Sternstunden von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 2: ----------- 3. In stillschweigender Übereinkunft wurde beschlossen, dass Yuriy und Boris das Hauptschlafzimmer bekamen und Kai sich das Gästezimmer unter den Nagel riss. Das war in Ordnung. Es entsprach immerhin im Wesentlichen ihrer Trennung im Alltag: Yuriy und Boris hatten eine gemeinsame Wohnung im gleichen Haus wie Sergeij und Ivan, und Kai hatte seine Wohnung ein paar Straßen weiter, zu der es nur ein paar Minuten Fußweg waren. Yuriy war die räumliche Distanz zu ihm gewohnt, das machte ihre Verbindung nicht weniger wertvoll. Und ihn jetzt im Nebenzimmer zu haben war immer noch näher, als er ihn oft hatte. Außerdem war Yuriy in der ersten Nacht müde genug, dass er beinahe sofort einschlief, sobald sein Kopf das Kissen berührt hatte; viel Zeit zum Grübeln blieb da nicht. Es war aber auch nicht nötig. Am nächsten Morgen wachte er vor Boris auf, was keine Überraschung war, aber nach Kai, was ebenfalls keine Überraschung war. Nachdem sie sich technisch gesehen im Urlaub befanden, stand Yuriy so leise wie möglich auf, um Boris nicht zu wecken, der laut schnarchend so gefährlich am Bettrand balancierte, dass er drohte, herauszufallen. Yuriy ließ ihn liegen und zog sich seinen Hoodie über, fand ein paar Socken am Bettvorleger und tappte hinaus, um sich dabei gähnend über das Gesicht zu reiben. Es war ein frischer Morgen; jemand hatte das Fenster im Wohnzimmer gekippt, die kalte Luft zog durch den Gang und kühlte ihm die Wangen. Er lächelte, als er Kai im Badezimmer fand, wo der sich bereits im Anzug, aber noch ohne Schuhe konzentriert die Haare bürstete. „Schade, du hast die Kontaktlinsen schon drin“, stellte er fest. Seine Stimme war noch rau vom Schlaf und er gähnte ausführlich, was Kai die Gelegenheit gab, die Bürste beiseite zu legen und sich zu ihm umzudrehen. „Du bist schon wach“, sagte er unnötigerweise und warf noch einen Blick auf sein Spiegelbild, ehe er zu Yuriy hinaus auf den Flur trat. „Ich hab Kaffee gemacht. Und Tee. Und es gibt Müsli.“ „Oh“, sagte Yuriy, zu überrascht, um etwas anderes zu tun, als ihm in die Küche zu folgen. Sie waren beide keine besonderen Frühstücker, weshalb es morgens meistens nur Schwarztee gab, wenn er bei Kai übernachtete, den dieser extra für ihn bei sich lagerte. Eigentlich hatte er erwartet, dass Boris sich darum kümmern würde. Als ob er seine Gedanken erraten hatte, kramte Kai ein Teeei aus einer der Laden heraus und füllt es mit Teeblättern, um diese in einer Tasse aufzugießen und sie Yuriy zu reichen. „Das Müsli ist da, um es mit Orangensaft zu essen, sobald Boris durch die Tür kommt.“ Yuriy schüttelte den Kopf und ließ sich mit der Tasse am Küchentisch nieder - ein winziges Ding direkt unter dem Küchenfenster, von dem aus man in den Innenhof sah. „Was ist, wenn er erst aufwacht, nachdem du weg bist?“ „Morgen ist auch noch ein Tag“, sagte Kai gleichmütig und füllte sich eine Tasse mit Kaffee voll, fügte dann großzügig Milch hinzu und ließ sich auf den zweiten Küchenstuhl fallen. Einen Moment lang war es still, bis auf die leisen Geräusche des Morgenverkehrs und dem Quietschen einer eingerosteten Tür irgendwo draußen im Hof. Yuriy trank einen Schluck, schloss die Augen und atmete tief durch. Vielleicht sollte er öfter aus Russland rauskommen. Er beobachtete Kai über den Rand seiner Tasse und stieß dann den Fuß sachte gegen seinen Knöchel, bis Kai ohne von seiner Tasse aufzublicken die Geste erwiderte. Yuriy versteckte ein Lächeln hinter dem Porzellan und öffnete die Augen, um einen Moment lang in die Morgensonne zu blinzeln, die in einem schmalen Streifen durchs Fenster auf den Tisch fiel. „Wann bist du wieder da?“, fragte er schließlich. Kai senkte ein Stück weit die Tasse und überlegte einen Moment. „Wenn alles gut geht, so um zwei. Das ist früh genug, wenn wir um vier beim Züchter sein wollen, nicht?“ Yuriy nickte. „Sollte sich ausgehen.“ „Gut.” Kai trank seinen Kaffee aus und streckte sich. Dann erhob er sich, räumte die Tasse unter Yuriys aufmerksamem Blick in die Spüle und kam dann zu ihm, um mit den Fingern durch seine offenen, roten Haare zu gleiten, als ob er eine Katze war. Yuriy beschloss, es ihm ausnahmsweise durchgehen zu lassen. „Langweilt euch nicht zu sehr ohne mich”, sagte Kai schließlich. Yuriy schnaubte amüsiert, packte ihn an der Krawatte und zog ihn zu sich hinab, um ihm einen Kuss zu geben. Sex war nichts, was er unbedingt haben musste, aber Küsse waren großartig und so verlor er sich eine Weile darin, bis Kai einem atemlosen kleinen Laut auf dem halben Weg zum Lachen seine Krawatte befreite und einen Schritt zurücktrat. Yuriy sah ihm nach, wie er aus der Küche verschwand und lauschte den Geräuschen von draußen, als Kai seine Schuhe anzog, nach seiner Aktentasche griff und dann die Haustür hinter sich schloss. Sie hatten aufgehört, einander Auf Wiedersehen zu sagen, als ein Fortgang keinen Abschied mehr bedeutet hatte. Yuriy atmete tief ein und öffnete dann das Fenster, um die Frühlingsluft hereinzulassen, die Vogelzwitschern und lauteren Morgenverkehr mit sich hineinfegte. Eine Weile saß er vollkommen ruhig zwischen kühler Brise und seinem eigenen Herzschlag, umfasste mit beiden Händen seine Tasse und dachte darüber nach, wie seltsam es war, dass er sich vor zwei Jahren noch nicht ernsthaft hatte vorstellen können, jemals glücklich zu sein - und dass es ihm immer noch schwer fiel, und dass er dennoch Sternstunden geschenkt bekam, Sternstunden mit den Menschen, die er liebte. Dann kam Boris hereingestolpert - graue Adidas-Hosen, weißes Tanktop und komplett zerzauste Haare -, fand ihn am Küchentisch und lächelte ihn an, als ob er ihn nicht jeden Morgen in einer ähnlichen Pose an einem ähnlichen Tisch sitzen sehen würde. „Hi.” Yuriys Herz schlug mit dumpfer Wucht, aber er mahnte sich insgeheim zur Contenance und blinzelte Boris nur über den Rand seiner Tasse an. „Es gibt Kaffee.” Boris inspizierte die Kanne und nickte zufrieden, um nach einer Tasse zu angeln und sich etwas einzuschenken, um einen Schluck zu machen und erneut zu nicken. „Den hat eindeutig Kai gemacht.” Yuriy verengte die Augen. „Was lässt dich da so sicher sein?” Boris war immer am ehrlichsten, wenn er nicht ganz wach war. Dann wiederum nahm er sich auch sonst selten ein Blatt vor den Mund. „Der ist nicht verbrannt, sondern trinkbar.” Das ließ den spontanen Anfall von fast jungenhafter Verliebtheit relativ schnell abklingen. Stattdessen durchbohrte Yuriy Boris mit stählernen Blicken, bis der sich angemessen schlecht fühlte und zum Kühlschrank rutschte. „Omelette für meinen Lieblingsrotschopf, der dafür ganz tollen Tee machen kann”, bot er an, woraufhin Yuriy einigermaßen besänftigt seine Zustimmung grummelte. Er holte sich eine zweite Tasse Tee, um dann die Nowaja Gaseta auf seinem Handy zu lesen, während Boris hinter ihm Eier zusammenrührte, während er furchtbar falsch ein Lied sang, das Yuriy relativ unbekannt vorkam. Als er herüberkam, um einen Teller mit Omelette und Toast zusammen mit Besteck direkt vor Yuriys Nase abzustellen, hatte er ihm wieder weit genug vergeben, dass er die Lippen zum Dank über Boris’ stoppeligen Unterkiefer gleiten ließ. Es gab eben immer Licht und Schatten. 4. Sinaida rief ihn an, als er gerade vor dem Haus die obligatorischen Dehnübungen nach einem durchaus zufriedenstellenden, kleinen acht-Kilometer-Lauf machte. Er hatte sie unter Kitsu-chan eingespeichert, weil Kai dazu übergegangen war, sie so zu nennen und Yuriy feststellen hatte müssen, dass er weich wurde, wann immer der Name von Kais Lippen fiel. Die Kleine hatte ein unschlagbares Zeitgefühl, aber Yuriy war dennoch milde irritiert, als ihr Anruffoto - ihr dünnes, fuchsiges Gesicht über einem Plüschmond, den er ihr geschenkt hatte - auf seinem Bildschirm auftauchte. Er debattierte einen Moment lang stillschweigend mit sich selbst. Letzten Sommer hatte er Sinaidas Vater kennengelernt und er wirkte nett genug, aber trotz aller (noch längst nicht abgeschlossener) Annäherung vertraute Yuriy seiner Mutter mit dem Schutz ihrer Kinder nur so weit, wie er sie werfen konnte. Und es konnte immer irgendetwas sein. Man kannte einen Menschen immerhin nie wirklich vollkommen. „Ich bin gerade mitten im Dehnen”, sagte er, nachdem er den Anruf angenommen hatte. „Wäh!”, schrie Sinaida augenblicklich. Sie war kürzlich dreizehn geworden und hatte begonnen, den steinigen Weg in die Pubertät einzuschlagen. Es war furchtbar für alle Beteiligten. „Ich will das gar nicht wissen!” „Weil ich laufen war”, zischte Yuriy und wusste nicht, ob er lachen oder weinen wollte. Einen Moment lang war es still, dann beschloss Sinaida: „Ist mir eigentlich egal, was du machst. Aber was ist mit dem Hund?!” „Es gibt noch keinen”, erwiderte Yuriy geduldig, während er versuchte, auf einem Bein zu balancieren und dabei das Handy nicht fallen zu lassen. Er wich dem interessierten Blick einer jungen Mutter aus, die gerade mit einem Kinderwagen langsam den Weg zum Wohnhaus hinaufkam. „Der Züchter hatte nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Morgen sehen wir uns einen anderen an.” „Einen möglichst flauschigen sollst du nehmen!”, sagte Sinaida empört, „Wie schwer kann das sein? Die sind doch alle weich!” Yuriy hob die Augen himmelwärts, dann bemühte er sich um Geduld. „Sina, mein Hauptfokus liegt nicht darauf, wie flauschig der Hund ist.” „Dann ist es ein dämlicher Hauptfokus”, befand Sinaida. „Ich hab’ gelesen, dass Malamutes eine ziemlich große Persönlichkeit haben und nicht so einfach zum Erziehen sind.” „Es wäre nicht spannend, wenn’s keine Herausforderungen gäbe.” „Ich will dann Schlittenfahrten machen mit ihm!” „Wenn du weiter so eine dünne Bohnenstange bleibst, geht sich das vielleicht sogar aus.” „Ich bin keine Bohnenstange!” „Schön”, sagte Yuriy, der sich mittlerweile beherrschen musste, angesichts ihrer hellen Empörung nicht zu lachen, „dann eben ein Blatt im Wind.” Einen Moment lang war es still. Dann hörte er, wie Sinaida einen tiefen, tiefen Atemzug machte, um dann mit fester Stimme zu verkünden: „Du holst jetzt einen flauschigen Hund und wenn du wieder da bist, dann besiege ich dich in einem Beybattle und verwöhn den Hund so sehr, dass er nie wieder auch nur ein Wort von dir befolgen wird!” Yuriy fiel beinahe um in dem Versuch, gleichzeitig zu dehnen und weiterhin nicht zu lachen, also gab er ersteres auf und stellte das Bein zurück auf den Boden. „Du kannst das natürlich gerne versuchen. Man wächst an seinen Fehlern.” „Du bist blöd! Ich will Fotos von den Hunden, auch wenn du keinen davon mitnimmst!”, bellte Sinaida und legte auf. Anscheinend hatte niemand es bisher der Mühe wert befunden, ihr Manieren beizubringen und Yuriy würde sicher nicht damit beginnen. Er nahm sich einen Moment Zeit, herzhaft darüber zu lachen, dann nahm er die Dehnübungen wieder auf. Inzwischen hatte es die junge Mutter auf seine Höhe geschafft und zwinkerte ihm zu. Sie hatte ein frisches, rundes Gesicht mit leicht geröteten Wangen von der frischen Luft des späten Nachmittags. „Talk with the girlfriend?”, fragte sie. „Didn’t understand a word, but I know a fond look when I see one.” „My little sister”, erwiderte Yuriy, der hart an seiner Höflichkeit gearbeitet hatte, nur um diese immer wieder auf dem Prüfstand zu finden. „So cute!”, gurrte die junge Mutter und blinzelte ihm so kräftig zu, dass Yuriy hoffte, dass sie nur etwas im Auge hatte, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, dass dem nicht so war. „I love men with a soft spot. You’re one of Jeff’s current guests, right?” „Indeed”, sagte Yuriy mit einem tiefen Seufzer und wechselte das Bein. Er war sich durchaus bewusst, dass ihm ein Augenpaar voller Interesse folgte. „You know”, sagte sie nach einer kurzen Pause, „if you ever wanna come over for a cup of coffee - I’m on the third floor, number 15.” Yuriy war zu verdattert, um weiterhin höflich zu bleiben. „Why on earth would I want to do that when I have a perfectly functioning coffee machine?” Sie lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hatte. „It’s a metaphor, honey. It’s not about the coffee.” Yuriy starrte sie an und fragte sich, ob alle Menschen in Amerika einen an der Klatsche hatten oder ob ihre prüde Kultur sie einfach nur dazu zwang, verzweifelt Sex mit Ausländern zu suchen in der Hoffnung, damit die gesellschaftlichen und inneren Schranken zu durchbrechen. Gut, Russland hatte Putin, aber daheim kannte man wenigstens noch so etwas wie Würde in schweren Zeiten. „Good”, sagte er schließlich eisig, „because I was told that I tend to burn the coffee I make. And that’s a metaphor, too.” Er marschierte ins Haus hinein, bevor sich die Verwirrung auf ihrem Gesicht klären konnte und verschanzte sich im Apartment. Boris blickte vom Wohnzimmerboden auf, wo er gerade die Gewichte abgelegt hatte, um in eine Pause zwischen den Sets zu gehen. Als er Yuriys Gesichtsausdruck sah, begann er wissend zu grinsen. „Wer hat dich jetzt schon wieder angeflirtet?” „Die Amerikaner sind seltsam”, erklärte Yuriy und zog das Haargummi aus seinen verschwitzten Haaren. „Und bemitleidenswert. Wo ist Kai?” „Badet, der Lappen”, sagte Boris und kam zu ihm, hielt aber inne, als Yuriy ihm ein wenig auswich. „Hab mich von ihm breitschlagen lassen, dass es zum Abendessen improvisierte Ramen gibt. Aber das war eine reine Nothandlung. Er hat begonnen, grüne Bohnen aus der Dose zu essen, Yura. Einfach so. Kalte, schleimige Bohnen - zack, in den Mund rein. Und dann hat er einen Spritzer Ketchup reingegeben und das Bohnenwasser getrunken! Das war das Widerlichste, was ich in meinem ganzen Leben jemals gesehen habe. Und ich habe schon viel gesehen. Ivans Stapel aus Wichsheften zum Beispiel.” „Danke”, sagte Yuriy laut und hob die Hand, „Wissen ist nicht immer Macht. Manche Dinge muss ich nicht erfahren.” „Was macht der Mann, Yura?", fragte Boris geradezu verzweifelt, „Was für geheime Superkräfte hat er, dass er sich nicht von vorne bis hinten ankotzt, wenn er sowas isst?" „Vermutlich ist die Antwort wie in jedem Fall „Kindheitstrauma"", sagte Yuriy pragmatisch. „Wir müssen ihm helfen", beschloss Boris, „nein, wir müssen mir helfen, bevor ich mir ein ordentliches Trauma einhandle." „Nimm ihm einfach die Bohnen weg", empfahl Yuriy und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Als er sich auf den Weg ins Bad machte, konnte er hören, wie Boris hinter ihm noch einmal „Bohnenwasser mit Ketchup” vor sich hin wisperte, als ob es sich um den Namen von Lord Voldemort handelte. Er beschloss, dass Urlaub unter anderem bedeutete, manche Dinge einfach sich selbst zu überlassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)