nur eines unserer Infoblätter zum ergonomischen Arbeiten gelesen? Der Schreibtisch ist selbst für dich viel zu hoch eingestellt!“ „Du bist in meinem Büro in der Firma?“ „Ja, irgendwer muss doch schließlich die Firma leiten. Und ich sage dir ja schon seit Jahren, dass ich sie übernehmen werden, solltest du für längere Zeit verschwinden.“ „Das war eine damals notwendige Reise nach Ägypten! Und das heißt wohl auch, dass ich meinen Urlaub nächsten Monat wohl besser verschiebe.“ „Keine Angst, großer Bruder, ich will lieber erst einmal in Ruhe das Studentenleben genießen. Aber du solltest trotzdem nicht erwarten, dass deine Mitarbeiter am Wochenende arbeiten. Zu deinen Reiseplänen kann ich dir leider noch nichts Neues sagen. Es ist nämlich gar nicht so leicht, etwas zu finden, das noch nicht ausgebucht ist oder wo es nicht vor verliebten Paaren nur so wimmelt.“ „Gut, dann schließe ich mich einfach um den Valentinstag rum im Keller der Villa ein. Wird schon nicht so schlimm werden.“ „Jetzt übertreibst du aber, Seto! Ich geb wirklich mein Bestes, um einen Rückzugsort für dich zu finden! Blöderweise bestehst du darauf, erreichbar zu sein. Orte, ohne ausreichend Handyempfang oder Internet gäbe es nämlich noch zuhauf auf der Liste.“ „Das kannst du vergessen, Mokuba. Wir reden darüber, wenn ich morgen wieder da bin. Andere Frage. Wie heißt deine beste Freundin?“ Stille. „Mokuba, ich erwarte eine Antwort.“ „Martine.“ Beinahe hätte sich Seto mit seiner Krawatte selbst stranguliert. „Hast du gestern mit ihr telefoniert?“ Wieder Stille. „Hast du das wirklich für eine gute Idee gehalten?“ „Ja?“ „Habe ich dich wirklich so schlecht erzogen?“ „Nein, denn ich hätte ihr Pudding übrig gelassen.“ Wann hatte diese Frau Zeit gehabt, mit seinem kleinen Bruder über den gestrigen Abend zu reden? „Hat sie sonst etwas erwähnt?“ „Nein, nur dass es ihr leid tat, dass sie wegen eines Jobs so schnell weg musste. Ist denn gestern noch was vorgefallen?“ „Nein.“ Er hoffte inständig, dass Mokuba die Lüge schlucken würde, und versuchte es erneut mit der Krawatte. „Der Abend war sehr normal. Was weißt du über ihren Neffen?“ „Chef? Nicht viel. Ist wohl gebürtiger Japaner und erstaunlicherweise naturblond. Aber sie erzählt von ihm fast so viel wie über die Zwillinge. Sie scheint ziemlich stolz auf ihn zu sein. Wieso? Ist er nett?“ Mokubas Neugier war selbst durch den Telefonhörer greifbar. „Einigermaßen. Wirkte auf mich eher durchschnittlich. Hat das VR-Team ...“ „Seto, was denkst du, was ich an einem wunderschönen Wintersamstagmorgen, den andere Leute im Bett von Schlittschuhfahren träumend verbringen, um zwanzig vor neun in deiner Firma mache? Ich sitze hier seit eineinhalb Stunden mit nur einem trockenen Bagel zum Frühstück und überprüfe die Arbeit der Woche. Ich mache also genau das, was ich schon die restliche Woche über gemacht habe -- und zwar ohne, dass mein großer Bruder mich dazu auffordern musste. Fang also endlich an deine kurze Auszeit zu genießen, denn in sechsunddreißig Stunden hat dich die alte Tretmühle wieder.“ „Zwanzig vor neun, sagst du?“ „Ja.“ „Hab dich lieb, Mokuba, aber ich muss los!“ Die Antwort darauf bekam er nur noch als Murmeln mit. Er konnte nur hoffen, dass es ein „Ich dich auch“ beinhaltete. Hektisch packte er alles zusammen und zog sich Schuhe und Jackett an. Die Uhr auf seinem Schreibtisch musste nachgehen, denn seine eigene zeigte bereits viertel vor neun an. Diese Unpünktlichkeit durfte unter keinen Umständen zu seiner neuen Gewohnheit werden! Wie zwei Tage zuvor verlangsamte er den Schritt erst unmittelbar vor dem Veranstaltungsbereich zu einem entschlossenen Schreiten, das in einem abrupten Stehenbleiben endete. Am Eingang des großen Saals stand Joseph Pegasus mit zwei Kaffeebechern in der Hand. Als er Seto sah, hoben sich seine Mundwinkel zu einem höflichen Lächeln. „Da sind Sie ja endlich! Tut mir Leid, dass es heute nur Kaffe ist. Für die Muffins war ich leider zu spät dran. Scheint sich herum gesprochen zu haben, wie lecker sie sind.“ Verdattert nahm Seto seinen Becher entgegen und folgte Chef in die dritte Reihe, wo zwei Plätze durch ein Jackett frei gehalten worden waren. „Meinst du nicht, dass du es mit der Kundenbetreuung etwas übertreibst?“, fragte der junge Mann, der auf Chefs anderer Seite saß. „Ich weiß, es ist der wichtigste Partner deines Dads, und du stehst total auf seine Spieltechnik, aber dass du ihm einen Platz reservierst, während wir Normalsterblichen zur absoluten Unzeit dafür aufstehen müssen, geht doch wohl etwas zu weit, oder?“ „Du hättest gestern eben nicht so viel feiern dürfen, Makoto“, konterte der diensteifrige Adoptivsohn schlicht und zog sich sein Jackett wieder an. Seto nutzte diesen Moment, um zu nachzuhaken: „Er steht auf meine Technik?“ „Ja! Total! Besonders das Zeug für Duell Monsters hat es ihm angetan. Er hat damit sogar meinen Vater überzeugt, mehr auf AR zu setzen! Wobei wir uns meistens mit VR begnügen müssen, weil die Räumlichkeiten der Kunden in der Regel noch nicht soweit sind, wenn wir anfangen. Den Unterschied zwischen einfachem Velours und feinstem Nadelfilz sieht man aber dennoch. Wir kombinieren das Erlebnis aber meist auch mit Fühlproben.“ „Sie stellen Teppiche her“, schloss Seto, der mit einem solchen Redeschwall nicht gerechnet hatte. „Nicht nur. Wir machen alle Arten von Heimtextilien. Für Chef haben wir damals die gesamte Einrichtung seines Hotel gemacht. Dass er nicht den Teppich mit kleinen Drachen für die Kinderzimmer wollte, nehme ich ihm heute noch übel.“ „Cian, Marek und ich waren uns einig, dass ein glatter Boden leichter zu pflegen ist. Und du durftest die Bettwäsche auf die Wandgemälde abstimmen.“ „Wandgemälde?“ Setos Augenbraue zuckte nach oben. „Überlasse nie einem Zeichner von Duell Monsters Karten die Gestaltung deiner Zimmerwände!“, war die einzige Antwort die Seto noch bekam, bevor höflicher Applaus für den Redner erklang. Und das war auch schon das einzige Highlight für diesen in der kommende halbe Stunde. Denn ab dem Moment, in dem den Teilnehmern wieder einfiel, dass sie den Tag in Workshops verbringen würden, sank die Stimmung beträchtlich. Bei den einen war die Erinnerung an grauenvolle Blockveranstaltungen an der Uni noch zu frisch. Die anderen verbanden damit pseudo-spaßige Tage zur Teambildung, die sie spätestens bei Unternehmensübernahme mit der alten Führungsspitze über sich hatten ergehen lassen müssen. Seto hatte sich vor beidem genau wie damals vor dem Schulsport erfolgreich gedrückt, war aber noch mit dem korrekten Einsortieren seiner neuesten Informationen beschäftigt und somit auch kein Zugewinn positiver Aufmerksamkeit. Chef hingegen verfolgte die Erläuterungen zur Gruppenaufteilung und den Abläufen gewissenhaft und nippte an seinem Kaffee. „Bis nachher Makoto! Mister Kaiba, wir sollten uns beeilen, wenn wir noch gute Plätze fürs Zeitmanagement bekommen wollen“, sprang er anschließend auf und schob Seto mit Nachdruck aus der Reihe. Den Stich ignorierend, dass Chef ihn wieder siezte, gehorche er und fragte nur: „Woher wissen Sie, für welchen Workshop ich mich eingetragen habe?“ „Manchmal hat es seine Vorteile Organisator zu sein. Und bevor Sie fragen, ja wir haben für heute den gleichen Stundenplan, aber wir haben beide unabhängig voneinander gewählt. Ich war einfach nur neugierig, nachdem wir Donnerstagabend festgestellt haben, dass wir die Schwerpunkte ähnlich gesetzt haben. Hier lang.“ Chef, mit dem mitzuhalten er Schwierigkeiten hatte, führte ihn in einen ruhigeren Nebenflur und durch eine Tür in ein Treppenhaus, das bestimmt nicht für den normalen Publikumsverkehr freigegeben war. „Sind Sie sich sicher, dass wir hier richtig sind?“ „Oh ja, das bin ich.“ Vor Schreck hätte Seto beinahe den Koffer mit dem Notebook und seinen Kaffee fallen lassen. Blitzschnell hatte Chef sich zu ihm umgedreht und die Unterarme links und rechts neben seinem Kopf auf die Wand gestützt. „Wieso hast du mir es nicht früher gesagt?“ „Dir was nicht“ Die restliche Frage ging in einem Kuss unter, der so gar nichts mit dem vom Vorabend gemein hatte. Dieser hier war stürmisch und soweit er es überhaupt bewerten konnte wütend. „Mir gesagt, dass du auf mich stehst“, erklärte Chef und seine Augen verhießen nichts Gutes. Seto musste schwer schlucken und versuchte es dann mit der einzigen Strategie, die er in den letzten Jahren hatte ausarbeiten können. Er stritt es ab. „Wer behauptet denn so etwas?“ „Dein Abschied gestern.“ „Das war der Wein. In meinen Kreisen gehören Küsschen zum guten Ton. Das nennt sich übrigens Etikette.“ „Ich glaube nicht, dass diese Art mit dazu gehört. Dann hätten wir da deine Augen. Deine Stimme. Dein Puls, wenn ich ...“ Chef beugte sich noch etwas näher zu ihm und biss ihm sanft in die Ohrmuschel, während seine Hand auf der anderen Seite nach Setos Puls am Hals suchte. „... das hier tue.“ „Nimm die Pfoten da weg, Hündchen!“, forderte Seto gereizt und schob den anderen mit seiner Kaffeehand von sich weg. Das war ihm aber nur gelungen, weil er ihn überrascht hatte. Denn sichtlich verwirrt fragte dieser: „Hündchen? Nicht Köter?“ Mist! Er hatte statt ihn zu beleidigen, seinen geheimen Kosenamen verwendet. Das Abstreiten wurde somit noch schwieriger. Aber ihm blieb immer noch die Flucht nach vorn. „Wäre dir den Köter lieber?“ „Um ehrlich zu sein, nein. Ich stehe nicht so auf herabwürdigenden Dirty Talk. Aber Vorschlag: du stellst den Becher und den Koffer ab, gibst mir meine Antwort und ich verspreche, dass ich mich benehme.“ Chef stellte seinen eigenen Becher auf den Stufen hinter sich ab und grinste dabei so breit, dass selbst ein Blinder erkannt hätte, wer er einst gewesen war. Widerwillig folgte Seto seinem Beispiel und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand, um ihn weiterhin im Blick behalten zu können. „Um eine Sache von vornherein klar zu stellen. Ich stehe nicht auf dich, noch sonst eine kindische Bezeichnung wie verknallt sein oder auf dich abfahren. Ich finde dich rein körperlich attraktiv. Du hast dich seit der Schulzeit gut entwickelt und ...“ „... du bist noch so grün hinter den Ohren, dass du weder richtig flirten, noch mir deine sexuellen Absichten einigermaßen gelassen vortragen kannst.“ Heftiges Zittern erfasste Chefs Körper, als er versuchte sein Lachen zu unterdrücken. „Entschuldige bitte, aber die Situation ist irgendwie surreal. Der begehrteste Junggeselle Japans, der mich während unserer Schulzeit immer abblitzen ließ, gesteht mir, dass er schwul ist und eindeutig was von mir will! Und dabei ist er nervöser als eine Vierzehnjährige bei ihrem ersten Kuss! Sorry, aber ich glaube, ich bin für das was du willst, echt der Falsche.“ „Und was will ich deiner Meinung nach?“, brachte Seto gepresst hervor. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. „Du glaubst jemanden zu wollen, der dich endlich flach legt, damit du fröhlich in die Welt hinausziehen kannst, um deinen Spaß zu haben und Erfahrungen zu sammeln. Natürlich unter Wahrung aller hygienischen Schutzvorkehrungen. Juhu, hier bin ich! Bereits in den fünfzehn Minuten, die wir bis zum ersten Workshop noch haben, könnte ich Dinge mit dir anstellen, dass die Hören und Sehen vergeht. Aber das, was du wirklich willst, ist jemand, der dich wirklich will. Nicht deinen Körper, sondern die noch so kleinste Faser deiner Seele. Der zärtlich zu dir ist, wenn du Trost brauchst. An den du dich nach einem harten Tag anlehnen kannst und der trotzdem nicht murrt, wenn du wegen der Arbeit zu wenig Zeit für ihn hast. Sorry, aber dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“ Ungläubig klappte Seto der Mund auf. Wenn er geglaubt hatte, dass ihn die Erkenntnisse des Vortages kalt erwischt hatten, dann kam diese Ansprache einem unverhofften Satz ins Polarmeer gleich. Dennoch drangen ein paar wichtige Details zu seinem Kopf durch, die ihn die Situation umgehend anders bewerten ließen. Chef klang weder wütend noch vorwurfsvoll noch verhöhnte er ihn. Er klang eher bedauernd und verzweifelt. So hatte er ihn noch nie erlebt. „Wenn du schon damals etwas von mir wolltest, wieso hast du nie etwas gesagt?“, fragte er zaghaft und traute sich damit auf sehr dünnes Eis. Er konnte ihn auch falsch verstanden haben. „Du hast mir damals deutlich genug gezeigt, was du von mir hältst. Und die wenigen Male, in denen ich es dir zeigen wollte, hast du entweder nicht kapiert, dass ich es war, oder du warst so blind für dein Umfeld, dass ich es auch gleich ganz hätte sein lassen können. Deine Krägen hatten wohl integrierte Scheuklappen.“ Alle Heiterkeit zwischen ihnen war verflogen und Seto hasste sich dafür. Vorsichtig streckte er die Hand nach Chefs Wange aus und löste sich dabei von der Wand. Ohne auf Gegenwehr zu stoßen drückte er ihn nun seinerseits gegen die Wand und küsste ihn vorsichtig. „Du lernst schnell!“, stellte Chef erfreut fest, als sie sich voneinander lösten. „Ich habe ja auch anscheinend einen guten Lehrer erwischt. Will ich wissen woher du...?“ „Glaub mir, willst du nicht.“ „Bist du dir da sicher?“ „Ja.“ Diese deutliche Aussage ließ Seto schlucken, brachte ihn aber auf eine Idee. Noch unsicher, wohin es führen würde, fing er an: „Da du auf dem Gebiet anscheinend deutlich mehr Erfahrung hast als ich ... Würdest du mir zeigen, was mir noch fehlt, um so jemanden zu finden, wie du ihn beschrieben hast? ... Oder zumindest dafür sorgen, dass ich mich nicht vollkommen lächerlich mache, wenn ich jemanden flach legen will?“ Er hatte es tatsächlich ausgesprochen. Und er hatte Joseph Wheeler um Hilfe gebeten. Er hatte ihn bei einem sehr heiklen Thema um Hilfe gebeten. Wer versicherte ihm eigentlich, dass er es nicht ausnutzen würde und beispielsweise Pegasus Senior ihn damit demnächst erpresste? „Wer sagt eigentlich, dass nicht du flach gelegt wirst, mein lieber Kaiba?“, wollte Chef lediglich wissen und lächelte ihn dabei schelmisch an. Dann löste er sich von der Wand, griff nach seinem Becher und stieg die Stufen hinauf. Noch ziemlich verwirrt nahm Seto im Seminarraum Platz und holte das Notebook aus dem Koffer. Chef hatte sich kurz entschuldigt. Nicht bei jedem säße die Frisur immer perfekt. Als einzige weitere Reaktion auf seine Bitte, hatte er nur noch gesagt bekommen, er würde sehen, was sich da machen ließe. Wie sollte er das bitteschön verstehen? Lange darüber Grübeln konnte er aber zum Glück nicht, denn Punkt zehn Uhr erschien der Leiter des Workshops -- gut gelaunt, die Haare wieder dort, wo sie hingehörten. Er stellte sich nicht vor, sondern fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Guten Morgen, und willkommen zum Thema Zeitmanagement. Wer von Ihnen hat hier länger als fünf Minuten gesessen ohne etwas Sinnvolles zu tun?“ Fast alle Hände gingen nach oben. „Als sinnvoll gilt auch, einfach kurz inne zu halten und sich zu entspannen.“ Keine einzige Hand ging nach unten. „Gut, dann wüsste ich jetzt gerne -- neugierig wie ich bin -- was Sie stattdessen getan haben.“ An Chef war ein Lehrer verloren gegangen. Nach einander erzählten sie und im Großen und Ganzen lief es auf inhaltslose Beschäftigung mit dem Handy hinaus. Sie hatten es noch nicht einmal genutzt, um in ihren jeweiligen Firmen nach dem Rechten zu schauen! Für Seto stand nach 10 Minuten fest, dass das Thema des Workshops nicht „Zeitmanagement“{}, sondern „Zeitverschwendung“ hätte heißen müssen. Seine genervte Grundhaltung schlug aber in Panik um, als Chef im Anschluss fragte: „Und was hat der Rest gemacht?“ Bei dem Blick, mit dem Seto bei diesen Worten bedacht wurde, wurde ihm heiß und kalt. Was er gemacht hatte? Er hatte mit seinem heimlichen Schulschwarm herumgeknutscht und sehr eindeutige Angebote von ihm erhalten, was dieser auch ganz genau wusste! Aber er hatte sich vorher nicht gemeldet, also musste er jetzt wohl zumindest irgendetwas sagen. „Ich habe bestehende Geschäftskontakte gepflegt und Wege diskutiert, wie wir in Zukunft noch erfolgreicher zusammen arbeiten können“, löste er letztlich das Problem diplomatisch und wurde dafür mit einem dreckigem, wenn auch kurzem Grinsen bedacht. Die drei anderen hatten sich entweder um ihr eigenes Unternehmen gekümmert, hatten versucht Kontakte mit einer Frau zu knüpfen oder gelesen. „Danke für diese Ehrlichkeit. Was haben all diese Beispiele gemeinsam?“ Verwirrte Stille. „Ok, nachdem Sie alle anscheinend noch nicht wach sind, verrate ich es Ihnen. Diese vier Teilnehmer haben sich Prioritäten gesetzt und sich danach ihre Zeit eingeteilt. Sie haben das kurze Zeitfenster von einer halben Stunde genutzt, um etwas zu erreichen, dass ihnen wichtig ist. Der Standardspruch, wenn es um unerledigte Aufgaben geht, lautet meistens, dass man keine Zeit dafür hatte. Und weswegen? Weil andere Dinge offensichtlich wichtiger waren! Was ich Ihnen heute mitgeben möchte, ist die Fähigkeit, ihre begrenzte Ressource Zeit so zu planen, dass Sie die Dinge, die Ihnen wichtig sind, auch tun. Schreiben Sie daher jetzt kurz auf, welche Aufgaben in ihrem Alltag anfallen und getrennt davon, wofür Sie gerne mehr Zeit hätten.“ In der nächsten Stunde ergänzten sie diese Liste um verbrauchte Zeit und Prioritäten. Sie sollten sich überlegen, was sie delegieren könnten, wo und wie sie den Aufwand reduzieren könnten, und wie viel Zeit sie dem, was immer liegen blieb zugestehen wollten. Setos Ergebnis war, dass er sich eine Menge Zeit sparen konnte, wenn er jemanden anstellen würde, der für ihn die Leute zusammenstauchte, da das fünfzig Prozent seines Berufsalltags ausmachte. Er schrieb es auf. „Weise Entscheidung, Workaholic. Aber wie willst du den dadurch angestauten Stress los werden?“, kommentierte Chef den Zettel. Er war nach dem Ende der Einheit an seinen Tisch getreten und studierte die Liste neugierig. Wortlos deutete Seto auf den Eintrag, dem er eine ganze Stunde täglich seiner wertvollen Zeit eingeräumt hatte. Sonstiges Privatleben. Chefs Mundwinkel zuckten und er reichte ihm das Papier. „Hast du noch Lust auf einen Kaffee vor dem nächsten Workshop?“ „Leitest du den etwa auch wieder?“, murmelte Seto vor sich hin. „Sag bloß du schmollst, weil ich dir nichts davon erzählt habe? Aber nein, ich bin diesmal nur Teilnehmer. Es wird dir trotzdem gefallen. Es geht um Smalltalk.“ Seto wurde das Gefühl nicht los, dass Chefs Humor über die Jahre zynischer geworden war. Der Workshop gefiel ihm ganz und gar nicht! Nach einer zwanzig-minütigen vollkommen überflüssigen Unterweisung in die „Feinheiten“ des Smalltalks, hatten sie die Tische ihm Raum umstellen müssen und mit Speed-Dating begonnen. Zumindest lief es nach ähnlichen Regeln ab und er musste das Geschleime des jeweiligen Kandidaten nur für fünf Minuten ertragen. Er gehörte zur Laufgruppe, die den Platz immer wieder wechselte, tankte mit einigen Schlucken Kaffee Kraft und beschloss bereits nach den ersten drei Versuchen, dass er für das Erreichen von „Sonstiges Privatleben“ kein Speed-Dating ausprobieren würde. Seine Laune hob sich erst wieder etwas, als er das letzte Mal auf einem neuen Stuhl Platz nahm. Ihm gegenüber saß die junge Frau vom Vortag, die genauso erleichtert wirkte wie er. Ohne große Umschweife klagte sie ihm ihr Leid: „Können wir bitte über die aktuellen Aktienwerte oder Datenbankprogrammierung sprechen? Ich hatte gerade irgendwie zu viele Gesprächspartner, die wenig geschickt meine Handynummer rauskriegen wollten.“ „Das kommt mir entgegen. Aber woher wollen Sie wissen, dass ich sie nicht auch will?“ Sie bedachte ihn mit einem seltsamen Blick und rückte ihre Brille gerade. „Sagen wir einfach, dass Martine uns -- also mir und den restlichen Frauen -- den Tipp gegeben hat, dass Sie einer der angenehmsten Teilnehmer auf dem Kongress sind. Übrigens schade, dass nichts aus Ihrer Verabredung wurde.“ „Wie darf ich das genau verstehen?“ „Naja, Sie versuchen nicht uns anzubaggern, behandeln uns wie normale Menschen und Ihre Anwesenheit hält unangenehmere Zeitgenossen auf bewunderswerte Weise fern.“ Seto schwieg sie an. „Kurz: Wir sind für Sie offensichtlich nicht interessiert“, schob sie als Erklärung nach, sichtlich genervt davon, dass sie es so deutlich aussprechen musste. Allerdings hatten sie sich eher leise unterhalten und der nächste Tisch war gute zwei Meter entfernt. Setos Kiefer klappte nach unten. Hatte sie ihm gerade wirklich gesagt, dass sie ihn für angenehme Gesellschaft hielt, weil er schwul war? War das denn so offensichtlich? Er dachte an das Abendessen am Vortag zurück. Hatte Martine mit ihrem Outfit lediglich ihre Vermutung bestätigen wollen? „Keine Angst. Ich glaube nicht, dass es den anderen Teilnehmern groß aufgefallen ist. Und es ist süß, wie Martines Neffe Sie umgarnt. Für die meisten ist das aber nur schmieriges Geschäftsgebaren. Also, was halten Sie von der neuesten Entwicklung im Bereich der Festplattenspeicher? Glauben Sie, dass es ihre Serverstrukturen nachhaltig effektiver gestalten wird?“ Bereitwillig griff er das Thema auf und hätte über ihre technische Diskussion fast den Gong überhört. Das kurz Gespräch hatte ihm erstaunlich Spaß gemacht. „Haben Sie vielleicht Lust, beim Essen weiter zu diskutieren?“, fragte er daher. „Gerne.“ Auf dem Flur trafen sie Chef, der ebenfalls zur Laufgruppe gehört hatte, „Joseph, ich gehe mit ... “ Er hatte noch nicht nach ihrem Namen gefragt. „ Mizuki.“ „Mit Mizuki essen. Du darfst dich aber gerne anschließen.“ „Wie großzügig von dir.“ Die Stimme des anderen Mannes triefte vor Sarkasmus. „Wieso nennen Sie ihn denn bei seinem vollständigen Vornamen?“ „Weil der liebe Kaiba hier, sich nicht traut, mich mit meinem Spitznamen anzusprechen und er nicht auf den Nachnamen zurückgreifen möchte“, versprühte Chef seinen Charme. „ Whee ... Chef, ich warne dich!“ „Wir sollten uns beeilen, damit wir noch einen großen Tisch bekommen. Makoto will sich bestimmt auch noch zu uns setzen.“ Mit dieser Prognose lag der Hotelmanager diesmal sogar richtig. Sie saßen mittig an einem der großen Tische, links von Seto saß Mizuki mit ihren Freundinnen, ihm gegenüber Chef und direkt neben diesem Makoto, der ihn davon überzeugen wollte, das Firmenlogo in die Teppichböden aller Büroräume zu integrieren. Nach ihm kamen weitere Bekannte von ihm und Chef, die sich einfach mit dazu setzten und ihre eigenen Gespräche führten. Eine Weile versuchte Seto mitzubekommen, was alles gesprochen wurde, war aber vollkommen überfordert mit der Situation. Selbstverständlich war er förmliche Essen mit vielen Teilnehmern gewohnt, doch dort saß man nicht so eng zusammen, die Etikette war strenger und die meisten seiner Tischnachbarn warteten darauf, dass er etwas sagte. Hier redeten alle durcheinander wie sie wollten. Das Salz wurde quer über den Tisch gereicht. Mancher Wortwitz war eindeutig nicht für die andere Tischhälfte bestimmt und wurde dort dafür umso begeisterter aufgenommen und kommentiert. Irgendwann merkte er, wie Chef besorgt über einen Caesar Salad zu ihm hinüber schaute. „Es ist alles okay“, antwortete er auf die ungestellte Frage. „Ich bin es ...“ „... einfach nur nicht gewohnt mit anderen zu essen. Aber gut, dass du es von alleine wolltest. Es ist ein Anfang.“ Seto kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Mizuki forderte seine Meinung zum Objektorientierten Oberflächendesign von Software ein. Offensichtlich sollte er eine Diskussion zwischen ihr und einer der anderen jungen Frauen schlichten. Doch seine Antwort machte alles nur schlimmer. Keine Minute später lachten die Freundinnen jedoch ausgelassen und fragten frech, ob er die Krawatten immer passend zu seiner Augenfarbe kaufe, was wiederum Makoto und sein „Gespür für Farben“ auf den Plan rief. Und schon war Seto wieder aus der Diskussion raus. Als er fertig gegessen hatte blieb er noch kurz sitzen, doch allmählich wurde es ihm zu viel. Er blickte kurz auf seine Uhr und stand dann auf. „Ich muss noch kurz ein paar Anrufe erledigen.“ Der Rest folgte ihm mit den Augen. Ein paar murmelten Verabschiedungen, die er nur halbherzig erwiderte. Wieder auf dem Flur sah er sich vorsichtig um. Wo könnte er hingehen, dass er keinem der anderen sofort wieder begegnete, sollten sie auch bald gehen? Die Mittagspause ging noch eine halbe Stunde und er führte sich erbärmlich auf. Er war Seto Kaiba und ergriff die Flucht! Er leitete seit über zehn Jahren einen Weltkonzern, richtete Veranstaltungen aus, die globales Interesse hervorriefen, brachte gestandene Geschäftsmänner zum Zittern. Aber sobald es nicht um Geschäftliches ging, versagte er offensichtlich. Das war kaum zum Aushalten! Statt seiner Wut mit einem Schrei Luft zu machen, spürte er eine Hand in seinem Rücken. „Ich kann dir einen Ort zeigen, wo du in Ruhe telefonieren kannst.“ Ohne Widerstand zu leisten, ließ er sich von Chef durch die Flure führen und stieg sogar mit ihm in den Aufzug. Als sich die Türen wieder öffneten, empfing ihn kalte Luft. Erschrocken fuhr er herum und blickte in den blauen Winterhimmel über der Dachterrasse. „Was soll ich hier draußen?“, schnauzte er seinen Entführer an, während er sein Jackett enger um den Körper zog. „Den Kopf etwas frei bekommen. Du warst bestimmt seit Tagen nicht mehr draußen. Komm hierher. Hier ist es wärmer. Wer hätte gedacht, dass ein Eisschrank frieren kann? Funktionieren die nicht, indem man die warme Luft absaugt?“ „Wheeler, übertreib nicht! Hier draußen ist es so kalt, dass mein Atem kondensiert. Und ich bin immer noch ein Mensch und kein Küchengerät!“ „Hat man vorhin gesehen“, antworte Chef schlicht und räkelte sich vor dem Gitter der Lüftung. Statt zu fragen, was er denn damit meinte, schwieg Seto und rückte etwas näher an ihn, um ebenfalls von der warmen Luft zu profitieren. „Wie oft kommst du hierher?“, wechselte er das Thema. „Mehrmals im Jahr. Meistens, wenn es im Hotel am Meer ruhiger ist. Dann ist hier nämlich in der Regel Hauptsaison und alle Zimmer sind wegen Veranstaltungen gebucht.“ „Ich meinte eigentlich die Terrasse. Rauchst du etwa?“ „Glaub mir, dass wüsstest du inzwischen längst. Aber so zu denken wie ein Raucher hilft manchmal tolle Orte zu finden. Bevor ich die Leitung übernommen habe, kam hier nur ab und zu einer der Haustechniker rauf. Inzwischen kann man hier über den Dächern der Stadt Sommerfeste feiern.“ Mit großen Schritten lief der Hotelmanager die Bohlen ab und erklärte dabei: „Hier steht die Bar. Dort der DJ, Hier ist eine Tanzfläche. Entlang dieser Kante stehen kleine Tische ... Es ist fantastisch! Auch wenn sie mir im wahrsten Sinne des Wortes aufs Dach steigen. Mein Zimmer ist direkt hier unten drunter. Aber zurück zu dir. Wieso bist du vom Essen geflüchtet?“ „Ich sagte doch“ „Ich habe gehört, was du gesagt hast, und gesehen, was du eigentlich meintest. Du bist so viel menschliche Nähe nicht gewohnt. Vor allem nicht von Fremden. Nicht wahr?“ Langsam kam er zurück zu Seto und stellte sich so nah neben ihn, wie er es gerade noch aushielt. Angenehm daran war eigentlich nur, dass er ihn nicht mehr ansah. „Wenn du schon alles über mich weißt, wieso fragst du dann überhaupt noch?“ , entgegnete Seto gereizt. „Weil du mich gebeten hast, dass ich dir helfe, jemanden für dich zu finden. Dafür musst du lernen, dich in der Nähe anderer Menschen wohl zu fühlen. Du musst ja nicht gleich auf jeden mit offenen Armen zu gehen, aber ein wenig offener solltest du schon werden, wenn du jemanden kennen lernen willst.“ „Dich habe ich doch auch kennen gelernt. Wieso reicht das nicht?“ „Weil ich für das, was du brauchst nicht zur Verfügung stehe.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen. „Das hast du vorhin schon gesagt. Sag mir, wieso.“ Chef seufzte tief und strich sich die Haare nach hinten, mehr als Geste, denn aus Notwendigkeit. Dann fing er leise an zu sprechen: „Da du vermutlich eh keine Ruhe gibst, bis du es weißt. Ich war vor knapp einem Jahr verlobt. Er war toll, alles was ich mir je hätte wünschen können. Doch mein Unterbewusstsein war nicht zufrieden und verriet mich. Sagen wir einfach, ich bin nicht das Material für eine lange Beziehung. Darum bin ich keine Option für dich. Und darum... “ „Was hat dein Unterbewusstsein denn gemacht? Das klingt ja nicht so, als seist du fremd gegangen.“ „Nein. Anderes Thema.“ „Welche Fähigkeiten fehlen mir, deiner Meinung nach denn noch?“, fragte Seto daraufhin, versucht Chef nicht weiter zu necken oder gar zu verärgern. Das war neu für ihn. „Ich schreib dir während des nächsten Workshops eine Liste, okay? Naja, früher hätte ich gesagt, du musst den Leuten mehr zuhören. Aber wenigstens das scheint sich gebessert zu haben. Du musst versuchen, sie zu verstehen, zu verstehen, weswegen sie dieses oder jenes tun. Für sie da sein, wenn sie Hilfe brauchen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.“ „Das tue ich eh nicht. Würde ich mich darauf verlassen, wäre ich mit meiner Firma nie so weit gekommen.“ „Und du musst aufhören, dich über deine Firma zu definieren“, schloss Chef resigniert. „Wieso? Neben Mokuba ist die KC seit Jahren das Wichtigste in meinem Leben. Man kann nicht von mir sprechen, ohne auch sie zu erwähnen! Ich verbringe dort meine meiste Zeit. Ich bin stolz darauf, was ich mit ihr bisher erreicht habe. Und sie ist ein fester Bestandteil meiner Zukunft. Mit der Verantwortung, die ich trage, bin ich meine Firma!“ Der andere verdrehte die Augen und antwortete: „Genau deshalb, musst du dir das abgewöhnen. Sonst wird immer nur der Status gesehen, den die Nähe zu dir bringt. Aber was macht den Menschen Seto Kaiba interessant? Ich weiß es seit vorgestern Abend, aber vor dem Rest der Welt versteckst du diesen Teil deiner Persönlichkeit. Es wollen dir nicht alle schaden, glaub mir.“ Zum Ende hin wurde seine Stimme sanft, doch Seto wollte davon nichts hören. „Was weißt du denn schon davon? Du bist vor sieben Jahren zufällig auf die Füße gefallen und seitdem ging es für dich nur aufwärts. Es wollen alle einem schaden oder ein Stück vom Kuchen. Die, die es nicht wollen, sind die Ausnahme! Wenn du willst, dass ich verweichliche, kannst du deine Tipps für dich behalten!“, schloss er barsch, machte auf dem Absatz kehrt, stieg in den Aufzug und drückte auf die Taste für den zweiten Stock, um wieder ins Kongressgebäude hinüber zu gelangen. War er schon spät dran gewesen, so konnte man bei Joseph Pegasus nur von einer Punktlandung sprechen. Er betrat zusammen mit dem nächsten Workshopleiter den Raum und ließ es so aussehen, als ob sie sich im Gespräch befunden hatten. Ohne Seto auch nur eines Blickes zu würdigen, setzte er sich auf einen Platz möglichst entfernt von ihm, während man versuchte zu erklären, weswegen ein gesunder Schlaf so wichtig war. Erstaunt stellte Seto fest, dass ihn die Situation sehr an ihre Schulzeit erinnerte. Auch dort hatte er immer möglichst weit hinten gesessen, damit er in Ruhe am Computer arbeiten konnte, ohne dass seine Mitschüler ihm auf den Monitor blicken konnten. Auch dort hatte Joey immer in seinem Blickfeld gesessen. Auch dort waren sie nicht in der Lage gewesen normal miteinander zu reden. Eine Tatsache, die zu einem großen Teil seine Schuld war, wie er inzwischen wusste. Nur am Rande bekam er mit, wie schädlich für das ruhige Einschlafen, die späte Arbeit am Bildschirm war. Er war in Gedanken damit beschäftigt, sich auszumalen, wie es hätte laufen können, wenn er früher gemerkt hatte, was er eigentlich vom Köter gewollt hatte. Sobald ihm das klar geworden war, war er zum „Hündchen“ aufgestiegen. Aber bereits damals war es schon zu spät für sie gewesen. Joey Wheeler war bereits aus Domino verschwunden. Hatte ihn ohne ein weiteres Wort zurückgelassen. Nein, das war nicht wahr. Er hatte sich mit sehr deutlichen Worten von ihm verabschiedet. Ihm aufs Gesicht zugesagt, dass niemand ihn je um seiner selbst willen lieben würde. Nicht einmal mit viel Zynismus war es ertragbar, dass nun ausgerechnet er ihm Tipps gab, wie er einen Partner finden könnte. Er wusste genau, wer er war, und dennoch hatte er ihm helfen wollen. Das Läuten des Weckers an die Schlafphasen anpassen. Keine schlechte Idee. Dafür ließ sich bestimmt etwas entwickeln. Nicht nur Büroangestellte, sondern auch scharenweise Eltern würden das dann kaufen, damit ihre Kinder morgens einigermaßen wach in der Schule saßen ... Hatte Chef vorhin nicht auch was gesagt wegen der Schule? Dass er bei ihm während der Schulzeit immer abgeblitzt war? Hieß das dann etwa, dass er bei ihrem letzten Gespräch damals einfach nur wütend gewesen war? Dass er ihm jetzt half, weil er genau wusste, dass man sich in ihn verlieben konnte? Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte den anderen zur Rede gestellt, doch es ging nicht. Er musste nicht nur an seinen Ruf denken, sondern auch noch erst herausbekommen, wie die Stimmung zwischen ihnen war, nachdem er ihn einfach auf dem Dach hatte stehen lassen. Nach Ende des Vortrags und einer kritischen Analyse ihrer Schlafzeiten, wollten alle schnell raus und der Todsünde -- Koffein -- frönen. Außerdem stand schon wieder ein Raumwechsel an. Seto ließ Chef, der sich mit dem Strom bewegte, zuerst raus, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Als er sich endlich etwas aus dem Pulk gelöst hatte und den Flur entlang ging, überholte Seto ihn mit großen, entschlossenen Schritten. Wie zufällig berührten sich dabei ihre Hände und ihm lief ein angenehmer Schauer den Arm hinauf. Doch die erhoffte Reaktion blieb aus und so ging er weiter, eher darauf bedacht sich nichts anmerken zu lassen, als auf den Weg achtend. „Hallo, Lion“ , hörte Seto eine weibliche Stimme hinter der nächsten Ecke. Neugierig blieb er stehen. „Ja, ich weiß, dass ich früh dran bin. Ich hab nur heute morgen noch geschlafen ... Ja, ich weiß, was du davon hältst, wenn ich bis in die Nacht arbeite, aber manchmal geht es nicht anders. ... Woher soll ich wissen, was dein Sohn macht? Mit Kindern in dem Alter kenne ich mich nicht aus! ... Doch, ich fürchte, dass macht sehr wohl einen Unterschied. Kann dir nur sagen, dass mir noch keine Klagen zu Ohren gekommen sind, und er immer noch von der neuen Duell Disc schwärmt. Vielleicht sollten wir bei seinem Geburtstagsgeschenk ... Hallo Clara, mein Schatz. Wie war die erste Woche zurück in der Schule? ... Aber die Hausaufgaben habt ihr gemacht, bevor ihr zu Izumi gegangen seid? ... Nein, Onkel Lion hat mir nichts verraten. ... Das klingt wundervoll! Jetzt freue ich mich noch mehr auf morgen. ... Ich dich auch. Aber weißt du was? Noch einmal schlafen, dann bin ich wieder bei euch. ... “ Seto hatte genug gehört. Vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, drehte er sich um. Er hatte sich eh auf dem Weg zum Seminarraum verlaufen. So sehr hatte es ihn enttäuscht, dass sein Plan nicht aufgegangen war. In seiner Vorstellung hatte Chef seine Hand ergriffen und sie ... Ja, was denn nun? Eine Versöhnungs- und Liebesszene vor so vielen Leuten? Vor Schreck wäre er beinahe schon wieder falsch abgebogen. Der letzte Workshop des Tages beschäftigte sich mit der Körpersprache während Präsentationen und bestand aus sehr vielen praktischen Übungen. In Vierergruppen mussten sie kleinere Vorträge improvisieren und sich anschließend gegenseitig mitteilen, was ihnen aufgefallen war. Seto hatte versucht trotz aller Vorbehalte in eine Gruppe mit Chef zu kommen, doch er war so spät dran gewesen, dass er wieder weit entfernt von ihm saß und bis er sich zu ihm durchgekämpft hatte, war seine Gruppe voll. Also blieb er selbst bei drei eher ruhigen, ihm fremden Männern hängen, die ganz aufgeregt wirkten als sie merkten, wen sie da in der Gruppe hatten. Noch ziemlich unsicher schilderten sie in der ersten Runde ihren Arbeitsalltag. Das war eines der möglichen Themen, die von einer Folie vorgeschlagen wurden. Seto entschied sich spontan stattdessen davon zu erzählen, wie er sich bei den Prototypenentwicklung von der Außenwelt abkapselte. In Runde zwei, in der sie etwas zu ihren Hobbys erzählen sollten, fing er mit ernster Miene und den Regeln des Schachs an, bekam aber noch den Bogen zum Schwimmen hin und dass er jede Wasserrutsche in Kaiba-Land persönlich getestet habe. Das lockerte sichtlich die Atmosphäre und auch die drei anderen erzählten jetzt begeisterter von sich. Es kam Leben in ihre Augen und ihre Haltung wurde selbstbewusster. Plötzlich klangen Kanufahren, das Modellieren von Actionfiguren und Schafe züchten sehr interessant. Runde drei brach vollends das Eis. Seto machte diesmal nicht den Anfang, sondern sollte als Dritter vortragen. Zum Thema „Was stört Sie bei der Arbeit?“ fielen ihm eine Menge Dinge ein, aber sobald er die ersten beiden hörten, wie sie über dieses oder jenes jammerten, wurde ihm klar, dass er es eins zu eins wiederholen könnte. Ja, ihn nervten Inkompetenz, zu spät begonnene Meetings, erkalteter Kaffee und das Getuschel auf den Fluren. Aber was könnte er ihnen erzählen, was sie nicht selbst schon wussten? „Wissen Sie, was mich wirklich nervt?“, fing er einfach an. Sie hatten zuvor eingebläut bekommen, wie wichtig es war, ihre Zuhörer bereits zu Beginn mitzunehmen. Brav schüttelte daher seine Zuhörerschaft den Kopf. Früher hätte er vermutlich gesagt: „Dieser ganze Workshop.“ Jetzt sagte er stattdessen: „Wenn mein kleiner Bruder Musik hört! Früher hat er das zu jeder Tages- und Nachtzeit in voller Lautstärke getan. Selbst wenn ich einige Zimmer weiter bei der Arbeit saß, konnte ich die Musik bestens hören. Und leider ist unser Musikgeschmack etwas verschieden. Das hält bedauerlicherweise manche Lieder trotzdem nicht davon ab sich bei mir als Ohrwurm einzunisten. Besonders schlimm war einmal ein Lied einer Sängerin, das sich über Wochen in meinem Kopf hielt. Mein Bruder hatte zu dem Zeitpunkt schon längst auf ein anderes Album gewechselt, doch ich hatte ein Geschäftsessen mit einem amerikanischen Kunden. Und statt ihm nach dem Abend zu sagen, er werde von mir für die weiteren vertraglichen Details hören, sagte ich: Call me maybe!“ Die Mundwinkel zuckten gefährlich, aber noch waren sie sich nicht sicher, ob sie tatsächlich lachen durften. „Als Antwort bekam ich ein erstauntes Lächeln und die Aussage, er habe auch Teenager zu Hause“, beendete Seto trocken und erntete überraschend Szeneapplaus. Nicht nur von den dreien, sondern auch von zwei anderen Gruppen und dem Kursleiter. Dieser überschlug sich fast mit Lob für seine Rhetorik und sein nüchternes Auftreten, das in so wundervollem Kontrast zu dem Inhalt des Vortrages gestanden hätte. Er selbst wusste nicht so richtig, wie er die Situation einordnen sollte. In seiner Nähe lachte man nicht. Wenn überhaupt lachte man trotz ihm oder sehr höflich und gekünstelt. Über ihn zu lachen wagte niemand. Aber ein paar der Teilnehmer waren in Mokubas Alter und sie lachten tatsächlich, weil sie das Erzählte für lustig hielten. Ihn für lustig hielten. Der Respekt, den sie vor ihm gehabt hatten, war damit vermutlich auch hin. Doch auch hier sollte er sich irren. Am Ende des Kurses hörte er geflüstert, wie jemand ehrfurchtsvoll von seinem Stil Anekdoten zu erzählen sprach. Und auch derjenige aus seiner Gruppe, der fragte, ob er bei an der Abendveranstaltung teilnehmen würde, blieb auf respektvoller Distanz. Er verneinte jedoch und redete sich damit raus, dass er bereits andere Pläne hätte. Dann beeilte er sich auf sein Zimmer zu kommen, ohne sich noch einmal nach Chef umzudrehen. Trotz allem machte sich ein Gefühl von Euphorie in ihm breit, während er die aktuellen Zahlen der Wochen erneut durchging und die Ergebnisse der Entwicklungsabteilung kontrollierte. Auch legte er einen ersten Entwurf für den Schlafphasen-Wecker an und formulierte die Spezifikationen so, dass das Team gleich Montagmorgen mit den Arbeiten daran anfangen konnte. Das fesselte ihn so sehr, dass er zunächst das Klopfen an der Tür nicht hörte. Das Geräusch wurde lauter und schließlich konnte er es nicht länger ignorieren und stand auf. „Was...“ Vor der Tür stand Chef mit einem schiefen Grinsen. „Hatte ich's mir doch gedacht, dass du dich in dein Zimmer verkrochen hast und dich so vor der Party drückst. Darf ich rein kommen?“ Perplex wich Seto einen Schritt nach hinten und Chef schlüpfte in den Raum. Die Tür schloss er fest hinter sich. Neugierig sah er sich um, wie Seto sich eingerichtet hatte. War das rein berufliches Interesse? Nein, stellte er kurz darauf fest, nachdem zuerst er und dann der Inhalt des Kleiderschranks gemustert wurden. „Zieh mal das an“, drückte der unerwartete Gast ihm ein mitternachtsblaues Hemd in die Hand und setzte sich auf den Stuhl, an dem Seto kurz zuvor gearbeitet hatte. „Was machst du hier?“, gelang es diesem endlich zu fragen, ohne sich zu rühren. „Ich hole dich für die abendlichen Vergnügungen ab und bin der Meinung, dass du dort nicht im gleichen Outfit auftauchen solltest, das du den ganzen Tag an hattest.“ „Aber du hast mich den ganzen Nachmittag über ignoriert!“ Chefs Augen blitzen auf, doch er antwortet gespielt beiläufig: „Und du hast dich auch ohne meine Hilfe hervorragend geschlagen, Mister Ich-bin-CEO. Das muss belohnt werden. Und jetzt zieh dich um!“ Für einen kurzen Moment glitt Setos Blick zur Badezimmertür, doch dann entschied er sich für eine offensivere Strategie. Er legte das dunklere Hemd aufs Bett und begann langsam das andere aufzuknöpfen. „Und du denkst, etwas Ruhe und die Möglichkeit meine Ideen für neue Produkte festzuhalten, reicht nicht als Belohnung?“ „Nein. Wer hat außerdem gesagt, das die Belohnung für dich ist?“ „Ich könnte mich ja auch mit dir zusammen ausruhen.“ Zufrieden bemerkte er, wie Chefs Blick auf ihm lag, während er sich vom Stoff befreite, auch wenn er den Kopf schüttelte. „Bedaure, nein. Wenn du heute Abend nicht unter Leute kommst, war der Erfolg für die Katz.“ „Letzte Chance“, wiederholte der Stehende sein Angebot, während er sich wieder anzog und das Hemd bis oben schloss. Überraschend wurden da die Hände nach ihm ausgestreckt. Mit wenigen Schritten war er bei ihm. Das Zimmer war für seine Verhältnisse wirklich zu klein. Geschickt wurde er am Kragen nach unten und mit der freien Hand in einen Kuss gezogen. Die Lippen waren so sanft, dass ihm die Knie weich wurden, obwohl ein gewisser Nachdruck in ihnen lag. Und die Hand an seinem Haaransatz fühlte sich so wundervoll warm an, während die andere ... Erschrocken machte er sich los. „Was machst du da?“ „Nur ein paar Knöpfe auf. Jetzt sieht es perfekt aus.“ Hatte er ihn nur geküsst, um das Styling zu vollenden? Kritisch musterte Seto sich im Schrankspiegel. „Das ist viel zu aufreizend!“, befand er und knöpfte sich entschlossen wieder zu. „Als würde ich jemanden aufreißen wollen!“ „Auch nicht mehr, als diese schwarzen Rollis, die du früher immer getragen hast. Und was spräche dagegen? Wie oft befindest du dich in einem Raum voll hinreisender, erfolgreicher junger Männer, von denen bestimmt ein paar nicht im Geringsten abgeneigt wären? “ %s. Video, das ich heute gesehen habe I'm gay, but I'm not ... into fashion „Es ist nur so, dass ich es mir nicht erlauben kann. Weißt du, was los ist, wenn die Presse erfährt das ich schwul bin?“, stellte Seto klar und begann sich die passende, weiße Krawatte umzubinden. „Na und? Erstens erfährt die Presse nicht immer zwingend von so etwas. Von meinen früheren Partnern kann man in ihr fast nichts lesen. Und zweitens macht deine sexuelle Ausrichtung dich nicht zu einem schlechteren Menschen.“ „Ich bin der Chef eines Spielzeugherstellers!“ „Maximilion auch. Und er ist sogar mit dem, was er während des Königreichs der Duellanten getan hat, durchgekommen. Industrial Illusions geht es besser denn je.“ „Ja, aber auch nur, weil er direkt danach komplett von der Bildfläche verschwunden war!“ „Wohl eher, weil sich Martine des Problems angenommen hat.“ „Wie bitte?“ Beinahe hätte er den Knoten zu eng gezogen. „Martine hat ihn ... nennen wir es einfach monatelangen Hausarrest erteilt. Als sie heraus bekam, was er euch, aber auch Yugis Großvater angetan hatte, ist sie ziemlich ausgetickt. Das muss wohl das erste Mal gewesen sein, dass sie sich so offen gegen ihren Bruder aufgelehnt hat. Du solltest das Jackett auslassen. So kann man deutlich besser deine Rückansicht bewundern.“ „Und wenn ich nicht möchte, dass sie bewundert wird?“ „Dann wird es für dich noch schwieriger. So könnte ich dir wenigstens Hinweise geben, wer etwas zu lange auf dieses Prachtexemplar schaut“, zwinkerte Chef ihm verschwörerisch zu und half ihm dann doch in die Jacke. „Mein Po soll aber nicht betrachtet werden!“ „Wie soll man denn sonst wissen, worauf man sich freuen kann? Oder siehst du deinen Partner dabei lieber an? Dafür sind übrigens auch Spiegel klasse. Aber die hast du bestimmt schon gut verteilt in deinem Eispalast hängen.“ Aufgebracht drehte sich Seto zu ihm um und zischte: „Lass die Anspielungen, wenn du nicht vor hast, Teil davon zu sein!“ „Aber das sind keine Anspielungen, sondern alles ernst gemeinte Fragen! Über so was musst du dir im Klaren sein, bevor du ... “ Der Groschen fiel. „Ja, du hast Recht. Lass lieber niemand diesen wundervollen Körper zu genau betrachten, solange du noch nicht einmal weißt, ob du lieber unten oder oben bist. Nach dir, Grünschnabel.“ Galant öffnete der Hotelmanager die Zimmertür und Seto rauschte mit sichtlich geröteten Wangen an ihm vorbei. Wie bereits vor drei Tagen war der Saal voll mit Menschen, doch die Atmosphäre hatte sich geändert. Sie war deutlich gelöster, jetzt wo Bekanntschaften erneuert und vertieft worden waren und der Kongress fast vorbei war. Manche sahen die Abendveranstaltung aber auch sichtlich als Möglichkeit zum Vorglühen, bevor sie zum eigentlichen Feiern das Gebäude verließen. Seto nahm sie sich zumindest in der Hinsicht als Vorbild, dass er jetzt dringend etwas Alkoholisches brauchte. Zwar schien sein Wunsch der letzten Jahre wahr zu werden, und Joey Wheeler, wollte tatsächlich etwas von ihm, aber er wurde den bitteren Beigeschmack irgendwie nicht los. Gerade wollte er an der Bar ein Glas Wein ordern, als er Mizukis Stimme hörte: „... Ich habe bereits Herrn Kaiba hier den ersten Tanz versprochen.“ Er sah gerade noch aus dem Augenwinkel, wie ihm finstere Blicke zugeworfen wurden, dann zog ihn seine Bekannte auf die halb gefüllte Tanzfläche. „Entschuldigen Sie bitte, Sie waren meine einzige Hoffnung, irgendwie da weg zu kommen“, flüsterte sie, während sie so viele Tänzer wie möglich zwischen sich und die Bar brachten. Seto ergriff derweil die Panik. Um eine größere Blamage zu vermeiden, antwortete er ebenfalls leise: „Und ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich kann nur Standardtänze.“ „Umso besser! Da kommt wenigstens keiner auf die Idee, dass er mich antanzen könnte!“ Als sie mit ihrer Position zufrieden war, hielt sie an und hob anmutig die Arme. Auch wenn sie ein ganzes Stück kleiner war als er selbst, hatte Seto keine Probleme sie in Disco Fox und Jive zu führen. Anscheinend um die Menge anzuheizen, wurden keine langsamen Stücke gespielt. Seine Tanzpartnerin hatte ihren Blazer gegen ein langärmeliges, aber luftiges Oberteil getauscht, doch ihm selbst wurde nach einer halben Stunde zunehmend wärmer. „Was halten Sie davon, wenn wir eine kleine Pause einlegen?“, sprach er die ersten Worte seitdem sie begonnen hatten zu tanzen vorsichtig aus. Seine Kehle war trocken. „Meinetwegen. Wir werden sowieso schon die ganze Zeit von dort drüben beobachtet.“ „Dort drüben“ stellte sich als ein Stehtisch heraus, an dem Makoto und Chef standen. Zuvorkommend drückte jener ihnen Gläser mit Mineralwasser in die Hand und schaute beeindruckt, als Mizuki ihr Getränk in einem Zug austrank. „Danke“, meinte sie schlicht und schob sich dann so zwischen die beiden, dass Seto unmittelbar neben Chef stand. Leicht außer Atem nippte er am Glas, während er die Krawatte lockerte und wider besseren Wissens sein Jackett auszog. In Ermangelung eines Stuhls legte er es quer über den Tisch. „Ihr habt ja ein sportliches Programm vorgelegt.“ „Nächstes Mal höre ich von Anfang an auf dich“, grummelte Seto halblaut und trank sein Glas aus. „Makoto und ich haben überlegt, ob wir uns euch anschließen.“ „Du hast überlegt. Ich lehne es immer noch ab. Meine Kondition reicht wenn überhaupt gerade mal für einen Tanz.“ „Wie sieht es bei Ihnen aus?“ Mizuki schüttelte so heftig den Kopf, dass die halblangen dunkelbraunen Haare um ihren Kopf flogen. „Ich verzichte dankend! Aber ich kann meinen Tanzpartner empfehlen.“ „Darf ich erst einmal wieder zu Atmen kommen, bevor Sie mich weiterreichen?“ „Ach, so erschöpft sehen Sie gar nicht aus. Aber wenn Sie möchten, hole ich die nächste Runde Getränke, und dann können Sie es sich ja nochmal überlegen.“ Sie lächelte ihn vielsagend an und ging hinüber zur Bar, in deren Nähe sie sich wieder befanden. Seto bemerkte währenddessen, dass Makoto ihn wissbegierig musterte. „Darf ich fragen wie Sie es angestellt haben, eine der wenigen Frauen hier im Saal abzubekommen?“, hielt er es schließlich nicht mehr aus. „Sie hat mich aufgefordert. Ich war wohl das kleinere Übel.“ „Sie können immerhin tanzen. Das muss der Neid ihnen lassen. Machen Sie das öfter?“ „Nur ein paar Mal im Jahr, wenn ich muss. Ich richte jedes Jahr einen Frühjahrsball aus, bei dem ich als Gastgeber mit gutem Beispiel vorangehe. Und dann gibt es natürlich noch Veranstaltungen wie heute.“ „Chef, hör auf so zu zappeln. Ich werde hier gerade in das Geheimnis eingeführt wie man tolle Frauen anzieht.“ „Auf jeden Fall nicht so wie du vielleicht denkst“, erwiderte der Hotelmanager spitz und wippte weiter im Takt der Musik. „Ach, was soll's. Seto, komm mit!“ Ohne die geringste Chance zur Gegenwehr wurde Seto am Arm zurück auf die Tanzfläche gezogen. Panisch blickte er sich um, doch auf der Tanzfläche hatten sich inzwischen schon andere rein männliche Paare gefunden -- neben Mizuki waren keine drei Frauen im Saal -- und so schenkte niemand ihnen groß Aufmerksamkeit. Das war auch besser so, denn allein dadurch, dass sein Vorname verwendet worden war, schlug Setos Herz schneller. Wie zuvor Mizuki hob Chef seine Arme, nur mit dem Unterschied, dass er größer als sein Tanzpartner war. Unschlüssig machte Seto die ersten Schritte und stellte bald fest, dass der andere problemlos folgen konnte. „Woher kannst du das?“ „Tanzen oder die Damenschritte?“ „Beides.“ Sie begannen eine Drehung zu deren Ende Chef in seinen Armen lag. Einen kurzen Moment schmiegte er sich an, dann drehte er aus und erklärte: „Das eine ist gesellschaftliche Konvention, das andere purer Spaß an der Freude. Du führst übrigens gut. Das könnte dir auch bei anderer Gelegenheit zu Gute kommen. Aber wenn du magst übernehme ich mal.“ Setos Züge entgleisten und er kam kurz aus dem Rhythmus. „Keine Angst. Bleib bei den Herrenschritten. Wie sagte schon Ginger Rogers? Als Partnerin von Fred Astaire habe ich immer die gleichen Schritte wie er gemacht. Aber rückwärts und mit hohen Absätzen.“ Der Wechsel war subtil und von außen vermutlich nicht sichtbar, aber Seto spürte es. Die Signale waren klar und eindeutig und lotsten ihn sicher durch Schrittfolgen, an die er sich nur noch äußerst vage erinnerte und von sich aus nie eingebaut hätte. „Besser. Auch wenn du nicht schlecht geführt hast. Aber so kann ich einfacher schauen, was um uns passiert.“ „Wieso das denn?“ „Du schwingst diesen absolut hinreißenden Hintern seit fast einer Stunde übers Parkett. Da müssten sich inzwischen ein paar Interessenten gefunden haben. Es ist eh ein Wunder, dass ich noch nicht längst abgeklatscht wurde...“ Und wieder kam Seto aus dem Takt. „Ich will aber keinen anderen Tanzpartner. Es ist schon schlimm genug, dass ich überhaupt mit einem Mann tanzend gesehen werde. War das nicht der Grund weswegen Makoto abgelehnt hat?“ „Nein, er hatte letztes Jahr einen Bänderriss und macht daher langsam. Davor wäre er nicht zu halten gewesen. Und entspann dich. Wir sind nicht die einzigen, die zusammen tanzen - obwohl wir die einzigen mit Klasse sind“, fügte er nach einer weiteren Drehung hinzu. Erstaunlicherweise half diese Äußerung etwas und Seto begann die Situation zu genießen. Denn genau genommen hielt er vor aller Augen die Hand seines Schwarms, ohne dass etwas dabei war. Plötzlich änderte sich die Musik zu etwas Ruhigerem und Chef blieb fragend auf Abstand, seine Rechte noch in Setos Linker. Dieser verstand und überlegte kurz. Es war seine Chance auf mehr Körperkontakt, doch so vor den Augen anderer wollte er das nicht. Er machte eine Kopfbewegung zu ihrem Tisch und fragte: „Was willst du trinken? Wein?“ „Bin ich ein Pegasus?“ Doch er hielt ihn am Arm zurück. „Kleiner Scherz. Beginnen wir mit einer Kirschschorle. Wäre schade, wenn ich den Wein gegen den Durst trinke.“ Sie trennten sich. Die Bar war zum Glück nicht mehr so belagert und der Barkeeper dahinter erledigte schnell die Bestellung. Auf dem Rückweg zum Tisch wurde Seto jedoch aufgehalten. Der Kursteilnehmer vom Nachmittag schob sich ihm leicht in den Weg und begrüßte ihn überschwänglich: „Wie schön, Sie doch hier zu sehen!“ „Ja. Es war ein recht spontaner Entschluss“, erwiderte Seto kurz angebunden. Er wollte möglichst schnell zu Chef zurück. Denn wer wusste, was sich aus ihrem Tanz noch ergeben konnte? „Sind das nicht eh die Besten? Sie haben übrigens toll beim Tanzen ausgesehen. Wenn Sie nachher Lust haben... Ich habe den Tanzkurs bis zum Gold Start gemacht.“ Seto, der eigentlich nach Makoto geschielt hatte, um zu wissen, in welche Richtung er gehen musste, wandte nun seine vollkommen Aufmerksamkeit dem ungebetenen Gesprächspartner zu. Dieser war ein absoluter Durchschnittstyp, langweilige braune Haare, dunkle Augen, weder sonderlich groß noch klein, kein weiteres Merkmal stach an ihm ins Auge. Das Interessanteste war noch das magentafarbene Einstecktuch. „Ich glaube nicht. Ich hatte nur eine Wette verloren“, erklärte der CEO der Kaiba Corporation ihm und hoffte, dass damit auch geklärt war, dass er keinerlei Interesse hatte. Es befriedigte ihn zwar, dass Chefs Plan aufging, doch etwas an der Art des anderen stieß ihn ab. Schnellen Schrittes ging er weiter und stellte die Getränke auf dem Tisch ab. Obwohl ihm noch viel zu heiß war, zog er sein Jackett wieder an. Dann fragte er an Makoto, der alleine rumstand, gewandt: „Wo ist Chef?“ „Nur kurz raus. Sollte gleich wieder da sein. Gab es gerade Probleme?“ Seto folgte seinem Blick zurück und sah wie sein neuer Bekannter finster gemustert wurde. „Nein. Es wurde nur eine Theorie von Chef bestätigt.“ „Ja, gruselig womit er alles Recht hat. Wie lang kennen Sie sich eigentlich schon?“ „Seit der Schulzeit. Wir waren einige Jahre auf der gleichen Schule, haben uns aber nach dem Abschluss aus den Augen verloren. Davor ist er auch in einem paar meiner Duelle angetreten“, antwortet Seto wahrheitsgemäß. „Stimmt. Komisch, dass mir der Gedanke nie kam. Aber das erklärt es natürlich“, murmelte Makoto und starrte versonnen in sein Glas, bevor er trank. „Wie meinen Sie das?“ „Nun ja. Ich bin mit Chef erst seit einiger Zeit befreundet und“ , druckste er nun verlege, „als Ryan sich damals von ihm getrennt hat klangen die Anschuldigen etwas an den Haaren herbeigezogen. Aber jetzt, wo ich Sie so vor mir sehe, macht es irgendwie Sinn.“ „Macht was Sinn?“ Statt auf die Frage zu antworten, trank Makoto einen weiteren großen Schluck. Doch der Tonfall war so schneidend gewesen, dass er sein Smartphone herauszog. „Bitte trinken Sie etwas.“ Seto gehorchte und leerte das halbe Glas, bis der andere das gefunden hatte, was er offensichtlich gesucht hatte. Wortlos schob er ihm das Gerät hin. Das Display zeigte zwei Männer, die liebevoll die Arme um einander gelegt hatten und in die Kamera strahlten. Den einen erkannte er inzwischen problemlos als Joseph Pegasus. Der andere war etwas kleiner, war brünett und hatte blaue Augen. Doch es gab noch mehr Details. Das schmale Gesicht, die hervorstehenden Wangenknochen. Das da auf dem Bild war er! Und doch wieder nicht. Im Durchgang stieß er mit Joseph zusammen. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten oder gar langsamer zu werden, packte er ihn am Arm und befahl: „Mitkommen!“ Kaum waren sie außer Hörweite der Feiernden, fragte er: „Wer ist Ryan?“ „Woher kennst du diesen Namen?“, wollte der Blonde seinerseits aufgebracht wissen. „Wer ist Ryan?“, wiederholte Seto und sah ihm dabei fest in die Augen. Oh ja, er konnte immer noch eisig schauen, wenn er wollte. Auch wenn in ihm aktuell ein Feuer loderte, dessen Ursprung er noch nicht zuordnen konnte. „Wer ist Ryan? Sag es mir!“ „Mein ehemaliger Verlobter. Verdammt! Du solltest diesen Namen noch nicht einmal kennen!“ „Und wieso nicht? Weil ... “ , überkam Seto ein schrecklicher Gedanke, „ich eine Art Ersatz bin? Eine billige Kopie? Ging es dir die ganze Zeit darum? Warst du deswegen nett zu mir und wolltest mir helfen? Weil du Arsch deine Gewissensbisse mit mir beruhigen wolltest? Frei nach dem Motto, wenn ich Kaiba helfe, helfe ich eigentlich meinem Ex und mache meinen Seitensprung ungeschehen? Seht her! Ich verkuppel meinen Ex und damit bin ich fein raus?“ „Halt's Maul! Was weißt du denn schon? Wie oft habe ich dir in den letzten drei Tagen gesagt, dass ich keine Beziehung mit dir will?“ „Gesagt hast du vieles, aber mich doch jedes Mal wieder angemacht! Scheint so, als hätte es dein Stolz nicht verkraftet, abserviert zu werden. Ganz ehrlich, ich kann ihn verstehen. Mit so einem würde ich auch nicht“ „Ich sagte du sollst still sein!“ Seto war vom Anblick, den sein ehemaliger Mitschüler bot so erschrocken, dass er gehorchte. Weder Joseph Pegasus noch Joey Wheeler hatte er je so erlebt. Er zitterte am ganzen Leib als hätte er alle Mühe sich zu beherrschen. Das Gesicht war fleckig rot und seine Augen verströmten eine Kälte, auf die ein anderer Seto Kaiba neidisch gewesen wäre. „Du denkst es drehe sich hier alle um dich, oder? Einen Scheißdreck tut es das! Du hast mir einfach nur Leid getan und ich dachte, du hättest dich wenigstens ein bisschen geändert! Aber da lag ich wohl falsch. Zu deiner Information: Weder du noch Ryan seid Kopien voneinander! Er ist so viel besser als du! Das wissen alle, die jemals beide von euch kennen gelernt haben! Und ja, ich bin in der Lage hinter die Fassade einer attraktiven Hülle zu sehen! Aber du minderwertiges Stück Dreck musstest dich ja in meine Träume schleichen! Musstest mir alles zerstören, weil mein jüngeres Ich noch an dir hing! Um eine Sache all für eine Mal klar zu stelle: Ich habe mich mit dir nicht wegen sondern trotz meiner gescheiterten Beziehung abgegeben!“ Für einen kurzen Moment dachte Seto, dass ihm reale Schläge lieber gewesen wären. Denn dagegen hätte er sich wehren können. Doch diese Gnade wurde ihm nicht gewährt. Stattdessen traf ihn jeder Satz dort, wo allgemein das Herz vermutet wurde. Und mit jedem Treffer bekam etwas in ihm Risse, bis es schließlich vollends zersprang. Die Hitze, die zuvor in ihm gelodert hatte, verpuffte wie Wasser, dass auf einen heißen Stein traf. Doch in seinem Fall siegte das Wasser. Im Angesicht des Hasses, der ihm von seinem Hündchen entgegenschlug, war das Letzte, was er wollte, schwach zu wirken. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Augen feucht wurden. „Dann lass mich doch einfach in Ruhe!“, schleuderte er dem fremden Mann entgegen und lief los. Er sollte, nein, durfte ihn nicht so sehen. Verletzlicher als ihn je ein anderer Mensch gesehen hatte. Er hörte keine Schritte hinter sich. Dennoch beschleunigte er seine eigenen, bis er schließlich rannte. Er wollte auch nicht riskieren beim Warten auf den Aufzug eingeholt zu werden, also stürmte er die Treppe im Hotel hinauf, obwohl ihn das vermutlich langsamer machte. Alles in ihm schrie und befahl ihm, aus diesem Hotel, dem Hoheitsgebiet dieses Mannes zu fliehen. Aber als er endlich in seinem Zimmer anlangte hatte, reichten seine Kräfte nur noch dazu die Tür hinter sich zu verbarrikadieren, bevor er vollends zusammenbrach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)