Schatten der Schuld von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Eine halbe Stunde lang lag Victor einfach auf seinem Bett und starrte an die Decke. Ein Teil von ihm hatte darauf gewartet, dass Mom oder Dad ihm nachkommen würden, um mit ihm zu reden, und ein anderer Teil hatte nichts mehr gehofft, als dass sie genau das nicht taten, dass sie ihn einfach alleine ließen. Niemand war ihm nachgekommen. Offensichtlich waren seine Eltern der Ansicht, dass es für den Moment das Beste wäre, ihn in Ruhe zu lassen, und damit hatten sie vermutlich recht. Denn es gab vermutlich nichts, was sie hätten sagen können, das nicht dazu geführt hätte, dass Victor sich erneut aufregte. Also hatte Victor eine gute halbe Stunde lang einfach so dagelegen. Er hatte nicht die ganze Zeit geweint, seine Tränen waren nach etwas zehn Minuten versiegt, und das Gefühl von Wut und Angst war einer Leere gewichen die ihn vollkommen auszufüllen schien und sich alles andere als angenehm anfühlte. Ein paar Mal hatte er Mittens vor der Tür maunzen gehört, offensichtlich verlangend, ins Zimmer gelassen zu werden, doch selbst die Anwesenheit der zierlichen schwarzen Katze, die er doch eigentlich so sehr liebte, wäre Victor in diesem Augenblick zu viel gewesen. Er drehte sich auf die Seite, starrte in Richtung Fenster. Der Himmel draußen war dunkel und wolkenverhangen, es hatte den ganzen Tag über geregnet, bis zum Einbruch der Dämmerung. Einige Regentropfen klebten noch immer an der Scheibe, hinter der die Äste der alten Linde im Garten sanft im Wind hin und her wogten. Ein Anblick, der ihm irgendwie verlockend erschien… Im nächsten Augenblick war da die Stimme seines Vaters, die in Victors Kopf widerhallte als wäre sie mehr als ein bloßer Gedanke der Erinnerung: „Was soll das Theater? Hör auf so ein Drama zu machen!“ Instinktiv presste Victor die Hände auf die Ohren, aber selbstverständlich brachte das nicht das Geringste, denn sein Vater war nicht wirklich da; da war bloß seine Stimme… Seit er sich auf sein Bett hatte fallen lassen waren immer wieder fetzen des vorangegangenen Gesprächs in Victors Kopf aufgetaucht. Deutlich wie von einem Tonband abgespielt, und jedes Wort hatte ihm erneut einen Stich versetzt… „Du verstehst das doch, oder?“ Nein, tat er nicht. „Du bist immer allein, du hast keine Freunde hier!“ „Es kann dir doch egal sein, wo wir wohnen!“ Das, und all die Dinge, die keiner von ihnen ausgesprochen hatte, von denen Victor sich jedoch beinahe sicher war, dass sie seinen Eltern während des Streits durch den Kopf gegangen waren: „Wieso musst du immer so stur sein?“ „Warum machst du immer so viel Ärger?“ „Wieso kannst du nicht einfach so unkompliziert sein wie Andrej es war?“ An dieser Stelle schrie Victor auf. Wie von einem elektrischen Schlag getroffen sprang er aus dem Bett und stürzte quer durch den Raum, zu der gegenüberliegenden Wand die voll war mit Postern von Planeten und Raumsonden, für die er im Moment jedoch keinen Blick übrig hatte. „Ich bin nun mal nicht Andrej!“, fauchte er, mit vom Weinen heiser gewordener Stimme. Dann schlug er zu. Die erneut in ihm aufgestiegene Anspannung entlud sich nun in mehreren festen Schlägen mit der flachen Hand gegen die Wand. Es war eine unterbewusste Handlung, die Victor nicht wirklich zu steuern zu vermochte, und sie schien in diesem Augenblick das Einzige zu sein was ihm dabei helfen konnte, sich ein wenig zu beruhigen. Er spürte den Schmerz kaum, da war bloß ein dumpfes Pochen wenn seine Hände gegen die Tapete prallten, und nach etwa einer halben Minute hielt Victor mitten in der Bewegung inne und starrte benommen geradeaus. Sein Herz schlug unnatürlich schnell, und jeder Muskel seines Körpers schien angespannt zu sein. Er keuchte als habe er grade einen Marathonlauf hinter sich gebracht, und genau so fühlte er sich auch: erschöpft und ausgelaugt, vollkommen am Ende… Dann wich mit einem Schlag sämtliche Spannung aus seinem Körper, seine Beine knickten unter ihm weg. Es gelang ihm noch, seinen Sturz mit seinen ausgestreckten Händen abzufangen und so zumindest zu verhindern, dass er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, und in dieser zusammengekauerten Haltung verharrte er, während ihm erneut einzelne Tränen übers Gesicht liefen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal derart elend gefühlt hatte. Da war noch immer Wut in ihm, doch mittlerweile richtete diese sich kaum mehr gegen seine Eltern und die von ihnen getroffene Entscheidung des Umzuges. Sondern primär gegen sich selbst. Die Worte, die sie nicht ausgesprochen, aber nach Victors Überzeugung doch ganz sicher gedacht hatten hallten in seinem Kopf wider; diese Vorwürfe, das Unverständnis. Die Enttäuschung, die er mit seinem Verhalten doch so wahrscheinlich in ihnen auslösen musste. „Tut mir leid…“, murmelte er heiser in die Stille des Raumes hinein, bevor er seine Augen schloss. „Tut mir leid, dass ich nicht wie Andrej bin.“ Wieso ihn der Gedanke an seinen Bruder an diesem Abend so präsent begleitete wusste er nicht. Normalerweise dachte er bloß äußerst selten an ihn, was wahrscheinlich ebenfalls der Tatsache geschuldet war, dass er keine wirkliche Bindung zu ihm besessen hatte. Doch seit diesem Streit hatte die Erinnerung an ihn sich in Victors Verstand festgesetzt, wie ein Parasit der von seinem Wirt zehrte und ihn langsam aber sicher wahnsinnig machte. Andrej hätte kein so großes Problem mit einem Umzug gehabt. Hätte sich wahrscheinlich sogar darüber gefreut, denn irgendwie hatte er sich immer über absolut alles gefreut. Selbst wenn man ihn einfach nur angesehen hatte hatte er angefangen zu lachen und zu verstehen gegeben, dass er gerne auf den Arm genommen werden wollte - etwas, das Victor schon solange er denken konnte absolut unerträglich fand. Ja. Andrej hätte nicht so ein Theater gemacht. „Ich bin aber nun mal nicht Andrej…“, wiederholte Victor leise, so als müsse er sich selbst von diesen Worten überzeugen. Er richtete sich auf, blickte sich um. Sein Körper fühlte sich schlapp und ein wenig taub an, so als habe er mit den blinden Schlägen gegen die Wand all seine Energie verbraucht. Er schwankte, als er aufstand, und kurz befürchtete er, dass er auf der Stelle wieder zusammenbrechen würde. Nachdem sein Kreislauf sich wieder beruhigt hatte ging Victor hinüber zum Fenster und starrte nach draußen. Am Horizont zeichnete sich die Silhouette des Waldes in tiefstem Schwarz gegen den dunkelgrauen Himmel ab, an dem bloß einige wenige letzte Sonnenstrahlen noch das Ende der Abenddämmerung verkündeten. Der Wind schien ein wenig stärker geworden zu sein, betrachtete man die Äste der Linde, doch es hatte noch nicht wieder zu regnen begonnen, und während er so dastand und in Richtung des Waldes blickte begannen Victors Gedanken wieder zu rasen. Ein weiteres Mal stürzten alle Eindrücke des heutigen Abends auf ihn ein. Es war nicht so heftig wie zu vor, dieses Mal fühlte er sich nicht wie betäubt, aber dennoch hilflos und unfähig, mit all diesen Dingen umzugehen. Da war das Bild von gepackten Umzugskartons, das in seinem Kopf aufblitzte. Von einem großen Lastwagen in den all ihre Möbel geladen wurden… wobei, würden sie die Einrichtung aus diesem Haus überhaupt mitnehmen? Victor mochte nicht sonderlich gut in Geographie sein, doch dass sie, um nach Amerika zu kommen, das Meer würden überqueren müssen, war ihm durchaus klar. In einem Flugzeug konnten sie doch kaum ihr ganzes Inventar mitnehmen, oder? Nein, wahrscheinlich würden sie dort drüben alles neu anschaffen. Es wäre nicht bloß eine neue Umgebung, nein, es würde auch im Haus selbst absolut alles anders aussehen; andere Möbel, andere Tapeten… Und wieder spürte Victor die Panik in sich aufsteigen. Ein Neuanfang. Weit weg. Alles neu. Als hätte jemand all die Dinge, die Victor am meisten Angst machen, zusammengefasst und seinen Eltern eine Idee eingepflanzt die sie alle beinhaltete. Natürlich, er wusste nicht, wie dieser Umzug am Ende wirklich ablaufen würde, ob seine Befürchtungen nicht vielleicht übertrieben waren, aber verdammt, er wollte es auch nicht herausfinden! Er wollte einfach auf keinen Fall nach Amerika! Die Panik raubte ihm den Atem. Victor hatte das Gefühl, dass kein Sauerstoff mehr seine Lunge erreichte, als könne sein Körper die Luft nicht entsprechend verarbeiten. Die Wände seines Zimmers schienen ihn mit einem Mal zu erdrücken. Es war eng, zu eng; die Wände und dazu die Gedanken, das alles schien ihn gleichermaßen zu zerquetschen, ihm das Gefühl zu geben zu ersticken… Er musste weg. Raus. Egal wohin, einfach bloß raus, wo es Luft gab, wo er atmen konnte! Der Weg hinüber zum Fenster erschien ihm unendlich weit, und derart anstrengend, als kämpfe er sich durch Morast oder Treibsand anstatt einfach bloß über den Teppich seines Zimmers zu laufen. Es war schwierig, das Fenster zu öffnen, denn noch immer war sein Blick verschwommen, doch als es ihm schließlich gelungen war und ihm die kühle Abendluft entgegenschlug fühlte Victor sich auf der Stelle ein wenig besser. Noch nicht gut, nein. Solange er hier war, würden seine Gedanken nicht aufhören zu rasen, und nicht einer von ihnen würde klar sein, alles bloß ein wirres Gemisch erdrückender Selbstvorwürfe und Vorstellungen. Mit nun ein wenig klarerem Blick kletterte Victor auf die Fensterbank und beugte sich ein Stückchen vor. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einer solchen Situation befand. Es kam immer mal wieder vor, dass ihm alles zu viel wurde, wenn seine Eltern sich stritten beispielsweise, oder wenn seine Mutter einfach nicht aufhörte ihn dazu bewegen zu wollen, mit den Kindern ihrer zu Besuch gekommenen Freundinnen zu spielen. Wenn so etwas geschah, dann ertrug Victor es einfach nicht, in seinem Zimmer zu sein. Und deshalb wusste er auch ganz genau, dass der Ast der Linde, der fast bist zu seinem Fenster heranreichte, bei weitem nicht so instabil war wie er anmutete. Auch heute trug er Victors Gewicht ohne dabei großartig nachzugeben. Das Holz war nass vom vorangegangenen Regen, und einen Augenblick lang kam Victor ins Straucheln, doch er schaffte es ohne große Schwierigkeiten an einem weiteren Ast festzuhalten und so sein Gleichgewicht wiederherzustellen. Kurz hielt er inne. Blickte zurück zur Hauswand, lauschte. Sah dann nach unten. Aus dem unter ihm liegenden Wohnzimmerfenster drang kein Licht, was ihn nicht überraschte - wahrscheinlich saßen seine Eltern noch immer in der Küche, über das so schlecht verlaufene Gespräch reflektierend. Das war gut. Von dort aus würden sie ihn nicht sehen können. Wenn seine Mutter mitbekam, was er hier tat, würde sie sehr wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen… Der Weg nach unten barg für Victor keinerlei Schwierigkeiten. Wahrscheinlich hätte er ihn auch blind meistern können, so vertraut war ihm jeder Ast, jede Vertiefung im Stamm. Unten angekommen wischte er seine dreckigen Hände an seinem Pullover ab, dann wandte er sich in Richtung des Waldes. Das Waldstück begann unmittelbar hinter dem Zaun, der den Garten begrenzte, und nach einem schnellen weiteren Blick über die Schulter lief Victor darauf zu, dabei darauf gedacht, keinerlei unnötige Geräusche zu verursachen. Das mochte paranoid sein, doch er hatte nicht das geringste Interesse daran, dass seine Eltern ihn bei seinem Vorhaben erwischten und er sich ein weiteres Streitgespräch an diesem Abend anhören durfte. Und so war Victor auch äußerst vorsichtig, als er die beiden morschen Bretter des Zaunes beiseite schob, sich durch die entstandene Öffnung zwängte, und die Bretter hinter sich langsam wieder an ihren vorgesehenen Platz gleiten ließ. All das ging beinahe vollkommen lautlos vonstatten. Und nun, in der beinahe vollkommenen Dunkelheit des Waldes, die die meisten anderen Leute, insbesondere Kinder, wohl als ausgesprochen bedrohlich und unheimlich empfunden hätten, schaffte Victor es endlich, sich zu entspannen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)