Maboroshi von yamimaru (~ dream a little dream of me ~) ================================================================================ Kapitel 4: Phantom ------------------ ~*~  Maboroshi – bloß ein Phantom, die Liebe in mir, die er nicht sah. ~*~     Als Tsukasa am nächsten Morgen von schwachen Sonnenstrahlen geweckt wurde, die seine Nase kitzelten, fühlte er sich erstaunlich erholt und zufrieden. Sein Freund schlief noch immer, eingekuschelt nah an seiner Seite und ein Blick auf die Digitalanzeige seines Weckers verriet ihm, dass es gerade einmal kurz nach neun war. Ein kleines Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er die Arme über den Kopf nahm und sich vorsichtig streckte. Hizumi sollte ruhig noch ein wenig schlafen, das Interview war erst für heute Nachmittag angesetzt, und so konnte er sich in Ruhe ums Frühstück kümmern. Allerdings war er wohl doch nicht vorsichtig genug gewesen, denn noch bevor er sich unter der Decke hervorschälen konnte, brummte es neben ihm und ein schwerer Arm verhinderte effektiv, dass er sich erheben konnte.   „Morgen“, nuschelte es zwischen Kissen und Decke hervor und verwandelte Tsukasas Lächeln in ein ausgewachsenes Grinsen.   „Morgen, du Brummbär. Was hältst du von Frühstück?“   „Muss ich mich dafür bewegen?“   „Mh, wenn du mich aufstehen lässt, hast du noch ein bisschen Schonfrist.“   „Ich weiß nicht. Die Entscheidung zwischen Frühstück und meinem privaten Kuscheltier ist eine ziemlich schwere.“   Es war wirklich immer kurios mitzuerleben, wie Hizumi selbst kurz nach dem Aufwachen schon derart viele Worte logisch aneinanderreihen konnte. Er lachte leise in sich hinein, richtete den Blick gen Fenster und ließ gedankenversunken seine Finger über dessen Unterarm wandern. Obwohl er noch keine Zeit gehabt hatte, näher über ihr Gespräch in der Dunkelheit nachzudenken, fühlte er sich dennoch so, als hätte sich in ihm etwas fundamental verändert. Er spürte eine Ruhe in sich, eine gewisse Art der Gelassenheit, die er in letzter Zeit so schmerzlich vermisst hatte. Natürlich war noch nicht alles geklärt und er bezweifelte, dass er so bald den Mut aufbringen würde, seinem Freund die Tragweite seiner Gefühle klarzumachen, aber das war in Ordnung, denn er wusste nun wenigstens, wie er damit umzugehen hatte. Hizumi war der wichtigste Mensch in seinem Leben und nichts, gar nichts, was er selbst beeinflussen konnte, würde dieses innige Band der Freundschaft zwischen ihnen zerstören. Das hatte er sich geschworen und dafür würde er kämpfen – zur Not auch gegen sich selbst.   „Bist du wieder eingeschlafen?“, erkundigte er sich schließlich, als auch Minuten später keine Reaktion des Sängers kam. Eben jene blieb auch jetzt aus und so rutschte Tsukasa vorsichtig von ihm weg, erhob sich und schlich sich auch genauso leise und bedacht aus dem Schlafzimmer. Kurz blickte er zurück, ließ das liebevolle Lächeln zu, das seine Mundwinkel hob, als er mitansehen konnte, wie sich Hizumi zu einem kleinen Ball in der Mitte des Bettes zusammenrollte und selig weiterschlief. Ob man allein durch die Betrachtung eines Menschen Karies bekommen konnte? Kopfschüttelnd schloss er die Tür hinter sich und ging sich ausgiebig streckend und reckend in die Küche, um sich um ihr Frühstück zu kümmern.   Der Kaffeemaschine galt sein erster Handgriff, denn auch, wenn er sich erholter fühlte, als er nach so einer turbulenten Nacht für möglich gehalten hätte, brauchte er etwas, das seine Lebensgeister richtig weckte. Und dafür war Kaffee in seinen Augen noch immer am besten geeignet, auch wenn ihm Hizumi, der alte Tee-Snob, da vehement widersprechen würde. Von daher widmete er sich als Nächstes dem Wasserkocher, bevor er den Kopf forschend in den Kühlschrank steckte. Viel gab dieser jedoch nicht her, immerhin war er davon ausgegangen, das Wochenende über mit seinen Freunden auf der Hütte zu verbringen. Aber für eine Misosuppe würden seine Vorräte gerade noch reichen.   Derart vertieft war er in seinen Vorbereitungen, dass er gar nicht mitbekam, wie Hizumi einige Zeit später aus dem Schlafzimmer geschlurft kam. Tsukasa hatte sein kleines, rotes Radio, das seinen Platz neben den Kräutern auf dem Fensterbrett hatte, eingeschaltet und sang munter den Popsong mit, der gerade über den Äther tönte. Als sich Arme um seine Mitte legten und sich ein schlafwarmer Körper gegen seinen Rücken presste, verunglückte der hohe Ton, den er gerade zu halten versucht hatte, allerdings zu einem überraschten Quietschen.   „Mh, ich mag deine Singstimme wirklich, nur an deiner Technik solltest du noch arbeiten.“   „Musst du mich so erschrecken?“, murrte Tsukasa, konnte sich ein kleines Lachen dann aber nicht verkneifen.   „Ich hab dir gerade eben laut und deutlich noch mal einen guten Morgen gewünscht. Kann doch ich nichts dafür, wenn du so vollkommen in deinen Gedanken versunken bist.“   „Hast du wirklich?“ Er spürte Hizumis Nicken und gönnte es sich für einen Moment, sich stärker gegen ihn zu lehnen und seine Hand über die verschränkten Finger seines Freundes zu legen. Unhörbar seufzte er, schloss kurz die Augen und schwelgte in dem Gefühl, dass er Hizumis Nähe endlich wieder genießen konnte. „Dann … noch mal Morgen, Hizu.“ Er bedeutete dem anderen seinen Klammergriff etwas zu lockern, drehte sich herum und fuhr ihm vorsichtig durch die wirren Haare. „Wie geht es deinem Kopf?“   „Gut. Ich hab noch einen unangenehmen Druck hinter den Augen, aber das sollte mit einer Tablette gut kontrollierbar sein.“   „Ich bin echt froh, dass es diesmal kein allzu schlimmer Migräneanfall war.“   „Glaub mir, ich auch.“ Hizumi gähnte und lehnte die Stirn gegen seine Schulter. „Kann ich nicht einfach noch weiterschlafen?“   „Kannst du, wenn du keinen Hunger hast.“   „Das ist ja das Problem.“ Der Sänger grinste ihn an, löste sich und ging zum Küchentisch hinüber. „Kann ich dir helfen?“, fragte er, etwas unschlüssig vor dem Möbel stehend und blickte sich um.   „Du kannst dir schon mal deinen Tee herrichten, wenn du magst. So wie ich dich kenne, würde ich ihn dir ohnehin nicht gut genug machen.“   „Hey, so schlimm bin ich gar nicht.“   „Nö … schlimmer.“   „Unterstell mir hier mal nichts.“   „Tu ich nicht, ich sag nur die Wahrheit.“ Tsukasa hatte sich wieder zum Herd gedreht und bewahrte ihre Suppe davor, überzukochen. Ein sanftes Lächeln hob seine Mundwinkel, während er Hizumis leisem Grummeln lauschte. Ja, verdammt, genau so und nicht anders sollte das zwischen ihnen sein.   ~*~   So herrlich ruhig, wie der Morgen begonnen hatte, war auch der restliche Vormittag verlaufen. Sie hatten lange gefrühstückt, sich dann vor dem Fernseher verschanzt und sich am späten Mittag ausgehfein gemacht. Aber kaum hatte Karyu angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass Zero und er auf dem Weg zum Sender waren, wo ihr Interview stattfinden sollte, war die pure Hektik ausgebrochen. Tsukasa hatte zwar auf dem Schirm gehabt, dass das Interview um drei Uhr stattfinden sollte, aber vollkommen verplant, dass sie von seiner Wohnung aus bis ans andere Ende der Stadt geschätzt eine Stunde unterwegs sein würden. Zu allem Überfluss hatte er auch noch sein Handy verlegt und lief nun schon seit Minuten wie ein aufgeschrecktes Huhn in seiner Wohnung herum, um es zu suchen.   „Tsuka, kommst du endlich?“   „Ja~! Ich finde nur dieses dämliche Handy nicht.“ Tsukasas Blick schweifte zum hundertsten Mal über die wenigen Dinge, die auf dem Wohnzimmertisch lagen, bevor er in seiner Verzweiflung damit begann, die Falten der Couch abzutasten. „Das gibt es doch nicht“, murmelte er vor sich hin und schickte einen unflätigen Fluch hinterher. „Ich hab doch gerade noch mit dem Teil telefoniert, das kann doch nicht verschwunden sein.“   „Küsst du auch deine Mama mit dem Mund?“, hörte er Hizumis amüsierte Stimme hinter sich und drehte sich zu ihm um.   „Hä?“   „Ich wusste ja, dass du fluchen kannst wie ein Bierkutscher, aber das gerade … Respekt.“   „Ach, red nicht rum, hilf mir lieber suchen.“ Tsukasa kniete sich vors Sofa und lag mit der Wange schon fast auf dem Teppichboden, um unter das Möbelstück sehen zu können. „Wo zum Kuckuck ist das dumme …“ Er verstummte abrupt, als er plötzlich eine Berührung und dann einen Klaps auf seiner rechten Pobacke spürte, und hätte sich fast an seiner eigenen Spucke verschluckt. „Was?“ Ruckartig richtete er sich auf, nur um in das breit grinsende Gesicht seines Freundes zu blicken, der nicht allen Ernstes sein Telefon wie eine Trophäe in Händen hielt.   „Hosentasche“, merkte der andere nur halb lachend an, warf das Handy auf die Polster der Couch und verließ den Raum. „Kommst du dann endlich mal?“   Mit einem lauten Seufzen verbarg Tsukasa für einen Moment das Gesicht in den Händen und versuchte, seinen holprigen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bringen. Okay, vielleicht war zwischen Hizumi und ihm doch noch nicht wieder alles so, wie es sein sollte, aber er war auf einem guten Weg, oder? Oder?   „Tsukasa!“   „Ja~ha!“ Er rappelte sich hoch, ergriff sein Telefon und schlüpfte an der Garderobe noch in seine warme Winterkleidung, bevor er sich zu Hizumi auf den Flur gesellte. Mit einer schnellen Handbewegung sperrte er die Wohnungstür ab, verstaute den Schlüssel in seiner Jackentasche und schaute sein Gegenüber dann auffordernd an. „Was stehst du hier so faul herum?“, scherzte er, rempelte ihn leicht von der Seite her an und sprintete die Treppen in die Tiefgarage hinunter.   „Blödmann!“, hörte er den anderen schimpfen und dann schnelle Schritte, die ihm folgten. Tsukasa lachte und hätte sich beinahe langelegt, als er eine Stufe übersah.   „Shit!“, rief er aus, aber ein beherzter Griff an seinem Oberarm verhinderte Schlimmeres.   „Könntest du bitte mal vorsichtiger sein? Es gibt Leute hier, die dich noch brauchen.“   „Ach? Wer? Ich seh niemanden.“   „Du siehst gleich Sternchen, mein Lieber“, murrte Hizumi erst, bevor er ihm mit einem Mal ein derart liebes Lächeln schenkte, dass ihm der Atem stockte. „Nun schau nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen.“ Der andere hakte sich bei ihm unter und stieg die letzten Treppenabsätze nun deutlich langsamer hinab. Tsukasa für seinen Teil hatte ein verstohlenes Lächeln auf den Lippen, das auch dann noch nicht verschwunden war, als sie bei seinem fahrbaren Untersatz angelangt waren. „Kannst du mich nach dem Interview nach Hause fahren?“, erkundigte sich Hizumi gerade und verstaute seine Reisetasche im Kofferraum.   „Na klar, ich schick dich doch nicht mit den Öffentlichen heim.“   „Die Firma dankt.“ Hizumi stieg ein, schnallte sich an und noch bevor Tsukasa auch nur den Wagen in Bewegung gesetzt hatte, fummelten dessen Finger schon am Regler seines Autoradios herum. Manche Dinge änderten sich wirklich nie.   „Was hast du eigentlich immer gegen meinen Radiosender“, erkundigte er sich, obwohl er die Antwort bereits kannte. Aber man wollte ja schließlich nicht mit lieb gewonnenen Traditionen brechen. Routiniert fuhr er durch die enge Tiefgarage, ließ die Schranke hinter sich und reihte sich an der Oberfläche angekommen in den fließenden Verkehr ein.   „Fragst du mich das wirklich?“   „Ja, vielleicht fällt dir mal eine andere Antwort als ‚ich ertrag kein Enka‘ ein. Langsam aber sicher fühle ich mich nämlich diskriminiert. Und das in meinem eigenen Auto.“   „Och, armes Tsukatchi.“ Hizumi tätschelte seinen Oberschenkel, war sich aber ganz offensichtlich keiner Schuld bewusst, als er in gleichem Tonfall weitersprach: „Wenn du singst, ist Enka einigermaßen erträglich, aber sonst … Weißt schon, Kopfschmerzen und so.“   „Du bist wirklich der einzige Mensch, den ich kenne, der eine Erpressung in so schöne Worte packen kann, dass man sie kaum bemerkt.“ Er schielte zu seinem Freund hinüber, der ihn allerdings nur frech angrinste und dann demonstrativ aus dem Fenster sah, als gäbe es dort draußen etwas, was seine Aufmerksamkeit unglaublich fesselte.   Für eine ganze Weile kehrte Stille ein und Tsukasa versuchte, sich ausschließlich auf den Verkehr zu konzentrieren, auch wenn ihm die warme Hand des Sängers auf seinem Oberschenkel diesen Umstand nicht so ganz leicht machte. Aber die Gefühle, die sich gerade in ihm breitmachten, waren deutlich erträglicher, als sie es vor den Ereignissen der letzten Nacht noch in einer ähnlichen Situation gewesen wären. Am liebsten hätte er seine Hand nun über die Hizumis gelegt, ihre Finger, so wie gestern, miteinander verschränkt. Aber er unterließ es, rechtfertigte seine Untätigkeit damit, dass er beide Hände am Steuer brauchte, und ließ stattdessen das kleine, zufriedene Lächeln zu, welches seine Mundwinkel hob. Hizumi neben ihm summte überlegend und kurz drehte er den Kopf, um ihn fragend ansehen zu können.   „Was denn?“   „Ich ruf mal lieber Sato an, oder? So viel, wie hier gerade auf den Straßen los ist, verspäten wir uns doch sicherlich.“   „Mh, wird das Beste sein.“   Die warme Hand seines Freundes verschwand von seinem Oberschenkel, als dieser in seiner Umhängetasche nach dem Mobiltelefon fahndete. Aber die Wärme blieb, wie eine Bestätigung, dass alles gut werden würde.   ~*~   „Tut mir wirklich leid, Sato, dass wir zu spät gekommen sind“, entschuldigte sich Tsukasa gefühlt zum hundertsten Mal, seit Hizumi und er am Studio angekommen waren. Aber wie auch schon die Male zuvor winkte ihr Manager nur ab.   „Hör schon auf, es hat doch alles geklappt.“   „Okay, okay.“ Er lächelte, hob abwehrend die Hände und musste zugeben, dass ihr Manager recht hatte. Das Interview hatte dank Hizumi und ihm zwar erst mit einer halben Stunde Verspätung beginnen können, aber sie waren wirklich alle hoch konzentriert bei der Sache gewesen, obwohl man Karyu und Zero nur zu deutlich anmerkte, dass ihre Nacht eine sehr kurze gewesen war. Damit hatte er allerdings schon gerechnet, immerhin hatte ihr Jüngster seinen Geburtstag begießen müssen, aber anders, als gedacht, sahen die beiden nicht so aus, als würde sie ein Kater plagen. Eigenartig, aber er würde den Teufel tun und diesen Umstand hinterfragen. Trotz ihrer offensichtlichen Erschöpfung wirkten Bassist und Gitarrist nämlich ausgeglichener als er sie in den letzten Wochen – ach, was sagte er da? – in den letzten Monaten gesehen hatte.   „Tsukasa?“   „Ehm … ja?“ Er blinzelte und richtete seinen Blick weg von seinen Bandkollegen wieder auf Sato, der wohl schon einige Momente lang versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Tschuldige, was denn?“   „Du warst gerade meilenweit weg, oder?“ Der ältere Mann grinste ihn an und klopfte ihm in einer brüderlichen Geste auf die Schulter. „Oder bist du nur so übermüdet, wie du aussiehst?“   „Uhm, so schlimm?“   „Sagen wir es mal so, ich bin froh, dass das heute nur ein Radiointerview war.“ Sato lachte und er grinste, rieb sich verlegen über den Hinterkopf. „Aber das bringt mich zu dem Thema, was ich ohnehin mit dir besprechen wollte. Ich weiß, das gerade Karyu es kaum erwarten kann, im Januar mit den Arbeiten fürs neue Album zu beginnen, aber ich glaube, ihr braucht mal eine Auszeit.“ Tsukasas Grinsen weitete sich und er verschränkte die Arme vor der Brust, was Sato zu irritieren schien. „Ja …?“   „Nichts, red ruhig weiter.“   „Ich hab heute noch einen Termin in der Führungsetage und würde versuchen, euch zwei Wochen Urlaub rauszuschlagen, wäre das was?“   „Sato.“ Tsukasa legte ihrem Manager einen Arm um die Schultern und dirigierte ihn in Richtung Hizumi und Karyu, die sich um das kleine Buffet versammelt hatten, das der Radiosender für sie bereitgestellt hatte. Zero hatte den Raum vorhin verlassen – für eine Zigarettenlänge, wie Tsukasa vermutete – und war bislang noch nicht wieder zurückgekommen. „Entweder du kannst Gedanken lesen oder du bist einfach so gut, wie ich immer sage. Jungs? Ratet mal, wer uns im Januar freie Tage herausgeschlagen hat?“   „Strike!“ Hizumi riss die Arme nach oben und grinste breit, während ihr Manager im selben Moment abwehrend den Kopf schüttelte.   „Hey, ich sagte, ich werde es versuchen.“   „Ach, das schaffst du schon“, flötete der Sänger und drückte Sato einen Energydrink in die Hand. „Siehst du“, meinte er dann an Tsukasa gerichtet. „Ich bin also nicht der Einzige, der der Meinung ist, dass wir uns etwas Urlaub verdient haben.“   „Ja~, ich hab’s verstanden. Wäre Sato mir nicht zuvorgekommen, hätte ich ihn schon noch gefragt.“ In einer sehr erwachsenen Geste streckte er seinem Freund die Zunge heraus, was weiter zur ausgelassenen Stimmung beitrug. Aus dem Augenwinkel schielte er zu Karyu hinüber, aber im gleichen Maße, wie der Große heute deutlich entspannter wirkte, schien auch sein fast schon manischer Arbeitseifer der letzten Wochen nachgelassen zu haben. Halleluja. Vielleicht würde jetzt tatsächlich endlich mal wieder so etwas wie Normalität in der Band einkehren. „Keine Proteste?“, erkundigte er sich sicherheitshalber aber noch und rempelte ihn leicht von der Seite her an.   „Ich hoffe für Karyu, dass er nichts einzuwenden hat, sonst bekommt er es nämlich mit mir zu tun“, raunte da plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen und hatte nicht nur Tsukasa eiskalt erwischt. Denn auch Karyu zuckte zusammen, bevor sie sich beide zu dem Neuankömmling herumdrehten.   „Seit wann bist du wieder hier?“, fragte er dezent überrumpelt und begleitet von Hizumis heiterem Lachen, der als Einziger so stand, dass er ihren Bassisten hatte eintreten sehen und sich nun köstlich über ihre verdutzten Gesichter amüsierte.   „Seit gerade eben erst“, antwortete Zero schmunzelnd, während Karyu fast zeitgleich protestierte: „Warum glaubt ihr eigentlich alle, dass ich was gegen Urlaub habe?“   „Warum wohl“, antworteten sie ihrem Gitarristen im Chor, was diesem sogleich wieder den Wind aus den Segeln nahm und einer Schimpftirade vorbeugte, obwohl sich seine Lippen demonstrativ zu einer beleidigten Schnute verzogen.   „Du kriegst auch alles mit, oder?“ Musste Tsukasa trotzdem noch mal feststellen, nachdem sich Zero zwischen ihn und Karyu gestellt und ebenfalls nach einer kleinen Flasche Energydrink gegriffen hatte.   „Das, mein lieber Tsukasa, nennt man Beobachtungsgabe. Also nein, das meiste entgeht mir wirklich nicht. Aber wenn, dann richtig.“ Bei diesen Worten schaute Zero zu ihrem Jüngsten hinüber und verdammt, schlich sich gerade eine gewisse Röte über Karyus Wangen? Noch bevor Tsukasa jedoch nachhaken konnte, was das nun wieder zu bedeuten hatte, riss ihn Hizumis Ausruf aus seiner Betrachtung.    „Auf unseren Urlaub!“   Schleunigst schnappte sich nun auch Tsukasa einen Energydrink, um mit den anderen anstoßen zu können.   „Ach, übrigens, Karyu und ich fahren mit dem Van nach Hause, ich bring ihn dann zu den Proben wieder mit, okay?“   „Klar“, bestätigte er nickend und konnte nicht anders, als seine Bandkollegen erneut zu mustern. Irgendwas war anders zwischen den beiden, aber er konnte nicht den Finger darauf legen. Verdammt, wie es ihn fuchste, dass er immer der Letzte zu sein schien, dem man irgendwas sagte.   ~*~   „Hizumi?“   „Mh?“   „Kannst du mir bitte mal verraten, was ich nun schon wieder nicht mitbekommen habe?“ Wieder saßen Hizumi und er nebeneinander in seinem Auto und schlängelten sich durch den abendlichen Großstadtverkehr.   „Du kriegst so einiges nicht mit“, entgegnete sein Freund lapidar, was ihn grummelnd die Lippen aufeinanderpressen ließ. „Also, was genau meinst du?“   „Karyu und Zero. Irgendwie waren die beiden heute so anders. Nicht, dass ich mich beschweren will, alles ist besser als Funkstille zwischen ihnen, aber trotzdem. Irgendwas ist da doch faul.“   „Mach dir keine Gedanken. Zwischen den beiden ist alles genau so, wie es sein soll.“   „Soll heißen, Mister Kryptisch?“   „Das kriegst du schon noch raus oder du musst sie einfach selbst fragen.“   „Hizu~!“   „Meine Lippen sind versiegelt.“   Wieder brummte Tsukasa vor sich hin, während er in die Straße einbog, in der sich Hizumis Wohnblock befand.   „Das ist unfair. Ich dachte, wir sind Freunde. Freunde erzählen sich so was.“   „Vergiss es, die Tour zieht nicht.“ Der Sänger grinste ihn an und genoss es sichtlich, ihn zappeln zu lassen. Tsukasa versuchte es mit seinem besten Bettelblick, aber auch dieser zeigte keine Wirkung. Ganz im Gegenteil, sein Freund schnallte sich ab, stieg aus dem Wagen und holte seine Reisetasche, ohne noch mal auf ihn eingegangen zu sein. „Kommst du noch mit hoch? Dann kann ich dir gleich deine DVD zurückgeben, bevor ich das wieder ewig vergesse.“   Er schnaubte, ohne zu antworten, schaltete jedoch den Motor ab und stieg ebenfalls aus. Hizumi war bereits vorgegangen, wartete am Eingang seines Wohnhauses und hielt ihm einladend die Tür auf.   „Ich hab gerade gar nicht mehr auf dem Schirm, welche DVD du noch von mir hast“, meinte er schließlich, nachdem sie der Aufzug im richtigen Stockwerk wieder ausgespuckt und sein Freund die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.   „Mist, hätte ich mal nichts gesagt, dann hätte ich sie behalten können.“   „Das wirft gerade nicht wirklich ein gutes Licht auf dich, ist dir das bewusst?“ Hizumi sah ihn an und grinste ein derart freches Grinsen, dass Tsukasa nicht anders konnte, als leise in sich hineinzulachen. „Manchmal frag ich mich wirklich, warum ich mit dir befreundet bin.“   „Na, weil dein Leben ohne mich absolut langweilig wäre.“   „Stimmt auch wieder.“   Hizumi hängte seine Jacke an die Garderobe, zog sich Schuhe und Schal aus und sah ihn dann auffordernd an.   „Magst du etwas trinken?“   „Nee, mach dir mal keine Umstände, ich bin froh, wenn ich nach Hause komme.“   „Müde, mh?“   „Ziemlich.“ Als der andere an ihn herantrat, um ihm durchs Haar zu fahren, jagte ein wildes Kribbeln durch seinen Magen, aber das sanfte Lächeln war es, das ihn mit Wärme regelrecht zu durchfluten schien. Er gönnte es sich, sich gegen die fremde Hand zu schmiegen, die an seiner Wange innegehalten hatte und erwiderte den Blick aus warmen Augen. Er war sich sicher, worauf das nun hinauslaufen würde, er konnte die Spannung zwischen ihnen in jedem Einzelnen seiner Knochen spüren, aber er fand es nicht in sich, etwas dagegen zu tun. Nein, ganz im Gegenteil, er war es, der seinem Freund immer näher kam, nie den Blickkontakt lösend, bis sie sich so nahe waren, dass er ihn nur noch verschwommen wahrnehmen konnte. Aber das war egal, alles was nun zählte, war Hizumis warmer Atem, der über sein Gesicht wisperte und die Nähe zu ihm, der er einfach nicht mehr widerstehen konnte. „Ich will dich küssen“, flüsterte er, gab dem anderen somit die Chance, das hier noch irgendwie abzubrechen, aber er spürte lediglich weiche Lippen nah an den seinen, die sich zu einem Lächeln verzogen, bevor sie verheißungsvoll raunten: „Dann tu das doch.“   Und genau das tat er auch. Hizumis Mund war süß, als sich seine Lippen für ihn teilten, und der Körper des kleineren Mannes wunderbar warm, als er ihn nahe gegen sich zog. Eine wohlige Gänsehaut rann wie warmer Sommerregen über seinen Rücken und seine Lider flatterten wie von selbst zu, um den wunderbaren Gefühlen noch besser nachspüren zu können. Ihr Kuss war vorsichtig, tastend und so zärtlich, als hätten sie beide Sorge, den jeweils anderen zu verschrecken oder das, was hier auch immer gerade passierte, zu zerstören, würden sie zu forsch vorgehen. Dennoch kam ihm Hizumis Zunge irgendwann neugierig entgegen, stupste die seine an, umgarnte und schmeichelte, bis sich auch noch der letzte Gedanke aus seinem Geist verabschiedete. Kein noch so realistischer Traum hätte ihn jemals auf die Empfindungen vorbereiten können, die sich nun durch sein Herz zogen und ihn schwindeln ließen. Für eine süße Ewigkeit schwelgte er im Nichts, in absoluter Vollkommenheit, während sie sich aneinander festhielten, Hizumi ebenso unwillig wie er selbst, ihre Verbindung zu lösen. Doch selbst das schönste, reinste, ja beinahe unschuldigste Gefühl musste irgendwann verblassen und der Realität Platz machen. Es verursachte ihm fast körperliche Schmerzen, als er sich von Hizumi zurückzog, nur noch ein paar kurze Küsse auf die schönen Lippen hauchte, bevor er ihm wieder ins Gesicht sah. Der Sänger hielt für eine ganze Weile die Augen geschlossen und er brachte es nicht über sich, den Blick abzuwenden. Stattdessen hob er die Hand, strich seinem Freund ein paar längere Strähnen aus dem Gesicht.   „Heißt das …“, meinte Hizumi schließlich etwas atemlos klingend und leckte sich über die leicht geröteten Lippen, „… du hast dich dafür entschieden, mein Angebot anzunehmen?“ Obwohl er mit dieser Frage gerechnet hatte, konnte er einen langen Moment nichts dazu sagen. Er fühlte sich, als würde er an einer Weggabelung stehen und sein nächster Schritt würde seine Zukunft für immer verändern. Und auch, wenn dieser Vergleich ein wenig dramatisch daherkam, steckte in ihm mehr Wahrheit, als er hier und jetzt vor sich selbst zugeben konnte. Langsam schüttelte er den Kopf und ging einen kleinen Schritt zurück, ohne jedoch ihren intensiven Blickkontakt zu lösen.   „Nein, Hizu. Ich werde es nicht annehmen.“ Er glaubte, beinahe sehen zu können, wie Hizumi der Atem stockte, aber eine Reaktion auf das Gesagte blieb vorerst aus. Tsukasa sah ihn weiterhin offen an und ja, vielleicht suchte er in den Augen seines Freundes nach etwas, das ihn selbst doch noch umstimmen würde. Nach einem Funken, der dem in seinem Herzen ähnlich war, nach mehr, als der andere zugeben wollte. Aber entweder war Hizumi viel besser darin, seine Gefühle zu verbergen, oder die tiefe Freundschaft zwischen ihnen war alles, was er ihm geben konnte. Ein wehmütiges Ziehen zog sich durch sein Herz, bestätigte ihn jedoch nur in seiner Entscheidung. „Ich will einfach nicht, dass sich zwischen uns etwas ändert. Dafür bist du mir zu wichtig.“ Auf Hizumis Züge legte sich ein dünnes Lächeln und erst da fiel ihm auf, wie versteinert dessen Miene gewesen war.   „Schade …“, murmelte sein Freund und für einen Wimpernschlag nur spürte er wieder die weichen Lippen auf den seinen. „Aber … ich versteh’s.“ Hizumi nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. „Es ist besser so. Solange zwischen uns wieder alles in Ordnung ist, bin ich zufrieden.“ Sein Lächeln weitete sich. „Es ist doch wieder alles in Ordnung zwischen uns?“   „Ja.“ Er musste sich räuspern, so dünn und schwach war ihm dieses kleine Wort über die Lippen gekommen.   „Das ist gut.“ Wie heute Morgen auch schon lehnte Hizumi die Stirn gegen seine Schulter und er zog ihn noch einmal ganz nah an sich. Alles in ihm schrie danach, seine Entscheidung zu revidieren, das Risiko einfach einzugehen. Vermutlich würde sich alles zwischen ihnen ändern, aber das musste doch nichts Schlechtes sein? War er ein Feigling, weil er diesen Sprung ins kalte Wasser nicht wagen konnte? Nein, nein, das war er nicht. Er war vernünftig – zu vernünftig vielleicht – aber er würde ihre innige Freundschaft nicht für die schlichte Befriedigung eines körperlichen Verlangens aufs Spiel setzen. Dafür war ihm das, was ihn mit Hizumi verband, viel zu kostbar.   „Ich … fahr dann mal heim, okay?“ Er spürte ein sachtes Nicken, bevor der Sänger einen kleinen Schritt zurücktrat und sich zögerlich aus ihrer Umarmung löste. Dennoch blieb diese gewisse Spannung zwischen ihnen bestehen und er war sich sicher, ein falscher – richtiger? – Schritt und er würde alles tun, nur nicht nach Hause fahren. Er liebte Hizumi und er wusste tief in sich, dass sein Freund ihn auf eine platonische Weise ebenso liebte. Und genau diese Erkenntnis war es, die ihm die Kraft gab, zu seiner Entscheidung zu stehen, denn für seinen besten Freund würde er auch Hunderte Male das Richtige tun. Fast gleichzeitig fuhren sie sich durchs Haar, sahen sich erneut an und lachten los. Der Zauber – oder wie man auch immer das nennen mochte, was gerade zwischen ihnen geherrscht hatte – war gebrochen und eine unbestimmte Last glitt wie schwerer Stoff langsam von seinen Schultern.   „Schlaf dich anständig aus, du hast es dringend nötig.“   „Du bist heute schon der Zweite, der mir das sagt.“   „Dann tu dir selbst einen Gefallen und hör einfach mal auf mich.“ Hizumi packte ihn an den Schultern, drehte ihn herum und schob ihn mehr oder minder elegant aus der Wohnung. „Fahr vorsichtig, ja?“   „Kennst mich doch.“   „Darum sage ich es.“   Tsukasa rollte mit den Augen, aber seine Lippen zierte ein breites Grinsen, während er sich noch mal herumdrehte und Hizumi spielerisch salutierte. Sein Freund machte lediglich eine scheuchende Handbewegung und war im Begriff, die Tür zu schließen, da fiel ihm jedoch noch etwas ein.   „Ah, Hizumi? Was ist jetzt eigentlich mit meiner DVD?“   „Ich hab keine DVD von dir.“   „Aber …?“   „Komm gut heim, Tsukasa.“ Der Sänger zwinkerte ihm frech zu, bevor er die Wohnungstür mit einem leisen Klicken ins Schloss zog. Einen Moment stand er verdutzt im Hausflur herum, bis er sich lachend und den Kopf schüttelnd umwandte. Sein Freund war wirklich eine Marke für sich.   ~*~   Er hatte versucht, seine viel zu lauten Gedanken mit einer Komödie im Abendprogramm zum Schweigen zu bringen und zu seiner eigenen Verwunderung war ihm das gut gelungen. Doch trotz seiner anhaltenden Müdigkeit und den brennenden Augen hatte er den Weg in sein Bett auch nach dem Ende des Films nicht gefunden. Stattdessen saß er auf seinem gemütlichen Sessel direkt vor der großen Fensterfront in seinem Wohnzimmer und blickte konzentriert auf den Zeichenblock in seinem Schoß herab. Die Leselampe hinter ihm bot die einzige Lichtquelle im Raum und hüllte sein Gesicht in tiefe Schatten, was ihn noch müder und abgespannter wirken ließ. Aber seine Finger huschten geschickt über das Papier, begleitet von dem sanften Kratzen des Kohlestifts. Mehr und mehr formten die zunächst noch unkoordiniert wirkenden Striche ein Bild, Schattierungen gaben ihm tiefe, bis die ausladenden Züge seiner Hand immer feiner wurden, als er sich in den Details seines Motivs verlor. Mit jeder verstreichenden Minute schien sich sein Geist mehr zu leeren, als er alles, was er empfand, was noch immer so heiß und fast zerstörerisch in ihm tobte, auf das Papier bannte. Dort durften seine Gefühle bleiben, dort würden sie ihren Platz finden, eingeschlossen in einem Lächeln, das seine Welt für immer aus den Fugen gebracht hatte.   Seine Fingerspitzen waren eiskalt, genau wie seine Zehen, als er sich irgendwann erhob und den schmerzenden Rücken durchdrückte. Den Zeichenblock legte er auf den Sessel, ohne sein Werk noch einmal zu betrachten. Stattdessen knipste er die Leselampe aus und schlurfte im Dunkel der Wohnung in sein Schlafzimmer. Ein Zittern rann durch seinen Körper, als seine kalten Glieder endlich unter der wärmenden Decke verschwanden. Er seufzte, drehte sich zur Seite, vergrub die Nase im Kissen und schloss, umgeben vom Duft seines Freundes, die Augen. Morgen würde er das Bett neu beziehen müssen … aber heute würde er sich diese letzte, kleine Schwäche erlauben.   ~*~   Der Mond schob sich für einen Moment zwischen den dichten Wolken hervor und beleuchtete mit seinen silbrigen Strahlen den Zeichenblock, der vergessen auf dem Sessel lag. Ein Mann war dort porträtiert, entspannt auf einem Bett liegend und obwohl sich seine Hände am Rande des Bildes befanden, die Linien der Kohle hier nur angedeutet waren, bekam man den Eindruck, sie wären mit einem feinen Tuch über seinem Kopf zusammengebunden. Sein nackter Körper wurde lediglich von einem dünnen Laken um seine Mitte bedeckt, aber trotz seiner Blöße strahlte er eine unglaubliche Selbstsicherheit aus. Als wäre er in seinem Element, als würde er wissen, dass bewundernde Blicke auf ihm ruhten. Das schöne Gesicht zierte ein wissendes Lächeln, aber die Augen waren es, die jeden Betrachter in ihren Bann schlugen. Es lag ein Glanz in ihnen, der von Vertrauen, Hingabe und grenzenloser Liebe für den Menschen zu sprechen schien, der ihn geschaffen hatte. In der rechten, unteren Ecke stand der Titel des Bildes oder war es vielmehr das Gefühl, welches der Künstler empfunden hatte, als er seine Sehnsucht für immer zwischen Kohlestaub und Holzfasern begrub?   Maboroshi.     ~*~ Maboroshi – eine Vision, ein sehnlicher Wunsch, zum Greifen nah. Maboroshi – die Illusion, ein Sinnenspiel, das niemals war. Maboroshi – doch nur ein Traum von ihm, der unerreichbar war. Maboroshi – bloß ein Phantom, die Liebe in mir, die er nicht sah. ~*~       ~ The End ~   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)