Die Geister der Unterwelt von Alaiya (Wichtelgeschichte für Futuhiro) ================================================================================ Kapitel 8: Göttliche Hand ------------------------- Ohrenbetäubendes Rattern umgab Olga, als sie erwachte. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand einen Keil genommen und schräg hindurch geschlagen. Da war noch immer der Geschmack von Blut in ihrem Mund. Ihre Wange war geschwollen, was es schwer machte, ihr linkes Auge zu öffnen. Dennoch blinzelte sie. Über ihr schwankten Haltegriffe von einer Stange hinab. Sie lag auf einer hölzernen Bank, die seitlich im Wagen angebracht war. Ja. Sie war in einem Zug. Alt wirkende Lampen leuchteten von über ihr. Sie sahen nicht aus wie die modernen Lichter, die sie aus U-Bahnen und Zügen kannte. Sie waren noch verziert und das Licht war ein wenig gelblicher und weniger hell. Ab und an flackerte es. Seltsam. Ihre Augen fielen wieder zu. Sie brauchte eine Weile, um wieder zurück zu ihrem Bewusstsein zu finden. Noch immer ratterte es, aber dieses Mal waren da auch Stimmen. Zwei Stimmen. Die Stimme eines Jungen und die eines Mannes, der tief und mit einem sehr, sehr deutlichen Akzent sprach. „Die Stadt verändert sich immer schon, hat sich seit Jahrhunderten verändert. Da merkt man diese Dinge nicht immer sofort. Vor allem heute. Da sind so viele Menschen unterwegs, mein Junge.“ Die Stimme die Antwortete gehörte zu Vanya. „Wie kannst du die Dinge nicht bemerken und dennoch hier unten in einer U-Bahn sitzen.“ „U-Bahn?“ Ein mattes Lachen folgte dem Wort. „Ach, du meinst den Zug? Die Menschen haben manchmal ein Talent an den falschen Orten zu graben und Dinge zu finden, nach denen sie nicht gesucht haben. Das hatten sie schon immer.“ „Und was haben sie hier gefunden?“ „Nun, mich und meine Kinder und die Dämonen, die mir folgen“, erwiderte der Mann. „Dinge, mit denen sie nicht gerechnet hatten.“ „Kommt niemand mehr hier herunter?“ „Nicht hierher. Nein. Sie haben den Tunnel aufgegeben, als die ersten verschwanden, haben stattdessen im Süden weitergebaut. Ganz aufgeben wollten sie es nicht.“ „Die Metro-2 sollte ein Schutz vor den Amerikanern sein“, meinte Vanya. „Den Amerikanern?“ „Sag bloß nicht, davon weißt du auch nichts!“ „Ich habe davon gehört.“ Eine kurze Stille, während der Mann zu überlegen schien. Dann: „Ja, ja, Amerika, der Kontinent im Westen. Manchmal beten Menschen auch dort noch. Aber weniger, seltener, sehr schade. Wie lange ist es her?“ „Was?“ „Dass sie den Kontinent entdeckt haben. Damals gab es eine Menge Aufruhe deswegen.“ „500 Jahre“, erwiderte Vanya. „Na sowas …“ Der Mann schwieg erneut. „Nun, und du sagst wir hätten einen Krieg mit ihnen gehabt.“ „Nur beinahe.“ „Ah, das erklärt es natürlich.“ Ein Knarzen erklang, gefolgt von schweren Schritten. „Weißt du, ich verstehe diese modernen Menschen nicht. Sie glauben alle an dasselbe und doch irgendwie nicht und ständig, ständig sind sie dabei sich zu bekriegen.“ Das war nun etwas, das Vanya nicht gefiel. „Wir glauben sicher nicht an dasselbe, wie diese Amerikaner mit ihrem Globalismus und ihrem Kapitalismus!“ „Werden da Leute geköpft?“, fragte der Mann. „Nein. Sie arbeiten für irgendwelche anderen Menschen, die das Geld dann für sich behalten“, murrte Vanya. „Das ist alles, was bei denen zählt. Und jetzt spielen wir da auch mit.“ „Tun wir das?“ „Nun, ich sicher nicht!“ Der Mann lachte auf eine seltsame Art und Weise. „Na siehst du. Dann musst du dich auch nicht aufregen, mein Junge.“ „Mir geht es darum, dass sie einfach eingeknickt sind. Wir hätten so viel machen können, so viel bauen können, aber sie sind einfach eingeknickt und jetzt ist das Land klein und die Leute? Ich meine, es scheint nicht mal jemanden zu interessieren. Alles was meine Familie interessiert, ist die doofe Tradition und dass wir halt weiterhin für die Regierung arbeiten oder für wen auch immer, der uns halt bezahlt. Die haben keine Ehre.“ „Du aber schon?“ Jetzt zögerte Vanya. „Ich … ich bemühe mich.“ Olga rührte sich vorsichtig. Irgendetwas an dieser Situation gefiel ihr nicht. Sie verstand noch immer nicht wo sie waren oder wie sie hierher gekommen waren, doch etwas daran, wie der Mann mit ihrem Bruder sprach, gefiel ihr nicht. Er klang auf eine seltsame Art, als wolle er mehr über Vanya erfahren. Ihr Kopf dröhnte noch mehr, als sie sich aufrichtete, um über die Rückbank der nächsten Sitzreihe hinweg zu sehen. Vanya saß weiter vorne – sie konnte seinen rabenschwarzen Kopf sehen und Nika, die auf der Rückbank hinter ihm zu dösen schien – in der ersten Reihe vor den Türen. Vor ihm stand ein Mann, der in einen ausgeleierten dunklen Mantel gehüllt war, der vielleicht einmal edel gewesen war, nun aber nur noch verschlissen wirkte. Die Haare des Mannes waren dunkelgrau und wellten sich ein wenig, während ein Ziegenbart von seinem Kinn hinabhing. Aber wo war Vaska? Yefim kauerte unter dem Sitz, auf dem Olga lag, und schien der Lage genau so wenig zu trauen wie sie. Seine Ohren waren ängstlich zurückgelegt und er hatte die Lefzen halb angehoben, als würde er jeden anknurren oder gar beißen wollen, der ihm zu nahe kam. Jetzt bemerkte der Mann Olga. „Ah, siehe an, unserer anderer Gast ist aufgewacht“, meinte er galant. „Willkommen in meinem Zug, Bali.“ Noch immer schmerzte Olgas Kopf. Es war beinahe unerträglich. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an in ihrem Mund. Warum blutete sie überhaupt? Ihr Blick verharrte auf dem Mann in seinem verschlissenen Mantel, dem einige Knöpfe fehlten. Ein langer Schal hing von seinem Hals herab. Er war dreckig, staubig. Mehr konnte sie nicht sehen, da der Körper des Mannes ansonsten von den Sitzbänken verdeckt wurde. „Wo ist Vaska?“, brachte sie schließlich mit heiserer Stimme heraus und verzog sogleich das Gesicht. Auch Sprechen ließ ihren Kopf schmerzen. „Sie ist hier“, erklärte Vanya halblaut. „Sie ist ohnmächtig.“ Olga hielt sich an der Rückenlehne der Sitzreihe vor sich fest, um sich aufzustellen. Ihr Kopf schwirrte, doch erinnerte sie sich daran, dass sie hier war, um dafür zu sorgen, dass Vanya und Vaska am Ende gesund zurückkamen. Oh, würde ihr Kopf doch nicht so schmerzen. Sie hatte selbst Heilzauber dabei. Diese einzusetzen wäre leichter, könnte sie klar denken. Wahrscheinlich hätte sie besser einen Trank mitnehmen sollen, doch behielten ihre Tränke oft nicht die Wirkung für lange Zeit. Normal war es leicht einen Zauber eben zu aktivieren. Irgendwie aber schaffte sie es, sich auf den Beinen zu halten. „Was ist passiert?“, presste sie hervor. Jetzt verstand sie auch, was nicht stimmte. Einer ihrer Bahnzähne fehlte. Daher das Blut. Hatte sie ihn sich ausgeschlagen? Sie traute sich nicht über die raue Stelle an ihrem Zahnfleisch zu tasten. „Oh, ihr habt euch in meine Tunnel verirrt“, erwiderte der Mann mit einer ausschweifenden Handgeste und einem etwas zu weiten Lächeln. „Ihr habt euch in meine Tunnel verirrt, habt eins meiner Kinder getroffen und seit mir dann direkt in die Arme gelaufen. Dabei solltet doch ihr genau wissen, als Vrac und Bali, dass es keine gute Idee ist in das Land der Geister einzudringen.“ „Wir sind …“ Olga schaffte es nicht genug Worte aneinander zu bringen, um den Satz zu beenden. Sie fasste sich mit der linken Hand an den Kopf, während sie sich mit der rechten noch immer an die hölzerne Lehne klammerte. „Wir …“ „Setz dich hin“, meinte Vanya. „Wir sind hier erst einmal sicher.“ Genau das zweifelte Olga an. Sie spürte etwas. Genau wie auch Yefim etwas spürte. Alles was sie wollte war Vaska finden und wieder an die Erdoberfläche zurück. Vielleicht konnte Vaska sie heilen, wenn sie bei Bewusstsein war. Vielleicht auch Vanya. Ansonsten würden sie wohl die Prüfung aufgeben müssen. Das Schutzmedallion. Sie konnte Hilfe rufen. Vielleicht sollte sie es tun. Hatte Vaska es schon gemacht? War jemand unterwegs. „Wo ist Vaska?“, fragte sie schließlich. „Ich will sie sehen.“ Der Mann legte seinen Kopf leicht zur Seite, als versuchte er etwas abzuschätzen. „In einem anderen Wagen“, erwiderte er. Das machte wenig Sinn. Wieso hatte man sie auf diese Holzbank gepackt, während Vaska woanders war. Etwas daran erschien ihr seltsam. Entweder Vaska war nicht hier oder der Mann hatte etwas mit ihr vor und sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, was es war. „Ich will sie sehen“, wiederholte sie nur. Ein Lächeln umspielte die Lippen des Mannes. „Aber natürlich, meine Gute“, erwiderte er. „Wenn du gehen kannst, heißt das. Du hast dir den Kopf ganz schön angestoßen.“ Olga sagte nichts dazu. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße und tastete sich zur nächsten Sitzreihe voran. Sich auf die Sitzlehnen stütztend, kämpfte sie sich nach vorne voran, wo Vanya endlich an ihre Seite trat. Wenngleich zögerlich bot er seinen Arm an. „Ich helfe dir“, murrte er. Sie nickte und lehnte sich auf ihn, als der Mann mit klappernden Schritten sie zur Tür führte, die sie auf eine Plattform zwischen zwei Waggons brachte. Aus welchem Jahrzehn, ja, aus welchem Jahrhundert kam dieser Zug eigentlich? Wieso hatte er Strom? Denn das Licht, das das Innere erfüllte, war definitiv kein Feuer. Es sei denn natürlich es war magischer Natur. Doch woher kam dann die Magie? Trotz des Lichts des Zuges war es unmöglich die Tunnelwände zu sehen. Zwar ratterte der Zug, doch schien es, als würden sie durch komplette Finsternis fahren. Waren sie überhaupt noch in den Tunneln oder war es etwas anderes? Eine Vermutung wollte sich in Olgas Gedanken formen, wurde jedoch von ihren Kopfschmerzen aufgehalten. Yefim war nicht mal bei ihr, versteckte sich wahrscheinlich noch immer unter ihrem Sitz. Ein kurzes Stechen von Sorge ließ sie sich umsehen, aber sie konnte den Fuchs nicht sehen. Der Mann führte sie zum anliegenden Waggon, öffnete die Tür und führte sie herein. Dieser Waggon jedoch war nicht ausgestattet, wie der letzte. Seltsame kleine Metallgegenstände glänzten an den fensterlosen Wänden. Anstatt die üblichen Sitzbänke, wie man sie aus den U-Bahnen kannte, war dieser Raum praktisch leer, abseits von einem Bett, das in seiner Mitte stand. Auf diesem lag Vanya gebettet, die Arme auf dem Bauch übereinander geschlagen. Kir lag auf ihren zusammengerollt auf ihren Beinen, das schwarze Fell seltsam matt. Etwas lag in Vaskas Hand. Das ohnehin bleiche Mädchen wirkte noch bleicher, beinahe leblos. Mit eiligen Schritten – so eilig, wie ihre Beine es erlaubten – stolperte Olga zu ihr hinüber und griff nach ihrer Hand unter der eine goldene Taschenuhr lag. Eine Taschenuhr die Olga sehr bekannt vorkam. Sie griff in ihre eigene Manteltasche, nur um festzustellen, dass die Uhr, die sie von ihrem Onkel bekommen hatte, fehlte. Vaskas Hand war eisig. Dennoch war etwas Leben in ihrem Körper zu spüren. Sie war nicht tot. Aber etwas war seltsam: Ein Kribbeln ging durch Olgas Finger, als sie ihre Cousine berührte. Ein vertrautes Kribbeln. Mit weiterhin klackenden Schritten ging der Mann um das Bett herum. Was für Schuhe trug er, die so auf dem hölzernen Boden klapperten? Olga spähte über das Bett hinweg, nur um eine weitere Seltsamheit zu bemerken. Unter der Hose des Mannes zeigten sich zwei Hufe anstelle von Schuhen. Hufe. Natürlich. Hufe. Sie sah den Mann an. „Du bist Veles.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)