Keep Me Warm von Swanlady (XiCheng | WangXian) ================================================================================ Kapitel 1: lightning in the clouds ---------------------------------- Skeptisch kräuselten sich Jiang Chengs Augenbrauen, als sein Blick den steilen Abhang hinauf wanderte und an den dichten Wolken hängenblieb, die den Gipfel des Berges verschleierten. Der frostige Wind, der hartnäckig von allen Seiten an seiner Kleidung zerrte, trug etwas Unheilverkündendes mit sich. „Ihr spürt es auch, nicht wahr?“, fragte eine sanfte Stimme, die noch immer ungewohnt in seinen Ohren tönte. Er hatte sie seit Ewigkeiten, so kam es ihm vor, nicht mehr gehört. Nicht nur er – in den letzten Jahren hatte sie niemand gehört. Die Augen von dem Bergpfad losreißend, nickte er und wandte sich der Person zu, die er vor nicht allzu langer Zeit hier am Fuße des Berges getroffen hatte. „Es ist spät. Lasst uns morgen bei Tageslicht den Aufstieg wagen. Nicht weit von hier entfernt ist eine Schenke, womöglich erfahren wir dort auch etwas über die Vorkommnisse. Diese sind es doch gewiss, die Euch hierhergeführt haben, oder irre ich mich?“ Auch all die Jahre hatten anscheinend nichts daran geändert, dass die Stimme der Vernunft aus ihm sprach. Er war nach wie vor ein perfektes Vorbild, höflich, klug und zuvorkommend. Doch etwas fehlte, etwas stimmte nicht an dem Bild, das sich Jiang Cheng bot. Lan Xichen lächelte nicht. „Ich habe noch nicht entschieden, was ich tun werde“, verkündete Jiang Cheng widerstrebend. Nichtdestotrotz hob er beide Arme, um eine respektvolle Verbeugung anzudeuten. „Aber ich werde Euch zum Gasthaus begleiten, Zewu-jun.“ Verständnisvoll erwiderte Lan Xichen die Geste und wandte sich ab, um die Führung zu übernehmen. Jiang Cheng folgte ihm, einen gewissen Abstand beibehaltend. Äußerlich hatte sich das Oberhaupt des Lan-Clans nicht verändert. In strahlendes Weiß gehüllt, das Stirnband im Wind flatternd und aufrecht voranschreitend, wirkte er so graziös wie eh und je. Dennoch achtete Jiang Cheng penibel darauf, eine gewisse Distanz zu wahren, sich in Dinge, die ihn nichts angingen, nicht einzumischen, obwohl es ihm vorkam, als würde er nicht Lan Xichen, sondern seinem Schatten folgen. „Oberhaupt Jiang, wusstet Ihr, dass der junge Meister Wei und Wangji vor nicht allzu langer Zeit in dieser Gegend gesichtet wurden?“, fragte Lan Xichen ruhig und so unschuldig anmutend, als würde er sich lediglich nach dem heutigen Wetter erkundigen. Jiang Chengs steife Körperhaltung strauchelte, als er versehentlich gegen einen Stein trat, der auf dem Pfad lag, der sie zurück zur Zivilisation führen würde. „Natürlich nicht“, brummte er nachdrücklich. „Abgesehen davon – wo waren die beiden noch nicht? Wo erzählt man nicht irgendwelche Geschichten über sie? Sie sind überall da, wo es Ärger gibt.“ Schnaufend verschränkte Jiang Cheng die Arme vor der Brust und wollte gerade dazu übergehen, die Vermutung zu äußern, dass Wei Wuxian diesen Ärger anzog, als Lan Xichen, genauso ruhig wie zuvor, seine Gedanken unterbrach. „Ich verstehe.“ So plötzlich er das Thema angeschnitten hatte, so schnell schloss er es auch wieder ab, wobei Jiang Cheng der bedeutungsschwere Tonfall, den er dabei anschlug, nicht gefiel. Er kroch unangenehm unter seine Haut und ließ ihn säuerlich die Miene verziehen. Ein geladenes Schweigen legte sich über sie, doch womöglich nahm nur er es als solches wahr, denn als er wenig später an Lan Xichens Seite trat und sie gemeinsam das Ende des Talpfades erreichten, erhaschte Jiang Cheng verstohlen einen Blick auf Lan Xichens Profil. Er trug einen neutralen, seltsam abwesenden Gesichtsausdruck. Machte er sich Sorgen um Lan Wangji? Die Frage lag Jiang Cheng bereits auf der Zunge, doch er konnte sich gerade noch so davon abhalten, sie zu stellen. Es ging ihn nichts an und es interessierte ihn auch nicht. „Wir sind da“, durchbrach Lan Xichen die Stille und deutete auf ein unscheinbar wirkendes Gebäude, welches kaum vergleichbar war mit den pompösen Teehäusern in Yunmeng, die man bereits aus der Ferne als solche erkannte. Als sie die Gaststätte betraten, wunderte es Jiang Cheng nicht, dass außer ihnen nur zwei, drei andere Gäste anwesend waren. „Ah, willkommen, die werten Herren! Bitte, bitte, das ist unser bester Tisch!“, lud der Wirt sie überaus eifrig dazu ein, Platz zu nehmen und rieb sich bereits vorfreudig die Hände. Jiang Cheng setzte sich desinteressiert, während Lan Xichen Höflichkeiten mit dem Mann austauschte. Wenige Zeit später saßen Jiang Cheng und Lan Xichen einander gegenüber, mit zwei dampfende Tassen Tee auf dem Tisch und wurden abermals von einem unnatürlichen Schweigen erdrückt. „Seid Ihr ebenfalls zufällig hier, Zewu-jun?“, ergriff Jiang Cheng schließlich das Wort und schnalzte mit der Zunge. Sein Geduldsfaden war nicht besonders lang und er hielt sich auch nicht für eine einfühlsame Person. Zwar war es ihm nicht möglich, in Lan Xichens Kopf zu blicken, doch dass es befremdlich für ihn war, nach so langer Zeit wieder Gesellschaft zu haben, lag auf der Hand. Jiang Cheng hätte es gehasst, wie ein rohes Ei behandelt zu werden, weshalb er auch Lan Xichen nicht länger schonen wollte. „Ah, nein. Ich bin gezielt auf der Suche nach Wangji“, erklärte Lan Xichen. „Das Symbol des Lan-Clans erstrahlte vor wenigen Tagen über dem Berg, an dem wir uns heute begegnet sind.“ Jiang Cheng, der nach seiner Tasse gegriffen hatte, hielt mitten in der Bewegung inne. Mit großen Augen starrte er Lan Xichen an. „Lan Wangji hat um Hilfe gebeten?!“, japste er schockiert. „In der Tat“, bestätigte Lan Xichen gefasst. Die Situationen, in denen jemand wie Lan Wangji auf die Hilfe anderer angewiesen war, ließen sich an einer Hand abzählen. Aus diesem Grund konnte Jiang Cheng nicht verstehen, wie Lan Xichen so ruhig seinen Tee trinken konnte. „Oberhaupt Jiang, bitte interpretiert meine Passivität nicht als Verharmlosung der aktuellen Umstände“, lenkte Lan Xichen ein und Jiang Cheng zuckte ertappt zusammen. Hatte man ihm die stumme Überlegung so sehr angesehen? „Das oberste Gebot lautet Vorsicht, da wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Es ist gefährlich genug, um meinem Bruder Schwierigkeiten zu bereiten. Es bringt Wangji nichts, wenn es mir auf halbem Weg nicht mehr möglich ist, ihn zu erreichen, weil ich die Gefahr unterschätzt habe. Um Hilfe zu gewährleisten, ist es besser, bei Tageslicht aufzubrechen. Glaubt mir, ich mache mir Sorgen um ihn, doch gleichzeitig vertraue ich seinen Fähigkeiten. Was auch immer vorgefallen ist – er wird ausharren.“ Fest biss Jiang Cheng die Zähne aufeinander und wich gezielt Lan Xichens Blick aus. Die Logik hinter dieser Vorgehensweise war nachvollziehbar und vernünftig, doch es war schon lange her, seit ihn jemand zurechtgewiesen hatte. Seit er Clan-Oberhaupt war, war er es, der anderen Lektionen erteilte. „Es war nicht meine Absicht, Eure Entscheidung anzuzweifeln, Zewu-jun“, entschuldigte sich Jiang Cheng zähneknirschend. Jedes einzelne Wort fiel ihm schwer und kostete seinen Stolz einen selbsterteilten Seitenhieb. „Das weiß ich, seid beruhigt. Es ist keine Entschuldigung nötig“, winkte Lan Xichen ab. „Ich verstehe Eure Ungeduld.“ „Ich bin nicht ungeduldig“, erwiderte Jiang Cheng sofort, die Augenbrauen verstimmt zusammenziehend. „Hätte ich es eilig, wäre ich schon längst aufgebrochen.“ Die Würde eines selbstständigen Anführers, der sich nicht vor nebligen Bergen fürchtete, auch in der Dunkelheit nicht, sprach aus ihm. Mit gerecktem Kinn begegnete er dem langen Blick, den Lan Xichen ihm zögerlich zuwarf. „Selbstverständlich. Verzeiht meine unbedachten Worte.“ Nun war es Lan Xichen, der sich entschuldigte und Jiang Cheng hatte das Gefühl, sich im Kreis zu bewegen. Es ärgerte ihn, denn er war nicht hier, damit sie aneinander vorbei reden konnten. „Wie auch immer“, tat er unwirsch die Entschuldigung ab. „Ich habe beschlossen, Euch zu begleiten.“ „Ich danke Euch. Eure Hilfe ist willkommen“, sagte Lan Xichen und verbeugte sich. Seine Miene war ernst, weshalb Jiang Cheng den Dank kommentarlos entgegennahm. „Wir sollten mehr über die Geschehnisse in Erfahrung bringen“, murmelte er, den Blick langsam in Richtung des Wirts schwenkend, welcher sie verstohlen beobachtete, als würde er hoffen, dass die edel gekleideten Herren im Laufe des Abends mehr als nur Tee bestellen würden. So ungern Jiang Cheng Wei Wuxian Recht gab – an Orten wie diesen konnte man die meisten Informationen sammeln. Aus den Augenwinkeln sah er Lan Xichen nicken und die Hand heben. „Sehr geehrter Wirt, schenkt Ihr uns einen Moment Eurer Zeit?“ Am nächsten Morgen brachen Jiang Cheng und Lan Xichen in aller Früh auf, kaum dass die ersten Sonnenstrahlen das Tal mit ihrem sanften Licht fluteten. Die Luftfeuchtigkeit hatte sich verändert und es war kälter als am Tag zuvor. Es überraschte Jiang Cheng also auch nicht, als er die ersten Schneeflocken auf sein Gesicht fallen spürte. Wenn es hier unten begann zu schneien, wollte er nicht wissen, wie es weiter oben aussah. Die Informationen, die sie vom Wirt erhalten hatten, waren alles andere als beruhigend. Seit geraumer Zeit verschwanden immer wieder Menschen, die es wagten, den Berg hinaufzusteigen – Menschen, die ihr gesamtes Leben in dieser Umgebung lebten und mit sämtliche Bergpfaden vertraut waren. Viele von ihnen kehrten nicht zurück und die, die es taten, berichteten von keinerlei seltsamen Vorkommnissen. „Ich habe gehört, dass die Bewohner der umliegenden Dörfer den Berg »Frosthauch« nennen, weil es hier das ganze Jahr über kalt ist“, teilte Jiang Cheng mit Lan Xichen die Auskunft, die er auf seinem Weg hierher erhalten hatte. „Es scheint in der Tat ziemlich kalt zu sein“, stimmte Lan Xichen zu, als sie den ersten Abschnitt des steilen Hangs erklommen. Beide blieben für einen Moment stehen, um hinauf zu spähen und ein Gefühl für die Distanz zu bekommen, die es zu überwinden galt. „Wir sollten unsere Kräfte sparen“, sprach Lan Xichen das aus, was auch Jiang Cheng dachte. Nickend zog er sein Schwert, um es mit einem leichtfüßigen Satz zu besteigen. Seine Begleitung tat es ihm gleich und gemeinsam flogen sie langsam den Berg hinauf. Ihr Kurs war niedrig. Sie blieben nahe des Pfads, nur wenige Meter über dem Boden, um ihn stets vor Augen zu haben. Eisiger Wind peitschte Jiang Cheng ins Gesicht, biss seine Haut und seine spröden Lippen. Auch der Schneefall nahm zu, sodass sich alsbald eine feine, weiße Schicht auf seinen Schultern sammelte. „Die Sicht wird schlechter. Das Wetter auch“, rief er Lan Xichen zu, der, trotz der Wetterlage, aufrecht und anmutig auf Shuoyue stand. „Wir sollten landen“, beschloss Lan Xichen und richtete die Schwertspitze gen Boden. Jiang Cheng folgte ihm widerwillig, aber der milchige Nebel, der sie umhüllte, wurde immer dichter. Kaum, dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, stellte Jiang Cheng fest, dass dieser rutschig und vereist war. Er begann daran zu zweifeln, ob der Fußweg tatsächlich sicherer war. „Kein Wunder, dass sich hier selbst Dorfbewohner verirren, die mit dem Berg vertraut sind. Man sieht kaum mehr die eigene Hand“, schnaufte Jiang Cheng und hob demonstrativ den Arm, der nur sichtbar war, weil die Farbe seiner Kleidung lila war. Das Weiß, das den Lan-Clan ausmachte, war in der aktuellen Situation eher ein Nachteil. Allein deswegen übernahm Jiang Cheng wie selbstverständlich die Führung. Den Blick auf den Boden gerichtet, achtete er auf jeden einzelnen Schritt. Sie kamen nur langsam voran, aber dies mussten sie in Kauf nehmen. „Passt auf, mich nicht aus den Augen zu verlieren“, wies er Lan Xichen an, als der Nebel eine noch festere Konsistenz annahm. Selbst das Atmen wurde schwerer, fast so, als würde er einem auch die Lungen ausfüllen wollen. Sie mochten bei Sonnenaufgang aufgebrochen sein, doch dies nützte ihnen nur noch bedingt etwas, je höher sie stiegen. Einen Vorteil könnten sie sich nur einräumen, wenn sie etwas hätten, das stark mit der trüben Luft kontrastierte… Jiang Cheng blieb wie angewurzelt stehen, als ihm eine Idee kam. „Ist etwas passiert?“, fragte Lan Xichen alarmiert, woraufhin Jiang Cheng verneinend brummte. Im selben Atemzug konzentrierte er seine Energie in seiner Hand, sein Familienerbstück aktivierend. Doch der Ring verwandelte sich nicht in die übliche, einschüchternde Peitsche, sondern beschränkte sich darauf, knisterende Energieblitze über Jiang Chengs Hand zu schicken. Wie eine Schlange schlängelten sie sich schmerzlos über seine kalten Finger. „Meine Hand“, machte Jiang Cheng kurz angebunden auf Zidian aufmerksam. Sollte Lan Xichen ihn tatsächlich aus den Augen verlieren, konnte er sich jederzeit an dem grellen, violetten Licht orientieren. Jiang Cheng würde ihm ein Wegweiser sein. Als sich urplötzlich erstaunlich warme Finger um seine Fingerspitzen schlangen, stolperte Jiang Cheng fast über seine eigenen Füße. Erschrocken riss er die Augen auf und sämtliche Muskeln seines Körpers verkrampften. Den ersten Impuls, sofort herumzuwirbeln, erstickte er mühevoll im Keim. Die plötzliche Lähmung seines Körpers half ihm dabei. Stattdessen starrte er weiterhin stur geradeaus, peinlich berührt feststellend, dass… Lan Xichen ihn völlig missverstanden hatte. Seine unpräzisen Worte verfluchend, fiel es Jiang Cheng schwer, das Missverständnis aufzuklären, ohne sich selbst und auch Lan Xichen bloßzustellen. Er öffnete und schloss den Mund mehrmals, doch er brachte keinen Ton hervor. Sein Herzschlag spielte verrückt, weil er wütend auf sich selbst war. Wütend darüber, dass er sich in seine so beklemmende Situation manövriert hatte. Nun konnte Jiang Cheng jedoch nichts anderes mehr tun, als lediglich darauf aufzupassen, dass Zidian den fremden Fingern, die ihn hielten, nicht wehtat. „Es ist Euch unangenehm“, stellte Lan Xichen fest, doch seine Tonlage enthielt keine Wertung dieses Umstandes. „Verzeiht, ich –“ „Nein“, unterbrach Jiang Cheng ihn hastig. „Ich war nur überrascht, dass Eure Hand so warm ist. Das ist alles.“ Nonchalant reckte er das Kinn, versteckte sich hinter seiner Würde und je länger er sich einredete, dass es ohnehin besser war, Lan Xichen so nah bei sich zu wissen, desto mehr glaubte Jiang Cheng daran. „Solltet Ihr Eure Energie aber nicht lieber sparen?“ „Eure Finger sind furchtbar kalt, Oberhaupt Jiang. Ich werde sie für Euch wärmen, passt Ihr auf den Weg auf.“ Mit einer einzigen Aussage verteilte Lan Xichen ihre Aufgabenbereiche und sorgte dafür, dass Jiang Cheng die Wärme plötzlich auch auf seiner Gesichtshaut spüren konnte. Diese hatte auch rein gar nichts mit Lan Xichens angenehmer Qi-Energie zu tun. „Ich bin beeindruckt, mit welcher Leichtigkeit Ihr Zidian zurückhalten könnt. Es ist ein sehr starkes Kleinod“, sprach Lan Xichen sanft und das Kompliment verfehlte seine Wirkung nicht. „Hmpf“, stieß Jiang Cheng aus, doch seine Mundwinkel hoben sich gegen seinen Willen. „Natürlich habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, es perfekt zu beherrschen.“ Obwohl die violetten Funken auch über Lan Xichens Hand züngelten, war sich Jiang Cheng sicher, dass er nichts außer der dezenten, jedoch völlig neutralen Energie spürte. Nur wenn er es darauf anlegte, war Zidian eine überaus mächtige, zerstörerische Waffe. Der unangenehm penetrante Gedanke, dass Zidians Licht nun überflüssig war, da Lan Xichen seine Hand hielt, ließ Jiang Cheng schwer schlucken. Da er sich aber nicht blamieren wollte, erhielt er die Energie des Erbstücks aufrecht. Der Weg vor ihnen wurde immer steiler, die Luft dünner und der Nebel schien an ihren Körpern zu kleben. Die Schneeschicht unter Jiang Chengs Füßen knarrte leise. Kaum, dass er sich an die zarte Berührung der warmen Fingerspitzen gewöhnt hatte, drückte Lan Xichen plötzlich seine Hand. Gefangen in einem Griff aus Wärme und sanfter Haut, fiel Jiang Cheng überaus deutlich auf, wie ungepflegt und rau seine eigenen Hände waren und verscheuchte den Gedanken schnell. „Ich weiß“, raunte er, noch bevor Lan Xichen überhaupt etwas sagen konnte. Jiang Cheng drosselte sein Tempo, bis er schließlich an einer Stelle stehenblieb, die ihm halbwegs stabil und fest vorkam. „Ihr habt es also auch gespürt“, flüsterte Lan Xichen und ließ Jiang Chengs Hand los. Diese fühlte sich mit einem Schlag wie ein Fremdkörper an, mit dem Jiang Cheng nichts anzufangen wusste. Seine Finger verkrampften ein paar Mal unschlüssig. „Natürlich. Die bösartige Energie ist hier allgegenwärtig, als hätte der Nebel sie aufgesaugt, hmpf.“ Lan Xichen, der dicht neben ihm stand, legte nachdenklich den Zeigefinger an die Lippen. Den Zeigefinger, mit dem er vor wenigen Augenblicken noch Jiang Chengs Hand gehalten hatte. Hastig wandte Jiang Cheng den Blick ab. „Seid vorsichtig“, flüsterte Lan Xichen. Jiang Cheng nickte steif, ehe er versuchte, alle ablenkenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Er zwang sich dazu, seine Sinne auf die undurchsichtige Umgebung zu fokussieren. „Ich glaube, wir haben den Gipfel fast erreicht“, mutmaßte er, ehe er unruhig aufhorchte. Er nahm etwas wahr, das beinahe in der Nebelenergie untergegangen wäre. Keinen Sekundenbruchteil später verzog er das Gesicht zu einer verärgerten Miene, als er die dunkle Energie gebündelt auf sie zukommen spürte. „Eine Störung können wir nicht gebrauchen!“, bellte er. Noch bevor die Gestalt, deren Tötungsabsicht wie ein schwerer Geruch in der Luft lag, durch den Nebel brechen konnte, hatte Jiang Cheng sie bereits ausfindig gemacht. Grölende Geräusche kamen plötzlich aus allen Richtungen und signalisierten eine Gruppe weiterer Feinde, die sich ihnen näherte. Dies kam Jiang Cheng und seinem angestauten Frust sogar gelegen. Er schnaufte verächtlich. Zidian verwandelte sich auf Kommando in die schmerzbringende Waffe, die es eigentlich war. Mit einer scharfen Handbewegung holte Jiang Cheng aus und ließ die Peitsche tanzen. Sie traf mehrere Gestalten, die sofort kraftvoll zurückgeschleudert wurden. „Zewu-jun, könnt Ihr ausmachen, womit wir es zu tun haben?“, rief Jiang Cheng, der sich längst vom Fleck bewegt und somit Lan Xichen aus den Augen verloren hatte. Das Echo einer klirrenden Schwertklinge erreichte seine Ohren. „Vermutlich wilde Leichen, aber…“ Als eine dunkle Hand nach ihm griff, musste Jiang Cheng mit einem Satz ausweichen. Sofort startete er einen erneuten Gegenangriff. Das Ende der Peitsche wickelte sich wie eine Würgeschlange um den Hals der Kreatur und zog sie grob zu Boden. „Aber?“, drängte Jiang Cheng, dem es vorkam, als wäre die Temperatur seit dem Auftauchen der Leichen noch einmal um mehrere Grade gesunken. Beißende Kälte nagte an seinen Gliedern. „Es sind keine herkömmlichen wilden Leichen. Sie scheinen von einer Eisschicht bedeckt zu sein. Mein Schwert zeigt keine Wirkung, sämtliche Attacken prallen an ihnen ab.“ Wieder war zu hören, wie Lan Xichen mit Shuoyue parierte. „Was zum –?!“, japste Jiang Cheng und der Rest des Fluches, der ihm auf den Lippen lag, ging in seiner Verwirrung unter. Doch bevor die beunruhigenden Tatsachen wirklich zu ihm durchsickern konnten, stieß er bei einem unaufmerksamen Schritt mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Er verlor das Gleichgewicht und kam unsanft im Schnee auf. „Ugh, was zum –?!“, wiederholte er ächzend und inspizierte das, worüber er gestolpert war. Im ersten Moment sah es wie ein kleiner Schneehaufen aus, doch er wirkte deplatziert und unnatürlich, denn es war nirgends noch nicht ansatzweise genug von den Flocken gefallen, um sich in dieser Menge an einer einzigen Stelle anzusammeln. Davon ausgehend, dass sich unter der Schneeschicht ein Felsbrocken befand, rappelte Jiang Cheng sich genervt auf und kickte in einer kindischen Geste leicht dagegen. Er wollte sofort wieder zum eigentlichen Kampf zurückkehren, doch als der Schnee sich verschob und die Sicht auf das, was sich darunter verbarg, freigab, erstarrte Jiang Cheng mitten in der Bewegung. Seine Augen weiteten sich und ihm fiel erst in diesem Augenblick auf, dass der Klumpen Eis die Umrisse einer Person hatte. Das Gesicht, das durch die kristallene Eisschicht sichtbar war, würde er immer und überall erkennen. „Wei Wuxian…?!“ Kapitel 2: traces on the ground ------------------------------- Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Schwer atmend und keuchend gab Wei Wuxian gedämpfte Geräusche von sich, während er sich über die Sturheit, mit der er konfrontiert wurde, ärgerte. Wieso wurde absolut jedes Mal so mit ihm umgesprungen? Es war nicht fair! Es spielte keine Rolle, ob er zog oder sich gegen die immense Kraft stemmte – nichts zeigte Wirkung. „Wei Ying“, ertönte Lan Wangjis ruhige Stimme. „Gleich“, ächzte Wei Wuxian ungeduldig und winkte ab. „Ich bin gleich… soweit…“ Seine Entschlossenheit schien Lan Wangji stumm zur Kenntnis zu nehmen. Er mischte sich nicht weiter ein, auch als Wei Wuxian mit einem erschrockenen Japsen auf dem Allerwertesten landete. Ein lautes Wiehern, das sich verdächtig nach einem höhnenden Lachen anhörte, kommentierte die unsanfte Landung. „Hey! Lach nicht! Das nächste Mal werde ich die Zügel nicht versehentlich loslassen! … Dummer Esel, Kleiner Apfel! Wieso stellst du dich so quer? Willst du wirklich, dass ich den ganzen Weg laufen muss?! Das ist herzlos! Habe ich dich je schlecht behandelt?“ Der Esel zeigte sich unbeeindruckt, egal wie laut Wei Wuxian wetterte. Sich aufrappelnd, klopfte er sich den Dreck von der Kleidung und plusterte schmollend die Wangen auf. „Lan Zhan, hilf mir! Wie soll ich sonst den Berg hochsteigen, wenn Kleiner Apfel sich nicht vom Fleck bewegen will, um mich zu tragen?“ „Du kannst laufen“, schlug Lan Wangji sachlich vor, als wäre Wei Wuxian nicht schon längst selbst auf diese Idee gekommen. Das Problem war: Er mochte sie nicht. Ganz und gar nicht. Jammernd und fluchend, versuchte er noch einmal, an den Zügeln seines Reittieres zu ziehen, doch auch dieser Versuch scheiterte kläglich. „Fein! Von mir aus kannst du hierbleiben und verhungern!“ Die Drohung war genauso sinnlos wie Wei Wuxians Versuche, dem Esel Befehle zu erteilen. Es war nicht das erste Mal, dass er das Tier irgendwo allein zurückließ – und bisher hatte es immer problemlos für sich selbst sorgen können. Geknickt schloss Wei Wuxian zu Lan Wangji auf. „Wenn Kleiner Apfel irgendwann ins Gras beißt, wird der Tag meiner Rache kommen. Ich werde ihn wiederbeleben und dann tanzt er nach meiner Pfeife… äh, Flöte. Hahaha!“ Die Vorstellung erheiterte Wei Wuxian so sehr, dass sich seine Laune augenblicklich besserte. „Wei Ying“, sagte Lan Wangji und Wei Wuxian seufzte, als er den mahnenden Unterton vernahm. „Ja, ja, schon gut. Ich weiß, weshalb wir hier sind. Lass uns gehen, damit wir schnell wieder zurückgehen können. Einen Berg hinabzusteigen macht mehr Spaß als ihn hinaufzusteigen.“ Trotz all seines Gejammers und aller Mühen, sich das Leben einfacher zu machen, setzte Wei Wuxian, an Lan Wangjis Seite, beschwingt einen Fuß vor den anderen. „Kann man sich hier wirklich verlaufen? Mir erscheint der Weg recht eintönig“, überlegte Wei Wuxian laut, als sie einen Teil der Strecke längst hinter sich gebracht hatten und die Kronen der im Tal wachsenden Bäume kaum größer als seine Hand waren. „Die Bewohner des Dorfes sprachen von einem Nebel, der manchmal den gesamten Berg verschleiert“, lenkte Lan Wangji ein, woraufhin Wei Wuxian eifrig nickte. „Wohl wahr. Im Nebel verläuft man sich hier sicher leicht. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Menschen hier nicht versehentlich vom Weg abkommen, sondern fortgelockt oder entführt werden.“ „Mn.“ Ein heftiger Windhauch wehte über sie hinweg und unterbrach Wei Wuxians Grübeleien. Sofort lag seine Aufmerksamkeit auf der klirrenden Kälte, die ihm durch Mark und Bein ging und in noch größerer Intensität an der Spitze des Berges auf sie wartete, wenn er dem schneebedeckten Gipfel trauen konnte, den er mit grimmigem Blick anvisierte. Er schüttelte sich in dramatischer Manier. „Brrr. Vielleicht sind sie aber auch einfach nur erfroren. Das halte ich sogar für sehr wahrscheinlich. Fall gelöst, lass uns umkehren“, ratterte Wei Wuxian mit klappernden Zähnen hinunter und wollte – mehr scherzhaft als ernst gemeint – auf dem Absatz kehrtmachen, als sein Körper plötzlich vom Boden gehoben wurde. „Huh? Lan Zhan?!“, japste er, auch wenn die starken Arme in seinem Rücken und seinen Kniekehlen ihm wohl bekannt waren. Ob er sich jemals daran gewöhnen würde, war eine andere Sache. „Ist es warm?“, fragte Lan Wangji, wobei sein viel zu ernster Gesichtsausdruck Wei Wuxian zum Kichern brachte. Die Arme um Lan Wangjis Hals schlingend, kuschelte sich Wei Wuxian enger an ihn. „Oh, Lan Zhan. Was würde ich nur ohne dich tun? Es ist sehr warm“, raunte Wei Wuxian und dachte nicht im Traum daran, sich über die neuen Umstände zu beschweren. Er musste nicht laufen und ihm war nicht mehr kalt. „Gut. Dann können wir weiter“, sagte Lan Wangji nüchtern, doch aus nächster Nähe erkannte Wei Wuxian die Zufriedenheit auf seinem stoischen Gesicht deutlich. Egal, wie oft er das Glück hatte, die markanten Gesichtszüge zu betrachten – manchmal verschlug ihm Lan Wangjis Attraktivität noch immer den Atem. „Lan Zhan?“ „Mh?“ Wei Wuxian langen viele Dinge auf der Zunge. Die meisten davon zu offensichtlich, zu peinlich oder zu lächerlich, um sie tatsächlich auszusprechen. Deshalb lächelte er auch nur und hauchte Lan Wangji, aus einem Impuls der Zuneigung heraus, einen Kuss auf die Wange. „Lass uns etwas spielen.“ Es amüsierte Wei Wuxian ungemein, Lan Wangjis Augenbrauen dabei zuzusehen, wie sie sich verwirrt einander annäherten. „Komm schon, mir ist langweilig“, fügte er weinerlich hinzu, noch bevor Lan Wangji etwas erwidern konnte. „Dann halte Ausschau“, schlug Lan Wangji vor. „Gute Idee, Lan Zhan! Ich suche mir etwas aus, das ich sehe, beschreibe dir, wie es aussieht und du musst raten, was es ist!“ Dass es ganz und gar nicht das war, was Lan Wangji gemeint hatte, schreckte Wei Wuxian nicht ab – der lange Blick, der ihm zugeworfen wurde, auch nicht. Stattdessen grinste er über beide Ohren und ließ seinen Blick über die Umgebung wandern, während Lan Wangji ihn gemächlichen Tempos den Berg hinauf trug. Die Gegend gab, zugegeben, nicht viel her, aber dies hielt Wei Wuxian nicht davon ab, kreativ zu werden. „Hmm… es ist grau“, begann er und holte tief Luft, um sich eine besonders knifflige Beschreibung auszudenken. „Stein“, unterbrach Lan Wangji ihn und Wei Wuxians Kopf ruckte in die Höhe. Fassungslos starrte er Lan Wangji an, ehe er geräuschvoll die Luft aus den Lungen ließ und sich ein gackerndes Lachen nicht verkneifen konnte. „Schau einer an! Woher weißt du das? Es stimmt, ich habe an einen Stein gedacht, sehr gut! Aber… an welchen?“ Provozierend blinzelte er Lan Wangji an. Dieser erwiderte Wei Wuxians Blick weniger empört, als Wei Wuxian vermutet hatte. „Den dort“, sagte Lan Wangji trocken und deutete mit einem Nicken auf einen scheinbar willkürlichen Felsbrocken, was Wei Wuxians Gesichtszüge entgleisen ließ. „Woher…?!“ „Deine Augen“, erklärte Lan Wangji knapp. „Huh?“ „Deine Augen haben es mir verraten. Sie haben gefunkelt, als du den Stein angeschaut hast.“ Wei Wuxian war sprachlos – etwas, das nicht oft vorkam. Doch er fing sich schnell wieder und ein wissendes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Spitzbübisch verengte er die Augen. „Du beobachtest mich also, Lan Zhan?“, flötete Wei Wuxian, völlig ignorierend, dass er bei mehr als einer Gelegenheit lauthals Lan Wangjis Aufmerksamkeit eingefordert hatte. Er leugnete auch gar nicht, dass ihm die Blicke schmeichelten. „Das ist sehr unanständig!“ Ob Lan Wangjis Ohrläppchen vor Kälte oder Scham rot wurden, ließ sich nicht erkennen, aber Wei Wuxian spürte deutlich, wie der Griff um seinen Körper kräftiger wurde. Wei Wuxian erbarmte sich, indem er mit Mühe sein Lachen zurückhielt und seine Hand behutsam auf Lan Wangjis Wange legte. „Lan Zhan, du bist dran“, wechselte er das Thema. „Beschreib etwas, das du siehst und ich werde raten, was es ist.“ Gespannt wartete Wei Wuxian darauf, dass Lan Wangji sich umsah, doch der Blick aus sanften Augen lag stattdessen endlose Sekunden auf ihm. Auch als er seine Hand zurückzog, bewegte Lan Wangji den Kopf nicht. Es war unmöglich, dass er die Regeln nicht verstanden hatte. Wollte er nicht mehr spielen? „Ein Wunder“, sagte er schließlich. „Huh? Was ist ein Wunder?“ Lan Wangji antwortete nicht. Verwirrt legte Wei Wuxian den Kopf schief. „Wieso antwortest du nicht? Lan Zhan?“ „Du musst raten“, erwiderte Lan Wangji kurz angebunden, beinahe ungeduldig. Als der Groschen fiel, formten sich Wei Wuxians Lippen zu einem stummen »Oh!«. „Aaaah! Das war eine Beschreibung! Verstehe! Gut, gut… Du hast mich so angestarrt, dass ich nicht sicher war, ob… Hm, lass mich nachdenken! Was sagtest du? Ein Wun –“ Wei Wuxian stockte, als er endlich verstand. Seine Augen wurden groß und Hitze sammelte sich in seinem Bauch. „Lan Zhan…“, wisperte Wei Wuxian mit belegter Stimme. „Sag es.“ So dazu gedrängt zu werden, brachte Wei Wuxian nur noch mehr in Verlegenheit. Er schluckte schwer und wand sich ein wenig in Lan Wangjis Armen, die ihn daraufhin nur noch fester gegen die warme Brust drückten. „Okay, okay! Ich sag es ja! Du… du – du hast an mich gedacht!“ Die Anspannung aus den starken Schultermuskeln verschwand. „Immer“, bestätigte Lan Wangji. Unermüdlich trug Lan Wangji ihn den immer steiler werdenden Bergpfad hinauf. Man sagte dem Yiling Patriarchen zwar nach, dass er keine Schuldgefühle besaß, aber Wei Wuxian nahm die piekenden und nervigen Gewissensbisse dennoch deutlich wahr, als seine Hand versehentlich Lan Wangjis Finger streifte. Sie waren eiskalt und den winterlichen Temperaturen ausgesetzt, während er eine persönliche Wärmequelle besaß. Selbst Wei Wuxian empfand dies nicht als fair. „Lan Zhan, lass mich runter. Ich will mir ein wenig die Beine vertreten und etwas überprüfen.“ „Was überprüfen?“, fragte Lan Wangji, ohne Anstalten zu machen, Wei Wuxian abzusetzen. „Ich sage es dir, wenn ich es überprüft habe!“ Lan Wangji seufzte. Zögerlich lockerte er seinen Griff und setzte Wei Wuxian vorsichtig auf dem Boden ab. Dieser machte sich sofort daran, in die Hocke zu gehen und den Pfad zu inspizieren. „Hmm… dachte ich es mir doch“, nuschelte Wei Wuxian. „Siehst du die Spuren?“ Er presste sein Gesicht regelrecht in die Erde, um an ihr zu riechen. „Wei Ying…“, stieß Lan Wangji missbilligend aus. „Was? Hast du Angst, dass ich meine Zunge ausstrecke und daran lecke? Hahaha!“, amüsierte sich Wei Wuxian, doch statt seine Worte wahr zu machen – einfach nur, um Lan Wangji zu ärgern, er brauchte keine Geschmacksprobe – stand er wieder auf und stemmte die Arme in die Seiten. Erleichtert senkte Lan Wangji den Blick auf Wei Wuxians Fund. „Die Spuren sind kaum sichtbar. Sie wirken nicht unnatürlich und stammen höchstwahrscheinlich von den Menschen, die den Berg hochgestiegen sind.“ „Das war auch mein erster Gedanke, aber… sie sehen aus, als wäre jemand schlurfend hier entlang gegangen“, erwiderte Wei Wuxian und demonstrierte, was er meinte, indem er faul und humpelnd seine Beine hinter sich herzog. „Eine Verletzung?“, lenkte Lan Wangji nachdenklich ein. „Möglich, aber dennoch unwahrscheinlich. Die Fußspuren wären ungleichmäßiger, es sei denn, beide Beine wären verletzt. Aber dann wäre das Gehen generell eher problematisch gewesen.“ „Du hast bereits eine Theorie“, stellte Lan Wangji fest und entlockte Wei Wuxian, der nur darauf gewartet hatte, diesen Satz zu hören, ein triumphierendes Grinsen. „Nur eine Vermutung“, berichtigte Wei Wuxian gespielt bescheiden. Er räusperte sich. „Ich vermute, dass die Spuren nicht von Menschen stammen. Zumindest nicht von lebendigen.“ Abwartend musterte Wei Wuxian Lan Wangjis Miene, doch er erhielt keine zufriedenstellende Reaktion. Er hatte mehr erwartet und wurde bitter enttäuscht, als das Lob ausfiel. „Bist du nicht begeistert von meinen meisterhaften Schlussfolgerungen? Ah, Hanguan-jun, du kränkst mich!“, jammerte Wei Wuxian und seufzte übertrieben. „Wie auch immer. Es würde jedenfalls die vermehrte bösartige Energie erklären. Die hast du doch bestimmt auch gespürt, oder?“ Lan Wangji nickte. „Meine Theorie können wir überprüfen, wenn wir den Spuren folgen.“ „Mn.“ Wei Wuxian übernahm die Führung. Sie hatten Glück, dass es weder regnete, noch schneite. Die trockene, feste Erde konservierte die Fußabdrücke gut, selbst wenn diese nur noch leicht zu sehen waren. Eine ganze Weile erklommen sie weiter den Berg, bis die verschneite Spitze nicht mehr nur eine Aussicht aus der Ferne war, sondern ihre unmittelbare Umgebung. Mit dem Schnee und Wind kam auch der Nebel. Er kroch wie ein luftiger Teppich über den Boden, schlängelte um Wei Wuxians und Lan Wangjis Knöchel und bahnte sich seinen Weg gen Tal. „Hast du das gesehen?“, japste Wei Wuxian und klang dabei zu aufgeregt, um seine Neugier zu bändigen. Ihm war noch nie derartiger Nebel untergekommen, obwohl er sich sicher war, mindestens fünf Arten zu kennen. Und nur eine davon war natürlicher Herkunft. Lan Wangji hielt es nicht für nötig, auf die rhetorische Frage zu antworten, sondern rückte wie von selbst schützend näher. „Ich bin zuversichtlich, dass die Lösung des Rätsels ganz von allein zu uns kommt“, summte Wei Wuxian gut gelaunt und lehnte sich leger gegen Lang Wangji. „Und danach werden wir uns ganz sicher aufwärmen müssen“, flüsterte er verführerisch, doch ehe Lan Wangji etwas erwidern konnte, ertönte ein lautes Knurren. Wei Wuxian blinzelte überrascht. „Ich bin vielleicht etwas hungrig, aber das war nicht mein Magen, ich schwöre“, sagte er und hob die Hände in einer unschuldigen Geste. „Wei Ying“, raunte Lan Wangji warnend – und Wei Wuxian verstand genau, vor welchen Konsequenzen er ihn warnte. Nicht vor denen, auf die er sich freute. Nein, es waren unmittelbare Konsequenzen seiner Unaufmerksamkeit. Sie hatten die Form einer grässlichen, verzerrten Grimasse und einem verfaulten, vereisten Gesicht, wie er feststellen durfte, als er herumwirbelte und einen leuchtenden Talisman auf die auf ihn zu kriechende Gestalt abfeuerte. „Damit hätten wir das Problem aus der We –“, erfreute sich Wei Wuxian, doch der Rest des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als der Talisman, der am Gesicht der wilden Leiche klebte, aufleuchtete und dann zu Staub zerfiel. Was ging hier vor? Für eine Leiche mit so geringem Eigenwillen hätte das mehr als ausreichend sein sollen, doch statt zu erstarren, schlurfte die Gestalt nur noch wütender auf sie zu. Aus dem Nebel drangen weitere, ächzende und stöhnende Geräusche, die mehr von den dunklen Geschöpfen ankündigten. „Hartnäckige Dinger“, schimpfte Wei Wuxian, während sich noch im selben Atemzug seine schlanken Finger um Chenqing schlossen. Mit einer geübten Bewegung führte er die Flöte an seine Lippen und begann eine schaurige, schrille Melodie zu spielen. „Wei Ying. Sie kommen näher“, machte Lan Wangji ihn auf das Offensichtliche aufmerksam. Verärgert verstärkte Wei Wuxian die Intensität seiner kontrollierenden Töne, doch egal, wie laut oder schnell er wurde, die Leichen kamen ihnen mit ausgestreckten Armen entgegen. Ihr einziger Vorteil bestand im Augenblick darin, dass die Wesen langsam waren. Wei Wuxian hatte auch eine Vermutung, woran dies lag. Da sein Spielen nichts brachte, ließ er die Arme sinken. „Versuch du es“, wies er Lan Wangji an, der seine Guqin aus dem Halter löste und das Instrument elegant vor seinem Körper hielt. Wei Wuxian hatte vor einiger Zeit versucht, das prächtige Stück hochzuheben und zu verschieben, als es ihm im Weg gestanden hatte, doch nach wenigen Metern war er kläglich daran gescheitert. Mit einer ausschweifenden Bewegung brachte Lan Wangji die Saiten zum Vibrieren und ein heller, klarer Klang ertönte – bis hinunter ins Tal, davon war Wei Wuxian überzeugt. Die grölenden Leichen, von denen sie mittlerweile mindestens ein Dutzend umzingelt hatte, blieben für einen Moment verwirrt stehen, doch es war mehr die Druckwelle, die sie ins Wanken geraten ließ, als die spirituelle Kraft der Waffe. Wenige Sekundenbruchteile später setzten sie sich wieder in Bewegung. „Ich verstehe“, nuschelte Wei Wuxian, dessen Schulter Lan Wangjis berührte, als sie noch näher zusammenrückten. „Es ist das Eis“, erklärte er – für seine Verhältnisse – knapp. „Sie sind dadurch langsamer, aber die Töne dringen nicht zu ihnen durch“, präzisierte Lan Wangji. „Wie wäre es mit Feuer?“ „Wundervolle Idee, Hanguan-jun“, lobte Wei Wuxian und kramte hastig in seiner Robe nach einem nicht bereits bekritzelten Talisman, den er verwenden konnte. Ohne, dass er etwas sagen musste, zog Lan Wangji Bichen aus der Scheide und machte sich kampfbereit. Wei Wuxian streckte die Hand aus, stupste die Spitze des Schwertes an, bis etwas Blut aus seinem Zeigefinger quoll und beschriftete das leere, zerknitterte Blatt, das er hervorgeholt hatte, mit ein paar Schriftzeichen. „Jetzt schau zu, Lan Zhan!“, rief Wei Wuxian und gezielt landete der Talisman auf einer besonders robust aussehenden Leiche. Abermals blieb er an dem toten Körper haften, leuchtete auf – dieses Mal war jedoch ein kurzes Kreischen zu hören – und erlosch nutzlos auf dem vereisten Kopf. Wei Wuxian klappte der Mund auf. „Unverschämt!“, beschwerte er sich, doch es schien, als hätte Lan Wangji genug vom Herumstehen. Noch ein paar Meter und sie würden vollkommen gefangen sein. Wei Wuxian sah, wie er geschmeidig in die neblige Umgebung eintauchte und hörte, wie Bichen gegen etwas Hartes traf. Immer wieder hallte das Klirren des Schwertes über den Berggipfel, bis Lan Wangji mit einem Satz zu ihm zurücksprang. „Nichts?“ „Nichts“, bestätigte Lan Wangji. Ein dezent bitterer Zug hatte sich um seine Lippen gelegt. Wei Wuxian gingen die Ideen, aber vor allem die Zeit aus. Wilde Eisleichen waren ihm bisher noch nie untergekommen und wenn die herkömmlichen Mittel nicht halfen, würde er innerhalb der nächsten Minuten auch nicht die wundersame Lösung für ihr Problem finden. „Ich könnte es mit einem Bannkreis versuchen“, murmelte Wei Wuxian und streckte bereits die Hand nach Bichen aus, um sich tiefer ins Fleisch zu schneiden und das blutige Symbol auf den Boden zu schmieren, doch Lan Wangji fing sein Handgelenk ab. „Zu riskant“, sagte er knapp und hatte im nächsten Moment bereits den Arm um Wei Wuxians Hüfte geschlungen, um mit ihm im hohen Bogen über die Leichenschar hinwegzuspringen. Sie landeten mitten im nebligen Nirgendwo. Sofort schärfte Wei Wuxian seine Sinne, doch die unnatürlichen Geräusche kamen aus allen Richtungen. Auf ihren Gehörsinn konnten sie sich nicht verlassen. „Ich weiß nicht, ob wir hier viel sicherer sind“, merkte er nervös an. „Und ewig können wir nicht durch die Gegend hüpfen.“ „Was schlägst du vor?“ „Ich bleibe beim Bannkreis, allerdings einem mit umgekehrter Wirkung. Wenn ich sie versuche an einen konkreten Ort zu locken, dann –“ Mitten im Satz war Wei Wuxian herumgewirbelt, um nach einer geeigneten Stelle zu suchen, als plötzlich aus dem Nichts eine schrumpelige, verweste Hand nach ihm griff. Beißendes Eis streifte seine Wange, fraß sich wie Säure durch seine Haut und ließ ihn im allerletzten Moment zurückschrecken. „Wei Ying!“, rief Lan Wangji und trat der Leiche, die sich beinahe lautlos angeschlichen hatte, mit aller Wucht gegen die Brust. Sie wurde in den Nebel hinein geschleudert und Wei Wuxian hörte, wie sie dumpf auf dem Boden aufkam. Lan Wangji inspizierte bereits sein Gesicht, noch ehe er die Situation verarbeiten konnte. „Alles… alles in Ordnung!“, versicherte er und betastete die Stelle, an der ihn die Eisleiche berührt hatte. Es tat nicht weh, aber Wei Wuxian spürte nach wie vor ein unangenehmes Kribbeln, das ihn beunruhigte. Wäre es eine simple, frostige Berührung gewesen, würde er diese nun nicht mehr spüren. „Wir treten den Rückzug an“, beschloss Lan Wangji und ohne auf Wei Wuxians Meinung zu warten, schlang er seine Arme abermals um ihn und sprang leichtfüßig auf sein Schwert, welches sie in die Lüfte empor steigen ließ. Eine Weile lang sah Wei Wuxian nichts außer der weißen Substanz, die sie umhüllte. Der Wind zerrte an seiner Kleidung und es war das einzige Indiz dafür, dass Lan Wangji ein hohes Tempo vorlegte. Er hinterfragte nicht einmal, ob Lan Wangji wusste, wohin er flog, sondern vertraute stattdessen darauf, dass er sie beide in Sicherheit bringen würde. Wei Wuxian war froh, dass es keine Zeugen gab, die von ihrer Niederlage gegen ein paar wilde Leichen berichten konnten. Er konnte sich die spottenden Erzählungen bereits bildlich vorstellen: Eines Winters lief Wei Wuxian, der gefürchtete Yiling Patriarch, schreiend vor den Eisleichen davon… Sein Ruf wäre hinüber! Obwohl er sich ihn niemals gewünscht hatte, so hatten die Jahre doch gezeigt, dass er hin und wieder ein nützliches Werkzeug sein konnte, damit sich ihm neue Wege und Möglichkeiten öffneten. Lan Wangji drosselte Bichens Schnelligkeit und setzte zum Landeanflug an. Auch Wei Wuxian nahm die Energie ihrer Feinde nicht mehr wahr, was zumindest bedeutete, dass sie für eine Weile in Sicherheit waren. Als wäre er eine Vase, die äußerst zerbrechlich war, wurde er auf dem Boden abgesetzt. „Nun, ich denke, wir wissen nun zumindest, wo die ganzen Menschen hin sind, die auf dem Berg verschwunden sind“, sagte Wei Wuxian. „Ist dir irgendetwas Besonderes aufgefallen?“ Lan Wangji schüttelte den Kopf. „Nichts, außer, dass die Leichen vereist sind. Das Maß der bösartigen Energie war für alle in etwa dasselbe.“ Somit schloss Wei Wuxian aus, dass es unter den dunklen Geschöpfen eins gab, das mehr Macht hatte als die anderen und als Auslöser für diese merkwürdige Plage verantwortlich gemacht werden konnte. „Wir können also nur vermuten, dass mindestens eine von ihnen schon länger hier ihr Unwesen treibt und sich an die… Wetterbedingungen angepasst hat. Mutiert ist.“ Es war das erste Mal, dass er so etwas mit eigenen Augen sah, doch es gab wenige Dinge, die ihn in der Kultivierungswelt noch überraschen konnten. „Und als ihr Menschen über den Weg liefen… nun, den Effekt haben wir gesehen. Sie hat sich ihre eigene, kleine… na gut, große Leichenfamilie zusammengestellt. Ist das nicht niedlich?“ Wei Wuxian prustete und heimste sich sogleich einen tadelnden Blick Lan Wangjis ein. Ah, wann würde er nur endlich einen Sinn für Humor entwickeln?! „Wei Ying“, sagte Lan Wangji. „Ist schon gut, ich höre auf zu lachen…“ „Wei Ying“, wiederholte Lan Wangji, ließ dieses Mal die Sorge in seiner Stimme durchschimmern. „Hm?“ „Deine Wange.“ Lan Wangji streckte die Hand aus und berührte sie durch den Ärmel seiner Robe hindurch, doch… Wei Wuxian spürte die Berührung nicht. Verwirrt betastete er die Stelle seinerseits ebenfalls. Eine dünne Eisschicht hatte sich auf seiner Haut ausgebreitet und bedeckte seine Wange, bis hinunter zum Kiefer. „Ah, das ist nichts. Nur etwas Eis.“ Unwirsch rieb Wei Wuxian daran. „Nicht“, warnte Lan Wangji und zog seine Hand weg. Mit sanfter Gewalt zog er Wei Wuxians Kopf zu sich und begutachtete die vereiste Stelle. „Autsch! Lan Zhan! Du musst meinen Hals nicht so verrenken, ich werde sonst –“ „Es verbreitet sich“, teilte Lan Wangji ihm leise mit. „Was? Ah… das… nun…“ Unschlüssig blinzelte Wei Wuxian, denn ihm fiel keine verharmlosende Erwiderung ein. „Ein Fluch vielleicht? Mit Flüchen kann ich umgehen, das weißt du.“ Kurz wirkte Lan Wangji so, als würde er sich an eine längst vergangene Situation erinnern. Auch Wei Wuxian hatte ein kleines Déjà-vu-Erlebnis, doch sein Instinkt flüsterte ihm etwas völlig anderes zu. Lan Wangji sah ebenfalls nicht überzeugt aus. Das Eis begann über seinen Hals zu kriechen und Wei Wuxian erzitterte, als es sein Schlüsselbein erreichte. Das ging viel zu schnell, er musste nachdenken! Die Leiche hatte ihn berührt. Das Eis war also etwas, das ansteckend war – und höchstwahrscheinlich auch genau der Grund, wieso es so viele von ihnen gab. Wenn seine Theorie stimmte, dann bedeutete dies, dass er auf dem besten Weg war, ebenfalls zu einer zu werden. Wei Wuxian musste sich das Seufzen verkneifen. Er war bereits einmal gestorben, reichte das nicht? „Ich bewege mich nicht, aber es schreitet trotzdem voran“, murmelte er, die Hand in seine Brust krallend, da der eisige Film, der über seine Haut kroch, bereits seinen Brustkorb erreicht hatte. Seine Lippen zitterten, da er nun auch seine andere Gesichtshälfte zu attackieren schien. „Lan Zhan…“, japste Wei Wuxian mit klappernden Zähnen, nun doch etwas beunruhigt. „Wenn ich anfange meine Finger nicht zu spüren, kann ich nichts mehr tun. Und ich fürchte, es will mir jemand den Mund verbieten… etwas, das nicht einmal du schaffst, kannst du dir das vorstellen?“ „Wei Ying!“ Lan Wangji schlang energisch die Arme um Wei Wuxian und zog ihn an sich. Doch egal, wie viel spirituelle Energie er auf ihn übertrug und versuchte seinen Körper zu wärmen – es zeigte keine Wirkung. Der angsterfüllte Ausdruck auf Lan Wangjis attraktivem Gesicht schmerzte mehr, als das Gefühl der sich in seine Haut bohrenden Eissplitter. Wei Wuxian versuchte beschwichtigend zu lächeln. „Mach dir keine Sorgen, mir ist schon viel wärmer“, sagte er. „Vor allem hier.“ Er rieb die Stelle über seinem Herzen. „Lügner“, wisperte Lan Wangji voller Zuneigung. „Nein, das war nicht gelogen“, gluckste Wei Wuxian undeutlich, da er seine untere Gesichtshälfte kaum mehr spürte. „Hör zu, Lan Zhan…“ Wei Wuxian gab ein spitzes Geräusch von sich, als die Kälte sich über seinen Bauch legte. Er machte sich etwas Sogen um das, was noch tiefer lag und was er definitiv noch brauchen würde… „Ich werde nicht zur Eisleiche, keine Sorge. Weißt du, warum? Weil du mich retten wirst.“ Es tat Wei Wuxian unheimlich leid, dass seine Worte das genaue Gegenteil von dem erreichten, was er beabsichtigt hatte und Lan Wangjis Augen sich voller Panik weiteten. Seinen potentiellen Tod zu erwähnen war keine gute Strategie, wie es schien, aber er wollte Lan Wangji doch nur sein unwiderrufliches Vertrauen versichern! Er hatte nun aber keine Zeit mehr, um lange um den heißen – haha – Brei herumzureden. „Wei Ying, lass uns gehen. Wir finden einen Weg, um –“, drängte Lan Wangji, der noch verstörter dreinblickte, als Wei Wuxian den Kopf schüttelte. „Ich bin als Eisklotz ziemlich nutzlos und nur unnötiger Ballast. Du bist schneller ohne mich.“ Wei Wuxian begann unkontrolliert zu schlottern und vergrub sein Gesicht in Lan Wangjis Kleidung, dabei penibel darauf achtend, dass sich ihre Haut nicht berührte. Er wollte ihn nicht gefährden und auch mit dem Eis anstecken. Obwohl sich seine Nase stumpf und kalt anfühlte, sog er Lan Wangjis Duft ein, als würde er sich ihn einprägen wollen. „Ich werde dich nicht zurücklassen“, sagte Lan Wangji nachdrücklich. „Das will ich auch gar nicht. Du… suchst nur nach einer Lösung, stöberst vielleicht in ein paar Büchern oder fragst ein paar ältere und weise Kultivatoren, bevor du zu mir zurückkehrst und mich rettest. Das hört sich doch nach einem guten Plan an, oder? Sobald ich mich nicht mehr bewegen kann, buddelst du mich im Schnee ein, okay? Ich bleibe schön brav hier. Niemand außer dir wird mich finden. Kein Wunder, was? Ich kann mich immer darauf verlassen, dass du mich findest. Ich würde es noch einmal mit Feuer versuchen, aber mit spirituellem Feuer. Mächtigem Feuer.“ Wei Wuxian spürte seinen Körper nur noch stellenweise und musste eins seiner Augen schließen, da der Frost sein Lid erreichte. Er wäre wie ein Stein umgefallen, würde Lan Wangji ihn nicht immer noch krampfhaft festhalten. „Und wenn du mich wieder aufgetaut hast und wir diese Leichen besiegt haben, dann wirst du mich vernünftig aufwärmen, okay? Am besten mit einem Kuss. Ah, Lan Zhan, ich wünschte, ich könnte deine bebenden Lippen jetzt küssen.“ Ohne Rücksicht auf Verluste, beugte sich Lan Wangji sofort zu ihm hinunter. „Aaah, nein, nicht… ich möchte auch etwas davon haben, aber im Moment spürte ich nichts“, quengelte Wei Wuxian gerade noch rechtzeitig, um Lan Wangji davon abzuhalten, ihn unter den aktuellen Umständen zu berühren. „Sei artig und tu mir den Gefallen, ja? Allein der Gedanke daran wird mich warmhalten, versprochen.“ Wei Wuxian konnte seine Mundwinkel nicht mehr vernünftig bewegen, aber er hoffte, das Lächeln war in seiner Stimme zu hören. Lan Wangji schnaufte verzweifelt. Er sah nicht so aus, als würde er Wei Wuxian loslassen wollen, aber dieser musste sich darauf verlassen, dass Lan Wangji sich seine Worte zu Herzen nehmen und er ihn schon bald wiedersehen würde. Als er das andere Auge schließen musste, verschwand Lan Wangji nämlich aus seinem Blickfeld. „Noch was… Lan Zhan… der Nebel –“ Sein Mund wollte sich mit einem Schlag nicht mehr bewegen und das Eis schluckte sämtliche Geräusche, die er von sich gab. „Wei Ying, ich –“, japste Lan Wangji, doch Wei Wuxian hörte den Rest seines Satzes nicht mehr. Die Schicht aus Eis lag dicht über seinen Ohren und dämpfte nun auch die Geräusche der Außenwelt. Er konnte sich jedoch all die Dinge vorstellen, die Lan Wangji ihm in diesem Moment sagen wollte und jedes einzelne davon hielt die Angst zurück, die Wei Wuxian verspürte, obwohl er sich nichts davon hatte anmerken lassen. Ich auch, Lan Zhan. Ich auch. Kapitel 3: fire in the mist --------------------------- Ehe Jiang Cheng den Anblick verarbeiten konnte, nahm er die Ankunft einer weiteren Person wahr. Mühevoll riss er die Augen von dem völlig mit Eis bedeckten Wei Wuxian los, um den Kopf zu heben, doch der Anblick, der sich ihm nun bot, war noch skurriler. Mit offenem Mund starrte er die Gestalt an, die, einem lodernden Phönix gleich, durch den Nebel schritt. Grelle Flammen stiegen meterhoch empor und einen Augenblick lang war Jiang Cheng davon überzeugt, dass jemand tatsächlich mit Haut und Haaren brannte, doch als die Person schließlich majestätisch an ihm vorbeilief, ohne ihm wirklich Beachtung zu schenken, erkannte er, dass dem nicht so war. Nicht ein Fünkchen Glut haftete an der eleganten, weißen Kleidung. Dafür flackerten Schatten auf dem Gesicht, das normalerweise das Musterbeispiel an Selbstbeherrschung war und die Jiang Cheng daran zweifeln ließen, ob es wirklich Lan Wangji war. Dieser trug einen großen, breiten Gegenstand, der so intensiv brannte, dass Jiang Cheng nicht erkennen konnte, was es war. Die Hitze erreichte selbst seine unterkühlten Glieder, als Lan Wangji seine vermeintliche Waffe in die Höhe hob und Jiang Cheng musste den Impuls zurückdrängen, in Deckung zu gehen. Er wollte nach Lan Xichen rufen, doch im letzten Moment hielt er sich davon ab. Es war unmöglich, dass dieser nicht bereits auf seinen Bruder aufmerksam geworden war. Lan Wangji holte aus. Die nächste Hitzewelle wehte zu Jiang Cheng hinüber, der hastig den Arm hob, um seine Augen abzuschirmen. Was… ging hier vor? Woher kam Lan Wangji plötzlich? Was hatte es mit seiner riesigen Feuerwaffe auf sich? Mit immenser Kraft, die Jiang Cheng mit Sicherheit von den Beinen geholt hätte, wäre er in Lan Wangjis Schusslinie gestanden, ließ Lan Wangji den brennenden Gegenstand durch die Luft brausen, ohne ihn loszulassen. Er schnitt mit ihm durch die Luft, wie mit einem Schwert. In diesem Moment erkannte Jiang Cheng auch, was diese geheimnisvolle Waffe war – sie war ein Fächer. Ein riesiger, massiver Wandfächer, dessen Gewicht sich Jiang Cheng nicht ausmalen konnte. Wie lange Speere schossen die züngelnden Flammen hinein in den Nebel, zerstreuten ihn unbarmherzig. Das vernichtende Feuer, welches eine beeindruckende spirituelle Energie ausstrahlte und Jiang Chengs Augen tränen ließ, schoss auf die Eisleichen zu, die urplötzlich, mit dem sich lichtenden Nebel, deutlich zu erkennen waren. Sie hatten ihren natürlichen – oder wohl eher unnatürlichen – Schutz verloren. Ein schrilles Kreischen hallte über den Berg, als der Feuersturm die dunklen Wesen mit sich riss und hoffnungsvoll hellte sich Jiang Chengs Gesicht auf. Hatte Lan Wangji es geschafft, den Leichen mit einer einzigen Attacke den Garaus zu machen? Der Teil von ihm, der neidisch auf dieses bodenlose Potential war, das der große Hanguan-jun besaß, war noch zu überrascht, um sich bemerkbar zu machen. „Oberhaupt Jiang, seid vorsichtig!“ Die Warnung erreichte ihn in letzter Sekunde, zusammen mit dem Körper, der ihn aus dem Weg schubste. Lan Xichen stieß der Leiche, die Jiang Cheng – in ihrer Panik vor dem Feuer – blind hatte über den Haufen rennen wollen, sein Schwert in die Brust. Das Eis knackte und zerbarst, ließ nur den schwachen, toten Leib einer herkömmlichen wilden Leiche zurück, die einer so starken Attacke nichts entgegenbringen konnte. Jiang Chengs Hand zuckte kampfbereit, denn es sah aus, als hätte Lan Wangji ihnen den Weg zum Sieg geebnet. Einmal mit dem imposanten Feuer getroffen, wurde die Eisschicht wässrig genug, um sie mit einer spitzen Waffe zu durchstoßen. Jiang Cheng zog Sandu aus der Schwertscheide und wirbelte herum. Er würde nicht noch einmal so unaufmerksam sein. Es war nicht Lan Xichens Aufgabe, auf ihn aufzupassen, immerhin war er es, der seine Hilfe angeboten hatte. Entschlossen stürzte sich Jiang Cheng in den Kampf. Der Nebel lichtete sich mehr und mehr, ließ die wärmenden Sonnenstrahlen hindurch, die den schneebedeckten Boden zum Glitzern brachten. Die Helligkeit verwirrte ihre Feinde und ein schmerzerfülltes Ächzen kündigte ihre endgültige Überlegenheit an. Jede einzelne brennende Leiche, der Jiang Cheng über den Weg lief, bekam es mit der Spitze seines Schwerts zu tun. Alsbald befleckten den Schnee unter seinen Füßen Blutspuren und schwarze Flecken, die von der Unreinheit und dem Hass zeugten, die die Leichen angetrieben hatten. Lan Xichen und Lan Wangji kümmerten sich ebenfalls effektiv um die geschwächten Angreifer, bis Jiang Cheng den leisen, wohltuenden Klang von Liebing vernahm. Die Pein der am Boden liegenden oder mit letzten Kräften durch den Schnee kriechenden Wesen verschwand, als die Musik Lan Xichens sich wie eine weiche Decke über sie legte. Auch Jiang Cheng konnte unwillkürlich spüren, wie sein Herzschlag ruhiger wurde, wie das Blut in seinen Adern aufhörte zu rauschen. Stille legte sich über den hellen, sonnigen Berggipfel. „Wangji“, seufzte Lan Xichen erleichtert und eilte zu ihm hinüber. „Bruder“, erwiderte Lan Wangji mit Fassung und verbeugte sich respektvoll. Sein Gesicht war etwas erhitzt vom vielen Feuer, das er benutzt hatte, doch abgesehen davon hatte der Kampf keinerlei Spuren hinterlassen. Der Fächer in seinen Händen brannte langsam wie ein Räucherstäbchen ab. Die Flammen fraßen das spirituelle Papier, aus dem er gefertigt worden war, konnten jedoch dem widerstandsfähigem Holz, welches das Grundgerüst bildete, nichts anhaben. Dies war kein herkömmlicher Fächer. „Ich danke dir, dass du meinem Hilferuf gefolgt bist“, sagte Lan Wangji und Jiang Cheng wandte sich ab. Dieses Gespräch war nicht für seine Ohren gedacht. Wenn es für ihn seltsam gewesen war, Lan Xichen nach all der Zeit wieder gegenüberzustehen, musste es für sein engstes Familienmitglied noch erschütternder sein. Jiang Cheng richtete seine Aufmerksamkeit auf den Klumpen Eis, auch als Wei Wuxian bekannt, der nach wie vor regungslos in den Resten des Schnees lag, der von Lan Wangjis loderndem Fächer nicht fortgeweht worden war. Die Eisschicht, die seinen Körper bedeckte, glänzte und wies einige Stellen auf, die nicht mehr undurchdringbar schienen. Zögernd drückte Jiang Cheng Sandus Griff. „Hmpf, du hättest es verdient“, murrte er leise, als er sich über dem jämmerlichen Eishäufchen aufbaute und mit dem Gedanken spielte, sein Schwert zu benutzen, um das Eis zu durchbohren. Jiang Cheng würde Zidian darauf wetten, dass sie diese unnötige Rettungsaktion Wei Wuxian zu verdanken hatten. Bevor er sich jedoch dafür entscheiden konnte, den Arm zu heben, vernahm er eine leise, raschelnde Bewegung neben sich. Lan Wangji ging an ihm vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken und kniete sich neben Wei Wuxian auf den Boden. Behutsam schloss Lan Wangji ihn in seine Arme und Jiang Cheng war froh, nur seinen Rücken und nicht seinen Gesichtsausdruck zu sehen. „Wei Ying“, wisperte Lan Wangji sanft, hob den Fächer an und fuhr mit den Resten der Glut vorsichtig immer wieder über die vereisten Glieder. Für Jiang Cheng war dies allein schon zu viel des Guten und er trat ein paar Schritte zurück, um die Beklommenheit über diesen merkwürdig intimen Moment abzuschütteln. Er wollte damit nichts zu tun haben. Endlose Minuten lang dauerte Lan Wangjis Behandlung mit dem Feuer, bis das Eis – zumindest optisch – komplett geschmolzen war. Jiang Chengs Vorgehensweise wäre schneller gewesen, aber vielleicht nicht ganz schmerzlos für Wei Wuxian. Dieser bewegte sich nicht und lag schlaff auf Lan Wangjis Schoß, der dazu überging, ihn mit spiritueller Energie zu versorgen. Jiang Cheng wurde ungeduldig. Er wippte mit dem Fuß, ohne wirklich nachvollziehen zu können, woher diese innere Unruhe stammte. Beinahe unbemerkt trat Lan Xichen an seine Seite. „Ich bin mir sicher, dass er wieder aufwachen wird“, sprach er Jiang Cheng gut zu. Lan Xichen einen verstörten Blick zuwerfend, gab Jiang Cheng ein abwertendes Schnaufen von sich, sagte jedoch nichts. Als würde er sich Sorgen machen! Abgesehen davon, dass er es nicht tat – er musste es auch nicht. Wenn man sich auf etwas verlassen konnte, dann auf die Zähheit Wei Wuxians. Als hätte er Lan Xichens Worte gehört, ertönte ein leises Raunen. Wei Wuxian bewegte verkrampft die Beine und schlug die Augen müde auf. „Wei Ying“, seufzte Lan Wangji erleichtert. „Beweg dich nicht zu viel. Dein Körper ist noch nicht ganz frei von Eis.“ „Lan Zhan…“, nuschelte Wei Wuxian und lächelte schwach, gegen das helle Licht der Sonne blinzelnd. „Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Du bist der Beste.“ Jiang Cheng drehte sich der Magen um und seine Selbstbeherrschung fiel endgültig in sich zusammen, als Lan Wangji sich hinab beugte, um Wei Wuxian leidenschaftlich zu küssen. Ruckartig wandte er den beiden den Rücken zu und fasste dabei eher zufällig Lan Xichen ins Visier. Dieser sah ebenfalls nicht hin, aber Jiang Cheng vermutete, dass er dies eher aus Rücksicht und Diskretion tat. „Ich gehe vor“, beschloss Jiang Cheng, der diese Atmosphäre nicht länger ertragen konnte. Er verspürte nicht das Bedürfnis, Wei Wuxian auf sich aufmerksam zu machen, doch kaum, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte, hielt ihn eine leise Stimme auf. „Jiang Cheng…“ Egal, was es war, er wollte es nicht hören. „Spar dir deinen Atem, Wei Wuxian“, fuhr er ihn unwirsch an. „Du verstehst die Situation vollkommen falsch, falls du denkst, dass ich gekommen bin, um dich zu retten.“ „Das habe ich nicht gedacht“, erwiderte Wei Wuxian ungewöhnlich ernst. „Gut“, sagte Jiang Cheng, um das letzte Wort zu haben und entfernte sich mit langsamen, würdevollen Schritten. Obwohl Jiang Cheng ein zügiges Tempo vorlegte, bemerkte er, dass jemand sich Mühe gab, ihn einzuholen. Aus den Augenwinkeln erkannte er Lan Xichen, der an seine Seite trat, jedoch nichts sagte und nur den Bergabstieg mit ihm begann. „Ihr wartet nicht auf Hanguan-jun?“, fragte Jiang Cheng nach einer Weile, bereute es aber schon im selben Moment. Eigentlich lag ihm nichts daran, ein Gespräch zu führen. Er wollte nur diesen Berg verlassen und nach Hause gehen, wo er sich weiteren Pflichten widmen musste. Dieser Ausflug dauerte schon viel zu lange. „Ich bin mir sicher, dass wir uns am Fuße des Berges wiedersehen werden“, meinte Lan Xichen zuversichtlich. „Ich wollte lieber Euch Gesellschaft leisten, Oberhaupt Jiang. Ihr ward eine überaus große Hilfe und ich stehe tief in Eurer Schuld.“ Jiang Cheng öffnete bereits den Mund, um Widerspruch einzulegen, denn auch wenn er normalerweise stolz auf seine Siege war, so konnte er den Kampf auf dem Frosthauch unmöglich als solchen verbuchen, aber Lan Xichen berührte sachte seinen Arm. „Bitte akzeptiert meinen Dank“, bat er, was Jiang Cheng den Wind aus den Segeln nahm. Es dauerte endlose Sekunden, bis Jiang Cheng verkrampft nickte und seine Proteste hinunterschluckte. Letzten Endes lag ihm nichts daran, einen so talentierten Kultivator wie Lan Xichen vor den Kopf zu stoßen. Er hatte sicher seine Gründe, um so darauf zu beharren – auch wenn selbst er sich manchmal irrte, denn als Jiang Cheng einen Blick über die Schulter warf, erkannte er, dass Lan Wangji sie fast eingeholt hatte, obwohl er Wei Wuxian und die Überreste des Fächers trug. „Wir sollten uns ein wenig ausruhen, wenn wir das Tal erreichen. Bitte akzeptiert auch meine Einladung zum Tee, Oberhaupt Jiang“, sagte Lan Xichen, fast so, als hätte er Jiang Chengs Gedanken, sich sofort auf den Rückweg nach Yunmeng zu machen, erraten. „Ich sollte nicht…“, lenkte er widerstrebend ein. „Ihr solltet Euch wenigstens aufwärmen“, beharrte Lan Xichen auf seinem Vorschlag, dem sich Jiang Cheng schließlich seufzend fügte. „Wie Ihr wünscht, Zewu-jun“, gab er nach, was im Normalfall sein Stolz nicht ertragen hätte. Es schien also, als wäre selbst dieser erschöpft und Lan Xichen Jiang Chengs Einschätzung seiner aktuellen Kräfte einen Schritt voraus. Selbst Jiang Cheng konnte nicht leugnen, dass er erleichtert war, das Gasthaus, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten, wiederzusehen. Der Raum, den sie betraten, war einladend gemütlich und versprach eine warme Mahlzeit und etwas zu trinken. Der Wirt wirkte völlig aus dem Häuschen, als er die großzügigen Herren wieder bei sich begrüßen durfte und gab ihnen abermals seinen besten Tisch. Das Einzige, worüber sich Jiang Cheng beschweren könnte, war die zusätzliche Gesellschaft Lan Wangjis und Wei Wuxians, doch seine müden Knochen sahen darüber hinweg, als er sich – zu seinem Leidwesen – Wei Wuxian gegenübersetzte und Lan Xichen den Platz neben ihm wählte. Die Eisspuren auf Wei Wuxians Körper waren mittlerweile verschwunden und der Wein, den Lan Wangji für ihn bestellt hatte, lockerte auch sein allerwichtigstes Körperteil – seine Zunge. „Jetzt möchte ich aber wissen, wie du es geschafft hast, mich aus dem Eis zu befreien“, wandte er sich an Lan Wangji. Die Neugier stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. „Feuer. Mächtiges Feuer“, sagte Lan Wangji. „Es war dein Vorschlag.“ „Aww, du bist zu bescheiden, Hanguan-jun. Wie hast du es aufgetrieben?“ „Es waren insgesamt dreiundzwanzig Talismane. Es war gerade genug, um die Leichenschar in Schach zu halten.“ Jiang Cheng lauschte der Erzählung Lan Wangjis, während er seinen grünen Tee trank und musste sich das Kopfschütteln verkneifen. Wei Wuxian hatte nicht gesehen, wie Lan Wangji auf der Bergspitze aufgetaucht und mit einer einzigen, kräftigen Bewegung seiner Arme eine Hölle aus Flammen heraufbeschworen hatte. Er war aber gewiss nicht die richtige Person, um ihn über den wahren Ablauf der Dinge zu informieren. „Aber… was war dieses Holzgerüst, das du dabei hattest und nicht auf dem Berg lassen wolltest, obwohl es völlig nutzlos erscheint?“, hakte Wei Wuxian nach, der schon immer einen guten Riecher für die Lücken in einer Geschichte gehabt hatte. „Ein… Fächer“, erwiderte Lan Wangji zögerlich. „Huh? Das war aber ein großer Fächer! Wo hast du ihn gefunden?“ Lan Wangji schwieg eine ganze Weile lang, senkte den Blick auf einen willkürlichen Punkt auf dem Tisch und mied es, seinen Bruder anzusehen. Diese Reaktion machte auch Jiang Cheng neugierig und er ließ seinen Teebecher sinken. „Er gehört dem Qinghe Nie Clan“, sagte Lan Wangji schließlich und eine beklemmende Stille legte sich über die vier versammelten Kultivatoren. Jeder von ihnen brauchte einen Moment, um die Bedeutung hinter diesen Worten zu verstehen und zu verarbeiten. Instinktiv huschte Jiang Chengs Blick in Lan Xichens Richtung, dessen Miene unleserlich war. Dennoch glaubte Jiang Cheng zu ahnen, dass es einem Schlag in den Magen gleichen musste, zu erfahren, dass der eigene Bruder Nie Huaisang um Hilfe gebeten hatte, um Wei Wuxian zu retten. Von allen Menschen auf dieser Welt, war es ausgerechnet er, der… Wei Wuxians ersticktes Lachen durchbrach die Stille. „Oi! Wei Wuxian!“, fuhr Jiang Cheng ihn schroff an, denn sein Lachanfall war äußerst unangebracht, wenn man Lan Xichens blassem Gesicht trauen konnte. „‘tschuldigung, ‘tschuldigung“, kicherte Wei Wuxian und wedelte mit der Hand. „Die Vorstellung von Lan Zhan, der das Unreine Reich stürmt und… bwahaha!! Lan Zhan, wie hast du den Kultivatoren-Anführer dazu gebracht, dir so einen großen Fächer zu geben, wo er sie doch so wertschätzt?“ Wieder schwieg Lan Wangji, doch dieses Mal presste er die Lippen fest aufeinander, als würde er die Antwort auf keinen Fall preisgeben wollen. Wei Wuxian lehnte sich zu ihm hinüber. „Komm schon, verrat es mir“, bettelte er und zupfte an Lan Wangjis Ärmel. „Biiiitte.“ Zittrig stieß Lan Wangji den Atem aus und versuchte die Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln nicht zu verlieren. „Ich habe Kultivatoren-Anführer Nie nicht gefragt.“ „Eh? Was? Aber du hattest doch seinen Fächer und…“ Wei Wuxian stockte, starrte Lan Wangji ungläubig an und brach wieder in schallendes Gelächter aus. Tränen funkelten in seinen Augenwinkeln und er klopfte überfordert mit der Faust gegen den Tisch, sodass das Geschirr klirrte. Hastig fischte Jiang Cheng seinen Becher vom Tisch, um ihn vor dem unkontrollierbarem Gemüt Wei Wuxians zu retten. „Ich glaube es nicht… das ist zu gut! Lan Zhan, sag es mir, hast du dich in das Unreine Reich geschlichen? Und den Fächer gestohlen?“ Lan Wangjis Wangen nahmen an Farbe zu, was Antwort genug war und dazu führte, dass Wei Wuxian abermals lachend zusammenklappte. „Ich habe es dir ja schon gesagt, aber du bist wirklich unanständig!“, krächzte er, die Stimme angeschlagen von der Überanstrengung seiner Stimmbänder. Lan Wangji warf ihm einen langen, bedeutungsschweren Blick zu, der Wei Wuxian nur heiter zum Grinsen brachte. Es war offensichtlich, dass ihm diese Seite an Lan Wangji gefiel. „Ich zeige dir später, wie unan –“, sprach Lan Wangji mit zurückgewonnener Fassung, wurde jedoch von dem lauten Geräusch eines auf den Tisch gehauenen Gegenstandes unterbrochen. Alle Köpfe wandten sich Jiang Cheng zu, der mit hochrotem Kopf dasaß und seinen Teebecher mehr als energisch abgestellt hatte. Die dampfende Brühe war über den Rand geschwappt und seine Finger nahmen eine ungesunde rote Färbung an, doch er achtete nicht auf die leichte Verbrennung. Er bebte vor Zurückhaltung und es kostete ihn all seine Willenskraft, sich zu erheben und dabei nichts kaputtzumachen. „Ich gehe“, verkündete er unwirsch. Dieses Mal wartete er nicht darauf, dass jemand die Gelegenheit hatte, ihn aufzuhalten. Trotz der körperlichen Erschöpfung, fand Jiang Cheng in dieser Nacht keine Ruhe. Das Zimmer, das er erhalten hatte, war völlig ausreichend und es gab nichts daran auszusetzen – dennoch fühlte er sich hier nicht wohl. Egal, wie oft er sich von einer Seite auf die andere drehte, der Schlaf blieb aus. Statt auf Mediation zurückzugreifen, richtete sich Jiang Cheng nach endlosen Stunden wieder auf und rieb sich die Schläfen. Es war sinnlos, sich noch weiter hier aufzuhalten, wenn er ohnehin nicht schlafen konnte. Zudem wurde er das Gefühl nicht los, dass es irgendwo an der Decke ein paar undichte Stellen gab, denn ihm waren bereits ein paar Mal Wassertropfen auf Gesicht und Bettwäsche gefallen. Die geltende Nachtruhe schien außerdem für die Zimmerbewohner direkt über ihm keine Regel zu sein, an die man sich halten musste. Die Geräusche, die Jiang Cheng vernahm, waren stumpf und nicht der Rede wert, aber vor wenigen Minuten hatte er ein deutlich hörbares Krachen vernommen. Danach war es ruhiger geworden. Genervt erhob er sich vom Bett und griff nach seinem Schwert. Er vergeudete hier nur seine Zeit. Wenige Minuten später schloss er bereits die Tür hinter sich, fischte ein paar Goldmünzen aus seinem Beutel, um diese dem Wirt auf die Lade zu legen und wollte sich anschließend auf den Weg nach Hause begeben, doch Jiang Cheng erstarrte in der Bewegung, als er inmitten der dunklen Schenke eine Gestalt an einem der Tische sitzen sah. Da sämtliche Lichter gelöscht waren, wirkte sie wie ein Geist. Auch, als Jiang Cheng erkannte, um wen es sich handelte, kam ihm dieser Vergleich nicht falsch vor. Allein das durchs Fenster fallende Mondlicht beleuchtete einige der Tische, unter anderem auch den, an dem Lan Xichen saß. Unschlüssig stand er da. Lan Xichen wirkte tief in Gedanken versunken, weshalb er ihn eigentlich nicht stören wollte, aber Jiang Cheng hatte sich nicht besonders leise verhalten, als er ins Erdgeschoss gekommen war, weshalb er sich sicher war, dass man seine Anwesenheit längst bemerkt hatte. Es sah ihm nicht ähnlich, so lange zu zögern. Er war ein Mann der Taten. „Könnt Ihr nicht schlafen?“, sprach er Lan Xichen an und schlenderte zu ihm hinüber. Als Lan Xichen Augenkontakt herstellte, überraschte es Jiang Cheng ein wenig, dass er nicht halb so bedrückt aussah, wie er vermutet hatte. Im trüben Licht wirkte er höchstens ein wenig melancholisch. „Dasselbe könnte ich Euch fragen“, erwiderte Lan Xichen behutsam und lud Jiang Cheng mit einer geschmeidigen Handgeste dazu ein, sich zu ihm zu setzen. „Ich breche auf“, stellte Jiang Cheng klar. Er hielt es für wichtig, dies zu erwähnen. „Ah. Ich verstehe. Ich möchte Euch nicht aufhalten“, sagte Lan Xichen nachsichtig, doch Jiang Cheng folgte einem Impuls und setzte sich dennoch zu ihm. „Der junge Meister Wei wird betrübt sein, keine Gelegenheit gehabt zu haben, sich bei Euch zu bedanken.“ „Hmpf. Ich brauche seinen Dank nicht. Außerdem hat er sonst auch keinerlei Manieren, was würde dieser Dank schon ändern? Er hat Euch beleidigt.“ „Ihr seid nicht verantwortlich für seine Worte, Oberhaupt Jiang“, besänftigte Lan Xichen und erinnerte Jiang Cheng daran, dass die Zeiten, in denen er sich für Wei Wuxians Verhalten entschuldigen musste, vorbei waren. Einen Sekundenbruchteil lag war er in alte Verhaltensmuster verfallen. Peinlich berührt sah er zur Seite. „Aber falls Ihr es wissen wollt – nein, er hat mich nicht beleidigt. Ich war nur… überrascht. Das ist alles.“ „Ich sage es immer wieder. Er hat nie etwas von Taktgefühl verstanden“, schnaufte Jiang Cheng. „Derjenige, der so gehandelt hat, war Wangji“, korrigierte Lan Xichen und seufzte leise. „Ich bin mir jedoch sicher, dass er selbst eine entsprechende Strafe finden und für den verbrannten Fächer aufkommen wird.“ Auch Jiang Cheng zweifelte nicht daran, doch ein winziger Teil von ihm verspürte bei der Vorstellung von Nie Huaisangs schockiertem Gesicht so etwas wie bittere Genugtuung. Auch wenn er nicht komplett im Bild war, hatte Wei Wuxian vor Monaten, als sie sich zufällig in Lanling über den Weg gelaufen waren, ein paar Dinge über Nie Huaisang erzählt, die Jiang Cheng als Wahnvorstellungen abgestempelt hatte. Doch zusammen mit der Tatsache, dass Lan Xichen sich zurückgezogen hatte und den Gerüchten, die sich unabhängig von Wei Wuxians Meinung verbreiteten… Es stand ihm nicht zu, zu fragen. Außerdem hatte Jiang Cheng den Eindruck, als würde er nur lange genug in Lan Xichens Augen blicken müssen, um den in ihnen schwimmenden Schmerz greifen zu können. Er war verschleiert, versteckt – und genau deshalb schien er den einst so starken Mann innerlich zu zerfressen. Dieses Gefühl war ihm wohl bekannt. „Wie geht es nun für Euch weiter, Zewu-jun?“, fragte Jiang Cheng leise. Selbst dies erschien ihm wie das Überschreiten einer Grenze zu sein, von der er sich fernhalten sollte. „Ihr wollt wissen, ob ich mich wieder zurückziehe, nicht wahr?“, wollte sich Lan Xichen vergewissern. Obwohl es ihm unangenehm war, nickte Jiang Cheng. „Nein“, antwortete Lan Xichen viel simpler, als er angenommen hatte. „Es war keine einfache Entscheidung, sich der Welt wieder zu stellen, die Buße und Trauer zu beenden. Ich bin mir sicher, es wird noch eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe. Doch ich bin wieder bereit, der Zukunft entgegenzublicken und werde meine Pflichten nicht länger vernachlässigen. In Anbetracht dessen, Oberhaupt Jiang, habe ich eine Frage an Euch. Vielleicht ist es auch eine Bitte.“ Überrumpelt von der Offenheit, mit der ihm Lan Xichen begegnete, konnte Jiang Cheng nichts anderes tun, als ihn lediglich anzustarren. „Ich würde Euch gerne begleiten, wenn Ihr mich lasst. Der Sinn der Rückkehr aus der Abschottung ist es nicht, weiterhin allein zu sein. Außerdem würde es mir eine Menge bedeuten, wenn Ihr mir abermals… zur Hand gehen würdet.“ Lan Xichen streckte seine Arme vor dem Körper aus und verbeugte sich. Die Situation war so absurd, dass Jiang Cheng seinen Ohren kaum traute. „Was… was meint Ihr?“, presste er verwirrt hervor. Unwillkürlich dachte er bei Lan Xichens Wortwahl an seine überaus peinliche Aktion, als sie den Berg hochgestiegen waren und schluckte schwer. „Nun, die Angelegenheit ist für die Dorfbewohner noch immer nicht geklärt, aber nach dem Gespräch mit Wangji und dem jungen Meister Wei, bin ich mir recht sicher, dass der Nebel die Kraftquelle der wilden Leichen war. Und gleichzeitig hat sich der Nebel von der Energie der Leichen ernährt. Es war ein Geben und Nehmen, eine perfekte Symbiose, welche nun aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ich würde mich gerne vergewissern, dass wir alle bösartigen Kreaturen vertrieben haben, sodass sich der Nebel wieder von allein klären kann – und anschließend nichts weiter als ein simples Wetterphänomen bleibt.“ Etwas zog sich beklemmend in Jiang Chengs Brust zusammen. Wieso war er davon ausgegangen, dass Lan Xichen seine Aussage wörtlich meinte? Zudem hatte er völlig verdrängt, dass das Problem der merkwürdigen Vorkommnisse noch nicht ganz aus der Welt geschafft war. Sie hatten nur einen Teil ihrer eigentlichen Arbeit erledigt. Dabei hatte er die ganze Zeit darauf gepocht, dass er nicht gekommen war, um Wei Wuxian aus der Patsche zu helfen! „Und danach?“, fragte er hastig, damit man ihm die Gedanken nicht an der Mimik ablesen konnte. „Danach… werden wir sehen. Vielleicht führt auch danach unser Weg in dieselbe Richtung.“ Wieder zog sich etwas ungewohnt in Jiang Cheng zusammen, dieses Mal deutlich auf der linken Seite seiner Brust. „Es… es wäre mir eine Freude.“ Jiang Cheng war es tatsächlich eine Ehre, von Lan Xichen begleitet zu werden. Er würde nie erfahren, dass er statt Ehre »Freude« gesagt hatte, denn dies war nun eins der Geheimnisse hinter Lan Xichens sanftem Lächeln, welches zum ersten Mal seit einer langen, langen Zeit sein Gesicht erhellte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)