Balance Defenders von Regina_Regenbogen ================================================================================ Kapitel 105: Verletzter Stolz – Secret verstehen ------------------------------------------------ Verletzter Stolz – Secret verstehen „In Wut geraten, heißt stolz sein.“ (Von den Bantu) Nachdem sie auch Destiny zu Hause abgeliefert hatten, tauchten sie im Keller von Unites Haus auf. Da das Zimmer von ihr und ihren Geschwistern oft nicht leer war, hatten sie sich dazu entschlossen, diesen als Abhol- und Ankunftspunkt zu wählen. „Bis morgen.“, sagte Trust sachte. Doch anstatt seine Hand loszulassen und wie gewöhnlich ihn und Change mit einem Lächeln zu verabschieden, blieb Unite stehen, ohne ihn anzusehen. Gerade wollte er sie danach fragen, als er sich eines Besseren besann. „Change, ich gehe von hier aus zu mir. Dann kannst du deine Kräfte schonen.“ Leicht überrascht bestätigte Change. Ewigkeit erschien und informierte, dass Trusts Zimmer leer war, woraufhin sie gebeten wurde, bei Change nachzusehen. Sie verschwand erneut, tauchte Sekunden später wieder auf und gab das Freizeichen. Mit einem letzten Gruß ließ Change Unite und Trust allein.   Das Leuchten Ewigkeits, die bei ihnen geblieben war, war die einzige Lichtquelle im Raum. Für weitere Momente blieb Unite neben Trust stehen. „Danke.“, flüsterte sie. „Was ist los?“, erkundigte er sich vorsichtig und schämte sich im gleichen Moment für die dumme Frage. Nach allem, was geschehen war, wäre nichts unangebrachter gewesen. Er spürte, wie sie seine Hand drückte, und wusste nicht, was er sagen sollte. Ihre Offenbarung kam überstürzt und ohne Vorwarnung. „Ich war bei Erik. Heute Mittag. Bevor wir uns getroffen haben.“ Trust stockte und fühlte, wie sein Magen zu einem harten Klumpen wurde. Er hatte das Gefühl, etwas gehört zu haben, das er nicht wissen sollte. Schuldgefühle zurrten seine Brust zusammen. „Was hast du …“ Unite riss ihren Kopf in seine Richtung. Im Schein Ewigkeits sah er das Entsetzen auf ihren Zügen. Schmerz zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab und sie ließ seine Hand abrupt los, als hätte er sie betrogen. Trust begriff, was er gerade gesagt und gedacht hatte. Er hatte geglaubt, sie habe etwas mit Eriks Verwandlung zu tun gehabt. Von der Erkenntnis getroffen, wusste er nicht, was er sagen sollte. In Unites Augen glitzerten Tränen. Aber das schlechte Gewissen über seine grausame Unterstellung ließ es nicht zu, dass er sich ihr näherte oder noch einen Ton herausbrachte. „Was ist passiert?“, fragte stattdessen Ewigkeit. Er hörte Unite hart schlucken und hätte sich gewünscht, seine unbedachten Worte rückgängig machen zu können. „Du bist nicht schuld daran.“, versuchte er hastig, sie zu beruhigen. „Ich weiß!“, stieß sie heftig aus. Es klang fast, als wolle sie ihm einen Vorwurf machen. Vielleicht fühlte es sich für ihn auch nur so an. Sie ließ ihn stehen und lief, gefolgt von Ewigkeit, zur Tür des Kellerraums, öffnete sie und schaltete in dem dahinter befindlichen Teil das Licht an. Zeitgleich verwandelte sich ihre Beschützeruniform in ihre normale Kleidung.  Wieder in seine Richtung gedreht, hielt sie die Tür geöffnet, wodurch das Licht hinter ihr hereinfiel. Allein Ewigkeits Leuchten beschien ihre Züge. Noch nie hatte er so einen harten Gesichtsausdruck an ihr gesehen. Er musste sie aufs Tiefste verletzt haben und wusste nicht, wie er das wieder gutmachen konnte. Wie ein geschlagener Hund tat er die Schritte, die ihn von ihr trennten, und hielt den Kopf gesenkt. Er trat aus dem Kellerraum. „Du solltest dich zurückverwandeln.“, sagte Vivien in grobem Tonfall, während sie die Tür hinter ihm schloss, ohne ihn anzusehen. Er schluckte und nahm seine alltägliche Gestalt an. Erst in diesem Moment fiel ihm ein, dass er sich in seinem Zimmer verwandelt hatte, wo er einfache Hauskleidung und keine Straßenschuhe getragen hatte. Das hatte er nicht bedacht, als er sich entschieden hatte, noch einen Moment bei Vivien zu bleiben.   Vivien warf Justin hinter seinem Rücken einen flüchtigen Blick zu. Sie bemerkte sofort, dass er keine Schuhe trug. Eine Millisekunde tat es ihr leid, ihn dazu genötigt zu haben, bei ihr zu bleiben. Dann spürte sie wieder die Wut und Kränkung darüber, dass er geglaubt hatte, sie wolle ihm gegenüber ein Schuldgeständnis ablegen, wo sie ihm doch nur hatte anvertrauen wollen, was am Mittag geschehen war! Sie hatte es den anderen nicht verheimlichen wollen! Sie hatte nur nicht die Gelegenheit gehabt, es ihnen zu sagen. Der Zeitpunkt wäre mehr als unpassend gewesen. Und der einzige Grund, aus dem sie jetzt noch mit Justin darüber hatte reden wollen, war, dass ihr die ganze Sache viel näher ging als sie es den anderen gegenüber hatte zeigen wollen. Weil sie wusste, dass besonders Ariane noch mehr litt als sie selbst. Ja. Sie trug die Verantwortung. Daran, dass sie Erik noch nicht die Wahrheit gesagt hatten. Diese Schuld nahm sie auf sich, auch wenn es ihr – nach dem, was eben geschehen war – Leid bereitete. Sie konnte es nicht rückgängig machen. Und sich über die Vergangenheit den Kopf zu zerbrechen und zu klagen, hätte ihr nur den Blick auf die nun notwendigen Schritte verstellt. Sie musste mit der jetzigen Situation umgehen! Das hatte höchste Priorität. Dennoch hatte sie Gefühle. Gefühle, die sie nicht lange unterdrücken konnte oder wollte, weil sie wusste, dass Verdrängung falsch war. Diese Gefühle hatte sie ihm zeigen wollen. Nur ihm. Deshalb tat es auch so weh. Dass er geglaubt hatte, sie habe etwas mit Eriks Verwandlung zu tun, hätte sie noch akzeptieren können. Es wäre kein Grund gewesen, ihm böse zu sein. Aber seine Annahme, sie hätte es den anderen verschwiegen, um sich feige vor der Verantwortung zu drücken, – dass er ihr das zutraute! – schmerzte.  Ihm keinen einzigen Blick schenkend, lief sie mit wütenden Bewegungen zur Treppe und stieg diese hinauf, ohne auf ihn zu warten. Sie musste erst mal mit ihren eigenen Emotionen klarkommen. Am Ende der Treppe angekommen, beobachtete sie ihn grimmig, wie er ihr reumütig nachschlich, den Kopf eingezogen, Ewigkeit ihm voraus. Aber das genügte ihr nicht. Sie wollte den Schmerz auf seinem Gesicht sehen. Denn das einzige, das ihre eigene durch ihn verursachte Pein in Schranken hielt, war – Vivien erstarrte. Ihr Sehnerv nahm Ewigkeits unschuldig arglose Gestalt wahr, die lächelnd die Treppe hinauf schwebte, als wäre die Welt noch heil, doch Viviens Verstand war mit etwas anderem beschäftigt. Sie fühlte, dass das, was sie gerade dabei war zu erfassen, richtig war. Wichtig war! Diese Wut und Enttäuschung, der Wunsch, geliebten Menschen Leid zuzufügen. Sie hätte das früher einmal als Sadismus abgetan, als etwas, das nur gemeine Menschen fühlen konnten. Jetzt verstand sie, warum sie Secrets Gefühle zuvor nicht hatte einordnen können. Diese Gefühle waren ihr fremd gewesen! Solche schrecklichen Dinge hatte sie vorher durch niemanden kennengelernt. Diesen Schmerz und den leidvollen Widerwillen. Secrets Grinsen kam ihr in den Sinn. Ja. Es hätte ihr Genugtuung gegeben, wenn Justin gelitten hätte, jetzt auf dieser Treppe. Aber sie wusste, dass sie sich im Nachhinein für ihr Verhalten furchtbar gefühlt hätte. Das war wohl der Unterschied. Secret hatte nicht den leisesten Ansatz dafür gezeigt, Reue zu empfinden. Er hatte diese kleinen Mechanismen, die im Hintergrund abliefen, einfach ausgeschaltet. Die Angst, jemanden zu verletzen und dadurch dessen Zuneigung zu verlieren, die Vivien in Schranken hielt… Diese Schranke hatte er eingerissen und war in eine Freiheit getreten, in der er jedem, dem er wollte, Leid zufügen konnte. Sie taumelte ein paar Schritte von der Treppe weg und hielt sich den Kopf. Sie verstand Secret! Das Glöckchenklingeln Ewigkeits ertönte neben ihrem Ohr, sie hörte wie Justin die letzten Stufen nahm und neben ihr stehen blieb. „Vivien…?“, fragte er voller Sorge in der Stimme. Sie sah wieder zu ihm auf und fragte sich, ob sie ihn gegen eine Wand oder einen Tisch schleudern können würde, wenn es ihr egal war, was er fühlte. Wenn es ihr egal war, ob er sie danach noch mochte.   Ja. Dazu wäre sie fähig. Wieder kam der Groll, als sie Justins verständnisloses Gesicht sah, und sie musste sich schwer zusammenreißen, um ihn nicht einfach vor die Tür zu setzen, denn eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, ihm ihre Erkenntnis mitzuteilen! Das hatte er überhaupt nicht verdient! Aber wem hätte sie es stattdessen sagen wollen? Ihr wurde klar, dass sie, solange sie so wütend auf Justin war, mit gar niemandem reden wollte. Stattdessen würde sie über ihren Zorn auf Justin nachdenken und darüber, was sie am liebsten gesagt hätte, um ihn zu treffen. Vielleicht war es ja das Beste, ihm einfach eine Ohrfeige zu geben, damit diese Wut endlich verschwand! Aber bei dem bloßen Gedanken daran zog ihr Körper die Notbremse. Sobald sie ihre Hand erheben wollte, wusste sie, dass sie Justin überhaupt nicht wehtun wollte. Was für ein kompliziertes Gefühlsmischmasch! Bei dem Vorsatz, nett zu ihm zu sein, zog sich ihre Brust zusammen an der Stelle, wo ihr Stolz und ihr Ego saßen. Ihr Stolz gebot ihr, ihm keinesfalls ihre Verwundbarkeit zu zeigen, sondern ihm gegenüber die gleiche Grausamkeit an den Tag zu legen, die er ihr erwiesen hatte. Wie hätte sie ihm das einfach nachsehen können, ohne sich dabei selbst zu verraten? Darum bemüht, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, rief sie sich Serena und Erik ins Gedächtnis und wie viel Leid ihnen ihr Stolz einbrachte. Wie sehr sie sich damit selbst verletzten. Eriks Blick.   Einen weiteren Moment rang sie mit sich und dem Anspruch, Recht zu behalten, indem sie an ihrem Groll und ihrem Urteil über Justins Verhalten festhielt. Aber wollte sie Recht haben oder wollte sie glücklich sein? Mit aller Kraft warf sie sich in Justins Arme.   Davon völlig überrumpelt, stand er kurz einfach nur regungslos da, während Vivien ihre Arme um seinen Brustkorb schlang. „Es tut mir leid.“, sagte Justin und kam sich auch dabei blöd vor. Er verstand die Situation nicht und hatte keine Ahnung, was die richtige Handlungsweise war. Im Kampf hatte er immer schnell einen Plan parat, wusste, was er tun musste: Er musste die anderen beschützen. Aber er war ein Versager, wenn es um den Umgang mit Menschen ging. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sich einfach von Menschen fernhielt. Er konnte nicht wissen, dass seine Worte für Vivien wie eine Belohnung dafür waren, dass sie gerade ihren ganzen Stolz über Bord geworfen hatte. Die Hände immer noch halb um seinen Oberkörper geschlungen, machte sie einen halben Schritt zurück. Das war notwendig, um ein vernünftiges Gespräch führen zu können, denn in seinen Armen fühlte sie sich sicher und geborgen, und wenn man sich sicher und geborgen fühlte, dachte man nicht. Sie sah zu ihm auf und fühlte ihre Wangen unwillkürlich vor Freude glühen, als sie seinen hochroten Kopf bemerkte. „Secret hat einen guten Grund.“, begann sie. Justin sah sie verwundert an. „Es sind seine Gefühle. Er muss das tun, sonst –“ Sie drehte ihren Kopf zur Seite, weil ihr die Worte erst in diesem Moment kamen. „Sonst leidet er.“ Ihr Gesicht verzog sich vor Mitgefühl. Sie erinnerte sich daran, wie Erik geklungen hatte, als er sie weggeschickt hatte. ‚Geh.‘ Sie hatte ihm Schmerzen zugefügt, ohne es zu wollen. Genau wie Justin ihr Schmerz zugefügt hatte, ohne es zu wollen. Sie hob ihren Kopf, um Justin wieder in die Augen zu sehen. „Tut mir leid.“ Er schien gar nichts mehr zu begreifen. Vivien lehnte ihren Kopf gegen sein Brustbein. „Ich war gemein zu dir.“ Justin konnte dieser Unterhaltung beim besten Willen nicht mehr folgen. Nicht zuletzt, da die Körpernähe zu Vivien seinen Kopf zwar mit reichlich Blut versorgte, gleichzeitig jedoch die Sauerstoffzufuhr seines Körpers kurzzeitig unterbrach und ein schwummriges Gefühl in seiner Stirn verursachte. „Justin, wenn… wenn ich dich verletzen würde, würdest du mir dann wehtun wollen?“, fragte sie und sah erneut zu ihm auf. Justin schüttelte entschieden den Kopf. Das stimmte wohl. Er würde ihr nie wehtun, egal was sie ihm antäte. Ein leicht trauriger Ausdruck erschien auf Viviens Zügen. Er war ein so viel besserer Mensch als sie es war. Auch dafür liebte sie ihn. „Ich würde dir wehtun.“, gestand sie. „Sehr.“ Kummer und Sorge zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. „Könntest du mir das verzeihen?“ Justin nickte verwirrt. Wieder lehnte sie sich gegen ihn. In diesem Moment wurde eine der Türen geöffnet und Viviens Mutter trat in die Diele. „Huch!“ Vivien drehte sich halb zu ihr, während Justin zur Salzsäule erstarrt war. „Wer –“ Justin war hochrot und brachte keinen Ton heraus. Endlich ließ Vivien seinen Brustkorb los und wandte sich vollständig zu ihrer Mutter um. „Das ist Justin.“ „Ach ja! Ich habe ihn erst gar nicht erkannt.“ Ein freundliches Lächeln trat auf Frau Baums Gesicht. Sie hatte den Nachbarsjungen zwar kurz nach dem Einzug der Familie Boden getroffen, aber seither keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt, außer über die Beschreibungen ihrer Tochter. „Ich habe schon sehr viel von dir gehört.“ Kurz hielt sie inne. „In der Tat sehr, sehr viel.“ Vivien kicherte. „Entschuldigt. Ich wollte nicht stören. Ihr seid wohl vor den Kleinen geflüchtet. Die lassen euch sicher keine Minute allein. Aber im Keller ist es um diese Jahreszeit etwas kalt.“, sagte ihre Mutter, wohl mit Bezug auf die noch brennende Beleuchtung im Keller. „Was rede ich da, euch wird sicher nicht kalt werden.“, lachte sie dann. „Lasst euch nicht stören.“ Mit diesen Worten verschwand sie wieder durch die Tür, aus der sie gekommen war. Vivien kicherte nochmals. Wenn ihre Mutter Justin richtig gekannt hätte, wäre sie sicher nicht auf die Idee gekommen, dass sie beide in den Keller gehen wollten, um ungestört zu knutschen. Allein die Andeutung hätte Justin vermutlich in Ohnmacht fallen lassen. Apropos. Vivien drehte sich wieder zu ihm um. Wie erwartet hatte Justin die Augen weit aufgerissen und war noch immer ganz rot im Gesicht. „Du hast keine Schuhe.“, sagte sie und riss ihn damit aus dem Delirium. „Ja.“, bestätigte er kleinlaut. „Warte, ich gebe dir welche von meinem Papa und gehe schnell mit dir rüber zu dir.“ Sie suchte im Schuhschrank nach einem passenden Paar. „Ich hoffe, du passt hinein.“ Sie reichte Justin ein Paar Joggingschuhe und erkannte, dass er ein Gesicht zog, als wäre ihm etwas schrecklich peinlich. „Das ist kein Problem, Justin. Wir gehen kurz zu dir und ich nehme die Schuhe dann wieder mit.“ „Ich habe keinen Schlüssel.“, presste er hervor. In einer Mischung aus Mitleid und Rührung lächelte Vivien. Obwohl er weder Schuhe noch einen Haustürschlüssel dabei hatte, war er bei ihr geblieben, anstatt sich von Vitali nach Hause teleportieren zu lassen. „Kein Problem. Ich gehe mit dir rüber und erkläre das Ganze.“ Justin schaute skeptisch. Vivien bedeutete ihm, sich auf die Treppe, die ins Obergeschoss führte, zu setzen. Er folgte der Aufforderung und schlüpfte in die Schuhe. Sie waren ein ganzes Stück zu klein, aber die kurze Strecke würde er es überleben. Besser als in Socken vor seiner Haustür zu stehen. „Justin?“ Er sah zu Vivien auf, die vor ihm stehen geblieben war.   „Danke, dass du bei mir geblieben bist.“ Sie beugte sich zu ihm, ihre warme Hand berührte sein Gesicht, dann spürte er wie ihre weichen Lippen auf seine Wange gepresst wurden. Wen interessierten zu kleine Schuhe oder die Peinlichkeit, jetzt bei sich zu Hause klingeln und erklären zu müssen, was geschehen war?!! Justin schwebte auf Wolke Sieben. Vielleicht… ja vielleicht würde sie ihn irgendwann tatsächlich mögen. Vielleicht.   Dass Justin über den Kuss so erfreut war, machte Vivien glücklich, und so begleitete sie ihn grinsend zu seinem Haus hinüber. Vor seiner Tür angekommen, nahm sie ihn nochmals bei der Hand. Sie sah im Augenwinkel, dass er sich verwundert zu ihr drehte, tat ihm aber nicht den Gefallen, ihm ihr Verhalten zu erklären. „Du solltest klingeln.“ Beschämt nickte er und betätigte die Klingel. Für Momente geschah nichts. Vivien beugte sich an ihm vorbei und klingelte kurzerhand Sturm. Etwas, das Justin selbst nie im Leben gewagt hätte. Endlich ging ein Licht jenseits der Tür an. Es dauerte weitere Momente, ehe eine genervte Jungenstimme fragte: „Wer ist da?“ „Ich bin’s.“, rang sich Justin durch zu sagen. „Justin.“ Der Schlüssel wurde gedreht und die Tür aufgezogen. „Kannst du keinen Schlüssel mitnehmen?“, schimpfte Gary, ehe er mit einiger Verwirrung Viviens Anwesenheit bemerkte. Dann blieb sein Blick daran hängen, dass Vivien und Justin Händchen hielten. Vivien lehnte sich absichtlich noch etwas näher zu Justin und legte ihm die noch freie Hand auf den Arm. „Entschuldige. Ich habe ihm vorhin nicht die Zeit gelassen, noch einen Schlüssel mitzunehmen. Ich bin manchmal etwas zu stürmisch.“ Kichernd warf sie einen lasziven Blick auf Justin, weil sie wusste, dass das ihren Worten in den Augen eines hormongesteuerten Jugendlichen eine ganz andere Bedeutung geben würde. Dicker konnte sie leider nicht auftragen, weil sie wusste, dass Justin ihr Verhalten sonst wieder als Hohn fehlgedeutet hätte. Das hatte sie mittlerweile gelernt. Daher blieb sie absichtlich bei so subtilen Andeutungen, dass Justin sie nicht einmal als solche wahrnahm. Gary indes hatte das Gesicht verzogen, als würde er die Szene nicht fassen können, was genau dem entsprach, was Vivien beabsichtigt hatte. Aus ihren Gesprächen mit Justin auf dem Schulweg hatte sie herausgehört, dass Justins Bruder ihn öfters aufzog und nicht gerade dazu beitrug, dass Justin ein gesundes Selbstvertrauen entwickelte. Als habe sie nur Augen für Justin, drehte sie sich wieder zu ihm. „Wir sehen uns morgen.“ Sie ließ Justins Linke los und griff mit beiden Händen nach seinem Kopf, um ihm einen weiteren Kuss zu geben, dieses Mal auf die Backe, weil sie aufgrund ihrer Größe auch auf Zehenspitzen und trotz ihres Versuchs, seinen Kopf mit den Händen etwas in ihre Richtung zu neigen, nicht ganz bis zu seiner Wange reichte. Gerne hätte sie ihm auch noch etwas ins Ohr geflüstert, aber aus den gleichen Gründen konnte sie das leider nicht. Sie drehte sich um und lief wieder zu ihrem Haus hinüber, ohne sich noch einmal umzuwenden. Nachdem Justin eingetreten war, schloss Gary die Tür. „Sag bloß…“ Er drehte sich zu Justin. „Bist du endlich mal ein Mann gewesen!“ Justin schaute seinen Bruder an, als wäre er gestört. „Wuuh. Die Kleine ist ja ziemlich schnell dabei.“ Justins Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Gary klopfte ihm auf den Rücken. „Und wie war’s? Ich hoffe, du hast nicht versagt.“ „Wovon redest du?“, fragte Justin genervt. „Ich bin dein Bruder, mir kannst du’s doch erzählen. Hat die Kleine was drauf? Jungfrau oder mit Erfahrung? Naja, muss ja Erfahrung haben, sonst wäre das bei dir sicher schief gegangen.“ Purer Zorn entflammte auf Justins Gesicht. „Ach, sei nicht eingeschnappt. Ich war auch mal Jungfrau.“ Ekel verzerrte Justins Züge. Sein Bruder war einfach widerlich! Er lief an ihm vorbei, wobei er wieder die Schuhe spürte. Er hatte vergessen, sie Vivien wieder mitzugeben. In der gleichen Sekunde tauchte Ewigkeit neben ihm auf. „Vereinen sagt, du sollst ihr die Schuhe morgen geben.“, verkündete sie. Justin nickte, woraufhin Ewigkeit lächelnd verschwand. Er entledigte sich der Schuhe. Keinen Moment zu früh. Jeder Schritt war eine Qual gewesen. „Echt jetzt? Du willst mir nichts, aber auch gar nichts von deinem ersten Mal erzählen?“, laberte Gary. „Wovon redest du eigentlich?“, brüllte Justin aufgebracht. Dieses ganze Gequatsche vom ersten Mal machte ihn wahnsinnig! Nur weil Gary ein oberflächlicher, sexbesessener Vollidiot war, hieß das nicht, dass er sich diesen Schwachsinn anhören musste! Plötzliche Ernüchterung zeigte sich auf Garys Gesicht. „Ach, eben hätte ich fast geglaubt, du hättest mal Eier gehabt und es der Kleinen besorgt.“ Wutverzerrt fuhr Justin ihn an. „Wenn du noch einmal so über sie redest, dann–“ „Du bist schwächer als ich.“, unterbrach Gary. Richtiger war, dass Gary gewaltbereiter war und Justin noch nie gut darin, sich gegen Gewalt, deren Anlass er nicht verstand, zu wehren. Außerdem hatte Gary ihn nicht mehr drangsaliert, seit Justin den Wachstumsschub bekommen hatte, durch den er einen halben Kopf größer als sein Bruder geworden war, was mittlerweile über ein Jahr her war. „Mann, du tust ja grade so, als wäre Sex ein Verbrechen.“ Justin schnaubte und lief die Treppe hinauf. Leider ließ Gary noch immer nicht locker und folgte ihm einfach. „Das ist was ganz Natürliches!“ Im ersten Stock angekommen, drehte sich Justin zu seinem Bruder um. „Kannst du dich einfach um deinen Kram kümmern?“ „Ich versuche dir nur zu helfen! So, wie die Kleine dich eben angemacht hat, wirst du mir in Kürze dafür dankbar sein!“ „Hör auf von ihr zu reden, als würde sie –“ Justin stieß ein wütendes Grollen aus. „Sag bloß, du hast das nicht gemerkt.“ Gary klopfte ihm auf den Rücken. „Junge, du brauchst meine Hilfe ja noch viel dringender als ich dachte!“ „Halt die Klappe!“, fuhr Justin ihn an. „Vivien ist nicht so ein Mädchen!“ „Du meinst ein Mädchen, das Sex hat? Ist sie ein Cyborg?“ „Halt die Klappe!“, wiederholte Justin und stürmte in Richtung seines Zimmers. „Wenn du ihr nicht gibst, was sie will, lässt sie dich ganz schnell fallen!“ Justin wirbelte herum. „Wir sind – Sie –“ Vor Empörung hyperventilierte er fast. Gary legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Ganz ruhig, Junge. Viele haben Angst vorm ersten Mal. Dafür brauchst du dich nicht schämen. Wichtig ist, dass du es trotzdem durchziehst. Die Erfahrung macht’s.“ Justin war kurz davor zu platzen. „Sie ist fünfzehn!“, schrie er, als wäre sie dadurch noch ein unschuldiges Kind. Dabei ging es überhaupt nicht darum! Selbst wenn sie älter gewesen wäre, älter als er, hätte er niemals auch nur daran – … Justin biss die Zähne zusammen. Ganz so stimmte das nicht. Aber er war nicht stolz darauf. Er hätte sich immer selbst dafür ohrfeigen können, wenn er für Sekundenbruchteile ihrem Körper zu viel Beachtung schenkte oder unwillkürlich aufblitzende Gedanken Vivien zu etwas machten, was er ihr nicht antun wollte. Er schämte sich dafür. Zwar hatte er sie sich noch nie nackt vorgestellt, nicht willentlich, aber selbst ohne das spielten seine Hormone verrückt. Wenn sie nachts in seinen Träumen vorkam, genügte ein bestimmter Blick von ihr, wenn sie sich zu ihm beugte, oder sie einfach nur dastand, dass sein Körper reagierte. Er hasste sich dafür, wusste aber gleichzeitig, dass er nichts dagegen tun konnte. Und dass wenigstens nie etwas Explizites in seinen Träumen vorkam, diente ihm als kleiner Trost, der sein Selbstbild aufrechterhielt und ihm als Verteidigung gegen ein schlechtes Gewissen diente. „Ist sie überhaupt noch Jungfrau?“, fragte Gary. Justin biss die Zähne zusammen und hasste sich dafür, auch nur über diese Frage nachzudenken. Er wollte sich nicht vorstellen, dass Vivien mit irgendjemandem – Er wandte sich ab. Der Gedanke war zu schrecklich. Andererseits war Vivien nicht wie er. Sie war viel lockerer und selbstbewusst und hatte keine Probleme mit körperlicher Nähe. Augenblicklich fühlte er Frustration. Wahrscheinlich hatte selbst der Kuss auf die Wange nichts zu bedeuten. Wenn er es recht bedachte, war das ein Zeichen für Freundschaft, nicht mehr. Er Dummkopf hatte natürlich wieder sonst was hineininterpretiert. Für Vivien musste es etwas ganz Normales, Unverfängliches sein, einen Jungen auf die Wange zu küssen. Was sollte sie auch an ihm finden? Seine Stimme verlor an Kraft. „Lass mich einfach in Ruhe.“, flüsterte er resigniert und verschwand in seinem Zimmer, ohne auch nur zu ahnen, dass derweil im Haus gegenüber der Gedanke an ihn ein Lächeln auf Viviens Lippen zauberte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)