Die andere Seite des Monds von Augurey ================================================================================ Prolog: -------- „Überleg es dir“ Die Worte, dahin geflüstert von einer ruhigen Stimme, schweben im Raum. Ein Hauch nur, bald schon zerstoben, aber noch wahrnehmbar. Ein Nachklang wie das altvertraute Echo in den heimischen Kellerfluchten. Derjenige, der sie ausgesprochen hat, ist gegangen. Nahezu unbemerkt, in den Schutz der Schatten gehüllt, die das Kerkerlabor stets erfüllen. Nicht lautlos allerdings, das nicht. Ein deutliches Klacken war ertönt, als die Türe ins Schloss fiel. Doch selbst der lauteste Ton bleibt ungehört, wenn er auf Ohren trifft, die willentlich verschlossen sind. Zu spät blickt Severus auf. Erst als die Brise frische Luft, die einen Wimpernschlag zuvor durch den Türspalt hereinwehte, seine feine Nase kitzelt. Durch die Dunstschleier, die vom Zaubertrankkessel aufsteigen, fällt sein Blick ins Leere. Nicht einmal verschwommen regt sich irgendwo noch die Gestalt, die doch wenige Augenblicke zuvor noch um seinen Kessel her schritt wie ein überneugieriger Lehrer. Die einen Redeschwall auf ihn niederprasseln ließ wie ein Schüler auf Plappertrank. Der Hocker ist fein säuberlich zurück vor das Kesselregal geschoben. Die Schlammkrusten der Spuren auf dem Boden getrocknet. Nichts ist von seinem Besucher geblieben. Nichts außer diesen drei Worten. Diesen Worten, die ihn treffen wie Nadelspitzen einen Nerv.   Überleg es dir Gibt es denn irgendetwas zu überlegen? Severus schließt die Augen, versucht sich gleichsam dem Stechen zu verschließen. In der Tiefe des Zaubertrankkessels brodelt es gefährlich auf. Mit einem entnervten Schnauben reißt der Tränkemeister die Lider wieder auf, zieht den Zauberstab, drosselt die Temperatur. Es ist ungewöhnlich heiß im Kerker. Das Feuer mischt sich mit der Glut eines außerordentlich milden Frühlingstags. Wärme pulsiert durch Severus‘ Glieder, treibt ihm den Schweiß auf  die Stirn. Oder ist es die Angst vor der Antwort? Die Antwort, die er weniger sucht als er ihr flieht, weil sie ihm längst zentnerschwer auf der Zunge liegt? Gedankenbenommen blickt Severus in den Kessel, in die undurchdringliche Tiefe des dunklen Gebräus. Vor einem halben Jahr noch wäre sie federleicht gewesen. Damals, im Herbst, hätte er seinen Gast vor die Tür gesetzt, ehe dieser auch nur die Lippen auseinanderbekommen hätte. Ein Lächeln kräuselt Severus‘ Lippen. Er hat ihn vor die Tür gesetzt. Hat ihn achtkant rausgeworfen, als ihm sein Gefasel vom Vergessen der Vergangenheit in den Ohren schmerzte. Hat ihm den Zaubertrank absichtlich versauert und mit süßer Genugtuung sein angewidertes Gesicht beobachtet. Damals, als Severus ihn noch Werwolf nannte, ausgeschmückt mit wechselnden Beleidigungen. Damals… Das Lächeln auf Severus Lippen gefriert. Die Wärme in seinen Gliedern aber, die bleibt. Sie lässt einen Kloß in seiner Kehle anschwellen, der beim Herunterschlucken ein seltsam flaues, seltsam leichtes Gefühl in der Magengrube auslöst und geht dann in ein Zittern über. Nein, er braucht sich nichts vorzumachen. Weder die Flammen unter dem Kessel noch die Frühlingsglut vor dem Schloss tragen Schuld an diesem Wechselbad der Empfindungen. Noch kann Severus sie spüren, wenn auch nur leicht. Die Druckstelle auf seiner Schulter. Dort, wo seine Hand gelegt hat. Weich und heiß. Zu heiß, siedend. Vor wenigen Minuten erst. Und doch ist sie inzwischen ausgekühlt. Lauwarm allenfalls noch. Und schwer, schmerzvoll schwer. So schwer wie Verrat. Wie das Brechen eines Schwurs, den man einst grünen Augen geleistet hat. Ein Versprechen, das für die Ewigkeit besiegelt worden war. Wütend, wütend auf sich löscht Severus das Feuer und lässt mit einem jähen Schlenker seines Zauberstabs und einem stummen Evanesco den Sud verschwinden. Der Trank war eh verdorben unter der Hitze. Verdorben wie  der Inhalt seines Magens, der Severus inzwischen schmerzt. Matt und verwirrt lässt er sich auf den Schemel fallen, krallt die Hände ins fettige Haar. Zerrt an den schwarzen Strähnen, als wollte er sich die unerwünschten Gedanken aus dem Kopf reißen. Warum zum Teufel vermisst er diese Wärme auf seiner Schulter? Diese Wärme, die er eigentlich hassen sollte?  Warum drehen sich all seine Gedanken um diesen Kerl, der sein Feind war und nun ein Freund geworden ist. Nein, mehr als ein Freund. Etwas… Unaussprechliches. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hoffentlich nicht. Doch Severus kennt auf diese Frage keine Antwort. Plötzlich blickt er wieder auf, als hätte jemand seinen Namen gesagt oder ihm die Lösung zugerufen. Überleg es dir, schallt es aus allen Ecken. Die Worte sind nicht zerstoben. Sie halten länger als gedacht, prasseln auf Severus ein. Unsicher lässt er seinen Blick durch den Raum schweifen bis schließlich die Türe in sein Blickfeld tritt. Die Türe! Durch diese Tür ist er gegangen: Remus Lupin. Durch diese Tür könnte Severus ihm folgen. Noch fällt ein wenig Licht unter dem Schlitz hindurch in den Raum wie von einem hell erleuchteten Zauberstab. Doch die Kerkerdunkelheit beginnt schon, den Schein zu verschlucken. Ein Hoffnungslicht, das in seiner selbstgeschaffenen Finsternis verglimmt… oder das vielleicht erst jetzt zu wachsen beginnen wird? Schwindelnd atmet Severus ein, dann ergibt er sich. Ergibt sich den Rufen und überlegt. Überlegt wie das alles eigentlich begonnen hat… Kapitel 1: Ein Tag im August ---------------------------- Der dreiundzwanzigste August war einer jener Sommertage, der Wellvordächer in Backbleche verwandelte, Küchenkräuter in ihren Kübeln röstete und jedem das Gefühl gab, in einem Ofen zu schmoren. Doch es war nicht die schwüle Hitze, die sich in den Gassen von London staute, die Severus in diesem Moment ins Schwitzen brachte. Eine angenehme Kühle empfing ihn, kaum dass die grünen Flammen um ihn erloschen und er die Nokturngasse betrat. Er bevorzugte diesen Zugang zum Zentrum Londons, den öffentlichen Kamin an der Ecke Kelpmoorplatz. In dem schmalen, verwinkelten Durchgang zwischen den dicht gereihten Häusern fiel kein Sonnenstrahl, nicht einmal an einem Tag wie diesem. Die Nokturngasse erinnerte ihn an die dunkle, karge Abgeschiedenheit seiner Kerkerräume und dieses heimische Gefühl war das Einzige, das ihn gerade davon abhielt, dem Nächstbesten einen Crutiatus auf den Hals zu jagen oder ihn zumindest ziemlich grob zur Seite zu stoßen. Seine Schläfe pochte und wie ein Hohn darauf schlug das Buch in der ledernen Umhängetasche im Takt dazu gegen seine Seite - immer heftiger je schneller er den Weg hinauf rauschte, zielstrebig auf die Winkelgasse zu. Aus den Schatten der Hausflure schienen ihm hier und da Augenpaare nachzuschauen, doch die Blicke der Sabberhexen, Gauner und anderen Gesindels flogen an Severus vorüber. Er hatte nur ein Gesicht vor Augen. Ein Gesicht mit durchdringend blauen Augen hinter einer Halbmondbrille und einem langen, silbernen Bart. Einem Bart, in dem sich Lippen bewegte, um zwei Worte zu formen. Und diese zwei Worte waren es, die Severus die Glut in die Adern trieben; die wie ein Echo von jeder Hauswand auf ihn einschrien; die Gift und Galle in seinem Magen brodeln ließen, so dass er schäumend ausspuckte. Diese zwei Worte waren ‚Remus Lupin‘. Die Sonne blendete ihn, als Severus den schattigen Pfad hinter sich ließ und hinaus auf die Winkelgasse trat. Als seine Augen sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fand er sich im üblichen Trubel des Nachmittags wieder. Hexen mit Einkaufskörben flanierten auf dem Pflaster, Zauberer mit Ziehtaschen studierten die Auslagen der Schaufenster und irgendwo hastete ein Crup an einer langen Leine einer Gestalt in weitem Umhang hinterher. Als sich das Gedränge für einen Augenblick lichtete, fiel Severus‘ Blick auf die Litfaßsäule auf der gegenüberliegenden Seite. Und von dort, über den Köpfen der Menschen, starrte er auf ihn herab. Mit irrem Blick und wirrem Haar, sich in den Ketten windend, die ihn eigentlich bindend sollten, geifernd nach Verbrechen: Sirius Black, der Mörder, der er schon in ihrer Schulzeit gewesen war. Severus biss die Zähne zusammen, als er das Fahndungsplakat musterte. Dann atmete er in einem Stoß aus. ‚Zum Teufel‘, keuchte er, wandte sich ab und setze seinen Weg fort. Mit jedem energischen Schritt trat er die Worte Remus Lupin mehr und mehr in den Staub, bis sie röchelnd und kläglich zu seinen Füßen ersticken würden. Was bei Merlins Bart hatte sich Albus eigentlich dabei gedacht, gerade ihn als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste einzustellen?! Oh ja, Severus wusste den Grund sehr wohl. „Unter der gegebenen Gefahr sollten die Schüler von Hogwarts von einem fähigeren Lehrer unterrichtet werden als in den letzten Jahren“, säuselte die Stimme des Schulleiters noch immer in seinen Ohren. Dass gerade Remus Lupin einer der besten Freunde des entflohenen Mörders gewesen war, hatte der feine Herr natürlich nicht bedacht. Oder besser gesagt: nicht bedenken wollen. Sonst hätte er Severus‘ Warnung, die er überhaupt erst nach einem Moment des Schocks über die Lippen gebracht hatte, nicht einfach in den Wind geschlagen. Genauso wenig wie die Sorgen um das kleine Zipperlein, das den ach so geeigneten Kandidaten für die freigewordene Lehrerstelle in Vollmondnächten plagte. „Deswegen wollte ich dich sprechen, Severus, setz dich doch. Ich habe noch einmal deine Personalakte durchgesehen und denke, es gibt eine Lösung“ Jawohl, eine Lösung. Eine Lösung, die er ausbaden durfte! Er, der den dreckigen Werwolf am liebsten eigenhändig zu seinem Komplizen in die Zelle von Askaban geworfen hätte, wo sie seiner Meinung nach beide hingehören und seit einigen Wochen beide nicht mehr waren. Dass Dumbledore Lupin stattdessen nach Hogwarts holte, schmerzte Severus als wäre ihm ein Stachel ins Herz getrieben worden. Nicht nur, weil der Schulleiter ihm dadurch selbst Steine in den Weg legte, was Potters Schutz betraf. Es war die Vergangenheit, die noch immer brannte wie eine frische Wunde. Albus Dumbledore war der Mensch, der ihm von allen Lebenden am meisten bedeutete; der einzige, der um sein Geheimnis wusste. Er war sein Verbündetet, sein Mentor, sein Vertrauter. Und nun schien gerade er alles vergessen zu haben, was Black und Lupin und der Rest dieses aus giftiger Saat gewachsenen Kleeblatts ihm in seiner Schulzeit angetan hatten. Die einzige grimmige Genugtuung, die Severus blieb, war das Wissen darum, dass die vier sich gegenseitig ans Messer geliefert und den Garaus gemacht hatten. Und mit diesem Gedanken betrat er die Apotheke. Zwischen den Fässern, aus denen Drachenleber quoll, den Säcken voll getrockneter Käferaugen und den eingelegten Schlangen und Würmern in den Regalen, blickten ihn hinter der Theke heute nicht die alten, grauen Augen des Ladenbesitzers an, sondern zwei große, braune in einem jugendlichen Gesicht. Gullinera Jorkins, die Gehilfin, hatte vor vier Jahren ihren Abschluss an Hogwarts gemacht und es trotz ihrer leidlich durchschnittlichen Begabung für Zaubertränke irgendwie geschafft, hier als Lehrmädchen eingestellt zu werden. „Oh, Mister Snape, wieder etwas für Ihre Studien?“, begrüßte sie ihn freundlich und Severus runzelte kurz die Stirn. Sie musste eine ebenso große Dilettantin sein wie ihre Tante, eine alte Schulkameradin, wenn ihr Chef ihr noch nicht einmal die eingehenden Briefe anvertraute. Er hatte seine Eule schon vor drei Tagen losgeschickt. „Nein, ich bin im Auftrag Hogwarts‘ hier. Die Schule benötigt einige Zutaten. Ich hatte unter anderem eine Bestellung für Jobberknollfedern aufgegeben“, erklärte Severus gerade als auch schon ein Schatten im Durchgang zu den Lagerräumen erschien und Mr Mullpepper zu ihnen stießen. „Jobberknollfedern? Ja, heute früh kam ne Lieferung rein. Kommen Sie!“ Mr Mullpepper trat zur Seite, um Severus Platz zu machen und führte ihn in ein Nebenzimmer, wo unter vielen anderen auch ein voller Sack bläulicher Federn stand. In gewissenhafter Gewohnheit nahm Severus eine der Federn in die Hand und ließ sie durch seine Finger gleiten. Die Fasern waren flexibel, kehrten schnell in ihre ursprüngliche Form zurück, was ebenso wie die feine Maserung für den gepflegten Zustand der Tiere sprach. Doch eine Sache stimmte nicht. Severus spürte es an seinen Fingerkuppen. Der Weichheitsgrad der Federn war einen Ticken zu gering. Verärgert wischte er die Feder von seiner Hand und blickte Mr Mullpepper zornfunkelnd an. „Sechs Monate! Ich brauche Federn von maximal sechs Monate alten Jungvögeln. Das hier sind Federn von ausgewachsenen Weibchen, die schon einmal gebrütet haben!“ Der Apotheker starrte ihn verdutzt an. Seine Lippen zuckten kurz, doch er schwieg. Im Türrahmen erschien Gullinera Jorkins und machte ein dummes Gesicht, während ihre Blicke neugierig zu Severus wanderten. „Morgen früh“, sagte er knapp ehe Mr Mullpepper seine Sprache wiederfand, „Keinen Tag länger. Sie wissen, ich bin Ihr bester Kunde. Doch glauben Sie nicht, dass es nicht noch andere Quellen gäbe. Ich brauche noch weitere Zutaten. Hoffentlich haben Sie wenigstens diese vorrätig.“ Er zog das Buch aus seiner Tasche und schlug die Seite auf - er erstellte zum Einkaufen nie Abschriften oder magische Kopien eines neuen Zaubertranks, denn diese konnten fehlerhaft sein – und las dem Apotheker vor, was er benötigte. Eine Viertelstunde später stand Severus wieder in der Sommerglut auf der Gasse. Wunderbar! Wahrlich wunderbar, wie das alles anfing! Sollte es so weitergehen, würde das ein heiteres Jahr werden. Bei jedem anderen Zaubertrank war das Alter der Jobberknolls recht egal, es kam nur auf die Qualität des Materials an. Doch dieses Gebräu hatte so einige Tücken. Zum Glück brauchte Severus die Federn noch nicht heute. Mürrisch stapfte er weiter zu Potages Kesselladen und nahm das Rührlöffelregal in Augenschein. Es war schon lange her, dass er einen dreifach drachenfeuergehärteten Grünsilberlöffel mit Mondsteinkern verwendet hatte. Sein alter war einer Reihe Schädlinge zum Opfer gefallen. Weil er das Regal wohl etwas zu lange skeptisch mustere, kam der Verkäufer auf ihn zu und wies ihn auf die selbstumrührenden Kessel hin, die gerade im Angebot waren. Selbstumrührende Kessel, Billigprodukte für die unfähige Masse - das ideale Mittel, jeden Trank tödlich zu verderben, wortwörtlich. Für einen Moment lächelte Severus böse in hinein. Vielleicht sollte er tatsächlich einen kaufen? Immerhin könnte der werte Schulleiter das Ableben seines neues Lieblingsangestellten dann nicht ihm in die Schuhe schieben. Er hatte nur seine Pflicht erfüllt. Was konnte er dafür, dass der Zaubertrank zu komplex für voreingestellte Drehmuster war? Sich noch in seinen Fantasien ergehend begab sich Severus zur Kasse und bezahlte schlussendlich doch nur den neuen Rührlöffel. Der Gedanke an Rache schmeckte zwar süßer als jedes klebrige Zitronendrop, doch Gedankenspiel war Gedankenspiel. Die Abendsonne versank bereits rotglühend hintern den Wipfeln des Verbotenen Waldes, als Severus nach dem Abendessen in der nahezu leeren Großen Halle die Treppe zu den Kerkern hinabstieg, den Zauberstab zog und sein Büro betrat. Gewöhnlich verbrachte er die Sommerferien in seinem Elternhaus in Cokeworth, doch in der heruntergekommenen Bude in Spinner’s End gab es kein Labor und kein Zutatenlager. Betrübt blieb Severus einen Moment vor den Regalen stehen, musterte das Arsenal und rief auf, was ihm noch fehlte. Seine Wut war verraucht, war von ihm abgefallen wie die Haut einer Schlange, sobald er die Schwelle zu seinen Heiligen Hallen übertreten hatte. Was blieb, war der klägliche Rauch der Verzweiflung. Seine Gefühle herunterschluckend nahm Severus die Tür zu seinen Privaträumen, passierte das schlafende Porträt des Goldlockenschönlings, das irgendeine Vorgängerin mit einem Dauerklebefluch im Flur befestigt hatte und betrat den Nebenraum zu seinem Schlafzimmer. Blank geputzte und glänzend polierte Kessel reihten sich in den Regalen. Die Feuerstelle, die während Schuljahres meist vor Ruß stak, war von den Hauselfen sauber gescheuert worden. Alles wirkte ordentlich, aufgeräumt, unbenutzt. Und Severus fühlte sich mit einem Mal fremd in seiner eigenen Domäne. Schnell lud er die Zutaten auf den Arbeitstisch und begann sich ans Werk zu machen, rieb die Knisterperlbeeren vorsichtig mit einem Schnappseidenraupentuch ab, bis ihre Schalen gläsern wurden und sie zu knistern begannen; bereitete den Wolfswurz vor und spannte eines der Netze der Nachtmoorspinne locker über eine runde Haltevorrichtung, setzte den Glaszylinder auf und ließ aus einer Flasche blauen Rauch einströmen. Wieder huschte ein leises Lächeln über seine Lippen. Eine weitere Tücke dieses Rezepts. Die meisten Tränkebrauer wussten nichts von der Wirkung, welche die Ausdünstungen der Blaumorchel auf Nachtmoorgespinste hatte. Und die, die es wussten, spannten sie viel zu fest. Die Netze mussten im Blaurauch schwingen, um sie anzuregen, ihre Energie freizusetzen, die zwischen den Spinnenfäden zirkulierte. Von deren Höhe würde später abhängen wie hoch der Grad des menschlichen Bewusstseins war, den jemand in Wolfsform beibehalten konnte. Die Energie eines zu fest gespannten Nachtmoornetzes versetzte einen in einem Dämmerzustand wie nach einem Verwechselungszauber oder bei großer Übermüdung und die eines unbehandelten reichte nicht einmal aus, um die Wandlung überhaupt zu durchbrechen. Und natürlich verlor Belby kein Wort über den Blaurauch. Er schrieb nicht für die Masse an Dilettanten in diesem Gewerbe... Für einen Augenblick hielt Severus in seiner Arbeit inne und beobachtete das Netz, das sich im blauen Rauch leicht hob und senkte. Ein Teil von ihm bereute es fast, dass er vor einem halben Jahr die Prüfung vor der Zaubertränkekammer abgelegt und bei einer Durchfallquote von 90% bestanden hatte. Hätte er kein Zertifikat erworben, das ihm erlaubte, den Wolfsbanntrank zu brauen und zu verkaufen, vielleicht hätte Dumbledore diesen verlausten Werwolf nicht nach Hogwarts geholt. Ein Lehrer, der stets von irgendwem gesucht wurde, war von Madam Pomfrey schwerer heimlich zur Peitschenden Weise zu bringen als irgendein Schüler. Wie es wohl sein würde, ihm wieder gegenüber zu stehen? In diese Visage zu blicken, die so oft irgendwo am Rande auftauchte, wenn Potter und Black ihn traktierten? Vorsichtig träufelte Severus den Saft der Knisterperlen in den Wolfswurzaufguss, der zu brodeln begonnen hatte. Und wie die Bläschen vom Kesselboden stiegen auch die Erinnerungen wieder auf. Erinnerungen an sieben harte Schuljahre. An Zauber, die ihm mitten auf dem Flur in den Rücken trafen und das schallende Gelächter mehrerer Jungen. An das Warten in schattigen Winkeln und das Gefühl von Triumpf, wenn die gleichen Jungen nichtsahnend aus dem Klassenzimmer kamen und er ihnen alles heimzahlen konnte. Und plötzlich, in all dem Tumult, rote Haare und ein warmes Lächeln. Lily! Ruckartig amtete Severus ein, riss den Blick vom Kessel los. Sein Herz schlug für eine Sekunde heftiger, dann war alles wieder ruhig. Es war nur ein Moment, schon vorüber. Er stand in seinem Labor und die Erinnerungen waren nicht mehr als fahle Abbilder einer längst vergangenen Zeit. Er durfte nicht an sie denken. Es würde ihm wie jedes Mal den Schlaf rauben und er brauchte morgen einen wachen Geist, um seiner Pflicht nachzukommen. Und doch fühlte Severus auf einmal eine unendliche Leere in sich. Kein Mensch außer ihm war hier und bis auf das Brodeln des Kessels herrschte Totenstille im Labor. Die Einsamkeit lastete schwer, drückte einen nieder wie der Smog in Cokeworth, nahe der Fabrik. Wie oft hatten sie zusammen Zaubertränke gebraut? Unzählbar! Severus seufzte und setzte trotz des Steins, der ihm auf die Brust drückte, seine Arbeit fort. Eine Stunde später, vielleicht waren es auch zwei, nahm er das Gespinst aus der Vorrichtung und legte es vorsichtig auf den inzwischen abkühlenden Trank. Mit dem Zahn einer Baumschlange stach er in jeden Knotenpunkt der zwölf Speichen des Netzes, beobachtete wie sich an den Einstichpunkten Wirbel bildeten und das Netz blaue Funken sprühend in den Wogen versank. Als die Oberfläche sich geglättet hatte, stellte Severus den Kessel beiseite. Der Vortrank war fertig und musste bis zum Morgengrauen ziehen. Der aufgestauten Hitze und drückenden Einsamkeit in seinen Räumen entfliehend machte sich Severus noch einmal auf den Weg über die Treppen und durchs große Portal hinaus ins Freie. Die Nachtluft war mild und er atmete tief ein, um seinen Geist zu klären. Zum Glück musste der Wolfsbanntrank in einer Neumondnacht angesetzt werden. Als vor zwei Wochen der Mond in vollem Licht am Himmel stand, hatte er kein Auge zubekommen. Geisterhaft waren die Bilder durch sein Bewusstsein geschwirrt. Das Haus in Godric’s Hollow, der Vollmond, die Kürbisgeister, der Angstschweiß und das Herzrasen, als er an Potters Leiche vorbei nach oben stürmte. Und der Anblick, der sich so tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, dass es seinen Verstand verglühte. Die roten Haare, die sich über den Boden breiteten und alles, alles in ihm zum Einsturz brachten. Noch einmal atmete Severus tief durch. Dann kehrte er um, tauschte im Schlafzimmer die Robe gegen das Nachthemd und warf sich auf das Kissen, unter dem in einem Briefkuvert eine rote Locke lag. Stockwerke über ihm, über die Zinnen des Astronomieturms, spannte sich ein mondloser Himmel bis ins ferne Abessinien… Kapitel 2: Ein unverhoffter Brief --------------------------------- Sanft ging ein Prasseln über das Zelt und der Sommerwind trug den Duft feuchter, warmer Erde zum Eingang herein. Die Hochebene lag unter einem leichten Regen. Und mit einem Mal fühlte Remus etwas Feuchtes an seiner Wange. Sofort legte er das alte Buch beiseite und sah nach oben. In der Plane war ein kleiner Riss aufgesprungen. Ein leises Seufzen ging durch den Raum, dann zog Remus den Zauberstab. „Reparo!“, murmelte er und beobachtete, wie das Loch sich schloss. Lange würde es nicht halten. Das Zelt, ein Erbstück, hatte seine Zeit überlebt wie eigentlich alles, das er besaß. Still legte Remus den Zauberstab beiseite und warf einen Blick hinaus in die Nacht. Die Schrumpelfeigenbäume bildeten eine schwarze Schemenwand vor dem düsteren Horizont, der nur von den Lichtern des fernen Dorfs etwas erhellt wurde. Irgendwo in der Dunkelheit blökten die Schafe auf ihrer Weide als der Regen ihre Wolle durchnässte. Im Lager selbst war alles still. Ein klammes Gefühl zog Remus‘ Brust zusammen, während Motten die Petroleumlampe neben ihm umschwirrten. Diese nächtliche Einsamkeit war ihm ebenso willkommen wie sie ihn mit Schwermut erfüllte. So fern der Heimat fühlte er sich stärker als in jenem abgelegenen Haus seiner Eltern gänzlich allein. Und doch war der Sommer eine gute Zeit. Die Kisten, die sich unsichtbar im Dunkeln am Zaun um das Areal stapelten, verrieten es: Es gab Arbeit für ihn. Legale Arbeit. Sicher, sie brachte nur einen Hungerlohn ein. Doch er hatte beschlossen, jeden einzelnen Knut zu sparen, um sich nicht noch einmal in krumme Geschäfte verwickeln zu lassen. Wer wusste schon, ob der Silberstreif, der sich am Horizont abzeichnete, tatsächlich Wirklichkeit werden würde? Der letzte Winter jedenfalls war hart gewesen. Überall war Remus auf verschlossene Türen gestoßen, wie schon so oft und keiner wollte ihn auch nur für die Arbeit eines Hauselfen entlohnen. Doch bei einem Erntehelfer scherte sich niemand um einen Eintrag im Werwolfsregister oder all jene namenlosen dunklen Geheimnisse, die ein Mensch mit sich herumtragen konnte. Dass die Schwägerin des Plantagenbesitzers immer nur nachts zu ihnen heraufkam, um nach dem Rechten zu sehen und außerdem ihre Schafe mit blutbildendem Trank fütterte, sprach Bände. Zudem war diese Gegend nur spärlich besiedelt. Wenige, vereinzelte Dörfer gab es hier und sonst nur unberührte Weiten. Weiten, die es erlaubten, eine Vollmondnacht auf der Hochebene umher zu streifen, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen.  Ein Stich ging Remus durchs Herz und zeitgleich durch die Seite, als er einen Blick zurück zum Tisch warf, wo eine der Motten gerade über einen Briefumschlag mit italienischem Absender krabbelte. Nicht überall war die Natur so weit und so verlassen wie hier in Abessinien… Niedergeschlagen wollte Remus seine Gedanken schon wieder in seiner Lektüre zerstreuen, als ihn plötzlich etwas aufmerken ließ. Blitzschnell fasste er den Zauberstab erneut und schärfte den Blick. Doch noch ehe er etwas im Dunkeln erspähen konnte, hörte er es. Der Ruf einer Eule schallte durch die Nacht zu ihm herüber. Tief ausatmend ließ Remus den Zauberstab sinken und trat zum Zelteingang, um den Postboten zu begrüßen. In den letzten Tagen hatte es einige Zwischenfälle mit einer Tebo-Herde gegeben, die ganze Reihen der Feigenbäume niedergetrampelt hatten. Als nun ein Waldkauz dicht an seinem Gesicht vorbeirauschte und erschöpft auf seinem Lager landete, war er erleichtert. Erleichtert und aufgeregt zugleich. „Aus Hogwarts?“, fragte Remus sanft, doch konnte ein Zittern in seiner Stimme nicht unterdrücken. Wie sehr hatte er diesen Brief erwartet und fürchtete doch ein wenig seinen Inhalt.   Die Eule blickte aus müden Augen zu ihm auf, deutete mit dem Schnabel ein Nicken an und hob matt ihn Bein, an den der Umschlag gebunden war. Remus aber schüttelte sachte den Kopf als er sah, wie viel diese Bewegung ihr abverlangte.   „Das hat Zeit. Du hast eine lange Reise hinter dir. Komm erst einmal wieder zu Kräften“, sprach er auf das Tier ein und bereitete zugleich eine Schale mit Körnern und eine mit Wasser vor, die er vor ihr abstellte. Er hatte Tage auf eine Nachricht aus Schottland gewartet, was machten da ein paar Minuten mehr schon aus? Als der Kauz sich wieder aufgerappelt hatte und Remus endlich das Siegel mit dem Schulwappen erbrach, stockte ihm für einen Augenblick der Atem. Nicht vor Angst, sondern vor Freude. Einer unwirklichen Freude, fast wie in einem Traum. Der Brief umfasste nur wenige Zeilen, niedergeschrieben in der geschwungenen Schrift von Albus Dumbledore. Doch die Worte waren so viel größer als es ein Pergament fassen konnte. „… Severus hat sich bereit erklärt, den Wolfsbanntrank zu brauen…“, überflogen Remus‘ Augen gerade noch die letzten Zeilen als er langsam auf seinem Stuhl niedersank. Dann war es also wahr! Was er kaum zu hoffen gewagt hatte, war wahr. Er würde nach Hogwarts zurückkehren. Er würde wieder an seine alte Schule kommen und dort als Lehrer arbeiten. Er würde ein geregeltes Einkommen haben; er würde Madam Pomfrey wiedersehen und die Große Halle, Hogsmeade, den See und Harry.  Ja, er würde Harry sehen, den Sohn einer seiner besten Freunde, den er zuletzt als Baby auf dem Arm gehalten hatte. Remus hielt unmerklich die Luft an. Seine Gedanken überschlugen sich wie schon an jenem Abend, als ihn in der zweiten Nacht im Lager der erste Brief erreichte, zu seiner völligen Überraschung. Seitdem waren einige Eulen quer über das Mittelmeer geflogen. Nicht, dass er unwillig gewesen wäre, Dumbledores Ruf zu folgen. Für ihn hätte Remus weit Geringeres getan als ein Stellenangebot anzunehmen, das auch ihm zugutekam. So viel hatte er diesem Mann zu verdanken, der ihm ermöglicht hatte, Hogwarts zu besuchen. Doch ihn quälte die Sorge um sein pelziges Problem. Wäre er nicht eine fürchterliche Gefahr für Schüler? Es war schon damals riskant, wie könnte es jetzt weniger bedenklich sein?  Was wäre wenn jemand zu Schaden käme? Abermals glitten Remus‘ Blicke über den Brief, blieben an der Zeile haften, die sich langsam in sein Gedächtnis einbrannte. Erinnerungen stiegen vor seinem geistigen Auge auf, begannen zu kreisen, wie der Schwarm Motten um das Licht. Oder waren es Fledermäuse im Schein des Vollmonds? Remus sah alles wieder vor sich, die Szenerie am Morgen nach einer ganz bestimmten Vollmondnacht: das zornige, blasse Gesicht am Slytherintisch; Dumbledores unverändert ruhige Miene hoch oben bei den Lehrern; McGonagalls strenger Blick, der über sie wanderte; das trotzige Grinsen auf Sirius‘ Lippen; Peters neugierig vorgereckter Kopf und James‘ ernste Stimme, die im Flüsterton erklärte, was geschehen war. Noch immer spürte Remus, wie ihm langsam das Blut aus dem Gesicht wich und seine Wangen kalt wurden, wie ihn ein Schauer vor dem Möglichen packte - der Erste von vielen, die noch folgen sollten - und wie er Sirius anstarrte und das Lächeln nicht begreifen konnte. Etwas in seiner Magengrube krampfte sich zusammen, sank in ihm wie ein Stein und zog seinen Blick nach unten. Severus hat sich bereit erklärt, den Wolfsbanntrank zu brauen. Severus. Severus Snape. Der Name verschwamm mit den Erinnerungen. Ertrank in einem Meer aus Bildern, nicht nur von jener Nacht, bis Remus schließlich seufzte. Schuld traf nicht nur die Täter. Sie traf auch die, die sie stillschweigend gewähren ließen. Er hatte geschwiegen. Und nun war es ausgerechnet Severus Snape, der die Bestie in ihm bannen würde; der, ja, in gewisser Weise seine Rettung war, wo er selbst ihn einst beinahe in Lebensgefahr gebracht hätte, wenn auch ungewollt. Wie es wohl wäre, ihm wieder gegenüberzustehen? Es war eine weitere Überraschung gewesen, als Dumbledore in einem seiner Briefe fast beiläufig erwähnt hatte, dass auch Severus als Tränkemeister in Hogwarts arbeitete. Nie hätte Remus mit diesem Werdegang sein ehemaliger Mitschüler gerechnet. Sicher, in Zaubertränke konnte ihm keiner das Wasser reichen, außer Lily natürlich. Und so verwunderte es Remus auch nicht, dass Severus den Wolfsbanntrank beherrschte, von dem er bisher nur Gerüchte unter Seinesgleichen gehört hatte. Aber Lehrer? Das wollte so gar nicht zu dem zwielichtigen Slytherin passen, den Remus in Erinnerung hatte. Viel weniger hätte es ihn gewundert, wenn Severus Snape ein Geschäft in der Nokturngasse betrieben hätte und dort schwarzmagische Artefakte und gefährliche Mixturen an eine anrüchige Kundschaft verkaufte. Doch wer wusste schon, wie die Menschen sich änderten? Was sie veränderte? Veränderung. Das Stichwort versetzte ihm abermals einen Stich im Herzen und diesmal brannte der Schmerz wie eine klaffende Wunde. So viel hatte sich in nur einem Monat verändert. Es war in seinem Pensionszimmer in jenem Dorf in Italien gewesen, als Remus den Tagespropheten aufschlug und glaubte, der Schlag hätte ihn getroffen. Von der Titelseite aus starrte ihn Sirius‘ Foto an mit wildem Blick. Ohne Vorwarnung wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sirius - für ihn würde er nie Black sein - war Askaban ausgebrochen, erklärte die Schlagzeile. Doch Remus war außerstande, die Worte zu fassen, in sich aufzunehmen, zu verstehen. Nur langsam, wie ausgegossenes Wasser, sickerten sie in sein Bewusstsein und wie Spiritus setzten sie alles in Brand. Sirius. Der Schmerz war überwältigend, wie damals. Denn eigentlich war diese Wundflamme nie erloschen, Remus hatte nur die Schutzmauer willentlichen Vergessens darum aufgezogen, als all die Fragen keine Antwort fanden. Und nachts vor dem Einschlafen, wenn er nicht aufpasste, stoben die Funken leicht zur anderen Seite seines Bewusstseins herüber. Sirius, ausgerechnet er! Sirius, der James verraten hat. Wie? Warum? Die beiden waren wie Brüder gewesen. Nie hatte es eine solche Freundschaft gegeben. Und dann auch noch Peter? Unbegreiflich, dass einer der anderen getötet hatte! Manche Dinge blieben ein Rätsel, auch nach mehr als einer Dekade noch. Zwölf Jahre lag nun alles zurück. Zwölf Jahre, in denen ein naives, nagendes Gefühl in Remus immerzu davon sprach, dass etwas an der Sache nicht stimmte. Dass eine solche Freundschaft nicht in solchem Verrat enden konnte. Ein Gefühl, das den harten Fakten unzugänglich war und in seiner Sturheit der Wahrheit trotzte, die Remus glauben musste. Gerade jetzt, wo Dumbledore ihn gebeten hatte, dazu beizutragen, die Schüler von Hogwarts und insbesondere Harry vor Sirius zu schützen.   Sirius…Severus…Sirius…Severus Die Worte tanzten durch Remus‘ Gedanken, bis er schließlich den Brief zusammenfaltete und beiseite legte. Genug! Die Vergangenheit war passé. Was nun zählte, war die Zukunft. In einer Woche würde er nach Hogwarts zurückkehren. Und bei Merlin, er hatte noch ja noch so viel vorzubereiten. So viel, das er aufgeschoben hatte, weil etwas in ihm gezweifelt hatte, dass Dumbledore eine Lösung finden würde. Welche Dummheit! Die Furcht vor der bevorstehenden Aufgabe hatte ihn wohl so geblendet, dass er vergessen hatte, dass für einen Albus Dumbledore nichts unmöglich war. Noch immer war Remus etwas flau bei dem Gedanken, die Vollmondnächte unter dem Dach der Schule zu verbringen, ein Paradies für Greyback. Doch nun war die Sache beschlossen und der Wolfsbanntrank erwartete ihn.   Bereits seine Planungen durchgehend schritt Remus zu seinem Koffer, zog eine abgewetzte Ledermappe hervor, schlug sie auf und entnahm ein frisches Blatt und einen Briefumschlag. Tintenfass und Feder standen noch auf dem Tisch, denn er hatte die Angewohnheit, manchmal seine Gedanken zu guter Lektüre in einem Notizbuch festzuhalten. Hastig setzte er eine Antwort auf, dann wandte er sich um zum Waldkauz, der gerade das letzte Korn aus der Schale pickte. „Bist du bereit für den Rückflug?“, fragte er vorsichtig.   Die Eule richtete sich kerzengerade auf und plusterte das Gefieder, so dass es aussah als stände sie mit geschwellter Brust vor ihm. Remus lächelte leise. „Gut“, hauchte er und begann den Brief an ihrem Bein festzubinden, „Dann bring ihn zurück zu Dumbledore“. Der Waldkauz nickte, breitete seine Schwingen aus und entflog flügelraschelnd in die Nacht. Ein Hauch von Wehmut ergriff Remus, als er dem Ruf des Tieres lauschte bis dieser verklungen war. Dort, wo die Eule hinflog, gab es neben dem letzten Feind aus Schultagen auch die letzten Menschen, die so etwas wie Freunde waren. Es gab einen trockenen Platz, einen festen Lohn und einen Zaubertrank, der die zerstörerische Kraft in ihm bändigen konnte. Wie gerne wäre Remus schon jetzt mit seinem Brief nachhause geflogen. Doch noch war sein Dienst in Abessinien nicht beendet. Müde wandte er sich wieder um zum Zelt, um das Licht zu löschen und zu Bett zu gehen.       Auf dem Tisch lag noch immer der Brief aus Italien. Sein Umschlag war wie schon seit Tagen unversehrt. Kapitel 3: Reise in die Vergangenheit ------------------------------------- Das Gesicht im Spiegel wirkte krank und grau. Platt klebte hellbraunes, bereits von Silbersträhnen durchzogenes Haar auf der Stirn. Remus holte tief Luft, tauchte die Hände in die Waschschüssel und goss das eiskalte Wasser über seinen Kopf. Zwei Tage in England hatten schon genügt, um die leichte Bräune zu vertreiben, die seine Haut unter der afrikanischen Sonne angenommen hatte - wenn sie denn mal schien. Eine Hustensalve schüttelte ihn, als er sein Gesicht mit einem fadenscheinigen Handtuch abtrocknete und er fühlte sich als hätte er tausend Jahre nicht geschlafen. Die Tebo-Herde hatte ihnen auf die letzten Tage vollen Einsatz abverlangt. Zudem regnete es ununterbrochen. In Abessinien und hier in East Ham, das an diesem Morgen unter sinnflutartigen Strömen zu versinken drohte. Remus fühlte sich ausgelaugt. Nichtsdestotrotz wandte er sich dem schmalen Tisch in der Ecke zu und verschnürte den kleinen Koffer mit einem Schlenker seines Zaubertrabs. Ein Gähnen unterdrückend schlüpfte er in seinen flickenübersäten Umhang und steckte sich zwei große Schokoriegel in die Tasche, während ein dicht am Fenster vorbeifahrender Zug das Zimmer erbeben ließ. Staub rieselte von der Decke und begrub die Kisten und Koffer, die Ordner, das Aquarium und das Grammophon, die an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht waren. Die schnell erstellten Lehrpläne; die Leihgaben des Magiezoologischen Museums; die Schallplatten, die Remus einst im Kramladen in der Winkelgasse gefunden hatte, ja sogar der Sicherheitsvorrat an Schokolade – sie alle versanken unter einer pudrigen Schicht. Leise stöhnend hob Remus erneut den Zauberstab, sprach einen Locomotor über das Gepäck und dirigierte alles die schmale Treppe hinab, die unter seinen Schritten bedrohlich knarzte. In der großen Rangierhalle, die er nach einem kurzen Weg über den regennassen, betonierten Hof erreichte, stand die scharlachrote Lok und wartete darauf, aus dem Schlaf geweckt zu werden. Für einen ehrfurchtsvollen Moment musterte Remus sie gebannt, während sein Gepäck auf dem Boden aufschlug. So viele Erinnerung, ein gutes Stück seiner Jugend hingen an diesem roten Kollos. Noch stieg kein Rauchwölkchen aus dem Schornstein auf und vom Lokführer, über dessen Wohnung Remus die letzten zwei Tage Quartier bezogen hatte, war nichts zu sehen. Doch vom anderen Ende der Halle kam ein Geräusch auf ihn zu, das wie das Rollen eines Ziehkoffers auf Pflastersteinen klang. Einen Augenblick später tauchte ein vollbeladener Servierwagen aus dem Dämmerlicht der Halle und dahinter kam das verschlafene Gesicht einer Hexe zum Vorschein. Erst auf den zweiten Blick erkannte Remus, dass sie an einer langen Stange eine Zigarette in der Hand hielt und gelangweilt vor sich hin paffte, während der Wagen von selbst an den Gleisen entlang rollte. „Sind Sie Professor Lupin?“, schnarrte sie griesgrämig, als sie Remus erreichte. Remus räusperte sich, um zu verbergen, dass er sich wie vor den Kopf gestoßen fühlte. Er hatte nicht erwartet, so empfangen zu werden.   „Ja, der bin ich. Dumbledore hat mich angewiesen-“ „-Jaja, ich weiß, was Dumbledore hat“, fiel die Frau ihm ins Wort, trat zur ersten Tür der dunklen Wagons und ließ sie mit einem Alohomora aufspringen, „Hat ‘ne Menge Ärger, unser Schulleiter, was? Merlin, ich hasse diesen Job!“ Ohne von ihrem Zauberstab Gebrauch zu machen, hievte sie den Servierwagen ins Innere des Zuges. Stirnrunzelnd sah Remus ihr zu. „Mit wem hat Dumbledore denn Ärger?“ Doch es war nicht die Servierwagenhexe, die ihm antworte. Dicht neben ihm erhob sich eine tiefe, rauchige Stimme. „Mit dem Zaubereiminister. Wollte erst nicht, dass die Dementoren Hogwarts bewachen oder den Zug begleiten. Bei uns konnte er sich durchsetzen, doch Fudge drohte ihm, dass er es bereuen würde, sollte ihm nochmal zu Ohren kommen, dass an der Schule die Regeln gebogen werden. Gab im letzten Jahr wohl etwas Ärger um einen gewissen Hackricht oder so. Am Ende war er doch damit einverstanden, dass sie sich um die Schule postieren. Naja, wir ham’s nur am Rande mitbekommen. Geht uns ja nichts an, solange es nicht den Zug betrifft.“ Es war Mr. Knob, der Lokführer, mit dem Remus zwei Abende zuvor bei der Schlüsselübergabe zu der kleinen Dachkammer die letzten Worte gewechselt hatte. Seine Schildmütze schaukelte auf dem wettergegerbten Gesicht und ehe Remus etwas erwidern konnte, hatte er bereits den Zauberstab gezogen und sein Gepäck abermals vom Boden aufbefohlen. „Nun, dann packen wir es mal an. Die sind für Hogwarts, oder?“ „Ähm ja, Mr. Knob“, entgegnete Remus höflich, „Materialen für den Unterricht“ Der Mann lächelte herzlich, während unter dem ersten Wagon eine Klappe aufsprang und die Kisten, Koffer und Ordner sich einer nach dem anderen sorgfältig selbst in einem geheimen Gepäckfach verstauten. „Nennen Sie mich einfach Jim. Und jetzt darf ich bitten, einzusteigen, Mr Lupin, wir müssen in spätestens einer Stunde in King‘s Cross sein.“ Schon die Stiege zum Führerhaus empor kletternd, gab er ein Zeichen, sich zu beeilen. Und Remus ließ sich nicht zwei Mal bitten. Er hatte gerade die letzte Stufe der ersten Wagontüre erreicht, als sich die Schildmütze noch einmal aus dem schmalen Fenster der Lok lehnte. „Wenn etwas sein sollte, Sie wissen, wo sie mich finden“, rief Jim durch Rangierhalle. Remus nickte, auch wenn er sich nicht sicher war, ob der Lokführer ihn im Halbdunkel gesehen hatte, und schloss die Tür. Fenster um Fenster der Abteiltüren flogen in einem Wechsel aus Schatten und Halbschatten an ihm vorüber als er mit seinem kleinen Koffer in der Hand auf den letzten Wagen zuhielt. Er wusste noch aus seiner eigenen Schulzeit, dass sich dort selten ein Schüler niederließ und er wollte sich nicht unbedingt mitten ins Gedränge mischen. Seine Gedanken begannen wieder zu kreisen, während er einen Wagon nach dem anderen hinter sich ließ. Dementoren – sie waren der Grund, warum Dumbledore gewollt hatte, dass er mit dem Schulzug anreiste. Denn die Hälfte von dem, was der Lokführer ihm erzählt hatte, kannte Remus bereits. Es ist nicht auszuschließen, dass sie auch den Hogwarts Express observieren werden. Bitte trage für die Sicherheit der Schüler Sorge, standen ihm die Zeilen des Schulleiters noch vor Augen. Wie gut konnte er Dumbledores Widerwillen gegen die Entscheidung des Zaubereiministeriums verstehen. Dementoren waren finstere Wesen, die zwischen Freund und Feind nicht unterschieden. Und sie waren die Ersten, die Voldemort unter seine Gewalt gebracht hatte. Die Wachen von Askaban, die nun die Todesser in ihren Zellen in Schach hielten, waren einst deren Verbündete gewesen. Oft genug hatten sie dem Orden des Phönix Schwierigkeiten bereitet! Wie viele Patroni waren wohl gewirkt worden? Mit Schauder erinnerte sich Remus noch daran, wie einer davon ihm sogar seinen Kuss aufdrücken wollte. Niemand, der noch bei klarem Verstand war, konnte solche Wesen in die Nähe hunderter unausgebildeter, junger Zauberer und Hexen lassen wollen.  Doch Dumbledore hatte in seinem Brief kein Wort davon erwähnt, dass er sich deswegen sogar fast mit Fudge überworfen hatte. Und was hatte Mr Knob mit seiner Anspielung auf Hagrid gemeint? Offensichtlich hatte sich in Hogwarts in den letzten Jahren einiges ereignet, das ihm entgangen war. Sollte ihm nochmal zu Ohren kommen, dass an der Schule die Regeln gebogen werden, klangen Remus die Worte des Lokführers in den Ohren. Und wieder regte sich das schlechte Gewissen. Dumbledore bog die Regeln bereits. Für ihn. Geistesabwesend verstaute Remus seinen ausgebeulten Koffer auf der Ablage und ließ sich auf dem Sitz nieder. Allmählich kehrte die Mattigkeit in seine Glieder zurück und er spürte die Schwere seiner Lider. Tatsächlich hatte er in den letzten beiden Tagen kein Auge zugemacht, so sehr hatten ihn die Vorbereitungen in Beschlag genommen. Vor sich hin dösend bemerkte er nicht, dass der Zug anruckte. Erst als Regentropfen an der Scheibe hinab liefen wurde ihm gewahr, dass der Hogwarts Express fuhr. Schlaftrunken wollte er sich in seinen Sitz sinken lassen, als ihn auf einmal etwas an der Brust kratzte. Der Brief!  Remus hatte ihn nicht in den Koffer gepackt, sondern in der Brusttasche seines Hemds verstaut. Mit zittrigen Fingern holte er ihn wieder hervor und betrachtete die feine Handschrift des Absenders im grauen Morgenlicht, während der Regen langsam nachließ. Obwohl das Papier nur ein paar Gramm wiegen konnte, lag der Umschlag zentnerschwer in seiner Hand. Und wie schon seit bald zwei Wochen rang Remus mit sich, ob er ihn öffnen sollte oder nicht. Stille erfüllte die Abteile, unterbrochen vom Rattern der Wagenräder als der Zug eine Weiche nahm und der Regen plötzlich aufhörte. Tief atmete er aus und überflog noch einmal den Namen, der sein Herz schneller schlagen ließ. Ilaria Canobi… Das letzte Mal hatte er sie in einem Krankenbett gesehen, umgeben von einer Schar Heilern. Zum Glück war alles glimpflich ausgegangen, ein paar Prellungen und einen Gedächtnisverlust, was die letzten Stunden betraf. Doch es hätte alles schlimmer kommen können, viel schlimmer. Zwei Wochen kannten sie sich, er und die Frau aus dem Dorf, die sich auch als Erntehelferin verdingte. Schon am ersten Tag als sie gemeinsam in der Gaststube saßen und den Feierabend genossen, spürte er, dass sich etwas Besonders zwischen ihnen abspielte. Schon lange hatte er sich mit keinem Menschen mehr so gut verstanden und es dauerte keine zwei weiteren Nächte bis sie Remus auch schon in seinen Träumen besuchte. Ilaria selbst schien es ähnlich zu gehen, denn sie suchte fortan in jeder freien Minute seine Nähe. Bald schon verbrachten sie ihre Abende nicht mehr in der Schenke, sondern auf ausgedehnten Spaziergängen durch die Hügel. Und endlich, am Ende ihrer zweiten Woche, kam es zu jenem einzigen, verstohlenen Kuss, während die Augustsonne hinter den Bergen versank. Hätte Remus am schicksalshaften Abend darauf doch bloß nicht seinen Umhang in der Schenke vergessen! Das Wetter hatte umgeschlagen und es war kühl und diesig gewesen, als er sich bei Tisch entschuldigt und mit der Ausrede auf den Weg gemacht hatte, er hätte noch eine Eule aufzugeben, ehe die kleine Poststation schließe.  Die Abendsonne war schon im Untergehen begriffen, als er sich immer tiefer in die Wildnis hinter der Elfenweinplantage schlug, um möglichst viel Abstand zwischen sich und jede Zivilisation zu bringen. Warum Ilaria ihm ausgerechnet bis zu diesem unwirtlichen Ort gefolgt war, nur um ihm seine Jacke zu bringen, wusste er nicht, noch was in dieser Nacht eigentlich geschehen war. Als er am nächsten Morgen wieder zu sich gekommen war, hatte er auf dem harten Boden einer Felsenhöhle  gelegen und die Schmerzen in seiner linken Seite hatten länger angehalten als es für die Rückverwandlung üblich war. Er war verletzt gewesen und als er sich im grauen Morgenlicht umgesehen hatte, hatte er zu seinem Entsetzen erkennen müssen, dass er damit nicht allein war. Auf der anderen Seite der Höhle hatte seltsam verkrümmt Ilarias leblose Gestalt, halb sitzend, halb liegend, über einem Felsbrocken gehangen und unter ihr seine Jacke. Trotz seiner quälenden Schmerzen hatte der Schock ihn sofort an ihre Seite getrieben. Zu seiner Erleichterung hatte er ihren leisen Atem gehört als er sich über sie gebeugt hatte. Nirgendwo auf ihrer Kleidung war ein dunkler Fleck auszumachen gewesen, der auf verkrustetes Blut hindeutete und ihre Haut war bis auf ein paar oberflächliche Kratzer, die nicht von einem Wolfsgebiss stammen konnten, unverletzt gewesen. Nur ihr Zauberstab, der hatte zerbrochen im Staub gelegen. Sie musste es irgendwie geschafft haben, ihn in einem harten Kampf außer Gefecht zu setzen. Wie Remus später erfuhr - er wusste bis zu diesem Tage nicht wie er es mit seinen Schmerzen ins Dorf zurück geschafft hatte – hatte sie dabei auch einen Teil ihres eigenen Gedächtnisses gelöscht. Und das war das Zeichen für ihn gewesen, zu gehen. Bei allem Unheil, das er beinahe über sie gebracht hätte, war es nicht besser, wenn Ilaria nicht wusste, was in dieser Nacht geschehen war? Noch ehe sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, hatte er das Krankenzimmer verlassen. Er hatte ihr nicht in die Augen sehen können. Diese Augen, deren Lebenslicht er um Haaresbreite zum Erlöschen gebracht hätte. Eine Erinnerung an einen kalten Morgen zwischen Winter und Frühling schob sich mit aller Grausamkeit wieder in sein Bewusstsein und ließ Remus taumeln, als er die Treppe zu den Gästezimmern der Schenke hinaufstieg. Innerhalb einer Stunde hatte er seine wenigen Habseligkeiten gepackt und dem Winzer gekündigt. Ihm brach das Herz bei dem Gedanken, Ilaria nie wieder zu sehen. Doch sie konnten nicht zusammen sein. Er war nicht gut für sie, für jeden. Das war ihm wieder zu Bewusstsein gekommen, auch wenn er versucht hatte, es zu vergessen.  Alles, was er für sie hinterließ, war ein knapper Brief voller Lügen.  Er hatte ihr nicht sagen können, wer er war, was er war. Der Gedanke, vor ihr die Wahrheit auszusprechen, schmerzte mehr als die augenscheinlichen Ausreden niederzuschreiben. Und nun lag ihr Brief in seinen Händen. Ein Brief voller Fragen vermutlich. Und Remus wusste, dass er ihn nicht öffnen konnte. Die Wunde war zu frisch und er musste Ilaria vergessen, zu ihrem eigenen Besten. Warum musste es auch jedes Mal in einer solchen Tragödie enden, wenn er sich verliebte? Entweder spielte man mit seinen Gefühlen, wie David im vorletzten Herbst, den Remus mit einer dritten Werwölfin inflagranti erwischt hatte, kurz nachdem sie zusammengekommen waren oder das Biest in ihm selbst machte allem einen Strich durch die Rechnung. Er war kein Mann für eine Nacht, doch auch keiner für Tausende davon, wenn eine Beziehung bedeutete, die Liebsten in furchtbare Gefahr zu bringen.  Würde er je einen Menschen treffen, der nicht an seine tiefsten Ängste rührte? Eigentlich sehnte sich Remus nur nach jener kitschigen, altmodischen großen und unsterblichen Liebe, wie sie Dichter und Poeten in ihren Schriften beschrieben. Doch so viele Frauen und Männer ihm auch begegnet waren, die an sein Herz rührten, keiner war an seiner Seite geblieben. Entweder flohen sie vor ihm oder er vor sich selbst zu ihrem Schutz. Müde verstaute er Ilarias Brief wieder in seiner Manteltasche, so dass dieser ihn nicht störte und sank matt in seinen Sitz zurück. Obwohl die Scheibe inzwischen getrocknet war, verschwamm die Welt vor seinen trägen Augen zu einem Meer aus Grautönen. Nur fern zeigte sich am Horizont ein kleiner Silberstreifen und mit einem Mal schlich sich im Halbschlaf doch noch ein fröhlicher Gedanke in seinen Kopf. Einen Menschen, den er lieben konnte, wenn auch auf ganz andere Weise als Ilaria oder David, würde er heute wiedersehen. Zwölf Jahre lang hatte er sich nicht nach Little Whinging gewagt, aus Angst davor, das Ministerium, das die Werwölfe streng überwachte, könnte wenig begeistert davon sein, dass er sich in einem Muggle-Wohngebiet herumtrieb. Eigentlich sollte auch das ihm ein schlechtes Gewissen bereiten. Doch im Moment überwog seine Neugierde. Wie sich James‘ Sohn wohl gemacht hatte? Nach Sirius‘ Verrat war ja nun er so etwas wie ein Pate für den Jungen. Und er konnte kaum erwarten, ihn nach all den Jahren wiederzusehen. Mit diesen Gedanken an Harry Potter fielen Remus endlich die Augen zu und er entglitt ins Land der Träume. Nichtsahnend, dass ihm noch ein böses Erwachen bevorstehen sollte. Kapitel 4: Wiedersehensfreude -----------------------------             Der Schlafende rührte sich nicht. Nicht die kleinste Regung ging durch die ausgestreckte Gestalt. Allein der Brustkorb hob und senkte sich gemächlich unter seinem Schnarchen. Grimmig blickte Severus auf ihn herab, den verhassten Kollegen, wie er da auf seinem Stuhl lümmelte, den Kopf auf die Zettelwirtschaft des Schreibtischs gebettet, der nicht einmal ihm gehörte. Das gesamte Interieur des gedrungenen Büros – das Pult vor dem Fenster, die Schränke und das Hängebrett , das Sofa in der Ecke– sie alle waren Besitztümer der Schule. Angewidert wandte Severus sich ab und stellte in aller Vorsicht die dampfende Tasse auf die Ecke des Schreibtischs, so dass sie kein Geräusch von sich gab. Er hatte nicht vor, seinen Patienten vorzeitig zu wecken und sich das schönste Stück seines Auftritts zu verderben. Auch wenn er diesen erst seit einer halben Minute plante. Es war schon ein sonderbares Geschick am Werk, das ihn seinen Feind so vorfinden ließ. Severus hatte nicht erwartet, dass jemand, der ganze Vollmondnächte umherstreifte, sich noch vor der Geisterstunde zu einem unflätigen Nickerchen in seiner Arbeit hinreißen lassen würde, noch wäre er aus eigenen Stücken in das Domizil eines Kerls eingebrochen, dessen Anwesenheit in Hogwarts ihm schon lästig genug war. Doch es galt eine Gefahr zu bannen und der Zufall hatte ihm in die Hände gespielt. Einen Moment, nur einen Moment lang wollte er seine Augen weiden an seinem Feind, der da vollkommen arglos vor sich hin döste; an dem Gesicht, auf dem sich nicht der Hauch einer Vorahnung abzeichnete; an der Macht, die er in diesen Minuten über ihn hatte, so unschuldig, so unwissend, so gänzlich ausgeliefert wie Lupin vor ihm lag. In einem Anflug von Triumpf kräuselte Severus die Lippen zu einem bitterbösen Lächeln. Der Gedanke, was er seinem alten Mitschüler in dieser Lage alles antun könnte, war eine sehnlichst erwartete Genugtuung. Stundenlang hatte er einen Abend zuvor stillschweigend ertragen müssen wie Albus den neuen Kollegen für seine Lieblingsstelle willkommen geheißen und ganz Hogwarts applaudiert hatte; wie der Direktor Lupin mit ernster Miene seinen Dank dafür ausgesprochen hatte, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein um Potter zu beschützen, wo Severus es zum gleichen Zweck einst mit einem dreiköpfigen Riesenhund aufgenommen und als Lohn nur die Verweigerung des Schulpokals für sein Haus erhalten hatte; wie herzlich Madam Pomfrey und Minvera McGonagall auf dem späteren Umtrunk den Neuankömmling begrüßt hatten und das Gesülze und Gesäusel, das da ausgetauscht worden war bis man brechen wollte. Als Severus es nicht mehr ausgehalten hatte, hatte er sich bei Albus wegen einer Magenverstimmung entschuldigt, war in seine Kerker geflohen und hatte seinen Unmut über dem brodelnden Kessel ausgelassen. Gestern und am heutigen Tag, an dem er seinem neuesten Ärgernis bestmöglich aus dem Weg gegangen war. Wenn der verlauste Werwolf und der feine Herr Direktor ihm schon die wertvolle Zeit für seine Studien für die Merlin Akademie raubten, dann wollte er zumindest die Bedingungen selbst bestimmen. Und diese lauteten Rache. Rache, soweit sie den Augen des Schulleiters entgehen konnte. Rache für sieben lange Schuljahre, in denen ein gewisses Schülerquartett ihn hatte leiden lassen und die gleichen Augen ebenfalls weggesehen hatten. Oh ja, er hatte dem Zaubertrank eine Kleinigkeit hinzugefügt. Nur ein paar Tropfen… Die Zeiger der kleinen Uhr auf dem Hängebrett, ebenfalls eine Leihgabe Hogwarts‘, rückten auf halb eins und der Tasse entströmte ein leichter Zitrusduft, der nur für Severus‘ feine Nase wahrnehmbar war. Zitronensaft hatte keinerlei Einfluss auf die Wirkung des Tranks, doch umgekehrt war das Gegenteil der Fall. Der Wolfsbanntrank verstärkte den sauren Geschmack der Zitronen und in Verbindung mit dem Wermut entstand widerliches, übelkeitserregendes Gebräu aus dem sonst nur leicht bitter schmeckenden Trunk. Stille erfüllte den Raum als Severus sich in süßer Erwartung über seinen alten Feind beugte und eine Handvoll Staub, die er in der Kürze von der Fläche einer der zahllosen Truhen aufgesammelt hatte, über dessen Gesicht rieseln ließ. Mit einem gewaltigen Niesen kam Lupin zu sich. Doch da hatte Severus das klägliche Licht seines Zauberstabs bereits gelöscht, sich in die Schatten der Nische zwischen zwei Kistentürmen zurückgezogen und belauschte mit giftigem Vergnügen, wie sein Gegenüber raschelnd ein Taschentuch aus der Brusttasche seines verblichenen, gestreiften Hemdes zog. Gerade als der Wolf sich schnäuzte, begann er zu sprechen. „Guten Abend, Professor Lupin“, schmeichelte er mit der falschesten Höflichkeit, die er aufbringen konnte und vergaß nicht, eine leise Drohung in seine Stimme zu legen, „wie mir scheint, sind Sie nicht bei bester Gesundheit. Einschlafen mitten bei der Arbeit, Husten und Schnupfen…. Wohl ein Ausflug zu viel des Nachts, nehme ich an? Welch ein Glück, dass Hogwarts unter seinen Zinnen fähige Heiler beherbergt“. Im einfallenden Mondlicht, an das sich Severus‘ Augen allmählich gewöhnten, konnte er erkennen, wie Lupin sich suchend im Raum umblickte. Er zögerte nicht. Schon hatte er den Zauberstab zur Hand und streckte ihn in Richtung der Petroleumlaterne auf dem Beistelltisch des Sofas aus. „LUMOS!“ Die Lampe entflammte und im aufscheinenden Licht trafen sich ihre Blicke. „Severus“, keuchte Lupin und seine Worte erstickten in einem Hüsteln. „Ja, der bin ich“, erwiderte Severus kühl, während er an den Kisten vobei langsam in den Raum hinein schritt, „So sieht man sich also wieder. Ich in der ehrwürdigen Robe des Tränkemeisters und du im Sträflingskostüm wie dein alter Freund Black.“ Für einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer, während Severus sich vor dem Sofa aufbaute und mit einem höhnischen Lächeln auf seinen Kollegen hinabblickte. Schließlich war dieser es, der das Schweigen brach. „Ich muss zugeben, dein Besuch überrascht mich. Ich hätte nicht erwartet, dich mitten in der Nacht in meinem abgeschlossenen Büro anzutreffen“, erklärte Lupin ruhig. Doch Severus entging das leichte Zittern in dessen Stimme nicht. „Oh“, erwiderte er scharf und funkelte sein Gegenüber finster an, „Hat der Schulleiter etwa vergessen, dir das mitzuteilen? Der Wolfsbanntrank muss schon einige Tage vor Vollmond regelmäßig eingenommen werden, damit er seinen Zweck erfüllt. Fünf im Minimum, besser aber sechs oder sieben. Wir wollen doch nicht, dass du zur Gefahr für unschuldige Schüler wirst oder sollte ich sagen für unschuldige Slytherins?“ Mit den letzten Worten war Severus dicht an den Schreibtisch herangetreten und hatte Lupins Augen mit stechendem Blick fixiert. Leicht wie ein Gift, das erst im Nachgang seine Wirkung entfaltet, verklang der Hauch seiner gesenkten Stimme im geringen Raum zwischen ihnen. Für einen Augenblick vermeinte er das Gesicht seines Kollegen unter dem warmen Licht der Petroleumlampe erbleichen zu sehen. Doch schon im nächsten Moment gewann Remus nach einem kurzen Augendreher ins Halbdunkel des Raums wieder an Farbe. Stirnrunzelnd folgte Severus dem Blick und erspähte auf dem Beistelltisch des Sofas, vor dem er gerade noch gestanden hatte, in einem Durcheinander frisch ausgepackter Utensilien die Umrisse eines blauen Papiertütchens. Eines von jener Sorte, die er gut kannte, denn Mr Mullpepper verkaufte in solchen Tüten Bezoare. Bei diesem Anblick brandete plötzlich ein unerklärlicher Zorn in Severus auf und er biss die Zähne zusammen. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was ihn an diesem Besitztum seines alten Feindes eigentlich so verärgerte. Eine Stimme zog seine Aufmerksamkeit nach einer Weile zurück zum Schreibtisch. „Ich danke dir, Severus, dass du zu so später Stunde noch zu mir heraufgekommen bist, um mir den Wolfsbanntrank zu bringen“, bemerkte Lupin ruhig und hielt seinen Blick, diesmal ohne jedes Anzeichen von Furcht. Dann, zu Severus großer Überraschung, stand er auf, tat an ihm vorbei in den Raum und ließ mit einem Schlenker seines Zauberstabs das große Deckenlicht aufleuchten. „Nachtarbeit verlangt einem einiges ab“, sprudelte es nach einem tiefen Atemzug förmlich aus ihm heraus, „Das lange Wachbleiben schlägt schnell auf die Gesundheit und am nächsten Morgen fühlt man sich wie gerädert. Ich kenne das nur zu gut. In Oxford, wo ich im November vor zwei Jahren als Inventurgehilfe in den großen Lagern von Qualität für Quidditch und Siegfrieds Drachenlederwaren arbeitete, hatten wir nur Nachtschichten. Das kalte, feuchte Klima in den zugigen Hallen fuhr einem in die Knochen. Ich denke in den Kerkern von Hogwarts ist es nicht anders. Kann ich dir etwas anbieten. Ein Glas Wasser oder einen Tee vielleicht?“ Während Lupin sprach, hatte er sich ohne Unterlass an einem Hängebrett zu schaffen gemacht und trat nun mit zwei Tassen in der Hand zum Beistelltisch des Sofas, wo eine schäbige Zinnkanne auf einem kalten Stövchen ruhte. Perplex starrte Severus ihn an. „Was?! Nein!“, kam es unwillkürlich über seine Lippen ohne dass er es noch verhindern konnte. Das alles lief nicht so, wie er es geplant hatte. Es lief ihm völlig aus dem Ruder. „Dann vielleicht einen Kaffee?“, fragte sein Kollege als wäre nichts geschehen, rief ein schnelles Accio und begann schon braunes Pulver in eine der beiden Tassen zu häufen. Verzweifelt griff Severus zu dem einzigen Mittel, das ihm blieb: Seinem Zauberstab. Ein Schlenker und das hässliche Geräusch splitternden Porzellans erfüllte das Zimmer. Lupin, der gerade einen zweiten Löffel Kaffee in die Tasse geben wollte, hielt plötzlich nur schon Scherben in der Hand. Mit trübseligem Blick wandte er sich zu Severus um. Und Severus spürte den Triumpf rückkehrender Macht. „Du hattest gestern schon dein Vergnügen, dich bei allen lieb Kind zu machen“, raunte er seinem Gegenüber zu „Glaub nicht, es sei mir entgangen, wie du dich überall eingeschleimt hast. Ein Küsschen hier, eine Umarmung dort und das Kollegium lag dir zu Füßen. Oh Ja, die ganze Welt scheint dich zu lieben, den neuen, netten und völlig harmlosen Kollegen, nicht wahr? Doch sei dir ihrer Gunst nicht so sicher. Sympathien wechseln leicht wie ein Fähnchen im Wind. Mich jedenfalls kannst du nicht täuschen. Ich habe ich dich schon immer durchschaut und ich werde nicht ruhen, bis der Rest der Welt ebenso weiß, wessen Geistes Kind du bist. Wer weiß, ob Black bei seiner Flucht nicht die Unterstützung eines alten Freundes hatte!“ Schlagartig wandelte sich Lupins Miene. Es war wie eine eisige Briese, die über das Gesicht fegte und jede Falte eines Lächelns fortwischte. Unter der blassen Haut schien Zorn zu brodeln. Mit finsterem Blick trat er vor und fixierte Severus‘ Nase. „Du bist in mein Arbeitszimmer eingedrungen, obgleich meine Tür abgeschlossen war. Das ist Hausfriedensbruch, Snape“, flüsterte er streng, „Ich könnte den Schulleiter informieren und das werde es auch, wenn du nicht sofort auf dem Absatz kehrtmachst.“ Severus lächelte kalt. „Keine Sorge, ich hatte nicht vor, mich lange in deinem wie nennst du es, Arbeitszimmer, aufzuhalten. Ich erfülle hier nur meine Pflege“, erklärte er gönnerhaft und schnickte mit der Nase in Richtung Schlafnische, „Du solltest übrigens deinen Trank trinken ehe er auskühlt, Werwolf!“ Ohne eine Antwort seines Feindes abzuwarten, der inzwischen wie versteinert vor ihm stand, machte Severus auf dem Absatz kehrt und rauschte aus der Tür, die hinter ihm donnernd ins Schloss fiel. Im dunklen, stillen Korrifor auf der anderen Seite aber blieb er noch einmal stehen und warf einen verächtlichen Blick zurück. Lupin hatte es geschafft, ihn kurzzeitig aus dem Konzept zu bringen, doch am Ende hatte er die Schlacht für sich entschieden. Er hatte dem neuem Kollegen unmissverständlich klar gemacht, was er von ihm und seiner Anwesenheit in Hogwarts hielt. Ab heute herrschte Krieg und Severus wusste, wer ihn gewinnen würde. Mit einem bitterbösen Lächeln verließ er das Schlachtfeld und nichts folgte ihm als das leise Klappern von Geschirr in der nächtlichen Stille. Kapitel 5: Zweifelssaat -----------------------   Für einen Augenblick noch sah Remus auf die Tür. Dann löste sich seine Starre in einem kurzen Erschauern auf. Er sollte sein Büro mit Schwellenbannen schützen wie laut Gerüchten im Lehrerzimmer einige der Kollegen es taten. Wie hatte er diese Vorsichtsmaßnahme, die er bei jedem seiner kleinen, gefährlichen und stets schlecht bezahlten Jobs gewissenhaft angewandt hatte, in den Mauern von Hogwarts nur vergessen können? Mitten in der Nacht aus dem Schlummer  zu schrecken und einen ungebetenen Gast in der Zimmerecke vorzufinden war nicht die schönste Art geweckt zu werden, egal ob der Besucher ein Troll oder ein griesgrämiger Kollege war. Doch so schnell sich seine Nackenhaare aufgerichtet hatten, so schnell legten sie sich auch wieder. Gedankenbeladen trat Remus zum Schreibtisch und ließ seinen Blick über seinen Arbeitsplatz schweifen. Das Kleine Büro erschien ihm mit einem Mal viel kühler, obgleich direkt vor ihm auf Dampf von der heißen Tasse aufstieg. Ein kleiner Zettel klebte am Untersetzer. ‚Nicht süßen! Zerstört die Wirkung‘, entzifferte Remus die fahrige Schrift. Vorsichtig hob er die Tasse und führte sie zum Mund. Ein abscheulich säuerlicher Duft stieg ihm in die Nase und für einen Moment musste er wieder an den Bezoar denken, den er von seinem geringen Ersparten für seine Zeit als Erntehelfer gekauft und dafür auf ein neues Paar Schuhe verzichtet hatte. Dennoch öffnete er die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Schon im gleichen Moment hätte er speien können. Seine Gesichtsmuskeln zogen sich zusammen und nur mit Würgen bekam er den Trank herunter. Das Zeug roch nicht nur ekelhaft, es schmeckte auch widerlich. Doch die Temperatur war so weit abgekühlt, dass er sich nicht die Zunge verbrannte und er spürte auch keinerlei Anzeichen einer Vergiftung, womit er ohnehin nicht wirklich gerechnet hatte. Tief sog Remus die Luft ein, hielt den Atem an und stürzte den Rest in einem Zug herunter. Dann stellte er klappernd das Geschirr beiseite, sank auf den Boden und starrte eine Zeit lang Löcher in die Dielen zu seinen Füßen, ehe er sich wieder erhob und hinüber ins Schlafzimmer ging. Severus‘ Wort hingen noch immer wie eine dunkle Gewitterwolke im Zimmer als er ins Bett stieg. Und das drückende Klima lastete schwer auf ihm. Es war gewiss kein Zufall gewesen, dass sein Kollege ihn zu nachtschlafender Zeit aufgesucht hatte, um ihm einen Schrecken einzujagen. Remus hatte den blanken Hass in den schwarzen Augen gesehen, die ihn beim Eröffnungsfest am gestrigen Abend gemustert hatten und doch gebetet, dass dieser Blick etwas anderes bedeuten mochte. Nun lag die Hoffnung zerschlagen am Boden. Severus hatte ihre Geschichte keineswegs vergessen, das war eindeutig. Die Anklage in seinen Augen galt dem Feind aus alten Zeiten, nicht dem neuen Gesicht im Kollegium. Ein Frösteln packte Remus als er erneut verstohlenen zur Türe sah. Neben der zertrümmerten Hoffnung ruhte der Fehdehandschuh, den Severus ihm hingeworfen hatte. Er wollte diese alten Zeiten wieder aufleben lassen, forderte vielleicht eine Revanche. Dabei war dies niemals Remus‘ Fehde gewesen, nie sein Krieg. Er hatte nicht Severus‘ Feind sein wollen, auch wenn die Abneigung gewiss eine gegenseitige gewesen war. Doch wäre es nach seinem Willen gelaufen, wäre man sich einfach aus dem Weg gegangen anstatt sich in ständige Auseinandersetzungen zu verwickeln. Und nun sollte er für diese Vergangenheit an den Pranger gestellt werden? Stumm löschte Remus die Lichter und schlüpfte wieder unter die Decke. In jedem Winkel des Zimmers stiegen wie Regendunst die Bilder alter Jahre auf und erhoben ihre Stimme zur Anklage. Wen hatte er eigentlich erwartet, vorzufinden? Remus wusste es nicht. Doch gewiss nicht den gleichen düsteren, fetthaarigen Slytherin wie eh und je, nur um Jahre gealtert. Für Severus war die Zeit stehen geblieben. Und für ihn? Nachdenklich schloss Remus die Augen. Etwas in seiner Magengrube rumorte wie von einer schlechtgewordenen Speise. Doch er wusste, dass dieses Grollen nichts mit seinem Abendessen zu tun hatte und auch nichts mit dem Zaubertrank, der langsam seine Wirkung tat. Es war das schlechte Gewissen. Wie sollte auch für ihn die Vergangenheit abgeschlossen sein, wenn sein Gegenüber sie auf dem Silbertablett geradewegs in sein Zimmer trug? Allnämlich drang die Kühle im Raum auf Remus ein und er hoffte, dass die Decke schnell ihren Dienst leisten würde. Wärme, war es nicht das, was ihn am meisten fehlte? Von seinen engsten Schulfreuden war ihm kein einziger geblieben, nur ein Feind. Und was bedeuten mochte, ließ ihn erst recht frösteln. Der nächste Morgen kam und Remus‘ düstere Gedanken verflüchtigten sich im frühen Licht wie die Schatten in der Ecke. Die Korridore der Schule waren an diesem Freitag mit dem quirligen Leben junger Menschen erfüllt und als Remus sich auf dem Weg zum Frühstück machte, genoss er es sich inmitten dieses Trubels zu bewegen. Wieder in Hogwarts zu sein, seine Füße auf die Treppen zu setzen, die jederzeit die Richtung wechselten und in den Galerien an Porträts vorbeizukommen, die in eifrige Gespräche vertieft waren, fühlte sich an wie nachhause zu kommen. Eingehüllt in den Dunst der aufsteigenden Erinnerungen, diesmal der schönen und hellen, kam es ihm fast so vor, als würde er selbst wieder die Schulbank drücken, ein Schüler unter Schülern. Für einen Moment erwischte er sich sogar beim Gedanken daran bei Einbruch der Dunkelheit heimlich einen der Geheimgänge aufzusuchen und auf die glorreichen alten Zeiten einen Streifzug zum Verbotenen Wald zu unternehmen. Doch zwei Jungen aus Hufflepuff, die ihn freundlich als „Professor Lupin“ begrüßten, erinnerten ihn daran, dass er nun auf der anderen Seite des Klassenzimmers stand und Remus verwarf seinen Tagtraum. Lehrer brauchten sich nicht wie Lausejungen durch davonzustehlen noch stand es ihnen an. Was das Schloss betraf, würde noch Gelegenheit haben, es ausgiebig erneut zu erkunden. Denn da der Wolfsbanntrank nach der bisherigen, dürftigen Forschungslage in den ersten Tagen der Einnahme zu heftigen Nebenwirkungen führen konnte, hatte Dumbledore zur Sicherheit beschlossen, seinen Unterricht bis zum ersten Vollmond auszusetzen. Doch da Remus wohl zu jenen gehörte, bei denen der Zaubertrank ohne Komplikationen anschlug, stand ihm nach dem Stress des Beziehens seiner Räume heute ein freier Tag bevor. Doch erst nach dem Frühstück, denn sein Magen knurrte schlimmer als jeder Hund. So machte er sich auf den Weg in die Große Halle, auch wenn das bedeutete, den schwarzen Augen Severus Snapes wieder zu begegnen und den düsteren Wolken, die über ihnen schwebten. Doch die gleichen Augen, die Remus Stunden zuvor noch böse angefunkelt hatten, würdigten ihn bei Tisch keines einzigen Blicks. Und auch die darauffolgenden Tage verliefen erstaunlich ruhig. Nach seinem Auftritt als Phantom der Nacht schien Severus das Interesse daran verloren zu haben, Remus im Schlaf heimzusuchen oder sich überhaupt in seiner Nähe aufzuhalten. Tatsächlich sahen sie sich nur äußerst selten. Ein ferner Schatten in den Korridoren der Schule und einige belauschte Gespräche unter Kollegen, in denen Snapes Name fiel, waren die einzigen Spuren, die Remus die Existenz seines alten Mitschülers bezeugten. Und war Severus nicht gerade der angenehmste Kollege, konnte man ihm eines nicht vorwerfen: Unzuverlässigkeit. Es verging kein Tag, an dem Remus nicht eine, mit einem Warmhaltezuber belegte, Tasse üblen Gebräus an seinem Platz im Lehrerzimmer vorfand, gewissenhaft mit dem Hinweis versehen, wie der Trank einzunehmen sei und dass noch Nachschub zur Verfügung stände. Ein paar Mal dachte Remus darüber nach, den Wolfsbanntrank zum Anlass zu nehmen, noch einmal das Gespräch mit Severus zu suchen. Doch in den wenigen, flüchtigen Momenten, in denen sie sich zufällig begegneten, hüllte der Tränkemeister sich in ein solch kaltes, abweisendes Schweigen, dass es Remus‘ Lippen schon nach den ersten, stets unerwiderten Begrüßungsfloskeln wieder versiegelte. Die schwarzen Augen sprachen mehr die schmalen Lippen. Ein provokanter, herausfordernder Blick stach unter den markanten Brauen. hervor gleich dem eines Tieres, das nur darauf lauerte, dass seine Beute sich aus der Höhle wagte. Und dies ließ Remus‘ Mut endgültig sinken. Er hatte gegen Lethifolds und Dementoren, gegen Irrwichte und Trolle und in der Gosse von London, im Palusviertel, in dem viele Verdammte wie er ihre Zuflucht gefunden hatten, auch mit Todessern, Sabberhexen und zahllosen makabren Persönlichkeiten gekämpft. Aber es gab Dämonen ganz anderer Art. Dämonen, die nicht so leicht zu besiegen waren. So ging es eine halbe Woche lang weiter bis zum Dienstagnachmittag, dem eine Vollmondnacht folgen sollte. Kurz vor zwei verließ Remus die Verbotene Abteilung der Schulbibliothek, wo er für die Oberstufe eine kleine Auswahl an zusätzlicher Lektüre zusammengestellt hatte. Gut gelaunt bog er in den Korridor ein, Peeves klägliche Provokationsversuche hinter sich lassend, die ihn mehr amüsierten als verärgerten, weil auch sie zum wohlbekannten Hogwarts gehörten. Da sah er sie: In einer Nische zwischen einer Ritterrüstung und einer Büste von Medusa standen dicht beieinander ein Mädchen und ein Junge, offenbar in ein Streitgespräch vertieft, denn sie redeten laut und hektisch aufeinander ein. Eigentlich hatte Remus sich in den letzten Tagen angewöhnt, solche Szenen zu ignorieren, war sein Eingreifen nicht dringend erforderlich. Doch in diesem Fall hielt er im Vorrübergehen plötzlich inne. Fetzen des Gesprächs drangen zu ihm durch und ließen seine Füße mit einem Mal stillstehen. Mehrfach war der Name ‚Snape‘ gefallen und es schien auf den zweiten Blick vielmehr als würden die Jugendlichen sich gemeinsam über etwas aufregen als miteinander zu streiten. Hellhörig geworden wandte Remus sich nach den beiden um. Das rothaarige Mädchen kannte er. Es war eine von Harrys Freundinnen, die im Hogwarts Express zufällig sein Abteil geteilt hatten, Ginevra Weasley, eine Zweitklässlerin. Der Junge hingegen war ihm fremd. Doch er trug eine auffällige Kamera um den Hals und schien im gleichen Alter zu sein. Augenblicklich verstummte ihr Gespräch, als sie bemerkten, dass Remus neugierig auf sie zukam. „Verzeiht, wenn ich euch beide störe“, begann er freundlich den Faden aufzunehmen, „Ich habe euch gerade ein wenig belauscht, ihr wart leider kaum zu überhören. Gibt es ein Problem?“ Einen Augenblick lang musterten die Kinder ihn still und finster, tauschten Blicke aus, als wären sie sich unsicher, ob sie den Grund ihrer Aufregung einem Lehrer anvertrauen könnten. Schließlich war es das Mädchen, welches das Schweigen brach. „Es geht um Professor Snape, Sir. Er hat am Freitag in der Mittagspause Colins Koboldsteinspiel genommen und gemeint, Colin könne es sich nach dem Turnier des Clubs am Dienstag abholen und nun will er es nicht herausrücken.“ Ruhig hörte Remus sich die Geschichte an. Irgendetwas gefiel ihm daran nicht. Dennoch hob zu er beschwichtigen Worten an. „Sicher ist das ein Missverständnis. Wahrscheinlich meinte Professor Snape den Mittwoch und du kannst dein Spiel morgen früh abholen“. Er hatte sich dem Jungen mit der Kamera zugewandt und wollte ihm jetzt, da er ihm einen Schülernamen zuordnen konnte, noch etwas Freundliches sagen. Doch er kam nicht weit. Sogleich ergriff die junge Miss Weasley wieder das Wort. „Nein, so ist es nicht“, widersprach sie leise. Remus richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sie und wartete neugierig auf eine Erklärung. Doch das Mädchen schwieg als sie seinen Blick auf sich ruhen fühlte. „Wenn es etwas gibt, das ich wissen sollte, dann solltet ihr darüber reden“, sprach Remus ihr nach einem Augenblick gut zu, „Andernfalls kann ich euch nicht helfen“. Mit einem Lächeln fügte er hinzu: „Keine Sorge, es wird ebenso wenig zu eurem Nachteil sein wie meine Schokolade im Hogwarts Express“. Unsicher tauschte Ginevra Weasley einen erneuten Blick mit ihrem Klassenkameraden, dann sog sie die Luft ein und öffnete den Mund. „Snape hat das wegen Neville getan“, sagte sie gradeheraus, „weil wir ihm am Freitag in der Zaubertrankstunde klar gesagt haben, dass es gemein war ihn so zu behandeln“. Ihr Mitschüler wurde blass angesichts ihrer Offenheit und Remus hob verblüfft die Augenbraue. „Neville? Neville Longbottom?“ Auch er hatte am ersten September im letzten Abteil des Schulzugs gesessen und Remus konnte sich nicht vorstellen, wie der schüchtern und ein wenig tollpatschig wirkende Junge sich im Unterricht Ärger eingehandelt haben könnte. „Ja“, fuhr das Mädchen fort und eine Spur von Zorn lag in ihrer Stimme. Dann plötzlich überkam sie unverblümte Rage, „Er hat Neville am Donnerstag angedroht, seine Kröte zu vergiften, weil er seinen Zaubertrank nicht hinbekommen hat. Als Hermine ihm half, hat er ihr dafür Punkte abgezogen und uns auch, bloß weil wir uns beschwert haben.“ „Das hat er getan?!“, rutschte es Remus unwillkürlich heraus. Einen Moment lang konnte er nicht glauben, was er da hörte. Doch dann schob sich die Erinnerung an Severus‘ hasserfüllten Blick wieder in sein Bewusstsein. Nun regte sich auch Colin Creevey. „Er - er redet auch immer schlecht über Harry“ erzählte der Junge mit dünner, zittriger Stimme, „Erzählt immerzu, welchen Trank Harry vermasselt hat und welche Punktabzüge er dafür kassiert hat, dass er ein miserabler Schüler sei und wir uns hüten sollten, seinem Beispiel zu folgen, wenn uns unsere Noten irgendetwas bedeuten. Dabei ist Harry nicht schlecht. Harry ist der Beste!“ Die Worte des Jungen verklangen in einer jäh eintretenden Stille und Remus brauchte einen Augenblick, sie setzen zu lassen. „Gut“, sagte er schließlich mit belegter Stimme, „Ich werde mit Professor Snape reden und das regeln. Morgen Abend kannst du dein Koboldsteinspiel in meinem Büro abholen, Colin. Geht nun.“ Für einen Moment sahen ihn die beiden Zweitklässler noch skeptisch an, dann nickte das Mädchen knapp und drängte ihren Kameraden sachte zum Gehen. „Vielen Dank, Professor Lupin, Dankeschön“, rief der junge Mister Creevey ihm noch zu und hastete seiner Mitschülerin nach, bis beide um eine Ecke bogen und verschwanden. Nachdenklich setzte auch Remus seinen Weg fort. Seine gute Laune war verflogen als er endlich seine Bürotür erreichte. Es war nicht das erste Mal, dass ihm in seiner kurzen Zeit an Hogwarts Klagen über Severus zu Ohren gekommen waren. Unwillentlich hatte er ein paar Gespräche im Lehrerzimmer belauscht. Doch bisher hatte er all die kleinen Ärgernisse seiner Kollegen auf die üblichen Reibereien zurückgeführt, wie sie überall vorkamen wo Menschen zusammenarbeiten. Was er aber soeben gehört hatte, versetzte ihn ins Grübeln. Sollte es tatsächlich so sein, dass seine Probleme mit ihm nur die Spitze des Eisbergs waren? Dass hier ein Grundzug seines Wesens besonders deutlich zum Ausdruck kam? Immerhin war Severus schon als Schüler nicht gerade die Freundlichkeit in Person gewesen. Wo Sirius und James ihn traktierten, da traktierte er selbst mit einer Gruppe Mitschüler Mugglestämmige. Sogar Lily, die jahrelang eine enge Freundin zu sein schien, hatte er letztendlich als Schlammblut beschimpft. Wie sehr hatte er sich in den Jahren seit ihrem Schulabschluss wirklich geändert? Geistesabwesend schloss Remus sein Büro auf und trat ein. Die Herbstsonne zeichnete die Konturen des Zimmers, der Möbel und Kisten in goldenem Glanz. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, setzte er sich an seinen Schreibtisch und ging noch einmal die Aufsätze seiner Schüler durch, die sich dort noch immer stapelten. Als Ersatz für den Unterricht, der in dieser ersten Woche ausfallen war, hatte er all seinen Klassen durch einen Vermerk auf dem Stundenplan aufgetragen, mindestens eineinhalb Rolle Pergament darüber zu schreiben, was sie in den letzten Schuljahren in Verteidigung gegen die Dunklen Künste gelernt hatten, was ihnen am Fach zusage und was nicht und wie sie sich das kommende Schuljahr vorstellten. Er hatte sich ein Bild von jedem einzelnen seiner Anvertrauten machen wollen. Denn als Lehrer, so glaubte Remus, konnte er einer Klasse dann am besten etwas beibringen, wenn er die Stärken und Schwächen, die Vorlieben und Abneigungen jedes Einzelnen kannte. Schnell war er den Stapel der dritten Klasse durchgegangen und legte die beiden Aufsätze vor sich aus, die er gesucht hatte. ‚Longbottom‘ stand auf dem einem, ‚Potter‘ auf dem anderen. Bilder stiegen vor seinem geistigen Auge auf als er die Namen überflog. Die Gesichter von Alice und Frank, bevor sie von Sirius‘ Cousine in den Wahnsinn gefoltert worden waren; Sirius‘ Lächeln; Sirius, der auf der Flucht war, weil er – unglaublich – Lily und James an Lord Voldemort verraten hatte. Lily und James, das letzte Mal als Remus sie lebend gesehen hatte mit dem kleinen Harry auf dem Arm; der kleine Harry, der kaum noch laufen konnte. Harry und Neville. Noch einmal vertiefte Remus sich in die Lektüre der krakeligen Handschriften. Harrys Aufsatz entlockte ihm ein Lächeln. Dass der Junge hoffte, endlich etwas Praktisches in Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu lernen, erinnerte ihn an James. Doch Nevilles Aufsatz ließ ihm wie schon beim ersten Mal das Herz sinken. Also ich bin ich sehr schlecht in Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Eigentlich kann ich gar nichts. Ich hatte noch nie eine gute Note in der Schule außer in Kräuterkunde. So lauteten die ersten Sätze und es wurde nicht besser. Bis ans Ende der mit großzügigen Leerzeilen gespickten Pergamentrollen war Nevilles Aufsatz eine einzige Mischung aus Selbstanklage und Leere. Denn der junge Longbottom konnte nicht eine Sache benennen, die ihm an diesem Fach gefiel oder die er in seinem dritten Jahr erwartete. Erfüllt von Gedanken, die keine klare Gestalt annehmen wollten, legte Remus die Aufsätze wieder zurück auf ihren Stapel und wandte sich dem der ersten Klasse zu, die er noch nicht durchgelesen hatte. Als der letzte Aufsatz von links nach rechts wanderte, sank sie Sonne bereits rotglühend an den Zinnen des Schloss herab, um bald einem runden, silbern leuchtenden Mond Platz zu machen. Remus fühlte sich wie jeden Monat reichlich unbehaglich in seiner Haut. Da er den Anderen das Essen nicht verderben wollte und ihm selbst auch nicht nach Gesellschaft zumute war, beschloss in Erwartung des Kommenden das Abendessen in der Großen Halle ausfallen zu lassen und in seinem Büro der Dinge zu harren. Die Tür war nur angelehnt, und das Grammophon spielte kratzend eine Schelllackplatte der Zwanziger Jahre als plötzlich eine schwarze Gestalt fledermausgleich ins Zimmer huschte. „Wie ich höre, beleidigst du schon jetzt die Ohren deiner Umgebung mit Geheule. Du kannst es wohl kaum erwarten, bis der Mond aufgeht, nicht wahr?“ Remus, der gerade in Gedanken an die Schülerwünsche eines der Exponate untersuchte und Severus‘ Eintreten nur aus dem Augenwinkel bemerkt hatte, wandte sich um. Gerade als die Tür ins Schloss fiel, trafen sich ihre Blicke und zum zweiten Mal in nicht mal einer Woche waren sie allein.Stille, aufgeheizt wie die Luft kurz vor einem Gewitter, setzte ein. Remus spürte, wie sich ein Gefühl gleich wütender Flammen in seinen Adern ausbreitete. Da stand er vor ihm, Severus Snape, über den er den ganzen Tag nachgedacht hatte. Und er wusste mit einem Mal nicht, was er fühlen, was er denken sollte und wie er reagieren sollte. Der Stich, den ihn die Anspielung auf sein ‚pelziges Problem‘ versetzte, stachelte seinem Ärger an und reizte ihn fast zu einer zornigen Erwiderung. Doch er war klug genug, seine Worte im letzten Moment herunterzuschlucken. Ohnehin war das, womit Severus ihn verletzen wollte, zweitrangig. Es war der Gedanke daran, was er vielleicht seinen Schülern antat, sollten Miss Weasley und Mr Creevey nicht gelogen haben, die den Tränkermeister zu einer unangenehmen Präsenz im Raum machten. Severus, der offenbar mit einem Gegenschlag gerechnet hatte, runzelte verwirrt die Stirn als Remus schwieg. „Hier, dein Trank, Werwolf. Weil der feine Herr Kollege es ja nicht für nötig hält, ihn abzuholen! Ich hoffe, er möge dir munden“, schnarrte er schließlich vorwurfsvoll und knallte einen Zinnbecher auf eine der Kisten, so dass das Gebräu überschwappte. Remus‘ Blicke wanderten zur heißen Pfütze, die allmählich ins Holz einsickerte und ihm kam der Zettel wieder in den Sinn, der am Morgen an seinem Platz im Lehrerzimmer gelegen hatte und ihm entfallen war: Heute zwei Rationen! „Danke, Severus“, murmelte er heiser. Mehr gaben seine vor Abneigung geschlossenen Lippen nicht her. Mit einem hasserfüllten Blick wandte Severus sind ab und war im Begriff das Büro schnellstmöglich zu verlassen. Da fiel Remus etwas ein. „Warte!“, hielt er seinen Kollegen zurück, der sich tatsächlich umwandte und ihn böse anfunkelte.„Ich habe gehört, dass du das Koboldsteinspiel eines Zweitklässlers konfisziert hast. Würde es dir etwas ausmachen, es mir zu überlassen? Es ist hier in guten Händen.“ Severus‘ Stimmung wechselte schlagartig. Ein süffisantes Grinsen trat in seine Züge als hätte er die Sache blitzschnell durchschaut. „Und warum sollte ich das tun? Etwa damit du dir das Wohlwollen der Verehrer deines ach so geschätzten James Potter Juniors erschleichen kannst? Oder willst du die blitznarbige Miniaturausgabe deines verblichenen Freundes gleich selbst zu einem Spielchen einladen, um ihn wegen seines Dementorentraumas im Hogwarts Express zu trösten?“ Abermals musste Remus seine Gefühle hinunterschlucken. Severus‘ Sinn war genauso scharf wie seine Zunge. Davor musste man auf der Hut sein. Doch er selbst war auch nicht so unbedarft, um dieses Spiel nicht mitspielen zu können. „Nein, ich denke nur, dass du mit all deinen Aufgaben als Tränkemeister schon genug um die Ohren hast“, er warf der Pfütze einen erneuten Seitenblick zu, ehe er in ruhigem Ton fortfuhr „Genug, um dich nicht auch noch mit der Bewachung eines beschlagnahmten Gegenstands abzumühen. Wie man hört, soll es ja schon vorkommen sein, dass Schüler in Lehrerbüros einbrachen, um etwas Heißbegehrtes zu entwenden. Und ein verwüstetes Zaubertranklabor wieder aufzuräumen, dürfte sicher eine Plackerei sein.“ Einen Augenblick lang passierte nichts. Dann sah Remus wie Severus‘ Augenbrauen mehr und mehr zusammenwuchsen und der Tränkemeister ein halb ärgerliches, halb entnervtes Schnauben von sich gab. Wie erwartet hatte er direkt ins Schwarze getroffen. Statt eine Antwort zu geben, erhob Severus nach einem weiteren Moment seine Stimme für ein einziges, lautes Wort: „CLOUDY!“ Augenblicklich apparierte eine Hauselfe in Remus‘ Büro, die sich vor ihnen verneigte und fragte: „Was wünschen die Herren Professoren?“ „Hol das Koboldsteinspiel aus meinem Büro, Schreibtisch, mittleres Fach links und übergib es Professor Lupin“, erwiderte Severus knapp. Die Hauselfe verneigte sich und disapparierte. Finster blickte sein Kollege Remus direkt in die Augen. Sein Blick war von unverhohlenem Hass erfüllt und etwas Zorniges, Gefährliches blitze darin auf wie ein Tier, das zum Sprung ansetzt. „Ich warne dich, Lupin“, raunte er ölig, „Zu große Verterauensseeligkeit hat ihren Preis. Du kennst die Schüler von Hogwarts noch nicht, darum lass dir eines gesagt sein: Jede Strafe hat ihren guten Grund. Sollte das Spiel zurück in die Hände eines gewissen Colin Creeveys gelangen, könnte es sein, dass du das bitter bereust.“ Mit einem unmissverständlichen Nicken in Richtung des Wolfsbanntranks wirbelte der Tränkemeister herum und zog von dannen. Gelassen ließ Remus die Drohung über sich ergehen und wartete stumm, bis Severus gegangen war. Noch konnte er nicht sagen, ob er seinem Eindruck trauen konnte oder dieser ihn betrog; ob Miss Weasley und Mr Creevey die Wahrheit gesprochen oder maßlos übertrieben hatten. Doch Remus spürte deutlich, wie etwas gleich eines Kettenhemds von ihm abfiel, als sein alter Mitschüler gegangen war und ihn ein Schauer packte. Er würde auf der Hut sein. Er würde die beiden Jungen und auch seinen Kollegen gut im Auge behalten. Und es wenn tatsächlich so sein sollte, dass Franks und Alices Sohn so wenig Erfolg in der Schule hatte, würde es nun einen Lehrer geben, der an ihn glaubt: Ihn. Mit diesem Gedanken drehte sich Remus ab, um auf die Rückkehr der Hauselfe zu warten. Ein Schatten fiel durch das Bogenfenster ins Zimmer: In der Ferne zog ein Dementor vor der Sonne seine Runde. Kapitel 6: Eiszeit ------------------   „Meine Stunde mit dir tauschen?!“ Der dünnlippige Mund spie den Satz regelrecht aus, jagte ihn mit einem Zischen durch geschlossene Zahnreihen, jedes Wort einzeln. Die Nasenflügel blähten sich wie bei einem Stier kurz bevor das Gatter zur Arena geöffnet wurde. Und in schwarzen Augen blitze der Zorn.   „Wozu?“, keifte der Tränkemeister, „Reicht dir eine Doppelstunde etwa nicht mehr, um deine faule Saat unter die Schüler zu streuen? Soll ich etwa den Schulleiter bitten, dich durch einen fähigeren Lehrer zu ersetzen?“ Die langen, gelblichen Finger krallten sich fest um die frisch gefüllte Tasse, als wollten sie sie in Stücke brechen. Remus hielt dem Blick stand, auch wenn er wusste, dass er die Tasse war, die da zerquetscht wurde. Tief atmete er ein, um seine Gelassenheit zu bewahren, während sein Gegenüber mehr und mehr zu schäumen begann. Dann drehte sich Severus jäh von ihm ab, um einen winzigen Tropfen Milch in seinen Kaffee zu rühren und Remus musterte die holzgetäfelte Wand.   „Ich dachte mir, es käme auch den Schülern deines Hauses zugute, wenn sie etwas praktische Erfahrung im Kampf gegen Porgebins sammeln. Jetzt, wo die Dementoren ihnen die Jagd erleichtern und sie sich vermehrt am Rande des Verbotenen Walds blicken lassen. Du weißt, einen Porgebin dazu zu bringen, seine Steinform aufzugeben und anzugreifen, erfordert Zeit“, erklärte er ruhig, während sie nebeneinander vor der Küchenzeile standen. „Und du denkst, ich würde dir auch nur eine Sekunde meines wertvollen Unterrichts opfern, damit du deinen Dilettantismus an meinen Schülern ausprobieren kannst? Warum leihst du dir nicht Trelawney? Ich bin mir sicher, die Progebins würden sich bei deinem Anblick so ins Fäustchen lachen, dass sie ganz vergessen, sich in einen Stein zu verwandeln. Wie man hört, hast du mit der Methode schon Erfahrung. Einen schönen Tag noch!“   Schritte ließen Remus aufmerken. Sein Gegenüber hatte sich umgewandt und war im Begriff zu gehen. „Warte Severus, bitte!“, rief er ihm hinterher. Auf halbem Wege blieb der Tränkemeister stehen und sah noch einmal zu ihm zurück. Blicke wie Pfeile schossen aus dunklen Augen. „Ich sagte nein, Werwolf“, zischte er, „Und das ist mein letztes Wort. Auf Wiedersehen, Frau Kollegin.“ Mit einem taxierenden Blick auf Aurora Sinistra, die das Streitgespräch hinter einer Zeitschrift verborgen belauscht hatte und einen stechenden, drohenden und hassgetränkten auf Remus, setzte Severus schweigend seinen Weg fort.   Remus ließ ihn ziehen und beobachtete still, wie der schwarze Umhang im Türrahmen verschwand. Er würde Severus nicht folgen, nicht vor ihm zu Kreuze kriechen. Nur einen einzigen Versuch, das hatte er sich geschworen. Und dieser Versuch war soeben gescheitert, auch wenn er bis zuletzt gehofft hatte, dass Severus wenigstens für sein eigenes Haus eine Ausnahme machen würde. Nun, dann würde er Flitwick eben noch um einen weiteren Stundentausch bitten. Oder im Notfall den gesamten Jahrgang auf einmal mitnehmen. Was machte es schon aus? Viel! Viel machte es aus. Seufzend drehte Remus sich um und kippte fahrig etwas Milch in seinen Tee. Die Sache ging ihm nahe. Näher als sie vielleicht sollte. Knapp drei Wochen lag seine unselige erste Unterrichtsstunde mit Harrys Klasse nun zurück, in der die Kinder gegen einen Irrwicht kämpfen ließ. Und seitdem hatte ihr Verhältnis längst wieder die Züge ihrer Schulzeit angenommen, zumindest von Severus‘ Seite aus. Unterkühlt war kein Ausdruck mehr. Es herrschte Eiszeit. Waren Remus in den ersten eineinhalb Wochen an Hogwarts noch herausfordernde oder höhnische Blicke gefolgt; hatten die schmalen Lippen sein Tun mit Hohn und Zynismus begleitet, behandelte der Tränkemeister ihn seit diesem Tag wie Luft. Kein ‚Guten Morgen‘ auf dem Flur entlockte ihm auch nur einen finsteren Blick; Schüler, die Remus zu ihm schickte, erklärten nach ihrer Rückkehr verzweifelt, dass Professor Snape keinen Professor Lupin kenne und auf der außerplanmäßigen Konferenz über einen Zwischenfall mit den Dementoren, die eine Gruppe volljähriger Siebtklässer auf einem Hogsmeadeausflug angegriffen hatten, riss Severus das Wort an sich sobald Remus auch nur die Lippen bewegte. Dass er auf sein heutiges Anliegen mit den Fünftklässlern überhaupt reagierte, lag nur daran, dass Remus ihn zufällig in der Ecke mit der Teeküche erwischte und so zum Zuhören zwingen konnte. Nachdenklich beobachtete er, wie die weißen Schlieren sich in der braunen Flüssigkeit auflösten als ihm eine schläfrige Stimme ans Ohr drang. „Machen Sie sich nichts draus. Snape um einen Gefallen zu bitten ist wie das Gold am Ende des Regenbogens zu suchen“, bemerkte Professor Sinistra und gähnte vernehmlich als sie fortfuhr, „Er ist nun mal ein Misanthrop wie er im Buche steht. Am besten geht man ihm einfach aus dem Weg.“ Ihr musste seine bedrückte Stimmung aufgefallen sein und nun versuchte sie ihn zu trösten.  Doch ihre Worte beruhigten Remus keineswegs. Im Gegenteil, sie waren erst Recht Zunder für sein schlechtes Gewissen. Denn wenn Severus sich zu einem Bilderbuchmisanthropen entwickelt hatte, dann hatte auch er einen Anteil daran. In den letzten Wochen hatte Remus genug gesehen und genug gehört, um sich sein eigenes Urteil über Severus zu bilden. Und es war ein Urteil, das nicht nur den griesgrämigen Lehrer berücksichtigte, sondern auch den schmächtigen Drittklässler, der von gleich mehreren Mitschülern auf einmal angegriffen wurde und sich nicht wehren  konnte, weil sein Zauberstab zu Boden gefallen war. Doch trotz der Last seiner wachsenden Schuldgefühle, trotz des Wunschs nach Klärung war Remus nicht in die Kerker hinab gestiegen, um sich mit Severus auszusprechen. Mehr noch: Er hatte, wenn auch unabsichtlich, sogar neues Öl ins Feuer gegossen; hatte eigenmächtig mit spitzem Finger in der Wunde gebohrt, von der er gehofft hatte, dass sie in all den Jahren geheilt wäre. Hatte seiner Feigheit die Krone der Verhöhnung aufgesetzt. „Ich denke, Sie tun Severus Unrecht“, entgegnete er Aurora ruhig, während das Morgenlicht ihr dunkles Gesicht streifte und die Frau mit dem Einschlafen kämpfte, „Er hat ein gutes Recht, wütend zu sein. Niemand mag es vorgeführt zu werden. Es ist meine Schuld.“ Auroras Augen, in denen eben noch der Schleier der Müdigkeit lag, sahen Remus mit einem Mal voller Verblüffung an. Doch er blickte zu Boden und trat verschämt zur Geschirrablage, um seinen Teebeutel zu entsorgen. Im gleichen Moment hörte er die Türe gehen, doch er konnte von seinem Standpunkt aus nicht sehen, wer da eintrat. „Kein Mensch ist von Grund auf böse“, fuhr er ungeachtet des Besuchers fort, „Ich bin mir sicher, dass es an Severus freundliche Seiten gibt, auch wenn er sie partout nicht zeigt. Wenn er sich auch wie die Axt im Walde benimmt, wer kann schon sagen, warum? Wer selbst schon so viel Unfrieden stiftet braucht eine milde Hand statt einer Kriegserklärung.“ Eigentlich hatte Remus nur laut vor sich hin gedacht und doch erhielt er eine Erwiderung. „Das sind weise Worte, Remus“, pflichtete ihm eine altvertraute Stimme bei. Aber sie gehörte nicht Professor Sinistra. Überrascht wandte Remus sich um. Die rote, mit Sternen bestickte Robe und den langen, silbernen Bart im Türrahmen erkannte er sofort. „Professor Dumbledore!“, rief er verwundert und mustere seinen Vorgesetzen, der seinen Blick mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge erwiderte. Leise schloss der Schulleiter hinter sich die Tür und trat in den Raum hinein, ehe er sich nach Remus‘ Befinden erkundigte.           „Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?“, fragte er ernst. Doch Remus schüttelte sachte den Kopf. „Nur eine kleine ähm Meinungsverschiedenheit, nichts weiter“, erwiderte er, während er seine Blicke zusammen mit einem Stück Zucker in der Teetasse versenkte, „Ich bin auch auf dem Sprung und müsste eigentlich schon im Klassenzimmer sein.“ Hastig raffte er seine Sachen zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und balancierte mit seinem Geraffel zur Türe. Die Anwesenheit des Direktors und dessen Nachhaken waren ihm unangenehm. Höchste Zeit zu gehen also. Die Türklinke ergreifend murmelte Remus ein paar Abschiedsworte, dann drückte er sie durch. Aus den Augenwinkeln konnte er noch erkennen, wie Professor Sinistra mit den Achseln zuckte und fast im Stehen einschlafend ihre Ausgabe von „Astronomie aktuell“ zusammenpackte. Dumbledores Gesicht sah er nicht mehr. Doch er meinte seine Blicke deutlich im Nacken zu spüren, wie sie ihm folgten als er die Schwelle überschritt. Die Herbstluft, die durch ein aufgerissenes Fenster hereinströmte, vermochte seine heiß gelaufenen Gedanken nicht abzukühlen. Auch wenn Severus sicher längst schon wieder seine Nase in seinem Kerkerzimmer über einen Schülerkessel reckte, war er doch wie ein Schatten, der Remus durch die Flure folgte und seinen Geist gefangen hielt. So stoisch der Tränkemeister seine Existenz auch zu leugnen versuchte, bekam Remus die bittere Pille seiner Rache deutlich zu spüren. Seit bald drei Wochen erwies es sich als nahezu unmöglich, Schüler aus Slytherins zur Mitarbeit zu bewegen. Nicht nur Malfoy und seine Clique, die, wie Remus herausgefunden hatte, mit Harry verfeindet waren. Nein, es ging durch alle Jahrgänge. Entweder verweigerten sie sie sich seinem Unterricht komplett oder sie störten andere Schüler. Hauspunkte, die er abzog, waren nach der Mittagspause oder dem Abendessen stets ums Doppelte wieder aufgefüllt. Vereinzelte Fälle, in denen jemand gar nicht erst zum Unterricht erschien und über die Remus seinen Kollegen schriftlich informierte, wurden mit Nachsitzen, Strafarbeiten oder Aufenthalten auf der Krankenstation entschuldigt und einmal fand Remus, nachdem er es über Nacht nicht abgeschlossen hatte, sein Klassenzimmer völlig verwüstet vor. Zwar glaubte er nicht, dass Severus all diese Dinge gezielt angezettelt gegeben hatte. Eine solch plumpe Art des Heimzahlens war schon zu Schulzeiten nicht sein Stil gewesen. Doch er war sich sicher, dass er unter den Schülern seines Hauses ausgiebig Hass gegen ihn säte und jede Blüte  dieser Saat großzügig belohnte. Natürlich ließ Remus all diese Dinge nicht auf sich sitzen – er hatte mit Hilfe der Porträts im Korridor die Übeltäter ausfindig gemacht und ihnen Strafarbeiten auferlegt; war dazu übergangen das braves Verhalten der anderen Häuser besonders zu belohnen; hatte Schüler umgesetzt und begonnen, seinen Unterricht so praxisnah zu gestalten, dass jeder selbst merkte, dass Stören und Zuspätkommen nicht zu seinen Gunsten ausfielen. Dennoch setzte ihm der Hass, der ihm wegen eines Geierhuts entgegenschlug, deutlich zu. Er brauchte ein harmonisches Arbeitsklima. Er brauchte Frieden statt Krieg. Und zum allem Überfluss schien der Schulleiter allmählich Wind von der Sache zu bekommen. Es war nicht das erste Mal, dass er ihre Begegnungen mit kritischen Blicken beobachtet hatte und auch nicht, dass Remus versucht hatte, den vorsichtigen Nachfragen durch Ausflüchte zu entgehen. So sehr er Dumbledore schätzte: Dies war eine Sache zwischen ihm und Severus. Severus. Der Name schien wie ein Klingelschild neben der Tür zu prangen, als Remus sein Büro erreichte, um noch ein paar Käfige zu holen. Tatsächlich begann sein Unterricht erst in einer halben Stunde.  Die schwarze Robe, das Gedankenphantom, folgte ihm geisterhaft, als er eintrat. Warum sein alter Feind ihn so abstrafe, warum er auch den Anderen gegenüber kaum kollegial verhielt, fragte sich Remus nicht. Er kannte die Antwort zu gut. Ausgrenzung, Alleinsein und Verachtung konnten einen Menschen nachhaltig zum Schlechten prägen. Er selbst hatte zehn Jahre seiner Kindheit in Einsamkeit verbracht und er sah im Palusviertel immer wieder, wie neue Gesichter ihre Ausstoßung aus der Zauberergemeinschaft nach einer Weile mit Verbrechen und Gegenverachtung vergolten. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn Dumbledore ihm keine Chance auf den Schulbesucht gewährt hätte und James, Sirius und Peter ihn nicht in dieser Dunkelheit gefunden und ein Licht entzündet hätten? Seine Freunde und Severus Feinde, die den Slytherin allzu oft mit Füßen getreten hatten. Viel zu lange hatte er es sehenden Auges geduldet aus Angst sie zu verlieren. Und dann war das noch etwas. Damals in seiner Jugend hatte er darüber freilich nicht nachgedacht, denn er selbst hatte als Kind eines gutbürgerlichen Elternhauses zumindest in dieser Hinsicht nie zu leiden gehabt. Doch wenn er heute die Bilder seiner Schulzeit Revue passieren ließ, spürte Remus, wie ihm klamm wurde. Das stets fettige Haare, die Löcher und Risse im Schulumhang, die zerfledderten Bücher… natürlich kannte er die genauen Verhältnisse nicht, in denen Severus Snape aufgewachsen war. Doch sprach das verwahrloste Aussehen seines Mitschülers Bände. Er, der inzwischen selbst nur abgetragene, zerschlissene und tausendfach geflickte Kleidung ins seinen spärlichen Schränken stapelte, wusste mittlerweile sehr gut, welche Umstände dazu führten, sich nicht einmal ein neues Schulbuch leisten zu können. Für einen Moment blickte Remus gedankenverloren in die Augen des Jarveys, der Schimpftiraden über ihn ergehen ließ, während er den Käfig mit dem Zauberstab auf einen Bollerwagen bugsierte. Dann verscheuchte er die Vergangenheit aus seinem Kopf. All das mochte gebührendes Mitleid für Severus erregen, doch eine Entschuldigung war es nicht. Etwas Anderes dagegen schon: ein Phantom im einem Schrank. Schwer atmend kniff Remus die Augen zusammen. Warum im Gottesnamen hatte all das eine solche Wendung nehmen müssen, gerade in einer Phase, in der gehofft hatte, das Kriegsbeil der Vergangenheit noch irgendwie begraben zu können?! Severus musste glauben, er hätte ihn gezielt vor der Klasse, ja der Schule, lächerlich machen wollen. Doch so war es nicht. Lieber Himmel! Wenn ihm eines fern stand, dann sich über Kollegen lustig zu machen. Eigentlich hatte er in dieser Stunde nicht einen einzigen Gedanken an Severus verschwendet. Für ihn war ‚Professor Snape‘ in dieser Situation keine reale Person gewesen, sondern nur das Abbild der Angst eines Schülers. Eines Schülers, dem es an Selbstwertgefühl mangelte und dringend seine Hilfe brauchte. Und er hatte nur getan, was jeder gute Lehrer an seiner Stelle getan hätten: Dem Jungen zu zeigen, wie er seiner Furcht die Stirn bieten kann. Er hatte einen Irrwicht vorführen wollen, nicht seinen Kollegen. War es falsch gewesen? Nachdenklich warf Remus ein Tuch über den Käfig mit dem Jarvey und sicherte ihn für den Transport. Wie so oft in den letzten zweieinhalb Wochen bereute er, wie diese Schulstunde ausgegangen war. Nicht, dass er Neville Longbottom aufgefordert hatte, sich Severus in den Kleidern seiner Großmutter zu fantasieren. Ihm und allen seiner Anvertrauten würde Remus jederzeit beibringen, es mit bösen Kreaturen aufzunehmen. Nein, was er bereute waren jene zehn Minuten gewesen, die er sich noch hätte Zeit nehmen soll. Zehn Minuten, um der Klasse einzuschärfen, dass alles was in dieser Stunde geschehen war, das Lehrerzimmer nie verlassen dürfe; dass er nicht hören wollte, dass irgendwer die Angst seiner Mitschüler oder die Vorstellung, mit der sie sie bekämpften, dazu benutze, um über Andere herzuziehen, sei es ein unbeliebter Klassenkamerad, ein verhasster Lehrer oder wer immer sonst unter den Zinnen des Schlosses lebte. Schwer beladen schob Remus den Bollerwagen hinaus in den Flur, der nun von blendendem Sonnenlicht durchflutet war. In der Septembersonne blinzelnd sprach er Federleichtzauber über den Wagen und zog ihn weiter die Flure entlang. Noch einmal die Planungen für die nächsten Stunden durchgehend, versuchte er, seine Gedanken von Severus abzulenken. Doch die Slytherinschüler, die ihm aus einem Klassenzimmer entgegenkamen, durchkreuzten seine Pläne. In der Galerie im dritten Stock blieb Remus schließlich stehen und blickte mit düster umwölkter Stirn hinab in die Tiefe. Gerade war sein Blick übers Geländer auf den Treppenaufgang gefallen, der Etagen unter ihm, im Erdgeschoss hinab in die Kerker führte. Schwärze stach ihm entgegen wie aus dem Eingang einer Höhle. Oder vielleicht eines Grab? Ein Grab der Vergangenheit, in das sich Severus selbst hinein geschaufelt hatte. Der Anblick trieb Remus einen kalten Schauer über den Rücken. Trotz seines heimlichen Schwurs, es nicht zuzulassen, dass  Snape die Schüler durch seine Unterrichtsmethoden brach, konnte er nicht verhehlen, dass sein Kollege ihm auch ein wenig leid tat. Jemand, der die Vergangenheit so wenig überwunden hatte, dass er offenbar die neue Generation für seine Rache benutzte, war in bedauernswerter Verfassung. Eine Schwere wie nach einer durchwachten Nacht legte sich auf Remus‘ Glieder. Er wollte seinen Weg fortsetzen. Doch etwas hielt ihn fest, verwandelte seine Füße in Blei. Eine leise Stimme in seinem Innern. Was nutzte all das Mitgefühl, all die Bedenken und das schlechte Gewissen, wenn sie nur wie eine Schallplatte in seinem Kopf im Kreis liefen, höhnte sie. Bald war ein ganzer Monat verstrichen, seitdem er über die Schwelle der Schule getreten war. Vier Wochen an Ignoranz und Häme, an Abneigung und Schulgefühl, an in Selbstmitleid zu Tode gewälzten Gedanken. Und nicht einmal hatte er wirklich versucht diesen dunklen Abgang zu betreten, um die Sache zu klären. Hatte das Drängen mit vernünftigen Gründen zu beschwichtigen versucht anstatt sich einen Ruck zu geben.   Wie lange wollte er eigentlich noch hier oben stehen und nichts tun außer von der Brüstung hinab ins Leere schauen? Vor allem zu fliehen, was den Frieden störte, war schon immer eine seiner größten Schwächen gewesen. Remus wusste es nur zu gut. Ilarias Brief lastete noch immer ungeöffnet auf seinem Gewissen, zentnerschwer. Doch hier ging es nicht um eine Sache, die schon Monate zurücklag. Er konnte sich nicht schon wieder davonstehlen, bloß um sich hinterher über seine Flucht zu grämen! Severus würde nicht aufhören. Niemals würde er die Geschütze aus freien Stücken ins Gras werfen. Es gab nur ein Mittel, diesen Rachefeldzug zu beenden und er selbst hielt den Schlüssel in der Hand.   Ein leichter Schwindel überkam Remus als er die Stockwerke hinabblickte. Doch der Entschluss wuchs. Vier Wochen stillschweigenden Einverständnisses in diesen Krieg aus Feigheit waren genug! Er war keine fünfzehn mehr; James, Sirius und Peter konnte er nicht verlieren, denn sie hatten ihn längst verlassen. Sobald sich die Gelegenheit ergab, das schwor er sich mit den Beleidigungen eines frechen Frettchens im Ohr, würde er Severus aufsuchen, um endlich reinen Tisch zu machen. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Kapitel 7: Eine Aussprache? ---------------------------   Auf den steinernen Stufen hinterließen die Halbschuhe einen dumpfen Ton. Der Schall, der im schmalen Treppenhaus nirgendwo hin entweichen konnte, brach sich an den Wänden und drang zurück zur Mitte. Eisige Kälte stießen die Mauern ab. Fast so als ob der Winter in ihnen hauste und nur auf den Dezember wartete, um endlich hinauf in die Zinnen steigen zu können.  Remus fror.  Für einen Moment wünschte er sich, er hielte noch immer die Tasse Wolfsbanntrank in der Hand. So widerlich das Gebräu auch schmeckte hätte es ihm jetzt etwas Wärme spenden können. Es war der letzte Septembertag und der erste an dem er nach dem Abendessen wieder seine Medizin auf seinem Platz vorgefunden hatte, mit ihr den langersehnten Anlass für das schwere Gespräch, das ihm bevorstand. Bedächtig setzte er einen Schritt vor den anderen, noch einmal all die Dinge durchgehend, die er Severus sagen wollte.  Abermals erinnerte ihn die Wendeltreppe zum Kerker an den Zugang zu einem Grab. Sogar die Fackeln, die sonst das ganze Schloss in flackernden Schimmer tauchten, waren hier stellenweise erloschen. Umso tiefer Remus in diesen unterirdischen Korridor vordrang, umso mehr hatte er das Gefühl, selbst begraben zu werden. Endlich hatte er die Türe auf halber Höhe erreicht neben der das verheißungsvolle Goldschild prangte: SEVERUS SNAPE PROFESSROR FÜR ZAUBERTRÄNKE BÜRO Die schwarzen Einkerbungen der Buchstaben musternd hielt Remus inne. Ohne das Geräusch seiner Lederschuhe auf dem Stein war die Nachtstille undurchdringlich. Ein feiner Vorhang aus Spinnenweben überzog den Türpfosten und aus der Tiefe des Kerkers stieg ein abgestandener, modriger Gestank auf. Was wäre, wenn Severus ihn nicht anhören würde? Wenn er sein Erschienen zu so später Stunde gar als Provokation auffasste und der Graben zwischen ihnen sich noch vertiefte? Tief atmete Remus durch, ohne seine Nase von der leichten Fäulnis, die in der Luft lag, befreien zu können. Doch die Sache gärte schon zu lange und wollte endlich hinter sich gebracht werden. Bei Merlin, eigentlich hätte er dieses Gespräch schon vor zwanzig Jahren führen sollen! Die Sehnsucht nach dem Waffenstillstand fraß den letzten Zweifel. Beherzt ballte er die Hand zur Faust und pochte laut gegen das Holz. Einmal Zweimal Dreimal   Nichts regte sich. Enttäuscht wollte er sich schon wieder abzuwenden, da erklang auf einmal ein metallisches Klacken, gefolgt von einem Rasseln. Die Türe öffnete sich einen Spalt, durch den fahles Licht in den Wendelgang drang und über einem Kettenschloss erschien die grobe Hakennase Severus Snapes.  Eine Sekunde lang sahen die schwarzen Augen Remus mit dem Ausdruck der Überraschung an. Dann verfinsterte sich schlagartig der Blick und der Abstand zwischen den Augenbrauen verengte sich zu einem zornigen Strich. „Den Wolfsbanntrank gibt es erst morgen wieder“, keifte die Stimme und das Gesicht zog sich vom Lichtspalt zurück. Blickschnell rammte Remus, der mit der Abfuhrt schon gerechnet hatte, seinen Fuß zwischen Tür und Angel, gerade noch rechtzeitig, um einen kräftigen Schlag gegen den Schuh abzubekommen. „Severus, ich muss dich sprechen!“, rief er - ein wenig schmerzverzerrt, während das Blut in seinen gequetschten Zehnen pulsierte. Ein Schnauben ertönte auf der anderen Seite, dann ein Raunen. „Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten!“ Ein leises Rascheln mischte sich zu den Worten wie von einem Zauberstab, der langsam aus der Innentasche eines Zauberumhangs gezogen wurde und Remus wusste, dass er sich beeilen musste. „Du kannst mich jetzt fortschicken“, erwiderte er hastig, „und ich werde morgen um die gleiche Zeit wiederkommen. Doch gib mir nur zehn Minuten und ich behellige dich nicht weiter.“ Mit einem Mal verstummte das Rascheln und machte einer angespannten Stille Platz, deren sekundenlange Lebenszeit Ewigkeiten zu während schien. Dann ließ der Druck auf Remus‘ Fuß unerwartet nach. Der Spalt weitete sich. Kettenrasselnd wurde das Schloss entfernt und die Tür schwang auf.   Remus straffte sich und blieb dann wie gebannt auf der Schwelle stehen. Der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend. Deckenhoch stapelten sich an den Wänden Einmachgläser, Kisten und Flakons. Zaubertrankzutaten über Zaubertrankzutaten wie damals zu Slugshorns Zeiten, nur dass es im Büro merklich düsterer war. Einen Moment lang sah Remus sich um, während tausend Erinnerungen an seine Schulzeit ihn übermannten. Dann jedoch holte eine Stimme ihn in die Gegenwart zurück. „Zehn Minuten!“, zischte Severus, zog den Zauberstab und zielte auf eine altmodische Eieruhr, die versteckt zwischen einigen langhalsigen Flaschen auf einem Regalbrett ruhte. Unter dem steten Ticken, das wie ein Damoklesschwert über ihm schwebte, trat Remus ein ins Reich des Tränkemeisters. Gerade noch konnte er durch eine früher stets verschlossene Tür im hinteren Teil des Zimmers einen Blick in eine Art Labor erhaschen, wo auf einem Tisch eine seltsame Apparatur aus drei Kesseln, Glaszylindern und Kolben stand, davor ein ganzer Korb Bezoare und aufgeschlagen  daneben ein uraltes und mit einem Schloss versehenes Buch. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Szenerie als das Bild plötzlich seinem Blick entzogen wurde. Krachend fielen vor ihm und hinter ihm die massiven Türen in ihre Schlösser und er war im Kerker gefangen. Severus hielt sich nicht Begrüßungsfloskeln auf noch spendete er ihm sonst große Aufmerksamkeit. „Ich hab nicht ewig Zeit, komm zur Sache!“ schnarrte er nur ungeduldig als Remus nach einer Minute noch immer schwieg, während er selbst durch den Raum ging und mit zielgerichteten Handgriffen hier ein Säckchen, dort eine Metalldose aus den Regalen zog. Remus besann sich. Er hatte nicht vor, Severus über die abgerungen Minuten hinaus zu bedrängen noch die einzige Chance, um die er bitten würde, zu vergeuden. „Ich wollte mich bei dir für den Wolfsbanntrank bedanken“, spulte er die zurechtgelegten Worte ab, tat als hätte die Beleidigung überhört und fixierte den Rücken seines Gegenübers, „Ohne deine Hilfe wäre ich verloren“. Severus wandte sich um und kräuselte die Stirn. Er hatte eine Mine aufgesetzt als hätte er soeben einem Dementor gelauscht, der einen Vortrag über das Heiligtum der Nächstenliebe hielt. Nur langsam wandelten sich seine Züge, stahl sich ein hämisches Lächeln in sein Gesicht, das offenbarte, dass er verstanden hatte. „Der Wolfbanntrank“, erklärte er so langsam und betont wie man zu kleinen Kindern spricht, „war Dumbledores Idee. Zu meinem wahrlich größten Bedauern bin ich leider an Befehle des Schulleiters gebunden. Wenn du dich bedanken willst: Dritter Stock, siebter Korridor, massiver Wasserspeier. Doch ich warne dich, Lupin. Der Schulleiter verfährt nicht so großzügig wie ich mit Lehrern, die sich mit Gewalt Zutritt verschaffen. Guten Abend!“ Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte der Tränkemeister sich von ihm ab und setzte mit fahrigen Bewegungen seine Arbeit fort. Doch so leicht ließ sich Remus nicht abwimmeln. Nicht ehe er zu seinem eigentlichen Anliegen gekommen war. Leise ließ er sich auf einen der klapprigen Hocker vor dem Pult sinken und versuchte es sich auf diesem Platz, auf dem bestimmt schon Generationen von Schülern ihre Strafarbeiten abgesessen hatten, bequem zu machen. „Ich weiß, dass ich meine Stelle vor allem Dumbledore zu verdanken habe. Doch was wäre die Entscheidung des Schulleiters ohne die Hilfe fähiger und zuverlässiger Mitarbeiter?“ Seine ruhig gesprochenen Worte schwebten im Raum, während er erwartungsvoll die Robe und das schwarze, fettige Haar seines Gegenübers musterte. Severus ließ das Einmachglas, das er in Händen hielt, wieder sinken und langsam, viel langsamer als zuvor, wandte er sich erneut zu ihm um. Der Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich verändert. Noch immer lag seine Stirn in tiefen Falten und berührten sich die Augenbrauen. Doch der Blick hatte an Schärfe gewonnen. Von Misstrauten getränkt begannen die dunklen Augen Remus zu durchbohren, zeitgleich zuckten die Lippen im schmalen Gesicht.   „Was willst du wirklich?“, fragte Severus schneidend, während der fahle Schein der einzigen Lampe auf dem Pult seine Züge bedrohlich hervorstechen ließ, „Du bist gewiss nicht hier, um mir Honig ums Maul zu schmieren!“     Tief atmete Remus ein.  Da war er also gekommen, der Moment der Wahrheit. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen“, erklärte er ruhig, „Für alles, was je zwischen uns geschehen ist.“ Stille Severus, der ihn gerade noch taxiert hatte, blieb zur Salzsäule erstarrt vor ihm stehen, die Züge zu schierem Unglauben entglitten. Remus, der diesen Blick nicht länger ertragen konnte, diese Augen, die Gericht über seine Schuld zu halten schienen, wandte sich ab und starrte die Uhr an. Fünf Minuten waren bereits verstrichen. „Wir hatten keine gute Zeit“, fuhr er leise fort, „kein gutes Verhältnis. Nicht nur im letzten Monat. Auch früher schon, eigentlich immer. Wir hatten immer unsere nun ja Differenzen.“ „Differenzen?!“, schnaubte Severus, der Ton durchzogen von gärender Wut, „ein schöner Euphemismus. Wer hat ihn dir ins Ohr gesetzt? Dumbledore?“ Remus seufzte leise, den Blick seines alten Feinds nachwievor meidend. „Nein, du hast Recht“, murmelte er, „Es war weit mehr als das“. Sich sammelnd holte Remus tief Luft. Einen Gedankengang später sprang er auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, versuchend seine Aufregung in Schach zu halten. Als er weitersprach ließ er seine Stimme anschwellen. „Ich weiß, dass du mich hasst und ich kann es verstehen. In der Vergangenheit ist so vieles passiert, das nicht in Ordnung war. Wie James und Sirius damals mit dir umgesprungen sind – ich weiß, es war nicht rechtens, es war von Grund auf falsch. Aber…“   Nervös begann Remus an einer Phiole herumzuspielen, die auf einem Beistelltisch lag. Schnell ließ er sie wieder los, als er nach einem kurzen Seitenblick merkte, dass Severus in aufkeimenden Zorn die Zähne aufeinanderbiss. Für einen Moment schwieg er, dachte nach. Dann blickte er auf und sah seinem Gegenüber direkt in die blitzenden Augen. „Ich habe dich nie gehasst, das solltest du wissen. Was immer sie dir auch antaten, es war nie meine Absicht gewiesen. Ich habe diesen Streit zwischen uns nie gewollt, weder in unserer Schulzeit noch heute und wenn ich früher schwieg, dann nur, weil sie meine Freunde waren. Nun aber sind James und Peter sind tot und Sirius sollte in Askaban sitzen. Die Zeiten haben sich geändert, Severus. Sollten wir nach so vielen Jahren nicht endlich das Kriegsbeil begraben und wie erwachsene Menschen miteinander umgehen? Lassen wir doch endlich die Vergangenheit hinter uns!“   „Die Vergangenheit hinter uns…“, wiederholte Severus die Worte mit einem abwesenden Gesichtsausdruck als müsste er sich ihre Bedeutung erst bewusst machen. Dann plötzlich begann seine Schläfe zu Pochen und die Farbe saurer Milch schoss ihm ins Gesicht. „Netter Plan, Lupin“, höhnte er, „Ein bisschen Theater, eine halbherzige Entschuldigungsrede, eine treudoofe Sündermine und sieben Jahre sind einfach vergessen. Genauso läuft das vor dem Zaubergammot, nicht wahr? Ich wette, Fudge und die Geschworenen würden dich bei deinem selbstmitleidigen Gewinsel sofort von jeder Schuld freisprechen. Seht nur den armen Mann wie sehr er leidet, nicht wahr? Nun, an deiner Stelle wäre ich mir nicht so sicher, damit durchzukommen. Beihilfe zum versuchten Mord ist ein Verbrechen, Werwolf.“ Ehrlich verdutzt starrte Remus ihn an. „Wovon sprichst du?“ – er hatte nicht den blassesten Schimmer, was im Kopf seines Gegenübers vor sich ging.   „Oh“, erwiderte Severus und die schwarzen Augen blitzen auf vor Hass und Rachgier, „Ich denke du weißt sehr genau, wovon ich spreche. Der Vollmond, die Peitschenden Weide… na, kommen dir auch die schönen Erinnerungen?“ Die Worte brauchten lange, bis sie Remus erreichten. Doch dann, als er begriff, war als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Eine Welle aus Eiswasser rauschte durch seinen Körper, lähmte ihn bis ins Mark. Wie von einem Zauber getroffen brach etwas in ihm zusammen. Das war es also, war Severus dachte? Was er ihm zutraute? Eine seltsame Mischung aus Entsetzen und Zorn brauste in ihm auf. Zeit seines Lebens, seit jenem unglückseligen Besuch Greybacks an seinem Kinderbett, war das Biest in ihm immer sein größter Feind gewesen. Seine Alpträume waren erfüllt von den Verbrechen, die er in seinem Leben vielleicht begehen würde seitdem er ein kleiner Junge war. Und es gab jeden Monat wieder diesen grässlichen Morgen. Diesen Morgen, an dem er nicht in den Spiegel sehen konnte, weil er noch die Spuren der Bestie in sich erkannte. Wie konnte irgendjemand glauben, dass er sich zum Komplizen eines solch makaberen Streichs gemacht hatte? Der Gedanke stach. Tiefer als jedes abwertende ‚Werwolf‘, aus dem der Schmerz der Vergangenheit sprach. Zwischen Sirius und ihm hatte seinerzeit wochenlang dicke Luft geherrscht, bis sein Freund ziemlich zerknirscht zu Kreuze gekrochen kam und ein Sündenbekenntnis abgelegte, dass seinem Stolz einiges abverlangt hatte. Getroffen schnappte Remus nach Luft. Dann hob er wie im Reflex die Hand zu einer mahnenden Geste. „Das ist eine Unterstellung“, rief er entrüstet, „Nichts davon ist wahr! Ich hatte keine Ahnung!“ Severus beäugte ihn, verschränkte die Arme und lächelte. Ein Lächeln, das fast etwas Mitleidiges gehabt hätte, wäre es nicht von tiefer Bitterkeit durchzogen gewesen. Und obgleich sein Gegenüber schwieg, meinte Remus seine Gedanken deutlich hören zu können ‚Aber sicher doch, du Lügner! ‘. Die Nadel bohrte sich weiter ins Fleisch. In aufkommender Panik sah Remus sich um, suchte nach Worten oder etwas anderem, womit er seine Unschuld beweisen konnte. Da fiel sein Blick auf einen kleinen Flakon mit einem klaren Zaubertrank und das Etikett ließ ihn aufatmen wie tiefen, dunklen Wassern entsteigend. VERITASERUM Er zögerte keine Sekunde. Sofort nahm er den Wahrheitstrank aus dem Regal und wandte sich wieder zu Severus um. Aufrecht stand er vor ihm und sah ihm voll Entschlossenheit erneut in die Augen. „Wenn du mir nicht glaubst, dann stell ich mich doch auf die Probe. Hier!“   Ohne auch nur den Hauch eines Zitterns hielt er seinem alten Feind die ausgetreckte Hand mit dem Fläschchen hin. Die Geste löste in Severus eine neuerliche Veränderung aus. Von skeptisch angezogenen Augenbrauen wandelte sich seine Mine über eine neugierig vorgereckte Nase zu überrascht  geweiteten Pupillen. Und dann geschah etwas, das Remus sich beim besten Willen nicht erklären konnte: Mit einem Satz wich Severus zurück. Fast wie ein Tier, dem man den Zauberstab zwischen die Augen gesetzt hatte. „Was soll das?!“, herrschte er Remus aus einigen Abstand an „Willst du meine Vorräte vergeuden?“ „Nein“, entgegnete Remus entgeistert, „dir nur beweisen, dass ich es ehrlich meine“. Für einen Moment lang stand Severus wie versteinert vor ihm und starrte ihn nur an, unmöglich für Remus in der unergründlichen Miene zu lesen. Dann als sein Gegenüber sich noch immer nicht regte, begann er langsam, den Korken des Fläschchens zu lösen.     „Lass das!“, fuhr Severus ihn unvermittelt an, „Stell es sofort zurück!“ Remus, dem der unmissverständliche harsche Tonfall wie ein Befehl war, kam der Aufforderung sogleich nach. Gerade als er sich zur Seite wandte, sah wer wie der Tränkemeister seinen Zauberstab aufzucken ließ und dabei tief in seine Augen blickte. Ein leichter Schmerz durchzuckte Remus‘ Schläfe und vage kamen ihm verschwommene Bilder aus seinen Schultagen zu Bewusstsein. Doch beides verschwand ebenso schnell wie es gekommen war. Als er sich verrichteter Dinge wieder umdrehte, perlte Schweiß von Severus‘ Stirn. „Verschwinde!“, raunte sein alter Mitschüler ohne Remus die Chance auf eine Erwiderung zu lassen, „Geh, SOFORT!“ Der unverhohlene Unterton von Panik und Hass in Severus‘ Stimme erschütterte ihn erneut. Was bei Merlins Bart ging hier vor?! Remus fand keine Antwort und suchte auch nicht lang nach einer. Wer schon einmal vor einer Herde wütend schnaubender Tebos gestanden hatte, wusste, wann es Zeit war das Weite zu suchen. „Es tut mir leid“, entgegnete er Severus mit fester Stimme, ohne aber zu wissen, wofür er sich eigentlich entschuldigte. Dann drehte er sich um und verließ gemessenen Schritts das Zimmer. Draußen, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, warf  er sich gegen die Wand und versuchte erfolglos seine heiß gelaufenen Gedanken am kalten Mauerwerk abzukühlen. Ein Hauch von Verzweiflung keimte auf. Wie konnte die Sache nur aus dem Ruder laufen? Verwirrt starrte Remus ins Dunkel, versuchte das Geschehene zu verstehen. Es dauerte einen Moment, bis er sich gewahr wurde, dass er nicht mehr allein war. Auf der Wendeltreppe näherten sich von oben her Schritte. Alarmiert beförderte Remus sich wieder in die Senkrechte als auch schon der Lichtkegel eines Zauberstablichts um die Biegung fiel. Als endlich ein Umhang und ein Gesicht folgten, war es für beide eine Überraschung. „Professor Lupin!“, rief der Mann auf der Treppe ihm zu. „Herr Direktor!“, entgegnete Remus. Und für einen Augenblick verharrten sie in Schweigen.   „Sie waren bei Severus?“, fragte der Schulleiter schließlich und senkte den Zauberstab, um Remus nicht zu blenden, während er die Stufen zu ihm herabkam.   Remus, dem das eben Erlebte die Kehle noch zuschnürte, nickte nur stumm und spürte die Blicke des aus den alten Augen über sich wandern.     „Und das nicht wegen des Wolfbannstranks?“, stellte Dumbledore mehr fest als dass er nachfragte. In seinem Ton schwang das ganze Gewicht unausgesprochener Worte mit.   „Nein“, erwiderte Remus kleinlaut und blickte betrübt zu Boden, betrachtete den kalten, gesprungenen Stein der Treppe, die Spinnenweben und den Staub; lauschte den Erinnerungen, die in der plötzlich eintretenden Stille zu ihm zu sprechen begannen. All die Szenen der letzten Wochen, die er mit dem heutigen Tag abzuschließen gehofft hatte - vergebens.   Als er wieder aufblickte, ruhten Dumbledores blaue Augen noch immer auf ihm. Nicht fordernd, nicht anklagend, nur wartend. Ein väterlicher Blick in den Dunst heimlichen Wissens gehüllt. Fast zeitgleich zu Remus entlud sich sein Atmen in einem leisen Seufzen. „Verstehe“, murmelte er ruhig. Einen Moment lang sah Remus noch zu der silberbärtigen Eminenz auf, die einen Kopf größer war als er. Dann mit einem Mal öffneten sich seine Lippen und löste sich seine Zunge. Alles, was er wochenlang in sich aufgestaut hatte, sprudelte wie von selbst aus ihm heraus. Kapitel 8: Severus' Dämonen ---------------------------   Severus starrte auf die Tür, starrte auf sie als wollte er Kraft seiner Blicke Zeichen ins Holz brennen. Nur langsam kühlte die Glut in seinen Adern ab, verrauchte sein Zorn. Sein Zorn auf sich selbst. Warum zum Bowtruckle hatte er es sich auch so leicht machen wollen wie bei Creeveys Koboldsteinspiel und hatte sich auf die Verlockung eingelassen, ein Opfer von zehn Minuten könnte ihn von weiteren lästigen Besuchen verschonen? Was hatte der verlauste Werwolf hier unten überhaupt verloren?! Und was bei Merlins Bart hatte ihn, Severus, dazu getrieben, ihn auf Blacks mörderischen Streich anzusprechen und in seinen Kopf einzudringen,  nachdem seine Bereitschaft, das stärkste Wahrheitsserum einzunehmen, schon Bände gesprochen hatte?!   Die Eieruhr schellte und Severus biss die Zähne zusammen. Er konnte nicht ertragen, was er im Geist seines alten Feindes gelesen hatte. Nicht etwa, dass Lupin ihn in aller Dreistigkeit belogen hatte. O nein, die Sache war viel schlimmer: Der Herr Kollege war absolut ehrlich gewesen. Seine Weste durch und durch und durch rein und er unschuldig wie der junge Morgen. Wäre es nicht sein Büro gewesen und hätte er den Dreck nicht eigenhändig verschwinden lassen müssen, Severus hätte auf den Boden gespuckt. Lupins Unwissenheit in dieser Sache war das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er hatte die Wahrheit gesehen und hasste sie. Er wollte die Augen davor verschließen und konnte nicht leugnen, was so offensichtlich war.  ‚Nun aber sind James und Peter tot und Sirius sollte in Askaban sitzen‘, tönten die Worte in seinem Kopf. Ja, die drei hatten ihren Preis bezahlt für ihre Verderbtheit. Doch nichts, nichts davon wog auf, was sie Severus angetan hatten. Sieben Jahre! Sieben Jahre „Schiefelus“-Rufe auf dem Schulhof und dreckiges Gelächter, sieben Jahre übertrumpft und in den Schatten gestellt werden; sieben Jahre Flüche in den Korridoren, feige aus dem Hinterhalt geschossen!  Eine ganze Schulzeit in einem unfairen Krieg, über dessen Verbrechen noch kein Zaubergamot gerichtet hatte, die lediglich fein säuberlich notiert in alten Tagebüchern verstaubten. Und am Ende auch noch Lilys Ja-Wort! Es waren Wunden, die noch immer brannten als wären sie erst frisch ins Fleisch geschnitten worden. Und es blieb nur einer, für den Severus noch eine gerechte Strafe fordern konnte; einer, den er für die Taten aller büßen lassen, den er zur Rechenschaft ziehen und dem er die Hölle heiß machen konnte. Einer, der unschuldig war! Zum Teufel! Wie sollte man so jemanden zum Richtblock führen, ohne die eigene Weste zu besudeln? Mit dem Gefühl in die eigene Falle gegangen zu sein, wandte Severus sich schließlich ab und holte eine Flasche Goldlacktinktur aus dem Regal. Das kühle Glas schmiegte sich wohltuend an seine Handflächen und er besann sich allmählich wieder. Diesmal hatte er aufs falsche Pferd gesetzt. Doch hatte er eine Karte auch verloren - sei sie auch sein größten Trumpf - sieben Jahre waren eine lange Zeit und Lupin hatte sich vieles zu Schulden kommen lassen, das Severus ihm vorwerfen konnte. Zudem war er ein Werwolf und Werwölfe sollten nicht an einem Ort voll unausgebildeter Zauberer frei herumspazieren dürfen und zur Gefahr für Leib und Leben werden!   Mit diesem versöhnlichen Gedanken hatte Severus gerade begonnen all die Essenzen und Sude, die eingelegten Drachenmilzen, Froschaugen, Gingsteralgen und Modsteinpulver hinüber ins Labor zu schaffen als es an der Kerkertür abermals klopfte. Mit einem gereizten Schnauben ließ er die Zutaten auf der Arbeitsplatte zwischen dem Destillator und den Bezoaren zurück und stapfte wieder zum Büro. Was wollte dieser verfluchte Mondanheuler denn jetzt noch?! Doch es war gar nicht Lupin, der im Halbschatten eines Zauberstablichts vor seiner Tür wartete. „Guten Abend, Severus, darf ich reinkommen?“, fragte der Schulleiter höflich, während sich vom Türbalken eine Spinne abseilte und über die Krempe seines Spitzhuts das Weite suchte. Für einen Moment sah Severus ihn überrascht an. „Natürlich, Herr Direktor“, erwidert er dann und ließ seinen Vorgesetzen eintreten. „Was gibt es, Dumbledore? Ich bin sehr beschäftigt gerade“, fuhr er fort als die geschlossene Türe hinter ihnen von der steifen Höflichkeit befreite. Albus holte tief Luft. „Da Sie wegen Ihres auswärtigen Termins an der gestrigen Abendkonferenz nicht teilnehmen konnten, wollte ich Sie eigentlich über die neusten Sicherheitsvorkehrungen informieren. Nachdem Sirius Black in Dethtown gesichtet wurde und es anzunehmen ist, dass er sich der Schule weiter nähern wird, haben wir beschlossen noch größere Vorsicht walten zu lassen“. Dumbledore fuhr fort damit, die Konferenz zusammenzufassen und wies darauf hin, dass jeder Lehrer aufgefordert sei, dem Schulleiter sofort Bericht zu erstatten, sollten ihm vor dem Tagespropheten Auffälligkeiten zu Ohren kommen. Doch Severus hörte nur mit halbem Ohr zu. Da Albus den Tag über außer Haus gewesen war und niemand hatte absehen können, wann er zurückkehren würde, hatte McGonagall ihm schon am frühen Morgen im Lehrerzimmer alles erzählt. Ein Wort aber erregte seine Aufmerksamkeit. „Eigentlich, Dumbledore?“, unterbrach er seinen Vorgesetzten scharf. Albus betrachtete beiläufig die Regale als werfe er nur einen kurzen Blick aus dem Fenster, um das Wetter für einen Spaziergang abzuschätzen. „Ich bin auf der Treppe Professor Lupin begegnet“, gestand er gelassen und ohne Umschweife. Für einen Wimpernschlag starrte Severus seinen Mentor an, spürte wie die Worte sich nadelgleich in seinen Gehörgang bohrten. Dann wirbelte er herum und bugsierte die restlichen Einmachgläser in eine Holzkiste, hastig und energisch wie es der Glut seiner neu aufflammenden Wut entsprach. „Und? Welche Lügen hat er Ihnen aufgetischt?!“, zischte er. „Soweit ich es beurteilen kann, keine einzige“, kam eine ruhige Erwiderung von Dumbledore, dessen Gestalt er nur noch als verschwommener Schatten im Augenwinkel wahrnahm. Severus schnaubte. War ja klar! Das ehrwürdige Mitglied des Phönixordens, der ach so zahme Werwolf, hatte bei Albus natürlich einen besonderen Stein im Brett, genauso wie Potter, sein Goldenes Kalb. Ihn dagegen, den ehemaligen Todesser, der froh sein sollte ein Dach über dem Kopf zu haben, ließ er Staub fressen. Severus brauchte keine Sibyll Trelawney, um zu wissen was nun folgen würde: Eine Standpauke über die Notwendigkeit der Vergebung, gewürzt mit ein paar rätselhaften, nichtsnutzigen Weisheiten. Ein Fußtritt in den Magen!   „Severus…“, säuselte Albus auch schon wie zum Beweis.   Mit giftigen Blicken sah Severus auf, schleuderte dem Schulleiter darin seinen Zorn entgegen und errang zumindest den Sieg eines Seufzers. Kurz trafen sich ihre Augen, dann trat Dumbledore still an ihm vorbei zum Pult und nahm auf jenem Hocker Platz, wo zuvor der feine Kollege gesessen hatte. „Ich bin nicht hier, um für Remus Partei zu ergreifen“, erklärte er ruhig. Severus fixierte ihn erneut mit bohrendem Blick. „Wozu dann, Dumbledore?“, erwiderte er und verkniff sich gerade noch ein höhnisches ‚Achja?!‘ Albus antwortete nicht sofort. Er atmete tief ein wie jemand, der sich für eine lange Erklärung sammelt. „Wegen dir, Severus“, sprach er dann, „Um dir einen Gefallen zu tun. Um dich davor zu bewahren, einen Fehler zu begehen, der dir selbst am Ende mehr Schaden zufügen wird als Remus Lupin.“ Das Licht der Lampe auf dem Pult umspielte das faltige Gesicht, ließ den Bart geisterhaft leuchten und für Augenblick herrschte Schweigen.   „Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, Dumbledore“, ergriff Severus das Wort und zwang sich zu einem ruhigen Ton, „Dann schmeißen Sie ihn raus. Er ist eine Gefahr für die Schule, für Potter! Sie wissen, wie gut er mit Black befreundet ist!“ „War“, korrigierte Albus ihn wie aus der Pistole geschossen, „Diese Freundschaft liegt mehr als eine Dekade zurück. Sie zählt nicht mehr seit Blacks‘ Verrat. Remus steht auf unserer Seite und er ist vertrauenswürdig. Ich glaube nicht, dass von ihm irgendeine Gefahr ausgeht“. Severus spürte Gift und Galle aufschießen. Dumbledores Worte waren wie Peitschenhiebe. Alle Wunden brachen wieder auf, alle Erinnerungen wirbelten in seinem Kopf durcheinander.   „Keine Gefahr?! Er und seine feinen Freunde wollten mich umbringen! Sieben Jahre, Dumbledore, sieben haben sie mir das Leben zur Hölle gemacht. Aber das zählt ja nicht, nicht wahr?! Es geht ja nur um diesen kleinen, dreckigen Slyth-“ „-Unsinn!“, widersprach Dumbledore in unmissverständlicher Heftigkeit. Dann schloss er für einen Moment die Augen und wirkte sichtlich erschöpft. Als er fortfuhr hatte sein Ton die alte Milde zurückgewonnen. „Ich will deinen Schmerz nicht leugnen, Severus. Die Vergangenheit lastet manchmal erdrückend schwer auf uns. Umso mehr wenn wir jeden Moment der Gegenwart dem alten Mosaik hinzufügen anstatt zu versuchen ihn im Licht seiner Zeit zu betrachten und seinen wahren Kern zu erkennen.“   Er legte eine Gedankenpause ein. Sein Blick schien in weite Ferne zu schweifen. Dann schüttelte er den Kopf und stand auf. „Remus‘ Bedauern über eure Feindschaft erscheint mir aufrichtig. Nichtsdestotrotz sehe ich, dass der Stachel wohl noch zu tief sitzt als dass meine Worte viel bewirken könnten. Darum will ich dich fürs Erste nicht länger von deiner Arbeit abhalten, die so wichtig für dich ist.“ Ein trauriges Lächeln, das schon im Keim wieder erstickte, stahl sich über die alten Lippen und in den blauen Augen spiegelte sich schwere Wärme. Wortlos wandte er sich ab und schritt in Richtung Ausgang davon. Kurz vor der Tür aber hielt er plötzlich inne.     „Eine Sache vielleicht noch, Severus“, nahm er den Faden wieder auf und wandte sich dabei den Regalen zu. Während er weitersprach strich er mit seinen langen Fingern über einen der alten Flakons, die dort aufgereiht waren und musterte ihn eindringlich. „Den Hass zu konservieren hat noch nie ein Problem gelöst. Er ist kein Heiltrank, sondern ein Gift, das schleichend beide Seiten vernichtet. Ich habe keinen Zweifel, dass Remus nicht die geringste Absicht hegt, das Unrecht, das dir widerfahren ist, kleinzureden.“ Dann plötzlich drehte er sich ein letztes Mal um, sah Severus durchdringend in die Augen. „Jeder hat verdient, einen alten Fehler wieder gut zu machen. Gib ihm eine Chance, Severus, zu deinem eigenen Besten. Einen schönen Abend!“ Und mit diesen Worten war der Schulleiter von Hogwarts gegangen.   Im Zimmer zurück blieb Severus – reglos, zu Stein erstarrt, getroffen vom ehrlichen Mitgefühl in Dumblesdores Blicken,  Gesten und den nachdrücklichen Worten, die ihn umschwirrten wie Fledermäuse. Wie jedes Mal nach solchen Gesprächen mit Albus nagte das Gefühl einer tiefen Verunsicherung an ihm. Was hatte er ihm durch die Blume sagen wollen? Welches Rätsel hatte er ihm diesmal zu knacken mitgegeben? Verunsichert und tief ins Grübeln versunken kehrte Severus ins Labor zurück. Eine undurchdringliche Stille empfing ihn: Kein Brodeln des Kessels, keine Maus in den rissigen Mauern, nur das stete Wispern seiner eigenen Gedanken. Er wollte seinen Zauberstab ziehen und endlich das Feuer unter dem Destillator entfachen. Doch in diesem Moment spürte er wieder, was er seit Stunden verdrängte: Die Schwere in seinen Gliedern; die Mattigkeit, die seine Lider niederdrückte; das dumpfe Gefühl in seinem Kopf, wenn er versuchte, sich zu konzentrieren. Es waren zwei lange Tage gewesen und aus irgendeinem Grund gelang es ihm nicht mehr, den Anzeichen der Erschöpfung zu trotzen. Einen Augenblick noch betrachtete er all die Zutaten, die er für sein Experiment herbeigebracht hatte. Dann, mit einem gezielten Handgriff schlug Severus das Buch mit der  Kinderschrift zu, schloss es ab und legte es zusammen mit den Bezoaren zurück in die Pressspankiste mit dem Aufdruck ‚Merlin Akademie, Zaubertränkische Fakultät‘. Mit einem Gemurmelten ‚Nox‘ erloschen die beiden Fackeln in den Nischen und Severus schleppte sich durch die Dunkelheit hinüber ins Schlafzimmer. Kälte zog unter dem Türschlitz hindurch und umfloss seine nackten Füßen auf den Fliesen, während er sich das Nachthemd überstreifte. Als er sich ins Bett legte, sah er Dumbledore noch immer vor sich. Neville Longbottoms Gesicht mischte sich auf einmal hinzu und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Zähneknirschend wandte Severus sich um, versuchte seinen Geist zu leeren und einzuschlafen. Doch das Bild verfolgte ihn bis in seine Träume... Das Lehrerzimmer. Longbottom mit angestrengter Miene, schwingt den Zauberstab. Da, hinter ihm: Remus Lupin, ein gehässiges Grinsen im Gesicht. „Los, setz ihm den Geierhut auf, steck ihn ins Kleid. Auf, mach ihn fertig! Lass ihm zum Gespött der ganzen Schule werden, damit wir alle unseren Spaß haben“, feuert er den Jungen an. „Oh gib ihm eine Chance, er meint es nicht so!“, säuselt irgendwo eine Stimme. Das Lehrerzimmer verschwimmt, Korridore tauchen aus dunklem Nebel. Herzschlag, Atemringen. Severus rennt. Seine Zauberstabhand ist leer. ‚Expelliarmus‘, tönt es noch in seinen Ohren, sein Arm schmerzt. ‚Na, was ist denn, Schniefelus, so feige?‘ Jemand lacht - alles lacht. Severus dreht sich um. Vier Gesichter bauen sich vor ihm auch: Potter, Black, Pettigrew, Lupin. Er will etwas Fieses erwidern, doch Heiserkeit schnürt seine Kehle zu, presst heiße Tränen in seine Augen. Lupin starrt ihn ohne eine Regung an. „Oh, gib ihm eine Chance, er hat es verdient!“,  säuselt die Stimme. Der Korridor löst sich auf, formt die Bibliothek. Buchreihen über Buchreihen. Folianten schwer auf dem Arm. Plötzlich Schritte. Ein Kichern. Jungenstimmen. Dann - zu schnell - eine Bewegung. Die Bücherwände schwanken, die Bücher fallen zu Boden. Verschleierter Blick, der Kopf schwillt an, weiter und weiter. Dann plötzlich ein Ruf, die Worte nicht vernehmbar. Der Blick kehrt zurück. Da steht er: Remus Lupin, den Zauberstab gezogen.   „Oh, gib ihm eine Chance, er ist ein wahrer Engel“, säuselt die Stimme. Szenen über Szenen überschlagen sich. Ein fliegender Wechsel. Die Peitschende Weide, der Hogwartsexpress, das Quidditchfeld, der Baum am See; Rufe, Flüche, Stimmen, Gelächter, Schimpfworte, Zauberstäbe, ein Ruck in die Höhe, ein zerrissener Umhang, ein gestelltes Bein. „GIB IHM EINE CHANCE! GIB IHM EINE CHANCE!“, säuselt die Stimme immer lauter, immer grotesker, tausendfach wiederhallend, wie ein Echo: Eine Chance, eine Chance, eine Chance!   „Nein, nein, NEIN!“, keuchte Severus und spürte im Halbschlaf wie kalte Tränen über sein Gesicht rannen. Sein eigenes Röcheln weckte ihn mehr und mehr. Schlaftrunken rappelte er sich auf, fuhr halb liegend, halb sitzend im Bett herum. Suchte Dumbledores Gestalt in der Dunkelheit seiner Zimmerecken. Suchte ihn, um ihn anzuschreien: „Siehst du, was er mir antut? Verdammt noch mal, siehst du es denn nicht?!“ Doch Albus war nicht da. Nicht hier, nicht dort, nirgendwo. Nichts als schwarze Leere. Stöhnend glitt Severus zurück, presste sein Gesicht gegen das harte Kissen und seinen Körper auf die kalte Matratze. Alles tat ihm weh, so weh. Das Bett war eine Pritsche und die Einsamkeit lastete wie ein nasses Laken auf ihm. Zitternd vor Kälte schlug Severus die dünne Decke um seine Knie, während die Oktoberkühle lautlos durchs Mauerwerk sickerte. Und nur von Ferne flüsterte eine leise Stimme: Kann ich dir etwas anbieten. Ein Glas Wasser oder einen Tee vielleicht? Kapitel 9: Vollmondnacht ------------------------ Am nächsten Morgen konnte Severus sich im ersten Moment an nichts erinnern. Eine dumpfe, schwere Taubheit hatte ihn ergriffen als der Ohrenwecker den tastenden Händen entglitt und mit einem Scheppern auf dem Kerkerboden aufschlug. Stille. Dunkelgraues Dämmerlicht. Ein wenig Sonnenschein fiel durch die einzige, kleine Fensterscharte ein.  Zu wenig, um den Raum zu erhellen. Auf den Bildern der vergangenen Nacht lag der Schleier des Vergessens. Severus rieb sich die Stirn, die schmerzenden Schläfen. Lupin, der verlauste Werwolf, war bei ihm gewesen, das wusste er noch. Und Dumbledore. Um was war es gegangen? Irgendetwas von ‚die Vergangenheit vergessen‘ und ‚eine Chance geben‘. Severus bekam nur noch Bruchstücke zusammen. Aber es war auch egal. Es war nur ein weiterer gottverdammter Tag in seinem gottverdammten Leben und die Erinnerung würde schon früh genug zurückkehren. Lustlos schob er die Decke beiseite und rollte sich aus dem Bett.  Wie schon Stunden zuvor pressten sich die Fliesen hart gegen seine Fußsohlen und die Kälte trieb für einen Augenblick eine Gänsehaut über seinen Körper, als er sich seines Nachthemds entledigte. Er zog sich an ohne auch nur einen Blick in den gesprungenen Spiegel zu werfen, der mit Spinnweben  verhangen in der Nische mit der Waschschüssel hing. Dunkelheit umfing Severus als er in den Flur hinaustrat. Das Schlafzimmer war der einzige Raum in seiner Kerkerwohnung, der ein wenig Tageslicht einließ. Wie jeden Morgen durchschritt er die Finsternis ohne auch nur eine Funzel zu entzünden und hielt auf den Durchgang zum Büro zu. Vor dem Labor aber, das er gestern nicht verriegelt hatte, blieb er plötzlich stehen. Die Luft war noch erfüllt von den Zaubertrankzutaten – Ingwer, Liebstöckl, Weinrautenessenz – die sich mit dem herben Rußgeruch der erloschenen Fackeln mischten und seine Nase kitzelten. Wehmut stieg mit einem Mal in ihm auf. Es war so still! Manchmal, morgens eher selten, geschah es, dass ihm die selbstgesuchte Einsamkeit seiner Kerker zur drückenden Last wurde. Ein solcher Moment war gekommen. Schwer umnebelte ihn der Duft der Affodillblüten, die er gestern von den Wurzeln entfernt hatte und die noch auf einer Ablage nahe der Feuerstelle lagen. Die Erinnerung übermannte ihn mit unerwarteter Heftigkeit. „Kannst du mir die Reibe reichen, Sev?“, wisperte sie, ein sanftes Lächeln auf ihren Lippen, „Slughorn schaut schon her. Ich glaube, er hat gemerkt, dass wir ein paar Sachen vergessen haben. Und ich hab meine Knolle noch nicht gerieben.“ Als er zurückdachte schlug sein Herz so heftig wie das seines vierzehnjährigen Selbst, damals als ihre Finger sanft die seinen streiften, benebelt vom Duft des Affodills. Doch heute es war nicht mehr das ungetrübte Trommeln jener frühen Liebe, die noch in der Hoffnung schwelgen konnte, ein liebes Wort, eine zarte Berührung, vielleicht sogar einen Kuss erhaschen zu können, sollte Amor noch Gnade kennen. Die Erinnerung war durchsetzt vom bitteren Geschmack des Verrats. Sie war nicht hier! Noch sonst irgendwo auf der Welt. Die süßen Lippen; der grüne Glanz der Augen; das duftende Haar, in das er sein Gesicht vergraben wollte, sie waren nicht mehr als geisterhafter Nebel. Nur ihre Gebeine vermoderten im Bauch der Erde und ihr Blut tropfte von seinen Händen. Luftschnappend schlug Severus die Tür zum Labor zu, ehe die Erinnerung ihm noch gänzlich den Atem rauben konnte. Wenig später hatte er sich wieder im Griff und setzte seinen Weg fort, der ihn bald in die Hektik Hogwarts‘ hinausführte und ein neuer Tag, in dem ihm unbegabte Schüler den letzten Nerv raubten, begann. Doch die Sehnsucht nach Lily folgte ihm wie ein Schatten. Der Tag verging und wie erwartet kehrte die Erinnerung zurück. Als der vorangegangene Abend Severus wieder in voller Klarheit vor Augen stand, war ihm jede Lust vergangen, Lupin über den Weg zu laufen, nicht einmal, um ihn mit einem abfälligen Blick oder höhnischen Spott zu bedenken. Lächerlich, dieser Aufzug, diese Farce von Reue! Oh ja, der feine Herr Kollege hatte solch ein schlechtes Gewissen, die Vergangenheit tat ihm ja so leid. Doch kein Wort über die kleine Einlage mit Longbottom. Warum wohl, wenn nicht, weil es seiner Worte Lügen strafte? Was hatte der Werwolf mit seinem Auftritt nur bezweckten wollen?! Severus konnte sich keinen Reim darauf machen. Es sei denn, Lupin war noch dümmer als er geglaubt hatte und dachte, er würde ihm diese Nummer tatsächlich abkaufen. Wie auch immer, es war gleichgültig. Remus Lupin war ihm gleichgültig. Und Dumbledore mit seinem gutmenschelnden Geschwätz konnte ihm ebenso gestohlen bleiben. Sollte der Schulleiter sich doch bei einer Tasse Tee von Lupins Lügen einlullen lassen. Was scherte ihn das? Schenkte Albus doch seit jeher immer nur denen Glauben, die auf Potters Seite standen und niemals ihm. Mit einem Anflug von Bitterkeit kehrte Severus am Abend in seine Wohnung zurück. Er versuchte das Gefühl in Gleichmut und Wut zu ertränken und konnte doch nicht ganz leugnen, dass Dumbledores Verhalten ihn schmerzte. Warum hielt Albus nicht zu ihm? Warum wollte er nicht sehen, dass der neue Kollege kein Schaf im Wolfspelz war? Dass er und seine netten Freunde tiefere Wunden geschlagen hatten als ein Wolfgebiss es könnte? Immer dieser Glaube an das Gute im Menschen. Es war zum Kotzen! Leise schloss Severus die Tür hinter sich und war allein. Die restlichen Stunden des Tages verbrachte er in seinem Labor über dem Kessel und so verfloss die Woche zwischen Wermut und Wolfswurz, zwischen Wasser, Dampf und dem leisen Brodeln der Tränke dahin. Es war wieder unendlich still im Kerker als er am letzten Abend nachdem er Lupin seine Medizin gebracht hatte das Feuer unter einem Kupferkessel erhitzte und einen billigen Aufpäppeltrank ansetzte. Als der Sud seine glühend rote Farbe erreicht hatte, seihte Severus ihn ab und trug den fertigen Trank hinüber zur Ablage. Dort wartete in einer Holzschale ein Stück Kohle, zumindest sah es auf den ersten Blick so aus. In Wirklich aber war es ein sehr dunkler Bezoar - rußig, wie durch ein magisches Feuer gegangen. Severus nahm eine Zange zur Hand und hob den Stein auf. Seine Finger kribbelten vor Aufregung als er ihn vorsichtig über den noch heißen Trank hob. Was würde ihn erwarten? Zu welcher Reaktion würde es kommen? Würde alles nach Plan verlaufen sein? Ein Atemzug und Severus ließ los. Im Kessel blitzte und funkte es. Doch das war in diesem Fall kein schlechtes Zeichen. Nein, es war genau das, worauf er gehofft hatte. Als der Effekt nachließ und sich nichts mehr rührte, hob er den Stein mit einer Schöpfkelle wieder hervor und runzelte die Stirn. Was einmal ein Bezoar gewesen war, war nun eine gräulich schimmernde Masse. Gräulich, nicht weiß. Skeptisch musterte Severus den Stein, gab ihn aber doch in die Wasserkaraffe, die neben dem Kessel stand. Er musste es genau wissen! Für einen Moment schien das Wasser eine rötliche Tönung anzunehmen, ganz zart und ein leichter Pfeffergeruch entströmte ihr. Dann aber versiegte der rosa Schein und die Karaffe roch wieder nach klarem Quellwasser. Zähneknirschend sog Severus den Stein mit einem Accio aus dem Wasser und ließ den Rest mit einem Evanesco verschwinden. Dann warf er den grauen Klumpen achtlos in die Kiste, in der schon das alte Tagebuch mit der Kinderhandschrift lag und knallte ihren Deckel zu. Wieder ein Fehlversuch! Wieder eine Verschwendung wertvoller Zaubertrankzutaten! Und das, wo die Merlin Akademie Ende des Monats Ergebnisse erwartete. Ob sie ihm wohl noch einmal ein halbes Jahr Aufschub gewähren würden? Severus wusste es nicht. Er wusste nur, dass er nicht umhin kam, der Dekanin der Zaubertränkischen Fakultät zu schreiben und auf eine zweite Chance zu hoffen. ‚Jeder hat verdient, einen alten Fehler wieder gut zu machen. Geben Sie ihm eine Chance‘, tönten ihm Dumbledores Worte abermals in den Ohren und er konnte nicht sagen, warum er sich gerade jetzt an sie erinnerte. Vielleicht lag es daran, dass sein Blick gerade auf das Wolfwurzelexier gefallen war, das er vor Stunden versetzt mit Mondsteinpulver durch drei verschiedengroßporige Silbersiebe abgeseiht hatte wie in jeder dieser Nächte. Vollmondnächte. Severus hasste sie und das nicht erst seit diesem Schuljahr. Müde löschte er das Licht. Es war schon nach eins und er begab sich auf den Weg zum Bett. Das Labor, der Flur, das kleine Wohnzimmer, das Severus mit Bücherregalen vollgestopft hatte, das Bad - sie lagen still und stumm da als würden sie keinen Anteil an seinem Misserfolg nehmen noch an sonst etwas, das ihn bewegte. Längst kreisten seine Gedanken wieder um die Ereignisse der zurückliegenden Tage. Missverstanden zu werden von einem der wenigen Menschen, die ihm noch geblieben waren, kränkte ihn zutiefst. Die Welt hatte sich gegen ihn verschworen und er war allein.   Mit diesem erdrückenden Gefühl sank er steinschwer auf sein Kissen nieder und fühlte eine vertraute Härte an seinem Hinterkopf. Doch es waren nicht die plattgedrückten Daumen, die ihre Zeit überlebt hatten, die da gegen seine Haare stießen. Einen Moment atmete Severus durch, schloss die Augen, dann rappelt er sich wieder auf, entzündete die Öllampe auf seinem Nachttisch und zog sie hervor: die kleine, wurmstichige Schatulle mit den Blütenornamenten. Mit heftigem Herzklopfen und dem Geschmack von Wermut auf der Zunge hob er den Deckel und kippte den Inhalt in seine Hand. Weich schmiegte sie sich um seine Finger, schimmernd im warmen Licht, unversehrt noch nach so vielen Jahren, die rote Strähne. Nur halb bewusst spürte Severus wie seine Augen sich feucht benetzten und durch den trüben Schleier die Erinnerung aus dem Nebel der Vergangenheit auferstand. „Sev, Sev, du hattest recht! Stell dir vor, ich hab den Brief bekommen. Von Hogwarts. Tunia konnte nicht glauben, dass es das wirklich gibt“, rief sie lachend und stürmte am Klettergerüst vorbei auf ihn zu. Dann, als sie ihn erreichte, verdüsterte sich plötzlich ihr Gesicht. „Aber ich weiß nicht, ob meine Eltern mich lassen. Sie halten es für einen späten Aprilscherz und ich weiß nicht, was sie mit dem Mann machen, der heute Abend kommen will“, erklärte sie betrübt und sah zu Boden. Einen Augenblick Schweigen. Dann blickte sie wieder auf. Ihre grünen Augen leuchteten sanft und ein geheimnisvolles Lächeln huschte über ihre Lippen. „Aber ich hab dir was mitgebracht. Hier“, die Schatulle wechselte die Hände, „Damit du in Hogwarts immer an mich denkst und ja nicht vergisst mir zu schreiben, Sev“. Immer an mich denkst, die Worte klangen in Severus nach und er spürte etwas Feuchtes seine Wange hinab rinnen. Nie, niemals hatte er dieses Versprechen gebrochen. Seit über zwanzig Jahren nicht. Fast unbemerkt glitt die Strähne wieder in die Schachtel und geistesabwesend verschloss er sie. Kinderhaar, geschenkt in einer besseren, einer unschuldigen Zeit. Er hasste Vollmondnächte! Er hasste seine Schuld. Noch immer klangen ihm Albus‘ Worte in den Ohren. Ihn hasste Severus nicht, konnte es nicht. Denn tief in sich wusste er, dass auch er selbst nur einer war, der eine zweite Chance bekommen hatte; dass er ohne Dumbledores Hilfe längst in Askaban verrottet wäre. Und doch bedrängte ihn die Einsamkeit. Der Gedanke, dass Albus sich mit einem seiner ärgsten Feinde verbündet hatte, brannte wie eine offene Wunde. Er sehnte sich so sehr nach ein wenig Wärme und konnte nichts als Kälte finden. Erschöpft löschte Severus das Licht und schloss die Augen. Es sollte nicht lange währen… Die Kürbisgeister fletschen ihre flammenden Zähne zum hämischen Grinsen. Mörderrischer Geruch von Schutt und Blut liegt in Luft. Severus kann nicht atmen. Die Lungen wollen bersten. Nur rennen, rennen, rennen. Da, das eingestürzte Haus, Blut schießt in den Kopf, kalter Angstschweiß auf dem Rücken. Entsetzen, eine Ahnung. Keine Zeit. Er muss weiter. Durch die Trümmer, durch die Türe. Zu ihr, sie retten! Das Treppenhaus unter Staub begraben. Dazwischen plötzlich Potters Leiche. Weg! Weg damit und weiter. Panik peitscht den Herzschlag an. Wenn er tot ist, ist sie dann… nicht dran denken. Die Tür, das Schlafzimmer, offen. Das Herz trommelt bis zum Hals, jetzt… Stille. Die Welt dreht sich nicht mehr. Kein Atem, kein Sein. Schockstarre, unwirkliche Bilder. Das rote Haar wie Spinnenfäden über den Boden gebreitet. Ihr Gesicht bleich, keine Züge. Grüne Augen erloschen. Lily ist tot. Und hinter dem Loch in der Mauer, lacht bitterböse der volle Mond! Schweißgebadet schlug Severus die Augen auf, schnappte nach Luft. Sein Blick fiel ins Leere, während sich sein Puls langsam wieder senkte und die tauben Glieder zu sich kamen. Ein Alptraum. Ein Alptraum so wirklich wie der Kerker. Verfluchte Vollmondnacht! Für einen Moment presste Severus die Lider zu, atmete tief durch und versuchte die Gedanken zu verscheuchen. Dann warf er die Decke beiseite und setzte sich auf. Sinnlos der Versuch, sich hinzulegen. Es war unmöglich für ihn, jetzt Schlaf zu finden. Severus kannte das Spiel bereits zu gut. Bis zu zwölf Mal im Jahr suchten ihn die Geister von Godric‘ Hollow auf diese Weise heim. Vor zwei Monaten, in den Sommerferien hätte er nun einfach eine Flasche Trunk des Friedens entkorkt und ein paar Minuten bis zum Einsetzen der Wirkung gewartet. Doch seine Vorräte waren aufgebraucht. Er war durch seine Studien und den Wolfsbanntrank nicht mehr zum Brauen gekommen und in der Nachttischschublade hausten nur noch Spinnen und Fliegen. Noch immer traumbenommen stand Severus auf und überlegte, was sonst ihn noch in den Zustand der nötigen Bettschwere zurückversetzen würde. Okklumentik, er hatte sie unter Voldemort gelernt, schied aus. Sie erforderte Konzentration und war dem Schlaf somit abträglich. Sein kleines Bibliothekszimmer kam ihn in den Sinn. Möglicherweise würde ein gutes Buch etwas ablenken. Ohne zögern schlich Severus durch den Flur in das Kabuff hinüber und entzündete die Petroleumlampe auf dem kleinen Beistelltisch. Die Regale, die sich an den Wänden des schmalen Raums aufreihten, quollen über und drohten die beiden alten Ledersessel unser sich zu begraben. Ein verhaltenes Lächeln stahl sich über Severus‘ Lippen als der Stapel Bücher auf dem Boden daneben betrachtete. Bücher, auf deren Rückseiten das Schulwappen prangte. Eine kleine Entleihung aus Hogwarts‘ Verbotener Abteilung. Sollte Lupin noch einmal versuchen, für seinen Unterricht in der Oberstufe etwas Lektüre der Schulbibliothek zu Rate zu ziehen, würde er ein kleines Problem haben. Nachdem Madame Pince in ihrem Zorn auf Siebtklässler, die die Verbotene Abteilung achtlos durcheinanderbrachten, ein wenig zu redselig gewesen war und Severus vom kleinen Handapparat seines Kollegen erzählt hatte, hatte er für unbestimmte Zeit Gebrauch von seinem Leihrecht gemacht. Doch die Enzyklopädien und Fachbücher über die Finessen der schwarzen Magie interessierten ihn gerade nicht. Zunächst versuchte er sich mit einem dünnen Lyrikbändchen von Judith Harper Loneshift, einer seiner Lieblingsautorinnen, zu zerstreuen. Doch die melancholischen, düsteren Gedichte befeuerten seine inneren Qualen nur noch mehr. Als auch staubtrockene Lektüre eines Wälzers zum Magierecht, einem Erbstück seiner Mutter, nicht die gewünschte Ablenkung brachte, beschloss Severus das Lesen sein zu lassen. Eine Medizin gab es vielleicht noch, die ihm den Schlaf zurückbringen konnte, ehe der reparierte Ohrenwecker zu einem Höllenlärm ansetzen würde. Hastig riss Severus seinen Reiseumhang vom Haken, belegte alle Türen mit Schwellenbannen und eilte die steile Wendeltreppe hinauf zum Portal. Wind durchfegte sein Haar und die Nacht im frühen Oktober empfing ihn mit einer kühlen, erdigen Brise. Tief sog er den Duft ein, der vom herben Klima des Herbstes kündete. Die Welt hüllte sich in Stille. Keine Menschenseele wandelte durch die sonst so übervollen Schlossgründe. Wie Scherenschnitte ragten die Bäume vor dem sonderbar hellen Nachthimmel auf und der See glich einem schwarzen Spiegel, in dem sich das Mondlicht brach. Severus senkte den Blick, um seine Augen den Spuren des Nachtgestirns zu entziehen. Tief atmete er ein und spürte wie die Weite der Natur langsam die Fesseln um seine Brust lösten. Mit den wirren Strähnen schwarzen Haars, die um seinen Kopf wirbelten und dem Rascheln der Blätter unter seinen Füßen zog er los für einen Spaziergang um den See.   Etwa eine halbe Stunde war er unterwegs bis er endlich völlig zur Ruhe gekommen war. Mit schweren, matten Gliedern, wagte er zum ersten Mal seitdem er die Treppen hinter sich gelassen hatte, den Blick wieder zum Himmel zu heben. Der Mond schien direkt über dem See zu schweben, wie ein Grenzstein, der die Welt auf seiner Seite vom Schloss in der Ferne schied und sein fahles Licht tanzte über das Wasser. Als das Glitzern vor Severus‘ müden Augen verschwamm, kehrten wie dunkler Nebel ein paar seiner Gedanken zurück, doch längst nicht so drängend und bedrohlich wie der Alptraum.  Es war nur ein leichter Anflug, ein Hauch der Einsamkeit, des Abgeschnittenseins von der Welt.  Wer außer ihm, fragte Severus sich, schlug sich diese Vollmondnacht noch mit düsteren Gedanken um die Ohren? Wer konnte noch nicht in den Spiegel sehen, weil er ein Monster darin erblickte? Wer haderte schon so sehr mit einem dunklen Geheimnis wie er? Wenn es eine Antwort gäbe, wenn er nicht alleine war, sollte der verfluchte Himmel ihm doch ein Zeichen senden.     Es war nur ein Gedankenspiel. Doch das Zeichen kam. Schnell und überraschend. Gerade als Severus sich vom See abwandte und festen Blicks auf das Schloss zuging, sah er es. In einem der Fenster brannte noch Licht.  Hinter den Scheiben meinte er schemenhaft einen Schatten wahrzunehmen: Den Schatten eines Wolfes. Kapitel 10: Remus' Reue -----------------------   Der Wind raschelte in den Bäumen, riss an den Ästen und fegte durch das gefallene Laub wie im Spiel. Remus stand in einem Schauer aus Blättern. Rot, Gelb, Braun, Orange – die ganze Farbenpracht des Oktobers wirbelte um ihn her.  Tief atmete er ein, ließ die morgendliche Frische seinen Geist klären. Allmählich schien er sich zu erholen von den Strapazen der vergangenen Nacht. Die Erschöpfung, das Gefühl des Ausgelaugtseins fiel von ihm ab und er kam wieder zu Kräften. Vor einer Stunde noch hatte er auf der Couch seines Schlafzimmers gelegen und sich in Krämpfen gewunden. Die letzten Auswirkungen einer scheußlichen Nacht. Von den Qualen der Verwandlung, den Schmerzen und dem Taubheitsgefühl danach, konnte ihn der Wolfsbanntrank nicht befreien. Und doch war Remus froh, dass es hier eine Medizin für ihn gab, die ihn vom Allerschlimmsten erlöste: Dem Verlust seines Verstands und der Entfesselung einer Macht, die zu Gräueltaten imstande war, die er sich sein Lebtag nicht verzeihen könnte. Die Morgensonne erhob sich mit goldenem Schimmer über den See und Remus hatte gerade die alte Eiche am Ufer erreicht als die Kirchenglocke unten in Hogsmeade halb neun schlug. Einen Blick noch warf er über das glitzernde Wasser, dann machte er kehrt und kam durchgefroren, doch gestärkt von seinem Morgenspaziergang ins Schulhaus zurück. Zwanzig Minuten blieben ihm noch bis sein Unterricht beginnen würde und die letzten Schüler hetzten von den Treppen zum Frühstück in die Große Halle. Remus, der bereits gegessen hatte, beschloss sich noch schnell eine Tasse Tee im Lehrerzimmer zu genehmigen ehe der Ernst des Lebens ihn wiederhatte. Der holzgetäfelte Raum war leer als er eintrat und die Kollegen hatten ihm nichts als einen ramponierten Blechbecher übriggelassen. Schweigend trat er zu Küchenzeile. ‚Nur noch lauwarm‘, murmelte die Kanne und Remus spürte keine Wärme im Metall aufsteigen als er einschenkte. Plötzlich vermisste er die Tasse Wolfsbanntrank, die in den letzten Tagen jeden Morgen an seinem Platz gestanden und ihm jetzt sicher ordentlich eingeheizt hätte.  Mit den Gedanken kehrten flüchtig auch die Erinnerungen an Severus Snape zurück. Kein Wort mehr hatten sie gewechselt nach jenem gescheiterten Versuch einer Aussprache in der vergangenen Woche. Zwar hatte der Schulleiter versprochen, noch einmal mit dem Tränkemeister zu reden. Doch Wunder konnte man selbst von Albus Dumbledore nicht erwarten. Sinnend musterte Remus die Holztäfelungen, während er austrank. Eigentlich hätte er den Schulleiter nie einweihen dürften. Seine Gefühle nach dem überraschenden Rauswurf hatten ihn einfach übermannt. Was Severus nur zu dieser merkwürdigen Reaktion bewogen hatte? Remus konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch was immer auch hinter dieser Sache stecken mochte, eines hatte er eingesehen: Sein Plan war eine Narretei gewesen. Konnten ein paar Worte der Entschuldigung auslöschen, was Jahre der Feindschaft angerichtet hatten? Nein, gewiss nicht! Remus stellte den Becher in die Spüle und holte die Dokumentenmappe aus seinem Fach. Während der Sortierzauber die Hausaufgabenpergamente der siebten Klasse flattern ließ, fragte er sich, was er selbst von all dem hielt. Ein Teil von ihm wünschte sich, er könnte seinem Kollegen uneingeschränkt dankbar sein für die monatliche Medizin. Doch es war ihm unmöglich die Augen zu verschließen vor dem Unheil, das Severus Snape säte. Eine Erkenntnis, die mehr Bedauern denn Wut heraufbeschwor, wusste er doch um die Vergangenheit seines Kollegen. Angestrengt beobachtete Remus wie der Blätterhaufen vor ihm sich umschichtete. In dieser widersprüchlichen Gefühlsmelange gab es nur eine Klarheit: Er wollte mit Severus Frieden schließen. Wenn nicht um dessentwillen, dann um eine alte Rechnung zu begleichen, deren Zahlung sein Gewissen schon lange einforderte. Es galt die Wunden einer Moral zu verbinden, die in der  Vergangenheit verletzt worden war. Für die Gerechtigkeit war es egal, zu welchem Menschen Severus sich entwickelt hatte. Einen Wehrlosen halbnackt unter einem Baum aufzuhängen blieb eine Untat, egal ob das Opfer ein Engel oder ein Teufel war. Und letztendlich, Remus schloss für einen Augenblick die Augen, letztendlich sehnte er sich nach Frieden. Er war es gewohnt, verhöhnt und verstoßen zu werden. Seinesgleichen wurde auch an anderen Orten beschimpft. Und doch raubte ihm dieser Kleinkrieg alle Nerven, brannten die Worte unter der Haut. Irgendwie musste er Severus von seiner Aufrichtigkeit überzeugen. Noch hatte er zwar keine Ahnung, wie, doch eine Gelegenheit würde sich schon finden. Die Schulglocke schlug, Remus raffte seine Unterlagen und eilte hinaus in den Flur. Vor den Fenstern fielen unentwegt die Herbstblätter und mit ihnen ihre papierenen Verwandten vom Kalender neben der Tafel... Ein paar Spritzer Schaumwasser besprenkelten die schwarze 12 als der Ratzeputz die Tafel wischte.   Mit einem Schwung seines Zauberstabs brachte  Remus die Stühle wieder an Ort und Stelle und stellte das Grammophon bereit. Es war Dienstag, die kurze Pause zwischen der ersten und der zweiten Stunde nach dem Mittagessen und er erwartete eine zweite Klasse, Hufflepuff und Ravenclaw.  Auf seinem Lehrplan stand für die nächsten zwei Wochen das Thema Erklinge und da er den Stoff am Freitag nur kurz angeschnitten hatte, wollte er den Schülern einige Aufnahmen des überdrehten Lachens der Tiere vorführen. Doch als er Klassenzimmertüre aufschloss, brauchte er das Grammophon nicht einmal einzuschalten, um den Raum mit schrillem Lärm zu erfüllen. Eine aufgeregte Meute strömte durch die beiden Flügeltüren herein. Laut schnarrend, erregt tuschelnd, lärmend, polternd wie eine Schar aufgeschreckter Gänse. Remus beobachtete und belauschte das Schauspiel mit gerunzelter Stirn und höchst alarmiert. Es waren nicht die üblichen zwei, drei Grüppchen, denen die Pause nicht reichte, um sich auszutauschen und die nach Unterrichtsbeginn noch immer tuschelten. Die gesamte Klasse schien in ein einziges Streitgespräch vertieft zu sein, bis auf eins, zwei Ausreißer vielleicht. Und sie schenkten ihm keinerlei Beachtung, selbst als sie ihre Plätze eingenommen hatten. Zornige, hastige Worte flogen hin und her.   „Das ist unfair, einfach unfair“ „Du kannst nichts machen!“ „Ich hab gehört, zu seinem Haus ist er nie so!“ „Ich werd meinen Eltern schreiben!“ Zunächst versuchte Remus die Klasse wie üblich zu begrüßen. Doch seine Worte gingen unter wie ein Tropfen im Meer. Es half nicht - er musste größere Geschütze auffahren!  Im nächsten Moment hatte er schon den Zauberstab gezogen und auf seine Kehle gerichtet. „Sonorus“, murmelte er und erhob dann die Stimme erneut. „RUHE!“ Stille. Die Klasse hatte augenblicklich innegehalten und starrte ihn mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen an. Alle, bis auf ein blondes Ravenclawmädchen, das offenbar mit einem Wingardium Leviosa und verträumten Blick ein paar Kartoffelbauchblüten um ihren Kopf schweben ließ. Remus kannte die Schülerin gut, sie war ein wenig nun ja eigen. Dann, nach ein paar Sekunden des Schweigens senkten hier und dort Schüler beschämt den Blick und Remus hob erneut den Zauberstab, schloss erst die Tür und befreite dann seine Kehle vom Zauber. „Schön, dass ihr alle hier seid“, begrüßte er die Klasse lächelnd und nun wieder in Zimmerlautstärke, „Noch schöner wäre es allerdings, wenn ihr mir eure Aufmerksamkeit schenken würdet.“ Er warf einen Blick in die Runde, in die schweigsamen, betroffenen Gesichter. „Was ist denn los mit euch? Ich habe euch noch nie so unruhig erlebt“, sagte er ruhig. Es war die Wahrheit. Ein paar Schüler störten immer. Doch die ganze Klasse derart außer Rand?! Das war neu! Ein Augenblick des Schweigens verging, dann regte sich ein Junge aus Hufflepuff.         „Es, es ist wegen Professor Snape, Sir“, stammelte er vorsichtig. „Professor Snape?“, wiederholte Remus und spitzte die Ohren. Der Name hatte ihn in den letzen Wochen stets hellhörig werden lassen.   „Ja, wir hatten gerade Zaubertränke zusammen“, erklärte ein Rawenclawjunge und Remus zählte eins und eins zusammen. „Und ihr habt euch Ärger eingehandelt“, schlussfolgerte er, „Weswegen?“ Es war wohl seiner guten Klassenführung zu verdanken, dass die Kinder kein Blatt vor dem Mund nahmen. „Er hat Teena und Merlisande zwei Stunden Nachsitzen verpasst, bloß weil sie ins Klassenzimmer kamen als die anderen schon saßen“, berichtete hier ein Mädchen. „Und uns eine Strafarbeit aufgebrummt, weil wir zu große Absätze in den Hausaufgaben gemacht haben“, dort ein Junge.   „Zehn Punkte abgezogen, weil wir nicht alles aus dem Buch wussten-“ „- und weil Luna beim Abschreiben von der Tafel gesummt hat“. Remus legte den Finger an den Mund und dachte nach. Es waren Störungen, wie sie in jeder Stunde vorkamen; Kleinigkeiten, bei denen er es zunächst bei Ermahnungen bewenden ließ und erst nach wiederholtem Vergehen zu milden Punktabzügen griff. Doch er konnte sich vorstellen, dass Severus in seiner leicht reizbaren Art die Sache strenger handhabte, übertrieben streng vielleicht. „Das sind hohe Strafen. Ich verstehe, dass ihr ungehalten seid. Professor Snape scheint mit euch ein wenig zu hart ins Gericht gegangen zu sein“, stellte er schließlich fest. Einen Augenblick lang hielt die Stille im Klassenzimmer noch an. Dann plötzlich brach neuer Tumult aus. Klagen darüber, wie ungerecht Professor Snape sei ertönten und längst vergangene Ereignisse wurden wieder aufgewärmt. Remus war abermals stummer Zeuge und betrachtete nachdenklich seine Schüler. War das vielleicht die Chance auf die er gewartet hatte? Er konnte hier sicher einiges bewirken. Doch durfte er sich wirklich so tief in die Angelegenheiten eines Kollegen einmischen? Andererseits: zu wessen Schaden sollte es sein? Schließlich besann er sich. Ohne den Zauberstab zu ziehen, hob er die Hand, um der Klasse Schweigen zu gebieten. Allmählich wurde es wieder ruhig. „Ich sagte, dass Professor Snapes Strafen vielleicht ein wenig zu hoch waren“, bemerkte er als er wieder im Fokus der Aufmerksamkeit stand, „Ich sagte nicht, dass es generell Unrecht war, euch Strafarbeiten aufzuerlegen oder Hauspunkte abzuziehen. Wenn Schüler im Unterricht stören oder ihre Aufgaben nicht erfüllen, ist  es die Pflicht eines Lehrers, wieder für Ordnung zu sorgen.“     Entgeisterte Blicke. Einige starrten Remus an als ob sie es nicht fassen konnten, dass der Lehrer, dem sie alle vertrauten, ihnen nun in den Rücken fiel. Doch Remus ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Wer von euch hat das Kapitel im Zaubertrankbuch nicht gelesen oder nur überflogen?“, fragte er mit erhobener Stimme. Keine Regung. „Ich bin nicht Professor Snape“, fügte er milde hinzu, „Da es nicht um meinem Unterricht geht, habt ihr nichts zu befürchten. Also?“ Ein paar zögerliche Finger erhoben sich hier und dort. Als Remus die betreffenden Schüler nicht zurechtwies schlossen sich nach und nach weitere an, bis etwa zehn Hände in die Luft zeigten. „Gut“, bemerkte Remus und fügte ohne Atempause hinzu: „Und wer ist zu spät zum Unterricht gekommen?“ Die Hände sanken und zwei andere Schülerinnen meldeten sich. „Aber, aber nur weil Teena ihre Feder in der Großen Halle vergessen hat“, haspelte eines der Mädchen. Remus ging nicht weiter auf sie ein. „Wer hat bei den Hausaufgaben ein wenig geschummelt?“, fuhr er fort. Wieder schossen einige Finger in die Höhe. „Wer hat zu Beginn der Stunde noch mit seinen Banknachbarn geschwätzt?“ Zwei Hände blieben erhoben, der Rest wurde durch andere ersetzt und um eine ergänzt. „Und wer hat im Unterricht gelesen, gekritzelt, vor sich hin geträumt oder nicht immer auf Professor Snapes Anweisungen gehört?“ Nun meldete sich fast die ganze Klasse. Und die wenigen, die es nicht taten, machten sich gerade selbst der abgefragten Sünden schuldig. Remus nickte zum Zeichen, dass er alle Meldungen gesehen hatte. Als die Hände wieder nach unten gingen, stand in einigen Gesichtern deutlich die Angst vor den Konsequenzen dieser Offenbarung geschrieben. Doch Remus hatte nicht vor der Klasse Hauspunkte abzuziehen oder Strafarbeiten aufzuerlegen für ein Fehlverhalten, das nicht in seinem Unterricht betraf. Stattdessen wandte er sich ab und trat an die Tafel. „Eigentlich hatte ich vor euch heute das Gelächter der Erklinge vorzuführen“, erklärte er der Klasse, während er die Kreide über die Schiefernplatte führte,  „Doch ich denke, wir können diese Sache noch für eine ganz andere Lehrstunde verwenden“. Mit diesen Worten legte Remus die Kreide fort, klopfte sich den Staub von den Händen und trat zur Seite. Ein paar Schüler hoben die Augenbrauen. Andere starrten abwechselnd zur Tafel und zu ihm und wieder andere sahen nur dumpf und verdattert drein. Auf der Tafel standen die Worte „Murtlap und Zwergmoke“. Es war ein Schüler aus Ravenclaw, der sich als Erstes meldete. „Ich verstehe das nicht, Professor“, gestand er als er aufgerufen wurde, „Murtlaps haben doch nichts mit Erklingen zu tun und gefährlich sind sie auch nicht, solange man nicht auf sie drauf tritt.“ Remus lächelte. „Das stimmt, Mr Hullican. Dennoch können auch wir, die gegen die dunkle Magie kämpfen, einiges von ihnen lernen. Weiß denn jemand etwas über das Verhältnis zwischen Murtlap und Zwergmoke zu sagen?“ Ein Mädchen aus Hufflepuff meldete sich. Remus rief sie auf. „Murlaps fressen Zwergmoken. Sie jagen sie oder lauern ihnen auf und warten bis sie zuschnappen können.“ „Sehr richtig, Miss Jaspers, 5 Punkte für Hufflepuff“, erwiderte Remus und lehnte sich gegen sein Pult, den Blick auf die Klasse gerichtet, „Wären wir in diesem Raum keine Menschen, sondern Zwergmoken, so wären Murtlaps gefährliche Gegner für uns. Gegner, die sich bedeckt halten, uns jedoch ständig im Blick haben und auf den Moment warten, an dem wir unaufmerksam werden und einen Fehler machen. Es gibt eine ganze Reihe magischer Geschöpfe, bösartiger Wesen da draußen, für die mit Hexen, Zauberer und Muggel nichts anderes sind als Moken. Nicht alle davon lassen sich durch einen kleinen Schwenker des Zauberstabs verjagen. Manche sind sehr gefährlich. Sie besitzen eine Macht, die die eines einzelnen Menschen bei Weitem übersteigt.“ Remus machte eine kurze Gedankenpause. Dann fuhr er fort. „Mit Lehrern und Schülern ist es manchmal ganz ähnlich. Für einen Schüler stellt ein Lehrer eine murtlapgleiche Bedrohung dar. Es liegt in seiner Hand Punktabzüge, Nachsitzen und Strafarbeiten zu erteilen. Und nicht selten beobachteten Lehrer ihre Klasse mit Argusaugen, registrieren jedes kleinste Fehlverhalten wie ein lauerndes Tier. Mr. Pallow, wenn Ihnen nicht gut ist, können sie jederzeit in den Krankenflügel gehen.“ Die Klasse drehte sich um zu einem Jungen, der auf einer der hinteren Bänke gerade mit seinem Nachbarn schwätzte und sich dabei, als wäre ihm übel, die Hand vor den Mund hielt. In einigen Gesichtern spiegelte sich Verblüffung, andere konnten sich ein feixendes Lachen kaum verkneifen. Als Pallow nach kurzem Erröten den Kopf schüttelte und die Klasse sich wieder der Tafel zudrehte, versank die letzte Reihe erneut im Schwätzen. Remus fuhr unbeirrt fort. „Wenn wir es mit einer solchen Übermacht zu tun haben, die unseren Kräften im Kampf weit überlegen ist, dann ist eines ganz entscheidend“. Er stand wieder auf, hielt ein paar Stichpunkte an der Tafel fest: KEINE ANGRIFFSFLÄCHE BIETEN.   Dann trat er zur Seite, um die Worte auf die Klasse wirken zu lassen. Das leise Gekicher verstummte. In die Mienen der Schüler - zumindest jener, die aufpassten - kehrte der Ernst zurück.   „Kann mir jemand sagen, was das bedeutet?“, fragte Remus in die Runde. Doch kein Finger schoss nach oben. Nur eine einzelne Schülerin flüsterte ihrem Banknachbarn etwas zu: „Ich glaub, wenn ich die Hausaufgaben ordentlich gemacht hätte, hätte Snape mir nichts gekonnt.“ „Können Sie das noch einmal laut wiederholen, Miss Tribbon? Ich denke, es könnte ihre Schulkameraden ebenso interessieren“, griff Remus das kleine Gespräch auf. Das Mädchen errötete, dann räusperte es sich. „Nun ja, vielleicht haben wir wirklich nicht alles richtig gemacht. Ich meine, wenn wir alle das Kapitel richtig gelesen hätten, hätten wir die Fragen beantworten können, oder? Und Teena hätte auch fragen können, ob sie ihre Feder holen darf, anstatt einfach zu spät zu kommen.“ Remus lächelte. „Eine sehr wichtige Bemerkung“, würdigte er die Antwort und fuhr in seinen Ausführungen fort, „Zwergmoken ziehen sich wie ihre großen Verwandten bei Gefahr zusammen. Auf die Größe einer Ameise geschrumpft und farblich mit ihrer Umgebung verschmolzen sind sie für die Augen des Murtlaps quasi unsichtbar. Für Schüler gilt dasselbe für die Schulordnung. Selbst der strengste Lehrer findet keine Angriffsfläche, wenn eine Klasse sich ganz den Regeln beugt. Bis zum Freitag trage ich euch ein kleines Experiment auf. Ich erwarte, dass jeder von euch sich in der kommenden Zaubertrankstunde mustergültig verhält. Seid überpünktlich vor dem Klassenzimmer; lest euer Buch besonders sorgfältig; erledigt die Hausaufgaben umfangreich und sehr gewissenhaft; hängt an den Lippen eures Lehrers und seid im Unterricht mucksmäuschenstill. Ich bin mir sicher, dass Professor Snape euch keine Punktabzüge, Strafarbeiten oder Nachsitzen erteilen wird. Und falls doch, dann habt ihr guten Grund euren Eltern zu schreiben, ohne ihnen dabei selbst eine Beichte ablegen zu müssen.  Falls das Experiment gelingen sollte, verspreche ich euch einen Zusatzpunkt für euer Haus.“ Auf den hintersten Bänken schwätzen noch immer einige Schüler. „Für jeden von euch“, fügte Remus mit erhobener Stimme hinzu. Die letzte Reihe verstummte und blickte neugierig auf. „Wie viele Rollen Pergament?“, japste ein kleiner, braunhaariger Junge. „Oh, kein Pergament“, entgegnete Remus, „Wir werden das Ergebnis nächsten Freitag mündlich besprechen.“ Er lächelte und erwiderte die Blicke der Klasse. „Nun aber ist es an der Zeit, uns dem Gelächter der Erklinge zuzuwenden. Packt bitte eure Bücher und Zauberstäbe weg und spitzt eure Ohren“. Und mit dem guten Gefühl, vielleicht einen Wendepunkt in ihrer Geschichte eingeläutet zu haben, trat Remus hinüber zum Grammophon, hob vorsichtig die Nadel und setzte sie auf die Schelllackplatte. Kapitel 11: Zaubertränke einmal anders --------------------------------------   Wieder ein neuer Tag. Wieder ein Haufen ungezogener Kinder, die mehr Unheil anrichteten als ein Schwarm Kitzpurfel. Wieder vergorene Tränke, vergeudete Zutaten und grobschlächtiges Zerhacken von Rattenmilzen, dass einem die Haare zu Berge stehen wollten. Wieder Geschwätz, Gekicher, halbherzig bekritzelte Pergamentrollen und dumme Fragen anstatt einmal dem Unterricht gebührenden Respekt zu zollen. Severus beäugte den rußigen Fleck im Gewölbe, den ein explodierender Kessel am Vortag dort hinterlassen hatte und spürte wie sich bei diesem Anblick der Kaffee und sein Frühstücksei zu einem Gebräu der Abscheu vergoren. Nur noch fünf Minuten blieben ihm, um die Ruhe dieses frühen Freitagmorgens zu genießen ehe eine wilde Horde Zweitklässler sein schönes Klassenzimmer in ein Schlachtfeld verwandeln würde. Allmählich müsste draußen auf dem Flur Quasseln und Kichern zu hören sein, doch noch war alles ruhig. Sollte sich heute etwa die ganze Klasse verspätet haben? Na, noch schöner! Als ob es nicht reichte, dass in der letzten Stunde zwei Schülerinnen meinten der Unterricht beginne, wann sie Lust drauf hätten! Wie fast jeden Tag hoffte Severus die Zeit nur schnell hinter sich bringen zu können. Würde seine Aufgabe an Hogwarts nur aus dem Brauen von Zaubertränken bestehen, würde er seinen Job viel lieber mögen. Sich mit den Ungezogenheiten Pubertierender rumschlagen zu müssen, war eine Seite des Lehrerberufs, die er hasste. Als das Stundenglas ihm keine Gnade mehr gönnte, schritt Severus mit wachsendem Ärger zur Klassenzimmertüre, riss sie auf und hielt inne. Er hatte fast damit gerechnet, einen leeren Flur vorzufinden. Tatsächlich aber was das Gegenteil der Fall. Hufflepuff und Ravenclaw, die ganze Hälfte des zweiten Jahrgangs hatte sich restlos vor der Tür versammelt und dennoch herrschte im Korridor Grabesstille. Verdutzt ließ Severus seinen Blick über die Schülerschaft schweifen, die unter seinen Augen zwar ein wenig zu erzittern schien, jedoch noch immer keinen Ton von sich gab. Im nächsten Augenblick spürte er wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Irgendetwas stimmte hier doch nicht! „Was ist los mit Ihnen? Hat Sie jemand mit einem Silencio belegt?“, raunte er in die Runde. „Nein, Sir“, erklärte ein hochgewachsener, schlaksiger Junge. Es war Stephen Frydon, sonst der größte Schwätzer der Klasse, der nun kein weiteres Wort herausbrachte. Severus warf ihm einen scharfen, durchdringenden Blick zu, dann trat er beiseite. Mit einem Kopfnicken gab er der Klasse das Zeichen einzutreten, nicht ohne sich zu schwören, sie heute besonders gut im Auge zu behalten. Wer schwieg, heckte meist etwas aus! Doch die ersten Minuten verliefen erstaunlich friedlich. Ebenso still wie schon auf dem Flur nahmen die Mädchen und Jungen Platz und als Severus sie anwies, ihr Buch zur Hand zu nehmen, landeten die Wälzer nahezu synchron auf den Tischen. „Wie sie wahrscheinlich nicht wissen, da ich nicht davon ausgehe, dass auch nur einer von Ihnen den Stoffplan für dieses Jahr gelesen hat, lernen Sie noch in diesem Winter den Brauvorgang einer Schwellösung kennen“, erklärte Severus und baute sich vor der Klasse auf. Sechsundzwanzig Augenpaare verfolgten seine Rede neugierig und zutiefst gebannt. Nicht ein Schüler flüsterte mit seinem Nachbarn, kritzelte etwas auf Pergament oder las unter der Bank heimlich in einer Zeitschrift. Selbst Miss Lovegood, die sonderbarste und auf ihre Weise beängstigende Schülerin der Klasse sah zu ihm hinüber, wenn auch mit glasig verträumten Blick. Die Gänsehaut in Severus‘ Nacken wandelte sich zu einem kalten Schauer. Was bei Merlins Namen führte die Klasse im Schilde?! Warum nahm sie ihn so ins Visier? Ein leicht mulmiges Gefühl überkam ihn. Nichtsdestotrotz fuhr Severus fort und verbarg seinen Argwohn.   „Da es in den letzten Jahrgängen bedauerlicherweise immer wieder zu schweren Unfällen während dieser Einheit kam und meine privaten Vorräte begrenzt sind, lernen Sie in diesem Jahr zunächst das Gegenmittel zu brauen, den Abschwelltrank. Zu Ihren eigenen Gunsten rate ich Ihnen zu höchster Sorgfalt bei der Herstellung, denn Sie werden im Zweifelsfall von Ihrem eigenen Gebräu Gebrauch machen müssen, sollte auch dieses Jahr jemand es für lustig befinden, seinen Kessel in die Luft zu sprengen.“ Severus lächelte leise und böse, doch die Klasse rührte sich nicht. Nichts als stoische Ruhe soweit das Auge reichte. Ein fast schon unheimlicher Anblick, statuengleich. Dann räusperte Severus sich kurz und nahm den Faden wieder auf. „Kann mir jemand die Ingredienzen eines Abschwelltranks nennen?“ Plötzlich änderte sich das Bild. Mit der Kraft eines Ozeans ging eine Welle durch die Klasse und einundzwanzig Finger schossen nach oben. Überrumpelt riss Severus die Augen auf. Wann in seinem Lehrerleben hatten sich jemals so viele Schüler auf einmal gemeldet? Nachdem er sich wieder gefangen hatte, beschloss er ein Mädchen dranzunehmen, das sich bisher nie von selbst in seinen Unterricht eingebracht hatte. Wollten wir doch mal sehen, ob die kleine Finte sich nun offenbarte. „Miss Jason!“ „Sieben Halme Flussgras, eine Unze Gänseblümchen, eine halbe Rattenmilz, eine Plagentinenknolle, zwei Dutzend Aalaugen und dreizehn Tropfen Bubotubler-Eiter, Professor“, kam es wie aus dem Zauberstab geschossen. „Das ist korrekt!“, bestätigte Severus und runzelte die Stirn. Wenn dies alles auf einen schlechten Scherz hinauslaufen sollte, so gab die Klasse sich alle Mühe, es zu verbergen. In keiner Miene spiegelte sich auch nur der Hauch eines Lauerns, einer bösen List.   „Und wer kann mir sagen, wie die Materialien behandelt werden müssen?“ Unter allen, die sich meldeten, fiel ihm ein Junge aus Hufflepuff als erstes auf.   „Mister Odgen!“ „Die Flussgrashalme werden fein gehackt, Sir, die Gänseblümchen im Mörser zermalmt, die Rattenmilz gewürfelt, die Plagentinenknolle gerieben, die Aalaugen kreuzweise eingeritzt und in Lavendelessenz eingelegt und der Bubotubler-Eiter vorsichtig in den Sud geträufelt.“ „Auch das ist korrekt“, musste Severus zugeben und beäugte die Klasse einen Augenblick lang kritisch, „Haben Sie etwa alle das Zaubertrankbuch bereits gelesen?“ Ein einstimmiges Nicken. Dann Stille. Grübelnd legte Severus einen Finger an die Lippen. Noch blieb ein Funken der Skepsis, doch er begann bereits zu verglimmen. Was wenn dies alles gar kein Streich war? Wenn die Klasse nichts ausgeheckte sondern tatsächlich, was unglaublich schien, einfach nur gut mitarbeitete?! „Schön“, ergriff Severus wieder das Wort. Im Klassenzimmer hätte man noch immer eine Stecknadel fallen hören können und alles hing an seinen Lippen, „Mr Husher, schreiben Sie das Rezept an die Tafel“. Der Schüler sprang sofort auf. „Die Anderen schlagen Seite 67 im Buch auf. Wir werden heute mit der Vorbereitung der Lavendelessenz und der Aalaugen beginnen. Lesen Sie das Kapitel aufmerksam durch. Sie haben zehn Minuten Zeit. Ich werde derweil ihre Hausaufgaben einsammeln.“ Ohne einen Mucks versenkten sich die Schüler in ihrer Lektüre und nur das Quietschen der Kreide auf der Schultafel durchbrach die Stille. Als Severus zum Ende der Stunde sechsundzwanzig doppelte Pergamentrollen überflog und sechsundzwanzig Mal eng beschriebene Zeile und akkurate Zeichnungen sah, bestand kein Zweifel mehr: Kein Trick, kein Lausbubenstück steckte hinter der Schweigsamkeit der Klasse. Die Schüler hatten sich, fast zu seinem Bedauern, schlicht tadellos zu verhalten. Selbst bei der Prozedur der Vorbereitung der Aalaugen hatte sich keiner einen der üblichen Fauxpas‘ geleistet -  nein, alle hatten ihre Arbeiten mit höchster Konzentration erledigt. Und das beunruhigte Severus alles in allem mehr als wäre doch noch irgendwo ein Filibusterknaller losgegangen oder eine Stinkbombe gezündet worden. Hufflepuff und Ravenclaw mochten zwar ein wenig braver sein als ihre Mitschüler aus Gryffindor, doch Engel waren auch sie weiß Gott nicht. Woher also dieser plötzliche Sinneswandel? Er legte die Pergamente zur Seite und blickte auf, gerade noch rechtzeitig um die letzten beiden Schüler, ein Junge und Mädchen, im Korridor verschwinden zu sehen. Die beiden Ravenclaws hatten ihre Köpfe zusammengesteckt. Ihr Gemurmel brach sich im Gewölbe und an den kargen Kerkerwänden und Severus hätte seinen Kessel darauf verwettet, dass es um die zurückliegende Stunde ging. Misstrauisch geworden schlich er den Schülern hinterher, hoffend den Schlüssel zu diesem Rätsel zu finden. Zum Glück bemerkten sie nicht, dass ihr Zaubertränkelehrer ihnen folgte und als Severus die Schwelle erreichte, vernahm er ihre Stimmen klar und deutlich. „Professor Lupin hatte Recht“, sprach das Mädchen, „Er hat heute nicht mal Hauspunkte abgezogen. Ich dachte, er würd’s trotzdem tun. Aber er hat’s nicht getan.“ „Ja“, stimmte der Junge ihr nachdenklich zu und ihre Schritte entfernten sich auf der Treppe.   Severus spürte, wie ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde. Mit einer jähen Bewegung machte er auf dem Absatz kehrt und schloss die Tür hinter sich, die Lippen aufeinandergepresst. Der Werwolf steckte also hinter dieser Sache. Er hatte alles eingefädelt! Doch warum? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)