Trink das Leben in vollen Zügen von DieLadi ================================================================================ Kapitel 6: Das Ausblenden des Alltags ------------------------------------- Als sie sich zwei Wochen später wieder trafen, konnte Jako sich nichts mehr vormachen. Er hatte sich verknallt, und zwar bis über beide Ohren. Marti war wieder früh genug da, dass sie sich auf dem Bahnsteig schon ein bisschen unterhalten und anschließend gemeinsam ihre Plätze aufsuchen konnten. Und Jakos Herz klopfte wie verrückt und schlug den Takt eines wirklich schnellen Rockstückes. Ihm wurde heiß und kalt und er war süchtig nach dem Lächeln des anderen. Und nach den süßen Grübchen, die dabei entstanden. Herrgott, diese Grübchen! Jedenfalls gab es nichts, was er dagegen tun konnte. Nur ... mit der Frage, wie der andere dazu stand, war er noch keinen Schritt weitergekommen. Marti zeigte keinerlei Anzeichen, die eindeutig gewesen wären. Er war erfreut, Jako zu sehen, ja. Aber das konnte auch einfach nur Freundschaft sein, die sich ja gerade erst zwischen ihnen entwickelte. Er hatte sich sehr gefreut, dass Jako ihm einen Kaffee besorgt hatte und hatte ihn noch auf dem Bahnsteig umarmt. Aber auch das konnte genauso gut eine rein freundschaftliche Umarmung gewesen sein. Das Lachen des anderen. Das Aufblitzen der Augen. Die frohe Reaktion, ihn zu sehen, das Bedauern, dass in den blauen Augen zu sehen war, als sie sich in Braunschweig trennen mussten, das alles konnte zwar vielleicht das bedeuten, was Jako sich erhoffte, aber andererseits konnte es auch genauso gut nichts weiter sein als die Freude über eine angenehme Reisebegleitung. Und Jako sah keine Möglichkeit, etwas zu unternehmen, um der Frage auf die Spur zu kommen. Schließlich kannten sie sich erst ein paar Wochen. Und wenn man die Tatsache bedachte, dass sie sich nur alle zwei Wochen trafen und zwischendurch bisher keinen Kontakt gehabt hatten, kannten sie sich genau genommen erst ein paar Tage. Und jemandem, den man erst so kurz kennt, einfach zu fragen: “Hey, was ich noch sagen wollte, ich bin schwul und verlieb mich gerade in dich. Wie schauts mit dir aus?“, war wohl keine so gute Idee. Nun ja, wenn Jako ehrlich war, war das vielleicht die beste Idee, die man in der Situation haben könnte. Es würde seine Frage klären und er wüsste, ob er eine Chance hätte oder nicht. Er wüsste ebenso, wie Marti grundsätzlich zu derlei Dingen stünde und müsste sich unter Umständen nicht länger mit jemandem abgeben, der homophobe Ansichten hatte, auch wenn er das bei Marti für sehr unwahrscheinlich hielt. Er müsste sich nicht mehr mit einem „hätte, könnte und vielleicht“ herumärgern, sondern hätte harte Fakten und könnte damit arbeiten. Also nur vernünftig, das ganze. Aber Vernunft kann eben auch sehr schmerzhaft sein, und Jako wollte die gerade aufkeimende Freundschaft einfach nicht riskieren. Und deswegen beschloss er, die Idee eben nicht vernünftig zu finden und schob sie entschlossen zu Seite. Und so blieb es erst einmal, wie es war. Alle zwei Wochen trafen sie sich am Bahnsteig. Jako hatte die Tickets besorgt und sich um die Reservierungen gekümmert. Nach und nach bürgerte es sich ein, das Marti für sie beide den Kaffee besorgte. Sie redeten die ganze Fahrt. Sie sprachen über ihre Träume. Ihr Leben. Ihre Ideen. Sie tauschten sich aus über ihre Liebe zur Musik. Sie plauderten, lachten, träumten gemeinsam. Es waren wunderbare Stunden und Jako genoss sie mit jedem Male mehr. Über sein Studium oder seinen Alttag sprach Marti nicht so gern. „Weißt du“, hatte er gesagt, „das ist mein hektischer Alltag, und diese Gespräche hier mit dir während der Fahrt sind etwas anderes, etwas ganz besonderes. Das möchte ich nicht mit meinem Alltag versauen. Okay für dich?“ Jako hatte genickt und musste zugeben: für ihn wäre es auch okay gewesen, wenn Marti mit ihm über die Statistiken von Verkehrsunfällen mit Sachschäden im unter-hundert-Euro-Bereich oder über die physikalischen Berechnungen der Fallgeschwindigkeit eines umfallenden Reissacks in China hätte reden wollen. Er klebte geradezu an den Lippen und dem Lächeln des anderen. So blieben ihre Gespräche also bei ihren Träumen, Wünschen und Hoffnungen. Und ihrer Musik. Ja, sie redeten viel über Musik. Doch da Marti den Alltag außen vor lassen wollte, sprach auch Jako nicht von seinem Musikprojekt mit Felix und auch nicht von ihren ersten Gehversuchen auf YouTube, zumal das alles noch unausgegoren war. Das tat ihm ein kleines bisschen weh. Er hätte gerne mit ihm geteilt, wie ihre ersten Erfolge sich gestalteten, wie ihr erstes Album langsam Gestalt annahm. Aber er ließ es. Wenn das Album rausgebracht sein würde, dann, ja dann würde er Marti davon erzählen. Marti würde sich sicher mit ihm freuen. Aber bis dahin hielt er sich zurück. Und irgendwo war es ja auch schön, dass es da immer noch Dinge gab, die sie sich noch nicht erzählt hatten und mit denen sie den anderen noch überraschen konnten ... ja, das hatte ja auch irgendwie was. Nun, wie auch immer. Die Wochen vergingen. Der Juli ging in den August über und brachte noch mehr Hitze mit sich. Sie schwitzen sich die Seele aus dem Leib, die Klimaanlagen in den Zügen ackerten und die Bahn verteilte Flaschen mit Trinkwasser, um ihre Fahrgäste ohne Austrocknung an ihr Ziel zu befördern. Der September kam, die Wärme wurde milder, ein angenehmer Spätsommer mit ersten kühleren Tagen brach herein. Und dann, eines Tages Ende September, als erste schon herbstlich kühle Winde um den Zug herum wehten, stellte Jako gerade nachdem Marti ausgestiegen war fest, dass sie noch immer nicht ihre Telefonnummern ausgetauscht hatten. Und dass er noch immer nicht Martis Nachnamen wusste. Hosted by Animexx e.V. 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