Die Geister der Unterwelt von Alaiya (Wichtelgeschichte für Futuhiro) ================================================================================ Kapitel 9: Der Einlass ---------------------- Ein Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht der Menschengestalt des Gottes. Er musterte sie. „Offenbar hast du dir den Kopf noch nicht zu sehr angeschlagen.“ Vanya sah zu Olga, dann zu dem Mann. „Veles?“ Seine Augenbrauen waren in Verwirrung hochgezogen, während er den Mann musterte und sein Blick schließlich auch bei den Ziegenhufen hängenblieb. „Deine Schwester hat Recht, Vrac“, erwiderte Veles und sah ihn an. „Deine Cousine hat mich ebenfalls sofort erkannt.“ „Schläft sie deswegen?“, fragte Olga. Eigentlich hätte sie vorher darauf kommen sollen. Unter der Erde und riesige weiße Schlangen. Natürlich musste es Veles sein. Auch wenn ihr Blick verschwommen und ihre Gedanken verwirrt waren, so hätte es ihr klar sein müssen. Wieso hatte sie so lange gebraucht um ihn zu durchschauen. Veles. Veles war der Gott der Unterwelt und des Winters. Er war auch der Gott der Schlangen und der Magie und der Weissagung. Sie betrachtete die Wände genauer. Die kleinen metallenen Gegenstände, die dort hingen waren Schlüssel. Schlüssel unterschiedlicher Arten. Einige waren klein, hatten eine kleine Plastikkarte daran, wie es bei Schließfächern üblich war, andere waren alt und groß und gehörten zu wahrscheinlich sehr schwergängigen Schlössern. Schlösser. Ja. In manchen Sagen war Veles auch mit Schlössern und Türen in Verbindung gebracht. Ein Gott der Schwellen. Veles war nicht ein per se böser Gott. Es kam sehr auf die Mythe an, der man folgte. Dennoch brachte er Winter und Kälte und Tod und galt allgemeinhin als jemand, der Streiche spielte und nicht immer die besten Interessen seines Gegenübers im Sinn hatte. Es war kein Gott, dem man trauen konnte. Göttliche Hand. Göttliche Hand. War Veles der Gott von dem ihre Cousinen den Einlass erringen mussten. Konnte es sein, dass der Einlass einen Schlüssel meinte? Waren sie deswegen hier? „Ich sehe, gute Bila, dir kommen einige gute Gedanken“, meinte der Gott und schien sehr entzückt davon. „Wovon redet er?“, fragte Vanya, doch Olga schüttelte den Kopf. Sollten sie gegen den Gott kämpfen? Nie im Leben hätten die beiden eine Chance. Sie mussten ihn überlisten. Und auch wenn der Gott als listig galt, so war es in den Mythen öfter gelungen. Die Listengötter waren oft die, die ihre Gegenüber leicht unterschätzten. „Aber, aber“, meinte Veles, „hast du schon einmal in Betracht gezogen, dass ich euch einfach gebe, was ihr wollt?“ „Du bist der Gott, gegen den wir kämpfen sollen?“, fragte Vanya, bei dem nun offenbar auch der Rubel fiel. „Nun, die Weissagung sagte, dass ihr etwas von mir bekommen sollt, nicht?“, meinte der Gott. Vanya verstummte kurz. „Einlass aus göttlicher Hand.“ Er sah sich um. „Ein Schlüssel?“ „Durchaus.“ Veles lächelte. „Was ist mit Vaska?“, fragte Olga. Sie fischte ihre Kette unter dem Pullover hervor und löste ihren Heilzauber, der in einen Hasenknochen geritzt war. Es war nicht die beste Grundlage, doch sie brauchte einen klaren Kopf. Das hier würde nicht so einfach sein, wie es gerade erschien. „Sie liegt in einem Zauber“, antwortete Veles. „Sie schläft. Ihr Geist wandert.“ „Aber wieso?“ Vanya sah ihn an. Der Gott holte etwas aus seiner Tasche hervor und drückte es dem Jungen in die Hand. Dieser hob es hoch. Mit einem Blick über seine Schulter, erkannte auch Olga was es war. Eine silberne Münze, wie die, die die Balaya ihnen gegeben hatte. Der Stern auf der einen Seite, Hammer und Sichel auf der anderen. Sie verstand nicht. Matt schloss sie die Augen und wünschte sich Yefim sei hier. Er hätte wenigstens etwas bei dem Zauber geholfen. So war sie auf sich allein, auf ihre eigene Magie angewiesen. Etwas, das unglaublich schwer fiel so, wie sie war. Sie schloss die Hand um den Zauber und versuchte ihn durch die Schmerzen hindurch zu spüren. Da war das Kribbeln der Magie. Gut. Sie brauchte nur einen Funken, um den Zauber zu aktivieren. Ein Funken, der ihn zum Leben erwecken ließ. Konzentration. Sie musste sich konzentrieren. Ein Versuch. Zwei. Dann erwachte der Zauber aus seinem Schlaf, waberte um den Anhänger herum, darauf wartend auf ein Ziel gerichtet zu werden. Sie befahl ihn, in ihren eigenen Körper zu wandern. Schon spürte sie den genauen Schaden, den ihr Sturz verursacht hatte. Sie hatte sich einige Kratzer schon vorher eingefangen, doch durch ihren Oberkieferknochen zog sich ein Riss, der wahrscheinlich auch dafür verantwortlich gewesen war, den Zahn zu lockern. Auch hatte ihr Gehirn durch den Sturz selbst eine Prellung. Eine Gehirnerschütterung. Sie befahl dem Zauber diesen Schaden bestmöglich zu beheben. Sie konnte es nicht ganz verbessern, da ihr dafür die Energie fehlte, aber genug um ihre Gedanken zu Ordnen und die Schwellung zu lindern sollte möglich sein. Der Zahn konnte bis später warten. Die magischen Kräfte webten ihr Gewebe zusammen, ließen den Schmerz langsam schwinden, als Vanyas Stimme über das Rattern des Zuges hinweg erklang. „Sichel und Stern“, murmelte er. „Sichel und Stern. Auf der Münze sind Sichel und Stern auf unterschiedlichen Seiten.“ „Das ist richtig“, erwiderte Veles. „Eine Münze kann nicht auf beide Seiten gleichzeitig fallen.“ „Es ist eine Entscheidung.“ Vanya klang zweifelnd. „Ein Schicksal so golden wie Stern oder schwarz wie die Nacht. Eins für jeden von uns?“ „Du verstehst es also.“ Veles schien entzückt darüber, wenn Olga nach seiner Stimme ging. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie mochte nicht, worauf das hier hinauslief. Endlich legte sich ihr Schmerz auf ein erträgliches Maß. Sie hatte zumindest nicht länger das Gefühl, kurz vor der Ohnmacht zu stehen, öffnete wieder die Augen. Sie schaute zu Veles, der auf der anderen Seite des Bettes stehen geblieben war. „Was willst du?“ „Nun, die Frage ist nicht, was ich will, die Frage ist, was das Schicksal verlangt“, erwiderte Veles. „Du bist ein Gott!“ „Aber auch wir Götter haben nicht die volle Kontrolle über das Schicksal.“ Dennoch zuckten die Ränder seiner Lippen, als wolle sich sein Lächeln zu einem Grinsen ausbreiten. „Oh, meine liebe Bila, wir sind keine Feinde. Ich will nichts schlechtes für dich, deinen Bruder oder dieses Mädchen, selbst wenn ich ihren Geist aktuell unter meine Kontrolle halte.“ Er bemühte sich seinem Ausdruck eine Spur von Unschuld zu verleihen. „Aber wieso?“, fragte Vanya und musterte den Mann. „Weil du und deine Cousine unter einem besonderen Stern geboren seid.“ Veles nickte in Richtung der Münze. „Ihr mögt aus einem Haus Peruns sein, aber ihr seit unter Sternen geboren, die einem anderen Gott gewidmet waren.“ „Dir?“ „Unter anderem“, erwiderte Veles mit einem Lächeln. „Und seht euch an.“ Er zeigte auf Vaska, dann auf Vanya. „Haare wie Sternenlicht und Haare wie die Nacht. Sie ein Kind der Natur, du ein Kind des Krieges und des Widerstandes.“ Er lächelte. „Dein Name ist der eines Königs.“ „Was willst du?“, fragte Vanya. „Einen Magier, der mir dient“, antwortete der Gott. „Wir Götter haben Auserwählte, die für uns kämpfen, für uns sprechen, für uns in die Welt ziehen.“ „Du kannst nicht einfach meinen Bruder hier behalten.“ Olga sah den Gott an. „Wer spricht davon, dass ich ihn hierbehalte? Ich gebe ihm die Wahl.“ Vanya schwieg. Er sah auf die Münze in seiner Hand, offenbar unsicher. Dann wanderte sein Blick zu Vaska und Kir. „Welche Wahl genau?“ „Du bist am Ende deiner Ausbildung“, erwiderte der Gott. „Ich kann dir mehr beibringen, dich zu einem der größten Magier machen. Du wünschst dir Macht, die nur ein Gott dir geben kann. Ein Gott, wie ich. Und keine Sorge, ich plane keine Folter oder dergleichen.“ Wieder verfiel Vanya in Schweigen, den Blick auf die Münze in seinen Fingern gerichtet. Er seufzte leise. Eigentlich wollte Olga etwas sagen, doch sie wusste nicht was. Immerhin hatte sie sicher nicht die Macht etwas zu tun. Sie wollte ihren Bruder nicht aufgeben, nicht einfach einem Gott, der mit der Unterwelt und dem Winter in Verbindung stand, überlassen. Aber was gab es für sie zu tun? „Was ist mit Vaska? Warum schläft sie?“, fragte Vanya auf einmal. „Weil ich einen von euch behalten werde. Einer von euch gehört Perun, einer mir. So sollte es sein.“ Wieder drohte das Lächeln auf Veles Lippen zu einem Grinsen zu werden. „Und du weißt, wierum es sein sollte.“ Vanya sah zu seiner Cousine und zögerte. „Ja.“ Er machte eine Pause und wandte sich Olga zu. „Bist du verrückt?“, flüsterte sie und versuchte in seine Augen zu sehen. Er aber wich ihrem Blick aus. „Du kannst nicht einfach … Das ist nicht der Sinn der Prüfung.“ „Und was ist wenn doch?“, erwiderte er. „Was ist, wenn es die ganze Zeit hierauf hinaus lief? Die Münze hat uns hierher geführt und das Rätsel … Es passt alles zusammen.“ „Ich kann dich nicht einfach in der Unterwelt lassen.“ „Willst du stattdessen Vaska hierlassen?“ Nun sah auch Olga zu dem Mädchen, das totengleich auf dem Bett schlief. „Nein. Aber …“ Als sie wieder zu ihrem Bruder sah, erwiderte dieser endlich ihren Blick. „Und was ist, wenn ich es will?“ Olga sah ihn an. Für einen Moment rang sie um Worte. „Das kannst du nicht von jetzt auf gleich entscheiden! So etwas will überlegt …“ Vanya unterbrach sie: „Die Zeit haben wir nicht, oder?“ „Du bist mein Bruder!“ Warum sie das sagte, wusste Olga nicht. Es war das einzige, was ihr einfiel. Für einen Augenblick schwieg Vanya wieder, dann sah er sie an. „Bin ich das wirklich?“ Sie verstand, was er meinte. Sie waren nicht zusammen aufgewachsen. Viel eher waren Vaska und er Geschwister. Sie waren Familie, doch Vaska war es ebenfalls. „Und was ist mit meiner Prüfung?“, fragte sie schließlich selbst wenn es egoistisch klang. „Das wird Onkel dann entscheiden.“ Vanya wich ihrem Blick wieder aus und wandte sich Veles zu. „Wenn ich hier bleibe, wird Vaska dann die Prüfung bestehen?“ Veles lächelte. Er nahm einen einfachen Schlüssel von der Wand. Einer jener Spintschlüssel, an dem eine kleine, metallene Plakette hing. „Wenn sie sich beeilt, dann ja.“ Olga fiel noch eine Sache ein: „Sollte Vaska das nicht mit entscheiden? Es ist auch ihre Prüfung und so …“ Doch der Gott hob mahnend den Finger. Nun zeigte er mit einem Grinsen seine spitzen Zähne. „Wer sagt, dass ich nicht schon lang mit dem Sternenkind gesprochen habe?“ Mit diesen Worten streckte er die Hand nach Vanya aus. „Wenn das deine Entscheidung ist, komm zu mir, Vanya Perov.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)