Fragments von Ixana (Fragmente der Vergangenheit) ================================================================================ Wutai - Remnants of the past ---------------------------- Die zärtliche Geste erinnerte ihn an jemand anderen. Ein Gesicht mit vertrauten und doch fremden Zügen, seinem eigenen nicht unähnlich. Das besorgte Lächeln seiner Mutter, als sie ihn wieder einmal dabei erwischt hatte, wie er den älteren Männern aus dem Dorf hatte nachschleichen wollen, um zu sehen wohin sie gingen. Ihre liebevollen, ernsten Worte. An den genauen Wortlaut erinnerte er sich nicht. Lippenbewegungen, ohne dass er ein Wort verstand. „Aber...“ Seine eigenen Worte hingegen waren so klar präsent, als hätte er sie nie vergessen. „Mutter, ich wollte nur sehen, wohin sie gehen. Der Tempel in den Bergen ist nicht weit weg von hier, oder?“ Sie hatte ihn daraufhin nur wieder getadelt, dass er nicht so viele Fragen stellen, nicht so neugierig sein und ihr lieber helfen sollte, das Gemüse zu schneiden. Oder so ähnlich. Ablenkung von Dingen, für die er nach Meinung seiner werten Mama noch viel zu jung war. Dass Krieg herrschte, war damals noch nicht in seinem Dorf angekommen, doch das hatte sich schneller geändert als man denken konnte. Keine paar Tage dauerte es, bis diese komischen Männer an einem sonnigen Nachmittag zum ersten Mal auftauchten, in seiner fremden Sprache Dinge brüllten und die Leute zusammentrieben. Er erinnerte sich, dass er Angst hatte, seiner Mutter eigentlich nicht von der Seite weichen wollte als sie ihn wegschickte. Kinder nahm man nicht ernst, sie waren keine Gefahr für diese Männer. Damals hatte er den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Sie wollte ihn schützen, er war ja kein Dummkopf der nichts verstand. Kein dummer Analphabet, der keine Ahnung von garnichts hatte. In diesen Momenten jedoch, als er seiner Mutter den Rücken zudrehte und weglief, wollte er eigentlich bleiben, sie stellvertretend für den Vater schützen vor diesen fremden Leuten. Ein Übersetzer haspelte nervös etwas von Lebensmitteln, von Reis und Gemüse. Vorräte, die diese Männer brauchten, weil sie keine mehr hatten. Doch er wollte es nicht hören, wollte nicht wissen was diese Leute hier zu suchen hatten. Sie sollten seine Familie und sein Dorf in Ruhe lassen. In einem Versteck, kaum mehr als ein Bretterverschlag, harrte er aus, beobachtete alles – allein. Die anderen Kinder waren nicht hier...warum nicht? Fassungslos musste er eine Eskalation der Situation mit ansehen, als man den Forderungen dieser Männer wohl nicht nachkommen wollte. Er hörte wie Schüsse fielen, sah dass Blut spritzte und die Häuser in Brand gesteckt wurden. Sie sahen und fanden ihn nicht, diese fremden Männer, die gerade seine Heimat ausradierten. Die Vorräte zu ihren komischen Fahrzeugen wegtrugen als interessierte es sie nicht, dass sie hier Unschuldige abschlachteten, die ihnen nichts getan hatten und auch nie etwas tun würden. Dass seine Hand blutete, als er hineinbiss um seine eigenen Schreie zu unterdrücken, fiel ihm erst hinterher auf. Hinterher, als er den pochenden Schmerz spürte und aus seinem Versteck kletterte, um sich umzusehen. Dort roch er auch den beißenden Rauch, den er vorhin nicht wirklich wahrgenommen hatte. Gerade noch konnte er beobachten, dass eines der einfachen, roten Pagodendächer herunterkrachte, weil die stützenden Balken es nicht mehr tragen konnten. Das Feuer hatte die Struktur geschwächt, bis es schließlich nachgegeben hatte. Und die Flammen loderten teilweise immer noch, Rauchschwaden zogen über das hinweg, was heute morgen noch sein Zuhause gewesen war, neben Reisfeldern und dem alten Tempel in der Nähe die einzige Welt die er wirklich kannte. Wie lange war er bitte in diesem Verschlag gewesen? Tseng wusste es nicht, sein Zeitgefühl hatte er verloren und fing nun an, nach seiner Mutter zu suchen. Irgendwo hoffend, dass sie in Sicherheit war, diese Männer ihr nichts getan hatten. „Mutter?!“ Keine Antwort. Natürlich nicht...Tote konnten nicht sprechen, auch wenn man ihm Geschichten erzählt hatte in denen es anders funktionierte. Märchen, Legenden. Dinge, die nur in wenigen Punkten der Realität entsprechen konnten. Die im Tode verzerrten Gesichter der Menschen aus seinem Dorf brannten sich in sein Gedächtnis, als er näher heranging um seine Mutter unter all diesen Leichen zu finden. Es stank unerträglich, nach Schießpulver und vertrocknetem Blut, Eingeweiden und verbranntem Fleisch, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ihm kam das Frühstück wieder hoch, kurz nachdem er sich auf die Suche gemacht hatte, den Geruch zu lange einatmete. Es war zuviel. Irgendwo im Hinterkopf jedoch war da immer noch die Hoffnung – eine vage Hoffnung, dass seine Mutter noch lebte unter all diesem Gestank und den Toten. Sie musste einfach leben, er wollte sie doch beschützen. Doch Tseng fand sie nicht, der schmächtige Zehnjährige hatte keine Kraft mehr die Toten beiseite zu ziehen – Erwachsene und Kinder. Sie hatten wohl keinen Unterschied mehr gemacht, diese Männer. Und dann fiel ihm etwas ins Auge. Etwas, das er nicht sehen wollte. Seine Hoffnung, die Mutter lebend zu finden, war mit einem Mal fort. Er sah nur den Fetzen eines vormals hellen Kimonoärmels mit simplem Kirschblütenmuster. Ein Muster, braun gefärbt vom vertrockneten Blut. Wieder biss er sich in die Hand, wollte eigentlich laut schreien, weinen und nach dem Warum fragen. Warum das passiert war, warum diese Männer hier gewesen waren, warum er seine Mutter nicht hatte beschützen können. Doch Antworten, geschweige denn Trost oder Zuwendung sollte es hier nicht mehr geben – nicht für ihn, dem man an diesem Tag alles genommen hatte. Dessen Heimat in Trümmern lag. Das hatte er in dem Moment realisiert, als er den Ärmelfetzen sah. Also rannte der kleine, schmächtige Junge mit dem Bindi auf der Stirn und dem schwarzen Haar – fort in Richtung der Hauptstadt, von der er sich Sicherheit erhoffte, von der er irgendwann einmal gehört hatte wo sie ungefähr sein könnte. Tseng erhoffte sich in dieser ominösen Hauptstadt Sicherheit, die er hier nicht mehr hatte, wo die Fliegen sich auf den Leichen niedergelassen und die Krähen damit begonnen hatten an den toten Körpern zu picken, während gerade die Sonne unterging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)