Sternstunden von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 1. „Ich hab was für dich“, sagte Boris mit einem breiten Grinsen. „Passt echt wie die Faust aufs Auge.“ Er war hinter Yuriy aufgetaucht, der gerade dabei war, interessiert ein Regal mit Schwarztee zu beäugen. Er rechnete nicht damit, wirklich guten Tee in Alaska zu finden, aber man hatte ihm gesagt, dass er seine festen Meinungen gelegentlich hinterfragen sollte. Bisher hatte er sich immer in diesen bestätigt gefühlt, aber er war durchaus offen für Vorschläge. Nun allerdings drehte er sich um, beäugte den Button mit schwarz-grau-violett gestreiftem und von einem silberweißen Ring umgebenen Planeten, den Boris in seine Hand fallen ließ und las laut vor: „Ace from Space.“ Er hob den Kopf und starrte Boris an, der, die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Lederjacke gesteckt, unverhohlen stolz über seine Witzigkeit grinste. Dann sah er weiter zu Kai, der sich im Hintergrund hielt, aber ein Schmunzeln hinter seiner Hand versteckte, während er so tat, als ob er eine Schlagzeile der New York Times studierte. „Ihr seid Idioten“, befand Yuriy und wusste nicht, ob er lachen oder weinen wollte aufgrund der Tatsache, dass er sich tatsächlich fast schon gerührt fühlte. Also steckte er den Button einfach an seinen Rucksack und schwang ihn sich wieder über die Schulter. „Ich würd‘ schon gern mal ins All.“ „Zurück zu den Wurzeln, oder was?“, sagte Kai trocken, woraufhin Boris tatsächlich gackerte. Manchmal vermisste Yuriy die Zeiten, wo Kai und Boris jede Gelegenheit ausgenutzt hatten, um sich zu prügeln. „Ich habe Mitleid mit euch“, sagte Yuriy mit einem tiefen Seufzer, „ihr haltet euch für witzig und seid es nicht.“ „Ich finde zumindest mich extrem witzig“, stellte Boris fest, dann: „He, willst du der Kleinen so ein Fuchs-Shirt mitnehmen?“ Yuriy schaute über seine Schulter und atmete dabei einen Moment lang seinen Geruch ein, dann fokussierte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Shirt, das einen stilisierten Fuchs im Kleid mit Blumen in den Händen zeigte, über dem ‚A fox is a wolf who sends flowers‘ geschrieben stand. „Ihr Englisch ist noch zu schlecht, um den Witz dran zu verstehen“, sagte Yuriy gedankenvoll. „Aber dann wiederum ist es vielleicht Motivation für sie. Denn immerhin-“ „Wissen ist Macht“, vollendeten Boris und Kai wie aus einem Mund. Yuriy verengte die Augen. Dann wandte er sich ab, um das Lächeln zu verbergen, das an seinen Mundwinkeln zupfte, und griff nach dem Shirt. Es war in drei verschiedenen Farben erhältlich, aber er nahm es in Schwarz. Sinaida musste möglichst früh ein adäquater Modegeschmack beigebracht werden, wenn sie irgendeine Chance im Leben haben sollte. Die Kassiererin lächelte ihn an, als er an die Kasse trat und die Brieftasche aus seiner Hosentasche zog. Sie hatte langes, blondes Haar und einen silbernen Ring in der Unterlippe und mochte auf eine gewisse Art und Weise hübsch sein, schätzte Yuriy. „You need a bag for that?“ Er schüttelte den Kopf. „Thank you, it‘s fine.“ „Oh, I love your accent“, sagte sie mit einem weiteren Lächeln und lehnte sich ein wenig mehr zu ihm, sodass Yuriys Augenbraue unwillkürlich irritiert nach oben zuckte. „So charming! Russian?“ „Yes“, erwiderte Yuriy mit seinem charmanten Akzent und zahlte. Kai nannte die Tatsache, dass er selbst nach unzähligen Interviews auf Englisch immer noch einen signifikanten Akzent hatte, arrogant und anpassungsunfähig. Der Gedanke daran ließ ihn unwillkürlich schmunzeln. Dummerweise schien das die Kassiererin aus irgendeinem Grund zu ermutigen, denn sie fuhr sich durch die Haare, senkte ein wenig die Augenlider und murmelte: „That‘s so amazing. I love Russian guys.“ Yuriy seufzte sehr tief. Dann sah er ihr fest in die Augen und sagte: „Same here.“ „Oh my God, I‘m so sorry“, sagte sie mit weiten Augen und errötete bis unter die Haarwurzeln, sodass er beinahe schon Mitleid mit ihr bekam. Beinahe. „Und was ist mit mir?“, meldete Kai sich, nachdem Yuriy seine Beute verstaut und sich abgewandt hatte. „Oh, Kai“, sagte Yuriy daraufhin prompt und klimperte mit den Wimpern, „dieser Akzent in deinem Russisch ist so charmant! Japanisch? Ich liebe Jungs aus Japan.“ „Bitte schlepp nicht noch mehr von den Arschlöchern ran, eins reicht“, sagte Boris prompt und schob sie beide hinaus. „Können wir uns darauf einigen, Yuriys Button einfach auf seiner Stirn anzukleben?“ „Aber sein Akzent, Borya“, sagte Kai, ohne die Miene dabei zu verziehen. Yuriy nickte mit einem tiefen Seufzer. „Er ist sehr charmant.“ „Vor allem russisch“, bestätigte Kai. „Ihr habt sie nicht mehr alle“, stellte Boris fest. „Jetzt ist es amtlich. Ich bin die einzig normale Person hier.“ „Dann sind wir sowieso schon verloren“, sagte Kai und duckte sich routiniert unter einem recht halbherzigen Schwinger von Boris hindurch, um auf die Rückbank zu gleiten, nachdem Yuriy ihr Auto geöffnet hatte. „Können wir jetzt weiterfahren? Ich hab Hunger und will auch mal weiterkommen.“ „Ich hätt gern ne Dusche“, stellte Boris fest. Yuriy fragte sich, ob er mit seinen beiden Liebhabern auf Urlaub war oder mit zwei Kleinkindern. „Hinsetzen“, befahl er, „anschnallen, Mund halten.“ „Ich bin dran mit fahren“, beschwerte Boris sich prompt. „Ich fahre“, sagte Yuriy in jenem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete und Boris dazu brachte, mit den Augen zu rollen und sich auf den Beifahrersitz fallen zu lassen. Yuriy reichte seinen Rucksack nach hinten zu Kai, dann klemmte er sich hinter das Steuer und setzte seine Sonnenbrille auf. Es versprach ein strahlend schöner Tag in Alaska zu werden. 2. Eigentlich hatte Yuriy alleine fahren wollen. Der ursprüngliche Grund für seine Fahrt nach Alaska war nämlich gewesen, dass er sich einen Malamute anschaffen wollte. Die Wahl des richtigen Züchters war dabei von besonderer Wichtigkeit, nachdem er an einen Hund genauso hohe Anforderungen stellte wie an sich selbst. Nach sorgfältiger - böse Zungen mochten behaupten, geradezu obsessiver - Recherche hatte er seine Wahl auf fünf Züchter eingegrenzt, von denen drei in relativer Nähe zueinander in Alaska saßen. Die Einfuhrbestimmungen waren nicht ganz einfach, aber zu bewältigen und weil Yuriy keine halben Sachen machte, hatte er sich einfach eine passende Woche freigenommen und Flüge gebucht. Er hatte eben nicht damit gerechnet, dass Kai sich anhängte, um einige ohnehin geplante Meetings mit potentiellen Investoren in Alaska zu absolvieren und den Rest der Zeit mit ihm anzuhängen. Und nachdem Kai diesen Entschluss mit Yuriys Segen gefasst hatte, war es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit gewesen, dass Boris verkündete, ebenfalls mitzukommen. Egal wie sehr sich die Lage zwischen ihm und Kai gebessert hatte, eine gewisse Rivalität war kaum zu unterbinden. Yuriy, der zu interessiert an dem Ausgang dieses Experiments war, um sich sonderlich querzustellen, hatte ihnen ihren Willen gelassen und sich einfach nur um Unterkunft und Mietauto gekümmert. Er hielt auch weiterhin an der Meinung fest, dass ein Apartment die beste Lösung war. Boris stand auf einem unerfindlichen Kriegsfuß mit Hotelzimmerföns und hatte bisher noch jeden davon auf die eine oder andere Weise zerstört, was Yuriy nicht unbedingt brauchen konnte. Kai war vor allem wichtig, dass es im Business-Distrikt von Anchourage lag, damit er die Meetings möglichst schnell und ohne Umwege absolvieren konnte. Yuriy hatte einfach gerne seine Ruhe und räumte lieber selbst auf, wenn er es einrichten konnte. Außerdem war nicht von der Hand zu weisen, dass es finanziell wesentlich günstiger war als ein Hotel für drei Leute, und Yuriy war nichts wenn nicht kosteneffizient. Das änderte nichts daran, dass es auch unangenehme Seiten gab. Die unangenehmen Seiten trugen den Namen Jeff und waren der Vermieter. Jeff war an sich bestimmt ein netter Kerl und hatte auch ein sauberes, ordentliches Äußeres (wenn auch einen fürchterlichen Haarschnitt). Das Problem war nur, dass er einen Blick auf Yuriy warf und prompt begeisterter war, als ihm gut tat. „I love redheads”, gurrte Jeff und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „They’re so... feisty. Lots of temperament.” Yuriy starrte ihn an. „Know what I love?” „Tell me and I’ll give it to you”, schnurrte Jeff. Aus dem Augenwinkel konnte Yuriy erkennen, wie Kai hinter seinem Rücken schnaubte und Boris aussah, als ob er einen sehr einseitigen Boxkampf gleich hier im Wohnzimmer austragen wollte. „Good”, sagte Yuriy und lächelte zähnefletschend, ehe er eine Hand ausstreckte. „Because I love nothing more than peace and quiet. The keys, please.” „Soll ich ihm eine reinhauen?“, erkundigte Boris sich, während Jeff Yuriy ein wenig verschüchtert, aber immer noch mit einem gewissen hungrigen Blick die Schlüssel aushändigte. Kai knackte wie zur Bestätigung mit den Knöcheln, während er scheinbar desinteressiert an der Unterhaltung ein Gemälde über dem Esstisch begutachtete. „Wenn, dann mache ich das selber“, sagte Yuriy knapp. Boris und Kai wechselten einen Blick. Yuriy entging das nicht. Er verengte die Augen. „Was?“ „Nix für ungut“, sagte Boris, „aber du bist ein Lauch.“ „Ein Premium-Lauch“, fügte Kai fast schon beschwichtigend hinzu, als ob das irgendwas besser machte. „Der Premium-Lauch knallt euch gleich eine, dass ihr bis ins Nachbarland fliegt“, zischte Yuriy. „Russian sounds so violent and so sexy”, seufzte ihr Vermieter. „Oh, you haven’t seen or heard the worst of me”, sagte Yuriy mit einem so eisigen Lächeln, dass sich Jeff deutlich die Nackenhaare aufstellten und es nicht lange dauerte, bis er trotz seiner offensichtlichen Vorliebe für temperamentvolle Rothaarige die Flucht ergriff. Das tröstete Yuriy immerhin ein bisschen und er konnte sich mit besserer Stimmung im Apartment umsehen. Immerhin hatte Jeff einen gewissen Geschmack, mit dem er leben konnte. Mit besonderem Wohlgefallen beäugte er das Erkerfenster mit der breiten, gepolsterten Fensterbank, auf dem es sich sicher großartig lesen ließ. Nicht, dass er zum Lesen hier war, aber er hatte dennoch wohlweislich „The Particle At The End Of The Universe“ mitgebracht und wenn er es hier fertig las, war er nicht unglücklich darüber. „Wann sehen wir uns die ersten Fellknäuel an?“, erkundigte Boris sich. Yuriy drehte sich um und blinzelte, als er den kleinen, schwarzen Koffer in Boris‘ Händen sah, den dieser gerade aus seinem halbleeren, eigentlichen Koffer geholt hatte. Dann hob er seine Augenbrauen so weit, dass sie in seinen Haaren zu verschwinden drohten. „Boris“, sagte er versucht ruhig, „hat dein Koffer ohne Scheiß fast Übergewicht gehabt, weil du deine Hanteln mitgenommen hast?“ Boris sah drein, als ob er überhaupt nicht verstehen konnte, wieso Yuriy so entgeistert war. „Sicher. Ich muss pumpen und die amerikanischen Fitnesscenter sind was für Waschlappen.“ Yuriy massierte sich die Nasenwurzel. „Ich weiß nicht einmal, was ich dazu sagen soll.“ „Du musst gar nichts sagen“, sagte Boris und spannte seine nicht unbeträchtlichen Muskeln an, um links und rechts einen Kuss auf seinen Bizeps zu verteilen. „Du musst nur stillschweigend schätzen.“ Yuriy atmete tief durch, während Boris in aller Ruhe die Gewichte auf seine Hanteln schraubte. Dann wurde er darauf aufmerksam, was Kai tat und hielt inne. „Bitte sag‘ mir nicht, dass du einen Reiskocher mitgenommen hast.“ Kai zuckte nicht einmal mit der Wimper, sondern stellte den Reiskocher auf den Tisch. „Den habe ich immer mit, genau wie den richtigen Reis. Du kannst den Amerikanern nicht vertrauen.“ Er hielt inne. „Außer Max vielleicht. Aber der ist auch nur ein halber.“ „Ihr seid absurde Leute“, stellte Yuriy mit einem gewissen Erstaunen fest, „ihr seid absolut wahnsinnig. Wieso habe ich euch mitgenommen?“ „Entschuldige bitte“, sagte Boris und richtete sich empört auf, „wir sind absurd? Wir? Hiwatari vielleicht-“ „Schließ nicht von dir auf andere, Arschloch“, sagte Kai vom Reiskocher aus. „-aber du bist mit Abstand der absurdeste Mensch, den ich kenne“, sagte Boris und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte tatsächlich sehr kräftige Arme. Yuriys Augen glitten einen Moment lang über die Muskeln, die unter seiner Haut Schatten warfen, dann blickte er auf, als Boris auf ihn deutete und fortfuhr: „Wessen Idee war es vor fünf Jahren, auf eigene Faust um die Welt zu ziehen und jedem in die Fresse zu hauen, statt wie ein normaler Mensch den Mund aufzumachen und mit irgendwem über seine Probleme zu reden?“ „Yuras“, kam es von Kai aus dem Hintergrund. „Richtig! Und wer ist vor zwei Jahren einfach zwei Monate lang nach Spanien abgedampft, um bei Raul und Julia unterzukommen, weil wir ihm unterstellt haben, dass er nie mit mehr als drei Kegeln jonglieren können wird?“ „Yura“, sagte Kai nickend im Hintergrund. „Und wer wollte jetzt einfach mal ne Woche allein nach Alaska fliegen, um dort Hundezüchter abzuklappern, weil er nicht wie jeder normale Mensch einen Flohteppich aus dem versifften Moskauer Tierheim holen kann?“ „Yura“, gab Kai im Singsang von sich. Yuriy warf die Hände in die Höhe. „Wenn ich so absurd bin, wieso seid ihr überhaupt mitgekommen? Niemand hat euch dazu gezwungen!“ Boris schloss eine Hand um seinen Arm und trat an ihn heran, bis er die Wange seine schmiegen konnte und Yuriy fühlte, wie ihm das Herz gegen die Rippen schlug. Er atmete aus und war noch nicht bereit, den Ärger komplett aufzugeben, aber es wurde wesentlich erschwert durch die Art und Weise, wie Boris seine Nase gegen seine Schläfe rieb. „Wir lieben Rothaarige“, murmelte Boris dann und küsste seine Ohrmuschel. „Besonders die temperamentvollen.“ „Und besonders“, ergänzte Kai, der lautlos herangetreten war und nun das Gesicht zwischen Yuriys Schulterblätter drückte, „wenn sie so gewalttätig und so sexy Russisch sprechen.“ Yuriy wollte sie eigentlich mit vernichtenden Worten zerlegen, wie sie es verdient hätten. Aber er war warm, von seiner Wange über seine Schultern bis in seine Knochen hinein, und so schloss er nur die Augen, griff nach Kais Hand und legte den Kopf an Boris‘ Schulter. Dann sagte er: „Glaubt nicht, dass ich nicht weiß, dass ihr nur neidisch seid, weil ich mit neun Kegeln jonglieren kann und ihr nicht, ihr Affen.“ „Natürlich“, sagte Boris ergeben und hielt ihn zusammen mit Kai noch ein bisschen länger. Kapitel 2: ----------- 3. In stillschweigender Übereinkunft wurde beschlossen, dass Yuriy und Boris das Hauptschlafzimmer bekamen und Kai sich das Gästezimmer unter den Nagel riss. Das war in Ordnung. Es entsprach immerhin im Wesentlichen ihrer Trennung im Alltag: Yuriy und Boris hatten eine gemeinsame Wohnung im gleichen Haus wie Sergeij und Ivan, und Kai hatte seine Wohnung ein paar Straßen weiter, zu der es nur ein paar Minuten Fußweg waren. Yuriy war die räumliche Distanz zu ihm gewohnt, das machte ihre Verbindung nicht weniger wertvoll. Und ihn jetzt im Nebenzimmer zu haben war immer noch näher, als er ihn oft hatte. Außerdem war Yuriy in der ersten Nacht müde genug, dass er beinahe sofort einschlief, sobald sein Kopf das Kissen berührt hatte; viel Zeit zum Grübeln blieb da nicht. Es war aber auch nicht nötig. Am nächsten Morgen wachte er vor Boris auf, was keine Überraschung war, aber nach Kai, was ebenfalls keine Überraschung war. Nachdem sie sich technisch gesehen im Urlaub befanden, stand Yuriy so leise wie möglich auf, um Boris nicht zu wecken, der laut schnarchend so gefährlich am Bettrand balancierte, dass er drohte, herauszufallen. Yuriy ließ ihn liegen und zog sich seinen Hoodie über, fand ein paar Socken am Bettvorleger und tappte hinaus, um sich dabei gähnend über das Gesicht zu reiben. Es war ein frischer Morgen; jemand hatte das Fenster im Wohnzimmer gekippt, die kalte Luft zog durch den Gang und kühlte ihm die Wangen. Er lächelte, als er Kai im Badezimmer fand, wo der sich bereits im Anzug, aber noch ohne Schuhe konzentriert die Haare bürstete. „Schade, du hast die Kontaktlinsen schon drin“, stellte er fest. Seine Stimme war noch rau vom Schlaf und er gähnte ausführlich, was Kai die Gelegenheit gab, die Bürste beiseite zu legen und sich zu ihm umzudrehen. „Du bist schon wach“, sagte er unnötigerweise und warf noch einen Blick auf sein Spiegelbild, ehe er zu Yuriy hinaus auf den Flur trat. „Ich hab Kaffee gemacht. Und Tee. Und es gibt Müsli.“ „Oh“, sagte Yuriy, zu überrascht, um etwas anderes zu tun, als ihm in die Küche zu folgen. Sie waren beide keine besonderen Frühstücker, weshalb es morgens meistens nur Schwarztee gab, wenn er bei Kai übernachtete, den dieser extra für ihn bei sich lagerte. Eigentlich hatte er erwartet, dass Boris sich darum kümmern würde. Als ob er seine Gedanken erraten hatte, kramte Kai ein Teeei aus einer der Laden heraus und füllt es mit Teeblättern, um diese in einer Tasse aufzugießen und sie Yuriy zu reichen. „Das Müsli ist da, um es mit Orangensaft zu essen, sobald Boris durch die Tür kommt.“ Yuriy schüttelte den Kopf und ließ sich mit der Tasse am Küchentisch nieder - ein winziges Ding direkt unter dem Küchenfenster, von dem aus man in den Innenhof sah. „Was ist, wenn er erst aufwacht, nachdem du weg bist?“ „Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte Kai gleichmütig und füllte sich eine Tasse mit Kaffee voll, fügte dann großzügig Milch hinzu und ließ sich auf den zweiten Küchenstuhl fallen. Einen Moment lang war es still, bis auf die leisen Geräusche des Morgenverkehrs und dem Quietschen einer eingerosteten Tür irgendwo draußen im Hof. Yuriy trank einen Schluck, schloss die Augen und atmete tief durch. Vielleicht sollte er öfter aus Russland rauskommen. Er beobachtete Kai über den Rand seiner Tasse und stieß dann den Fuß sachte gegen seinen Knöchel, bis Kai ohne von seiner Tasse aufzublicken die Geste erwiderte. Yuriy versteckte ein Lächeln hinter dem Porzellan und öffnete die Augen, um einen Moment lang in die Morgensonne zu blinzeln, die in einem schmalen Streifen durchs Fenster auf den Tisch fiel. „Wann bist du wieder da?“, fragte er schließlich. Kai senkte ein Stück weit die Tasse und überlegte einen Moment. „Wenn alles gut geht, so um zwei. Das ist früh genug, wenn wir um vier beim Züchter sein wollen, nicht?“ Yuriy nickte. „Sollte sich ausgehen.“ „Gut.” Kai trank seinen Kaffee aus und streckte sich. Dann erhob er sich, räumte die Tasse unter Yuriys aufmerksamem Blick in die Spüle und kam dann zu ihm, um mit den Fingern durch seine offenen, roten Haare zu gleiten, als ob er eine Katze war. Yuriy beschloss, es ihm ausnahmsweise durchgehen zu lassen. „Langweilt euch nicht zu sehr ohne mich”, sagte Kai schließlich. Yuriy schnaubte amüsiert, packte ihn an der Krawatte und zog ihn zu sich hinab, um ihm einen Kuss zu geben. Sex war nichts, was er unbedingt haben musste, aber Küsse waren großartig und so verlor er sich eine Weile darin, bis Kai einem atemlosen kleinen Laut auf dem halben Weg zum Lachen seine Krawatte befreite und einen Schritt zurücktrat. Yuriy sah ihm nach, wie er aus der Küche verschwand und lauschte den Geräuschen von draußen, als Kai seine Schuhe anzog, nach seiner Aktentasche griff und dann die Haustür hinter sich schloss. Sie hatten aufgehört, einander Auf Wiedersehen zu sagen, als ein Fortgang keinen Abschied mehr bedeutet hatte. Yuriy atmete tief ein und öffnete dann das Fenster, um die Frühlingsluft hereinzulassen, die Vogelzwitschern und lauteren Morgenverkehr mit sich hineinfegte. Eine Weile saß er vollkommen ruhig zwischen kühler Brise und seinem eigenen Herzschlag, umfasste mit beiden Händen seine Tasse und dachte darüber nach, wie seltsam es war, dass er sich vor zwei Jahren noch nicht ernsthaft hatte vorstellen können, jemals glücklich zu sein - und dass es ihm immer noch schwer fiel, und dass er dennoch Sternstunden geschenkt bekam, Sternstunden mit den Menschen, die er liebte. Dann kam Boris hereingestolpert - graue Adidas-Hosen, weißes Tanktop und komplett zerzauste Haare -, fand ihn am Küchentisch und lächelte ihn an, als ob er ihn nicht jeden Morgen in einer ähnlichen Pose an einem ähnlichen Tisch sitzen sehen würde. „Hi.” Yuriys Herz schlug mit dumpfer Wucht, aber er mahnte sich insgeheim zur Contenance und blinzelte Boris nur über den Rand seiner Tasse an. „Es gibt Kaffee.” Boris inspizierte die Kanne und nickte zufrieden, um nach einer Tasse zu angeln und sich etwas einzuschenken, um einen Schluck zu machen und erneut zu nicken. „Den hat eindeutig Kai gemacht.” Yuriy verengte die Augen. „Was lässt dich da so sicher sein?” Boris war immer am ehrlichsten, wenn er nicht ganz wach war. Dann wiederum nahm er sich auch sonst selten ein Blatt vor den Mund. „Der ist nicht verbrannt, sondern trinkbar.” Das ließ den spontanen Anfall von fast jungenhafter Verliebtheit relativ schnell abklingen. Stattdessen durchbohrte Yuriy Boris mit stählernen Blicken, bis der sich angemessen schlecht fühlte und zum Kühlschrank rutschte. „Omelette für meinen Lieblingsrotschopf, der dafür ganz tollen Tee machen kann”, bot er an, woraufhin Yuriy einigermaßen besänftigt seine Zustimmung grummelte. Er holte sich eine zweite Tasse Tee, um dann die Nowaja Gaseta auf seinem Handy zu lesen, während Boris hinter ihm Eier zusammenrührte, während er furchtbar falsch ein Lied sang, das Yuriy relativ unbekannt vorkam. Als er herüberkam, um einen Teller mit Omelette und Toast zusammen mit Besteck direkt vor Yuriys Nase abzustellen, hatte er ihm wieder weit genug vergeben, dass er die Lippen zum Dank über Boris’ stoppeligen Unterkiefer gleiten ließ. Es gab eben immer Licht und Schatten. 4. Sinaida rief ihn an, als er gerade vor dem Haus die obligatorischen Dehnübungen nach einem durchaus zufriedenstellenden, kleinen acht-Kilometer-Lauf machte. Er hatte sie unter Kitsu-chan eingespeichert, weil Kai dazu übergegangen war, sie so zu nennen und Yuriy feststellen hatte müssen, dass er weich wurde, wann immer der Name von Kais Lippen fiel. Die Kleine hatte ein unschlagbares Zeitgefühl, aber Yuriy war dennoch milde irritiert, als ihr Anruffoto - ihr dünnes, fuchsiges Gesicht über einem Plüschmond, den er ihr geschenkt hatte - auf seinem Bildschirm auftauchte. Er debattierte einen Moment lang stillschweigend mit sich selbst. Letzten Sommer hatte er Sinaidas Vater kennengelernt und er wirkte nett genug, aber trotz aller (noch längst nicht abgeschlossener) Annäherung vertraute Yuriy seiner Mutter mit dem Schutz ihrer Kinder nur so weit, wie er sie werfen konnte. Und es konnte immer irgendetwas sein. Man kannte einen Menschen immerhin nie wirklich vollkommen. „Ich bin gerade mitten im Dehnen”, sagte er, nachdem er den Anruf angenommen hatte. „Wäh!”, schrie Sinaida augenblicklich. Sie war kürzlich dreizehn geworden und hatte begonnen, den steinigen Weg in die Pubertät einzuschlagen. Es war furchtbar für alle Beteiligten. „Ich will das gar nicht wissen!” „Weil ich laufen war”, zischte Yuriy und wusste nicht, ob er lachen oder weinen wollte. Einen Moment lang war es still, dann beschloss Sinaida: „Ist mir eigentlich egal, was du machst. Aber was ist mit dem Hund?!” „Es gibt noch keinen”, erwiderte Yuriy geduldig, während er versuchte, auf einem Bein zu balancieren und dabei das Handy nicht fallen zu lassen. Er wich dem interessierten Blick einer jungen Mutter aus, die gerade mit einem Kinderwagen langsam den Weg zum Wohnhaus hinaufkam. „Der Züchter hatte nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Morgen sehen wir uns einen anderen an.” „Einen möglichst flauschigen sollst du nehmen!”, sagte Sinaida empört, „Wie schwer kann das sein? Die sind doch alle weich!” Yuriy hob die Augen himmelwärts, dann bemühte er sich um Geduld. „Sina, mein Hauptfokus liegt nicht darauf, wie flauschig der Hund ist.” „Dann ist es ein dämlicher Hauptfokus”, befand Sinaida. „Ich hab’ gelesen, dass Malamutes eine ziemlich große Persönlichkeit haben und nicht so einfach zum Erziehen sind.” „Es wäre nicht spannend, wenn’s keine Herausforderungen gäbe.” „Ich will dann Schlittenfahrten machen mit ihm!” „Wenn du weiter so eine dünne Bohnenstange bleibst, geht sich das vielleicht sogar aus.” „Ich bin keine Bohnenstange!” „Schön”, sagte Yuriy, der sich mittlerweile beherrschen musste, angesichts ihrer hellen Empörung nicht zu lachen, „dann eben ein Blatt im Wind.” Einen Moment lang war es still. Dann hörte er, wie Sinaida einen tiefen, tiefen Atemzug machte, um dann mit fester Stimme zu verkünden: „Du holst jetzt einen flauschigen Hund und wenn du wieder da bist, dann besiege ich dich in einem Beybattle und verwöhn den Hund so sehr, dass er nie wieder auch nur ein Wort von dir befolgen wird!” Yuriy fiel beinahe um in dem Versuch, gleichzeitig zu dehnen und weiterhin nicht zu lachen, also gab er ersteres auf und stellte das Bein zurück auf den Boden. „Du kannst das natürlich gerne versuchen. Man wächst an seinen Fehlern.” „Du bist blöd! Ich will Fotos von den Hunden, auch wenn du keinen davon mitnimmst!”, bellte Sinaida und legte auf. Anscheinend hatte niemand es bisher der Mühe wert befunden, ihr Manieren beizubringen und Yuriy würde sicher nicht damit beginnen. Er nahm sich einen Moment Zeit, herzhaft darüber zu lachen, dann nahm er die Dehnübungen wieder auf. Inzwischen hatte es die junge Mutter auf seine Höhe geschafft und zwinkerte ihm zu. Sie hatte ein frisches, rundes Gesicht mit leicht geröteten Wangen von der frischen Luft des späten Nachmittags. „Talk with the girlfriend?”, fragte sie. „Didn’t understand a word, but I know a fond look when I see one.” „My little sister”, erwiderte Yuriy, der hart an seiner Höflichkeit gearbeitet hatte, nur um diese immer wieder auf dem Prüfstand zu finden. „So cute!”, gurrte die junge Mutter und blinzelte ihm so kräftig zu, dass Yuriy hoffte, dass sie nur etwas im Auge hatte, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, dass dem nicht so war. „I love men with a soft spot. You’re one of Jeff’s current guests, right?” „Indeed”, sagte Yuriy mit einem tiefen Seufzer und wechselte das Bein. Er war sich durchaus bewusst, dass ihm ein Augenpaar voller Interesse folgte. „You know”, sagte sie nach einer kurzen Pause, „if you ever wanna come over for a cup of coffee - I’m on the third floor, number 15.” Yuriy war zu verdattert, um weiterhin höflich zu bleiben. „Why on earth would I want to do that when I have a perfectly functioning coffee machine?” Sie lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hatte. „It’s a metaphor, honey. It’s not about the coffee.” Yuriy starrte sie an und fragte sich, ob alle Menschen in Amerika einen an der Klatsche hatten oder ob ihre prüde Kultur sie einfach nur dazu zwang, verzweifelt Sex mit Ausländern zu suchen in der Hoffnung, damit die gesellschaftlichen und inneren Schranken zu durchbrechen. Gut, Russland hatte Putin, aber daheim kannte man wenigstens noch so etwas wie Würde in schweren Zeiten. „Good”, sagte er schließlich eisig, „because I was told that I tend to burn the coffee I make. And that’s a metaphor, too.” Er marschierte ins Haus hinein, bevor sich die Verwirrung auf ihrem Gesicht klären konnte und verschanzte sich im Apartment. Boris blickte vom Wohnzimmerboden auf, wo er gerade die Gewichte abgelegt hatte, um in eine Pause zwischen den Sets zu gehen. Als er Yuriys Gesichtsausdruck sah, begann er wissend zu grinsen. „Wer hat dich jetzt schon wieder angeflirtet?” „Die Amerikaner sind seltsam”, erklärte Yuriy und zog das Haargummi aus seinen verschwitzten Haaren. „Und bemitleidenswert. Wo ist Kai?” „Badet, der Lappen”, sagte Boris und kam zu ihm, hielt aber inne, als Yuriy ihm ein wenig auswich. „Hab mich von ihm breitschlagen lassen, dass es zum Abendessen improvisierte Ramen gibt. Aber das war eine reine Nothandlung. Er hat begonnen, grüne Bohnen aus der Dose zu essen, Yura. Einfach so. Kalte, schleimige Bohnen - zack, in den Mund rein. Und dann hat er einen Spritzer Ketchup reingegeben und das Bohnenwasser getrunken! Das war das Widerlichste, was ich in meinem ganzen Leben jemals gesehen habe. Und ich habe schon viel gesehen. Ivans Stapel aus Wichsheften zum Beispiel.” „Danke”, sagte Yuriy laut und hob die Hand, „Wissen ist nicht immer Macht. Manche Dinge muss ich nicht erfahren.” „Was macht der Mann, Yura?", fragte Boris geradezu verzweifelt, „Was für geheime Superkräfte hat er, dass er sich nicht von vorne bis hinten ankotzt, wenn er sowas isst?" „Vermutlich ist die Antwort wie in jedem Fall „Kindheitstrauma"", sagte Yuriy pragmatisch. „Wir müssen ihm helfen", beschloss Boris, „nein, wir müssen mir helfen, bevor ich mir ein ordentliches Trauma einhandle." „Nimm ihm einfach die Bohnen weg", empfahl Yuriy und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Als er sich auf den Weg ins Bad machte, konnte er hören, wie Boris hinter ihm noch einmal „Bohnenwasser mit Ketchup” vor sich hin wisperte, als ob es sich um den Namen von Lord Voldemort handelte. Er beschloss, dass Urlaub unter anderem bedeutete, manche Dinge einfach sich selbst zu überlassen. Kapitel 3: ----------- 5. „Dieses Unternehmen ist ein Desaster“, stellte Yuriy fest, als sie sich auf dem Rückweg vom zweiten Züchter befanden. Er hatte Boris ans Steuer gelassen, um seinerseits im Beifahrersitz seine Schläfen zu massieren. „Wie können zwei Züchter nicht das haben, was ich suche?“ „Weil du viel zu wählerisch bist?“, kam es von Kai vom Rücksitz. „Wenn ich so wählerisch wäre, würde ich nicht ausgerechnet mit euch zwei Disastern hier sitzen“, murmelte Yuriy, aber es lag keine Hitze in seinen Worten. Boris legte einen Moment lang seine Hand auf Yuriys Knie. „Einen gibt‘s noch. Und sonst überlegen wir uns eben was anderes.“ Yuriy würdigte diese Aussage nicht einmal einer Antwort. Stattdessen gab er einen tiefen Seufzer von sich und starrte hinaus auf den Highway, der sich vor ihnen erstreckte und sie wieder nach Anchourage bringen würde. Die USA waren ein weites Land mit unendlichen Dimensionen - das war wohl etwas, das sie mit Russland teilten und eines der wenigen Dinge, die ihn mit diesem Land versöhnten. Dann wiederum konnte das Land nur wenig für seine notgeile Bevölkerung. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Boris und Kai einen Blick durch den Rückspiegel wechselten. „Lass uns heute feiern gehen“, sagte Boris schließlich, ohne die Hand von seinem Knie zu nehmen. „Mir ist ein Club von der Nachbarin empfohlen worden.“ Yuriy hob den Kopf. „Die mit dem Kind?“ Boris machte ein undefinierbares Geräusch. „Wenn‘s die gleiche ist wie deine von gestern, dann bist du jedenfalls nix Besonderes. Ich hab auch ‘ne Einladung in ihre Wohnung bekommen.“ „Ich bin mir nicht sicher, ob es das besser macht“, stellte Yuriy fest. Eigentlich brachte es ihn nur noch mehr dazu, ihr den Hals umdrehen zu wollen. Es irritierte ihn mindestens genauso, wenn Boris oder Kai angeflirtet wurden wie wenn er selbst angeflirtet wurde, nur aus anderen Gründen. „Ich stimme dem Idioten nur ungern zu, aber feiern gehen klingt gut“, meldete Kai sich von der Rückbank aus. „Nach dem Meeting heute und dem Herumstehen beim Züchter könnte ich ein bisschen Bewegung vertragen.“ „Ich hätt einen Alternativplan“, sagte Boris und grinste ihn durch den Rückspiegel glühend an. Kai zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Yura, schlag ihn bitte für mich, ich bin gerade zu faul, um mit meinen Aktionen einen potentiellen Autounfall auszulösen.“ „Ich entscheide, wann ich euch schlage“, beschloss Yuriy. „Heißt das, wir gehen feiern?“, fragte Boris, der gelegentlich die Hartnäckigkeit eines Bluthundes besaß. Yuriy seufzte sehr tief. „Von mir aus. Aber ihr zahlt die ersten beiden Runden.“ Yuriy trank nicht oft. Alkohol führte zu Kontrollverlust und Kontrollverlust war etwas, das er nicht gerne hatte. Er observierte lieber die Lage, während sich alle anderen aufführten und brachte dann die Alkoholleichen heim, um ihnen am nächsten Tag einen Vortrag zu halten. Aber es gab Momente in seinem Leben, in denen er bewusst beschloss, Jesus (oder wer auch immer gerade zuhören mochte) das Steuer zu überlassen und einfach das Beste zu hoffen. Clubbing in Alaska war definitiv einer dieser Momente. Und immerhin rief Wodka im Gegensatz zu so manch anderen alkoholischen Getränken zumindest in Maßen eingenommen die gute Sorte von Anheiterung in ihm hervor, jene Sorte, wo sein Blut warm wurde, ohne komplett überzukochen, jene Sorte, wo er dieser Welt versöhnlicher gegenüberstand, die er normalerweise mit Ausnahmen lieber auf Distanz hielt. Es hatte ihn immer erstaunt, dass Kai auf Tanzflächen problemlos in Flammen aufging; er hatte früher immer instinktiv angenommen, dass Kai auch in dieser Sache ähnlich wie er tickte, aber Kai war immer für eine Überraschung gut. Er konnte seine Augen kaum von ihm lösen, als sie sich miteinander auf der Tanzfläche bewegten, während Boris auf Tuchfühlung mit einem Mädchen ging, das blaue Augen und ein blitzendes Lächeln hatte. Es war merkwürdig, wie voll von Liebe und Verlangen Yuriys Herz sein konnte, nachdem er sich so lange unfähig zu beidem gefühlt hatte. Aber hier war er, und hier war sein Herz, und es schäumte unter dem zuckenden Stroboskoplicht so sehr über, dass seine Venen Feuer fingen. Oh, es war eine gute Nacht. Er stahl sich für einen Moment in die kühle Straße hinter dem Club hinaus, um eine Zigarette zu rauchen und seinen hämmernden Herzschlag wieder zu beruhigen, aber es gelang nur in Maßen. Alaskas glitzernder Sternenhimmel breitete sich über ihm aus und er legte den Kopf in den Nacken, betrachtete ihn durch den Zigarettenrauch hindurch und atmete tief ein und aus. Da war er, einer dieser Momente, in denen er sich so unfassbar lebendig fühlte, dass er nicht wusste, wohin damit. Aber er hatte gelernt, seine Energien zu lenken und sie zu nutzen, diese Sternstunden im Leben. Es war eine gute Nacht und wie immer hatte Boris Recht gehabt: man musste es feiern, das Leben, und die Feste nehmen, wie sie fielen. Was war Kontrolle schon, wenn man nicht gelegentlich dem Chaos nachgeben konnte? Was war Kontrolle schon, wenn man nicht wusste, wann man sie halten und wann abgeben musste? Was war das Leben schon, wenn man nicht wusste, was man wollte und mit wem und wenn man niemanden hatte, mit dem man es teilen konnte? Gott, er wollte alles. Alles. Und er konnte alles haben. Yuriy ließ den Zigarettenstummel fallen, trat ihn aus, blickte noch einmal zum Himmel hinauf. Dann ging er zurück und fand Kai und Boris, die gerade zur Bar gingen und dabei mit verschränkten Fingern hungrige Blicke austauschten. Da war sie wieder, die eisige Hitze, die seinen Kopf vollkommen klar machte und seinen Brustkorb zu eng für alles Verlangen machte. Als sie sich an der Theke abstützten und Boris das unmissverständliche Zeichen für drei Shots machten, ließ Yuriy sich von dem verlangenden Sog in seinen Knochen zu ihnen ziehen. Er blieb zwischen ihnen stehen, nahe genug, dass er meinte, durch den wummernden Bass und das zuckende, kaleidoskopartig über ihnen verschüttete Licht das Blut durch Boris’ und Kais Halsschlagader pulsieren sehen zu können. Er schloss eine Hand um Kais Nacken, der erstarrte wie erobert, und eine um Boris’, der in einem Stoß ausatmete wie befreit. Dann lächelte er rasiermesserscharf, als sie den Kopf zu ihm wandten und fast gleichzeitig die Augen weiteten, als sie die Energie bemerkten, die von ihm ausging. Boris begann zu grinsen, nervös und enthusiastisch gleichermaßen, während Kai die Augenlider senkte und ihn mit einem Glühen ansah, das noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht hatte. „Trinkt aus”, sagte Yuriy laut genug, dass sie ihn verstanden, „dann kommt heim mit mir.” Er musste es nicht zweimal sagen. 6. Kai und Boris überließen ihm die Kontrolle, aber nie ohne Kampf. Und das war genau das, was er wollte. Er brauchte niemanden, der willig jedem seiner Worte folgte und seine Grenzen nicht kannte. Er brauche jemanden, der diese Grenzen sehr gut kannte und sie ihm auch aufzeigte. Er brauchte jemanden wie Boris, der ihm sein ganzes Leben lang gefolgt war und sich dennoch nicht herumschubsen ließ. Er brauchte jemanden wie Kai, dessen Stolz so groß war, dass man nie dagegen arbeiten konnte, nur damit. Er brauchte jemanden, der ihm wieder und wieder Herzbrand bescherte, und er hatte das Privileg, zwei Leute an der Hand zu haben, die genau das schafften. „Runter”, raunte er Boris zu und Boris, der ihn mittlerweile vermutlich in die Hälfte knicken konnte, wand sich unter Yuriys Hand in seinem Nacken, grollte unter dem strafenden Biss in seine Schulter und fiel schließlich auf die Matratze ihres Doppelbetts, wo er auf dem Rücken liegen blieb. Er wollte nach Yuriy greifen, aber der nahm nur die Hand aus seinem Nacken, griff nach seinen Handgelenken und riss sie in die Höhe, um sie gegen das Kissen festzuhalten. Er drückte die andere Hand gegen Boris’ Brustbein, hinter dem sein Herz hämmerte wie unter einem Angriff, und hielt seinen Blick fest, während er über ihm war wie ein Alp. „Du bleibst genau hier.” „Ja”, grollte Boris, als Yuriy die Lippen gegen seine krachen ließ. Seine Hände blieben, wo sie waren, als Yuriy ihn losließ, was ein heißkaltes Prickeln durch seinen Magen sandte. Er drückte zur Belohnung einen Kuss auf seinen Unterkiefer, dann stand er auf und ging Kai holen, der offensichtlich beschlossen hatte zu spielen. Yuriy hatte nichts gegen eine kleine Jagd. In Jeffs Apartment musste er lediglich ein bisschen mehr darauf achten, dass dabei nichts zu Bruch ging. Er fand Kai im Wohnzimmer, das nur von dem Licht erhellt war, das durchs Fenster schien. Ihre Blicke trafen sich einen Moment, dann setzte Yuriy mit Herzbrand bis in die Kehle hinauf zum Sprung an. Kai wich ihm aus, wand sich unter seinem Griff hindurch, als er ihn gegen die Wand presste. Er kratzte ihm über den Hals und die Schultern und die Arme, als Yuriy ihn im Flur erneut fing, bis dessen Haut brannte. Als Yuriy ihn gegen den Flurboden presste, regnete es Schuhe von dem umgerissenen Regal unter der Hutablage, sodass sie einen Moment lang aus der Szene herausgerissen wurden. „Schau nicht darauf”, raunte Yuriy Kai zu und leckte über seine Kehle, bis der andere die Augen schloss, heiß ausatmete und die Finger in seine Schulterblätter grub, dass sie vermutlich blaue Flecken hinterlassen würden. Kai war jetzt schon hart, das Blut kochte unter seiner Haut, Yuriy konnte es nicht erwarten, ihn und Boris auseinander zu nehmen, bis sie zerfielen, und dann langsam wieder zusammenzusetzen. „Schau nur auf mich.” Kai raunte etwas auf Japanisch, das sich in Yuriys Haaren verlor, dann gab er einen rauen Laut von sich, als Yuriy auf die Beine kam und ihn hochzog. Er hing halb an Yuriy, als ob er am Verdursten war, und grub Lippen, Zunge und Zähne in seine Haut, während er von ihm ins Schlafzimmer geschleppt, dann aufs Bett geworfen wurde. „Ihr wolltet tanzen”, raunte Yuriy ihnen zu und ging dabei zu seinem Koffer, um Gleitgel und Kondome herauszuholen und auf den Nachttisch zu knallen, sodass er sich die ungeteilte Aufmerksamkeit von Kai und Boris zurückholte, die sich eine Sekunde zuvor noch glühende Blicke zugeworfen hatten. „Dann tanzen wir, aber wenn ihr glaubt, dass irgendwer von euch hier zum Führen kommt, täuscht ihr euch.” „Hier hat niemand was dagegen, solange die Führung stimmt”, sagte Boris rau, was ein zustimmendes Nicken von Kai hervorrief. Das war ihre Chance gewesen, doch noch Berufung einzulegen und dem Abend eine andere Wendung zu geben, aber offensichtlich waren sie alle an Bord des gleichen Schiffs. „Oh, ich habe bisher keine Beschwerden gehört, aber ich bin immer offen für berechtigte Kritik”, sagte Yuriy rau, kletterte zu ihnen und grub die Hände in graues und schwarzes Haar, bis er ein Keuchen und ein Grollen bekam. „Allerdings sehe ich hier noch nicht den richtigen Aufzug. Zieht euch aus.” Zwei Augenpaare wurden auf ihn gerichtet, dann fragte Kai: „Was, du hilfst nicht?” Yuriy hob eine Augenbraue. „Habe ich gestottert? Weil ich nett bin, könnt ihr euch gegenseitig helfen. Bietet mir was.” Er erhob sich vom Bett, nahm für den Effekt den Schreibtischstuhl mit einer Hand und schob ihn so, dass er von dort aus perfekten Ausblick auf das Bett hatte. Dann schlug er die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. Boris blähte die Nasenflügel, während Kai erneut die Augenlider senkte und tief durchatmete. Die Art und Weise, wie sie sich sichtlich zurückhalten mussten und seinem Befehl zu folgen begannen, ließ den Herzbrand wieder aufflammen, bis er selbst möglichst lautlos, um den Anschein von Ungerührtheit zu wahren, tief durchatmen musste. Er saß still wie eine Statue und atmete ruhig ein und aus gegen das Kribbeln in seinen Fingern, als Knöpfe geöffnet wurden, Finger über Haut glitten, Piercings im Halbmondlicht glitzerten, geöffnete Gürtelschnallen klimperten, T-Shirts und Haare raschelten, Boris ein unterdrücktes Fluchen von sich gab, als Kai nackt vor ihm saß, der genauso nackt war, und er sich sichtlich zusammenreißen musste, nicht einfach nach ihm zu greifen. Kai wiederum ließ die Augen nicht von ihm und hatte die geduckte, angespannte Haltung eines Raubtiers, das nur auf den geeigneten Moment wartete, um loszuspringen. Yuriy atmete aus, um sich selbst zur Kontrolle zu mahnen. Dann erhob er sich. Ah, es war knochentiefe Befriedigung, als allein dadurch beide Köpfe zu ihm herüber schnellten und er von zwei glitzernden Augenpaaren angesehen wurde. Es war befriedigend genug, dass er mit dem Daumen über Kais hohe Wangenknochen und Boris’ Schläfe strich, nahe genug, dass sie seine Körperwärme wahrnehmen mussten und es nur an ihrer Selbstdisziplin lag, nicht ihre Finger in sein Shirt zu graben und ihn näher zu ziehen. Er kostete den Moment eine Weile länger aus, bis er spüren konnte, dass Boris vor Ungeduld zu vibrieren begann und das Feuer unter Kais Haut immer höher und höher loderte. Erst dann schob er mit einem Summen die Hand von Boris’ Schläfe in seinen Nacken und hielt ihn dort, um sich mit einem Knie auf dem Bettrand abzustützen, die Lippen an sein Ohr zu senken und zu murmeln, laut genug, dass Kai es auch hörte: „Ich habe genau gesehen, wie du Kai schon den ganzen Tag angestarrt hast, Liebster, das hat mich schon sehr nachdenklich gemacht.” Boris schob sich mehr in seine Hand und grollte, als Yuriy sachte in sein Ohrläppchen biss. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Kai die Hände auf den Knien ballte, um sich selbst von einer Berührung abzuhalten. „Oh, keine Sorge, ich kann es ja verstehen”, fuhr Yuriy in derselben leisen, dunklen Stimme fort, „sieh ihn dir an.” Er ließ Boris los und schloss die Hände um Kais Gesicht, hob es empor, bis Kais Glutaugen ihn zu verschlingen schienen. Dann senkte er den Kopf und zog ihn in einen tiefen, tiefen Kuss, bis Kai geradezu zitterte vor unterdrückter Energie. Yuriy löste schweratmend die Lippen von ihm, kam zurück für mehr, küsste ihn, küsste ihn, küsste ihn, bis Kai nach Atem rang und Boris an seiner Seite knurrte wie ein Hund, dessen Kette zum Zerreißen angespannt war. Yuriy blickte Kai erneut in die Augen, jagte mit den Fingerspitzen über seine Gesichtszüge und murmelte: „Ich denke, Boris muss es sich erst verdienen, dich zu erlegen, Liebster. Was sagst du dazu?” Kais Augen loderten auf und ein gefährliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Lass ihn dafür arbeiten.” Yuriy summte angetan und ließ ihn los. Er strich über Boris’ breite Schultern, fühlte die Muskeln unter seiner Berührung zittern und drückte einen Kuss gegen Boris’ Wange, Mundwinkel, Schläfe, sanft, sanft, sanft bis Boris bebend Atem holte und ruhiger wurde. Dann packte Yuriy ihn kraftvoll im Genick, ließ ihn zwischen Kais Beinen auf alle Viere fallen und drückte seinen Kopf nach unten, bis Boris’ Wange mit Kais Hüftknochen kollidierte. Dann ließ er ihn los und strich mit den Fingerspitzen über Boris’ Wirbelsäule, bis der einen frustrierten Schrei gegen Kais Bauch losließ, nur um zu zucken, als Yuriys Hand auf seinen wohlgeformten Hintern herabsauste. Kai gab einen Laut von sich, der zeigte, dass er davon genauso angetan war wie Yuriy. „Für die besten Dinge im Leben muss man arbeiten”, sagte der, warf das Gleitgel in Boris’ Griffweite und verließ das Bett, um wieder auf seinem Stuhl Platz zu nehmen. Er atmete tief ein und aus, während Kai Boris einen auffordernden Blick zuwarf, den dieser mit einem Grollen beantwortete, um die Hand um den Ansatz von Kais Erektion zu schließen und die Lippen in einer Art und Weise um dessen Eichel zu legen, die Kai mit einem kleinen Laut fast knochenlos nach hinten sinken ließ. Kai war empfindlich, wenn er in Flammen stand, aber er war auch gierig und unersättlich wie Feuer, das sich durch mehr und immer mehr Holz fraß. Seine Fingernägel kratzten über Boris’ Schultern und hinterließen gerötete Streifen, als der ihn tiefer und immer tiefer aufnahm, bis er sein Limit erreicht hatte und den Rest mit forschen Handbewegungen ausglich. „Ich weiß, du bist hungrig”, sagte Yuriy nach einer Weile rau, „aber vergiss das Vorbereiten nicht, sonst bin ich ernsthaft ungehalten.” Es dauerte einen Moment, bis Boris genug aus der Situation aufwachte, um seiner Aufforderung Folge zu leisten und das Gleitgel zu öffnen. Kai biss in seine eigene Handfläche, als der erste Finger in ihm verschwand, und Yuriy gab ein sanftes Summen von sich angesichts der Form, in der sein Rücken sich einen Moment lang wölbte. Er verbiss sich nur schwer ein Lächeln, als Kai bei dem zweiten Finger in Kombination mit etwas, das wie besonders gute Zungentechnik wirkte, mit den flachen Händen gegen Boris’ Rücken schlug, bis der ihm ein paar gezischte Warnungen zuwarf. „Kai, es ist in deinem Interesse, dass Boris dir nichts abbeißt”, erinnerte er ihn. Kai warf ihm vom Bett aus einen Blick zu, der bei jedem anderen ein Loch eingebrannt hätte, belegte ihn mit ein paar ausgesucht kreativen japanischen Schimpfworten und verlor dann jegliche Sprachfähigkeit, als Boris den dritten Finger hinzu nahm und tief, tief in ihn stieß. Sein Rhythmus brachte Kai dazu, mit den Fäusten gegen die Matratze zu schlagen und immer lauter zu atmen, auf eine Art und Weise, die Yuriy deutlich machte, dass er nicht mehr lange brauchen würde, um zu kommen. „Borya”, sagte er sanft, „ich will, dass du schluckst. Wir sind Gäste hier und es gibt keinen Grund, eine Sauerei zu veranstalten, nur weil ihr euch wie die Tiere nicht beherrschen könnt.” Boris gab einen Laut von sich, dessen Vibration Kai wohl endgültig über die Klippe springen ließ. Er machte ein Geräusch, als ob etwas in seiner Lunge gerissen war, grub die Finger in Boris’ Haare und hielt Augenkontakt mit Yuriy, bis er mit einem Stoßseufzer zurück in die Kissen fiel. Dann warf er einen Arm über seine Augen und atmete tief durch. „Gut”, sagte Yuriy leise und schenkte Boris ein kleines Lächeln, als der sich aufsetzte, über den Mund wischte und zu ihm sah. „Sehr gut. Harte Arbeit verdient Belohnung. Gesetzt dem Fall, dass Kai jetzt nicht schon schlapp macht.” Kais Arm wurde ausgestreckt, um Yuriy den Mittelfinger zu zeigen, dann zischte er: „Ich will es. Ich bin noch lange nicht müde, also zeig, was du draufhast, Arschloch.” „Lehnst dich weit aus dem Fenster für jemanden, der gleich zervögelt wird, Hiwatari”, zischte Boris zurück, griff nach einem der Kondome und riss die Packung dermaßen heftig auf, um das Kondom zusammen mit einer mehr als großzügigen Menge Gleitgel geradezu wütend überzustreifen, dass Yuriy auf seinem Beobachterposten ein Lachen in seiner Hand ersticken musste. Scheinbar schien Kai den Ausspruch und Boris’ Handlungen allerdings eher als aufstachelnd zu empfinden, denn er schlang die Arme um seinen Nacken, hob ihm die Hüften entgegen und wickelte halb die Beine um ihn, nur um einen geradezu wütenden Schrei gegen seine Schulter zu ersticken, als Boris wenig zimperlich mit einer einzigen Bewegung tief in ihn drang. Yuriy lehnte sich ein Stück vor, als Kai und Boris sich küssten und lächelte sachte, als eine von Boris’ Händen sich an Kais Hinterkopf legte, um ihn vor einer Kollision mit der Wand zu bewahren. Boris hielt sich nicht zurück, aber dann wiederum tat Kai auch wenig, um ihn zu zügeln. Im Gegenteil, die Art und Weise, wie sie sich ineinander verkeilten und Kai „Mehr, mehr” gegen Boris’ Lippen zischte, obwohl er nach seinem Orgasmus unfassbar empfindlich sein musste, brachte diesen dazu, sich vollkommen zu verausgaben, bis Yuriy die ersten Anzeichen in verkrampften Schultern und zuckenden Rückenmuskeln sah, dass er seinem Höhepunkt immer näher kam. „Komm für mich, Borya”, sagte Yuriy leise, und zusammen mit Kais Fingernägeln, die sich tief in Boris’ Schultern gruben, war es genug, um Boris in seinen Höhepunkt zu treiben. Yuriy erhob sich leise und ging, während Boris einen schweren Seufzer ausstieß und das Gesicht an Kais Hals vergrub, woraufhin der ihm durch die Haare strich. Er verließ seine Liebhaber nicht lange, nur lang genug, um mit einem befeuchteten Handtuch und Kais Kontaktlinsenbehälter zurückkehren zu können. An diesem Punkt hatten Kai und Boris sich genug voneinander gelöst, dass das - glücklicherweise zusammengeknotete - Kondom im Mülleimer gelandet war. Als Yuriy zu ihnen aufs Bett kletterte und begann, beide einigermaßen sauber zu wischen, strich eine Hand durch seine Haare und eine über seinen Rücken. Es gab eine kleine Pause, als Yuriy Kai den Kontaktlinsenbehälter in die Hand drückt. „Yura”, murmelte Kai sanft, drückte einen Kuss auf seine Wange und begann dann mit einem tiefen Seufzer, sich die Scheiben aus den Augen zu pfriemeln. „Yura”, sagte Boris zärtlich und positiv erschöpft, griff nach ihm und schob ihm das T-Shirt über den Kopf, öffnete den Gürtel seiner Hose und half ihm heraus, bis Yuriy sich nur noch in Unterwäsche zwischen sie fallen lassen konnte. Er schloss die Augen, als Kais Lippen über seine Wange glitten und Boris über seinen Hals streichelte, fing einen Mund zu einem tiefen Kuss ein, dann den anderen. „Sternstunden”, murmelte Kai gegen seine Schläfe, „heißen so, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen. Das hat Stefan Zweig geschrieben. Ich musste gerade daran denken.” „Erzähl mir mehr von Sternen”, wisperte Yuriy, während Boris die Arme um ihn schloss, bis er das Gesicht gegen seine Schulter drücken konnte. „Morgen, Liebster”, murmelte Kai mit einem letzten Kuss gegen seine Haut, „wir haben viel Zeit.” Epilog: -------- „Ich will nicht sagen, dass ich’s gesagt hab…”, begann Boris vielsagend. „Aber du hast es gesagt”, sagte Kai und nickte nachdenklich. „Haltet beide die Klappe”, sagte Yuriy, ohne den Blick von der Hündin auf der anderen Seite des Gitters zu nehmen. Alaska hatte nicht das gehabt, was er sich vorgestellt hatte - er hatte bei keinem der Hunde das Bauchgefühl verspürt, das ihn eine sichere Wahl hätte treffen lassen und so waren sie unverrichteter Dinge wieder heimgefahren. Er hatte sich zwei Tage lang gegönnt, in denen er mit schlechter Laune in der Buchhaltungsabstellkammer des Verlags, für den er arbeitete, gehockt war und alle mit stechenden Blicken verscheucht hatte, die etwas von ihm wollten. Dann hatte er sich von Boris breitschlagen lassen, doch noch eines oder zwei von Moskaus Tierheimen abzuklappern. Die gute Nachricht war, dass es funktioniert hatte. Die schlechte war, dass Boris ihn das vermutlich nie wieder vergessen lassen würde. Für den Moment war Yuriy das allerdings vollkommen egal, denn die Hündin, die ihn mit hellen blauen Augen wachsam beobachtete und sich nicht aus ihrer Ecke rührte, während die meisten anderen Hunde bereits schwanzwedelnd an ihren Gittern standen und um Aufmerksamkeit bettelten, war perfekt. „Samojede-Malamute-Mischling”, sagte die Tierheimtante, deren Name er sich nicht gemerkt hatte, hilfreich hinter ihm, woraufhin sein Herz noch einmal einen Hüpfer machte. „Sie ist jetzt so um ein Jahr alt. Ist recht schlecht behandelt und von einer Nachbarin gerettet worden, deswegen ist sie ein bisschen schwierig. Man merkt, sie will ja, aber sie kann nicht so recht aus ihrer Haut.” „Er wird den Hund mitnehmen”, hörte Yuriy Kai an Boris gewandt murmeln. Er ignorierte sie beide. „Beißt sie?” „Das nicht”, erwiderte die Tierheimtante, „aber sie hat einen empfindlichen Magen und reagiert schreckhaft auf laute Geräusche. Wir hatten eine Familie da, die sich für sie interessiert hätte, aber da haben sie die Kinder so überfordert, dass sie sich groß gemacht und minutenlang geheult hat. Wie Sie sehen, ist sie ziemlich groß, wenn auch momentan mehr Fell als Fleisch, wenn die sich mal aufbäumt ist es schon recht beeindruckend. So ein kleines Kind ist da nicht mehr als ein Kegel, den man relativ schnell umrennen kann.” „Hmmm”, sagte Yuriy. Bei dem Laut stellte die Hündin die schwarz umrandeten Ohren auf. Sie hatte eine schöne Färbung: ein helles, feines Gesicht mit einem schwarzen Nasenstrich und schwarzen Bögen über den Augen, die langsam in das hellere, lange Fell ihres Körpers - nicht komplett weiß, sondern eher ein sehr helles Beige mit gelegentlich rötlichem Schimmer- überging. Ihre Kehle und der Großteil der Pfoten waren weiß, dazwischen fanden sich auf Bauch und Schwanz immer wieder schwarze Stellen. Da war ein intelligenter Ausdruck in ihren Augen; sie registrierte genau, dass Yuriy sie ansah und ließ ihn nicht aus dem Blick. Nach einem Moment begann sie allerdings zögerlich mit dem Schwanz gegen den Boden zu klopfen, ohne sich aus der leicht geduckten Haltung zu rühren. „Machen Sie mal die Tür auf”, sagte Yuriy. „Sind Sie sicher? Ich meine…” Die Tierheimtante verstummte, als er den Kopf drehte und ihr einen Blick zuwarf, der sie still fragte, ob er gestottert hatte. Boris und Kai sahen sich amüsiert an, als sie sich beeilte, den Käfig zu öffnen, um dann beiseite zu treten, damit Yuriy davor in die Hocke gehen konnte. Er verharrte so, vollkommen ruhig und auf die Hündin fokussiert, der er schließlich eine Hand entgegen streckte. Sie streckte ihren Kopf aus und schnupperte eine ganze Weile, während der Schwanz über den Boden fegte. Dann kroch sie vorwärts, immer noch abwartend, bis sie schließlich auf die Beine kam und nahe genug kam, um mit der schwarzen Schnauze gegen seine Fingerspitzen zu streifen. Sie war tatsächlich groß, aber das war bei der Mischung auch keine große Überraschung. Yuriy betrachtete aufmerksam ihr Verhalten und stellte still fest, dass sie Arbeit und Fingerspitzengefühl erfordern würde. Dann wiederum hatte er jahrelang erfolgreich ein Team geleitet, das einiges an Höhen und Tiefen erlebt hatte. In der Hinsicht schreckte ihn nicht mehr viel und der Hund war eindeutig nicht gebrochen - nur ein wenig verloren. „Hat sie einen Namen?”, fragte er. Die Tierheimtante gab ein zustimmendes Geräusch von sich. „Die Nachbarin, die sie gerettet hat, hat sie Adhara genannt. Ich glaube, das schreibt man mit einem stummen H.” Yuriy hielt inne. Er glaubte nicht an Vorbestimmung und schon gar nicht an irgendeinen Gott, aber manchmal war er doch kurz davor, daran zu zweifeln. „Wie das Doppelsternsystem?” „Okay”, sagte Boris an Kai gewandt, „das Spiel wurde entschieden. Und ich will nicht sagen, dass ich gleich gesagt hab, dass er in Moskau schauen soll, aber…” Yuriy rollte so hart mit den Augen, dass Adhara stärker mit dem Schwanz gegen den Boden klopfte. Dann stand er auf, langsam genug, dass sie sich nicht schreckte, und drehte sich zu der Tierheimtante um. „Ich nehme sie mit.” Boris hatte schon Recht. Er hätte wissen müssen, dass er in Moskau finden würde, was er gesucht hatte. Die Stadt hatte ihm alles beschert, was ihn in seinem Leben wirklich verletzt hatte. Aber sie hatte ihm auch alles geschenkt, was er liebte. „Na”, fragte Kai und seine Augen waren sehr warm dabei, „bist du jetzt endlich glücklich?” „Sehr”, sagte Yuriy und meinte es auch so. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)